Eschenbach & Altstaedt

Donnerstag, 20.06.19 — 20 Uhr Sonntag, 23.06.19 — 11 Uhr Elbphilharmonie Hamburg, Großer Saal DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH (1906 – 1975) Dirigent Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 1 Es-Dur op. 107 NICOLAS ALTSTAEDT Entstehung: 1959 | Uraufführung: Leningrad, 4. Oktober 1959 | Dauer: ca. 30 Min. Violoncello I. Allegretto (Artist in Residence) II. Moderato – attacca: III. Cadenza – attacca: IV. Allegro con moto

CLAUDIA STRENKERT Solo-Horn

P a u s e

ANTON BRUCKNER (1824 – 1896) Sinfonie Nr. 4 Es-Dur „Romantische“ (2. Fassung von 1878/80) NDR ELBPHILHARMONIE Entstehung: 1874, rev. 1878 – 80 | Uraufführung: Wien, 20. Februar 1881 | Dauer: ca. 70 Min. ORCHESTER I. Bewegt, nicht zu schnell II. Andante quasi Allegretto III. Scherzo. Bewegt – Trio. Nicht zu schnell. Keinesfalls schleppend IV. Finale. Bewegt, doch nicht zu schnell

Dauer des Konzerts einschließlich Pause: ca. 2 ½ Stunden

Einführungsveranstaltungen mit Julius Heile jeweils eine Stunde vor Konzertbeginn im Großen Saal der Elbphilharmonie

Das Konzert am 23.06.19 ist live zu hören auf NDR Kultur. DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH Violoncellokonzert Nr. 1 Es-Dur op. 107 Violoncellokonzert Nr. 1 Es-Dur op. 107

Sicher hat dies etwas zu bedeuten – aber was? GENAUER HINGEHÖRT Selbstporträt oder Schostakowitsch hat sich auf zweierlei Art dazu ge­ äußert. Zum einen hat er sich, wie er das häufig tat, Wie etwa auch im Achten mit seiner Musik selber kommentiert. In dem durch Streichquartett, im Ersten Vio- viele Selbstzitate klar als autobiografisch ausgewie­ linkonzert und in der Zehnten Sinfonie hat Schostakowitsch tönender Klassiker? senen Achten Streichquartett, das 1960, ein Jahr nach auch in seinem Cellokonzert dem Cellokonzert entstand, zitierte er auch sein Op. 107 Nr. 1 auf die Initialen seines mehrfach. Diese Musik muss ihm also wichtig gewesen Vor- und Nachnamens in deut- scher Transliteration (Dmitrij Dem ersten Konzert für Violoncello und Orchester sein. Zum anderen hat er sich auch in Worten zum Schostakowitsch = d-es-c-h) von Dmitrij Schostakowitsch liegt keine Story zu- Cellokonzert geäußert. In einem Interview vom Juni als Tonsymbole angespielt. grunde – was allerdings nicht bedeutet, dass man 1959 erklärte der Komponist: „Der erste Satz, ein Das Konzert beginnt gleich mit dem Vierton-Motiv, das hier später nicht eine hinzugedichtet hätte. Tatsächlich ist Allegretto im Stil eines heiteren Marsches, ist schon allerdings „entstellt“ und in Schostakowitschs Musik so beredt und in manchen fertig. [...] Ich kann nur sagen, dass ich dieses Konzert Umkehrung (g-fes-ces-b) er- Aspekten so zeichenhaft, dass man als Hörer kaum schon seit ziemlich langer Zeit plane. Der ursprüng­ klingt. Die Verwandtschaft zum „d-es-c-h-Motiv“ ist vor allem umhin kann, eine in Worten zu formulierende Bot- liche Anstoß dazu kam, als ich Sergej Prokofjews im Gestus und Rhythmus er- schaft darin zu vermuten. Einer der auffälligsten Züge Symphonisches Konzert für Violoncello und Orchester kennbar. Anders als etwa bei des ersten Satzes ist der Hang zu verbissener, fast hörte, das nicht nur mein Interesse, sondern auch Johann Sebastian Bach, der Dmitrij Schostakowitsch seine Initialen „b-a-c-h“ eben- manischer Wiederholung. Schostakowitsch bestreitet meinen Wunsch weckte, selbst etwas in diesem Genre falls in Noten erklingen ließ, „TAUWETTER“-KONZERT aus dem Vierton-Motiv, das der Solist gleich zu Anfang zu schreiben.“ Dass der Komponist den ersten Satz ist das Vierton-Motiv bei vorstellt, den gesamten ersten Abschnitt. Bis zum als „heiter“ beschrieb, sagt viel über dessen Sinn für Schostakowitsch mehr als ein musikalisches Spiel: Seine Schostakowitschs Cellokonzert Eintritt des zweiten Themas duldet dieses Motiv kaum Sarkasmus. Und auch der Hinweis auf Prokofjew Musik wird so zum sehr per- Nr. 1 entstand sechs Jahre nach etwas neben sich. Das Seitenthema, ebenfalls vom und die Idee des Symphonischen Konzertes erklärt so sönlichen Bekenntnis eines Stalins Tod (1953) und damit Cello vorgestellt, ist ähnlich rigide: Es verbeißt sich manches: Schostakowitschs Cellokonzert gehört in die durch die Zwänge der Kultur- in einer Zeit, in der unliebsame ideologie in seiner Freiheit Komponisten in der Sowjet- förmlich in die Wiederholung eines Tones. Die ersten Tradition der Sinfonia concertante, bei der mehrere eingeschränkten Künstlers. union zumindest nicht mehr zehn Takte dieses Themas sind nicht viel mehr als ein Soloinstrumente dem Orchester gegenübertreten; Die verfremdete Variante des um ihr Leben fürchten muss- penetrantes Bestehen auf dem Hauptton G. So tragen hier sind es neben dem Cello vor allem das Horn und Motivs im Cellokonzert nimmt ten. In der „Tauwetter-Periode“ dabei gewissermaßen die Funk­ unter Nikita Chruschtschow alle Elemente dieser zügigen Marschmusik, in der gelegentlich die Klarinette. Die prominente Rolle tion einer „Tarnmaske“ ein. wurden die Verbrechen und der sich der Cello-Solist fast ohne Pause buchstäblich der Celesta hat Schostakowitsch erklärtermaßen beim Personenkult der Stalinzeit abrackern muss, den Charakter des Zwanghaften und Kollegen Prokofjew abgeschaut. offen kritisiert, die Zensur merklich gelockert, und es kam Getriebenen. Das Gegenbild hierzu ist der ruhige, zu einer zaghaften Annäherung folkloristisch gefärbte zweite Satz. Dessen Thema Doch ist das wirklich alles? Seit der russische Musik- an den Westen. Auch Schosta- wird am Schluss, und nachdem bewegtere Passagen wissenschaftler Solomon Wolkow 1979 die vorgeblich kowitschs Cellokonzert wird daher meist als eine Art „Ab- überstanden sind, in die höchsten Höhen entrückt. authentischen „Memoiren“ des Komponisten auf rechnung“ mit den Vorwürfen Gefärbt vom lichten Klang des Flageoletts und den Markt gebracht hatte, wurde Schostakowitschs verstanden, die seine angeblich untermalt von den Tönen der „himmlischen“ Celesta, anspielungsreiche, mit Zitaten durchsetzte Musik im „volksfremde“ und „formalis- tische“ Musik unter Stalins wird die Melodie förmlich verklärt. Westen gern als tönender Kassiber aus dem Sowjet- Herrschaft getroffen hatten. kerker gedeutet. Der Schostakowitsch-Biograf Ian

4 5 DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH ANTON BRUCKNER Violoncellokonzert Nr. 1 Es-Dur op. 107 Sinfonie Nr. 4 Es-Dur

STREITGESPRÄCH MacDonald vermutete so im Cellokonzert eine Ab- eines Wortes, mit dem man ursprünglich eine ganze rechnung mit der Rolle des Künstlers in der Sowjet­ kultur- und ideengeschichtliche Strömung des 19. Jahr­

Eine besonders konkrete Inter­ gesellschaft, weil der Autor des „Dr. Schiwago“, Boris hunderts zu fassen versuchte. Eine Zeit, die der ver- pretation von Schostakowitschs Pasternak, 1958 gezwungen worden war, den Literatur­ nunftorientierten Epoche der Aufklärung folgte und der Cellokonzert legte der Wid- nobelpreis zurückzugeben. Der deutsche Schosta­ Vorstellung vom rational Erklärbaren aller Dinge wie- mungsträger des Werkes und Solist der Uraufführung, kowitsch-Biograf Bernd Feuchtner wiederum sah in der eine Sehnsucht nach Austausch zwischen Mensch Mstislav Rostropowitsch, nahe. der gehetzten Musik von Op. 107 ein Selbstporträt des und Natur, nach dem Unbewussten und Unerklärlichen Schostakowitsch selbst habe hypernervösen, rastlos produzierenden Komponisten- entgegensetzte. Eine Zeit, in der man deshalb das weit ihn bei den Proben auf ein Stars. – Andeutungen, Anspielungen und die „äsopi- zurück liegende, mythenumwobene Mittelalter, die verstecktes Zitat von Stalins Anton Bruckner (1880) Lieblingslied „Suliko“ im Fi- sche Rede“ in Parabeln haben in der russischen idyllisch im Einklang mit der Natur lebende Land­ nale hingewiesen. Gestützt auf Musik eine große Tradition; Schostakowitsch ist wohl bevölkerung sowie die Welt der Märchen idealisierte, ABSOLUTE ODER diesen Hinweis und Wolkows PROGRAMMMUSIK? „Memoiren“ haben manche deren bedeutendster Erbe. Doch selbst für seine wohin man aus der Realität des Industriezeitalters Exegeten die Duos von Solo- Musik gilt: Sicher ist nur, dass nichts sicher ist. träumerisch entfliehen konnte. Steht Bruckners Vierte Horn und Solo-Cello als Streit- also jener Romantik nahe, wie sie uns in den Schriften In der zweiten Hälfte des gespräch zwischen Komponist Ilja Stephan Novalis’, Jean Pauls oder E. T. A. Hoffmanns, in den 19. Jahrhunderts teilte sich und Diktator gedeutet. die Musikwelt in zwei Lager: Gemälden Caspar David Friedrichs oder den Werken Auf der einen Seite standen Schuberts, Schumanns oder Webers entgegen tritt? – die „Neudeutschen“ um Franz Da sich der Komponist selbst fast nie über Literatur, Liszt und Richard Wagner, die für eine Verbindung der Musik Politik, Philosophie oder Ästhetik geäußert hat, mit anderen Künsten eintraten. bleibt das Bekenntnis zur Romantik im Beinamen Ihrer Meinung nach sollte die Warum „romantisch“? Musik außermusikalische In- seiner Vierten Sinfonie ein merkwürdiger Einzelfall. halte transportieren – ob im Die Frage stellt sich umso dringlicher: Was ist an Musiktheater oder in der ins­ Bruckner singt Als einzige seiner neun Sinfonien hat Anton Bruckner Bruckners „Romantischer“ eigentlich „romantisch“? trumentalen Programmmusik. die Vierte mit einem charakterisierenden Beinamen Auf der anderen Seite standen seinen eigenen Ge- die „Konservativen“ um versehen: Sowohl auf der handschriftlichen Partitur „Bruckner ist der Schubert unserer Zeit. Es ist ein Johannes Brahms, die der An- sang, er hat der Welt als auch im Briefverkehr bezeichnete er sie als seine solcher Strom von Empfindungen in seinem Werke, sicht waren, dass Musik auch „Romantische“. Der gleichermaßen bekenntnishafte und eine Idee drängt so die andere, daß man den ganz „absolut“ genossen wer- etwas mitzuteilen, den könne. Ihre bevorzugten wie auslegungsoffene Titel weckt dabei vielfältige Reichtum seines Geistes wahrhaft bewundern muß“, Gattungen waren Sinfonien, was sein eigenstes Assoziationen. Im heutigen Sprachgebrauch gilt der lautete es in einer Rezension nach der Uraufführung Sonaten und Kammermusik. „Romantiker“ als besonders gefühlsbetonter, schwär- von Bruckners Vierter im Februar 1881 in Wien. Das Bruckner hatte in diesem Streit Eigentum bildet. eine eigenartige Stellung: Als merischer, für pittoreske und phantastische Stimmun­ Urteil liefert eine mögliche Antwort auf die Frage nach bekennender Wagner-Enthu­ Der Rezensent Eduard Kremser gen empfänglicher Mensch – ein Charaktertyp, dem dem „Romantischen“: Als Nachfolger Schuberts, dem siast stand er auf der Seite der zur Uraufführung von der sonderbare Einzelgänger Bruckner mit seinem Inbegriff musikalischer Romantik, wäre Bruckner in- „Neudeutschen“. Dennoch Bruckners Vierter 1881 in Wien schrieb er keine einzige Oper vielfach bezeugten „Zählzwang“, seinen kauzigen An- sofern zunächst nach kompositorischen Kriterien als oder Sinfonische Dichtung, gewohnheiten und seinem unbeholfenen, „rustikalen“ „Romantiker“ einzustufen. Der Vergleich zu Schubert sondern vor allem „absolute“ Auftreten zunächst kaum zu entsprechen scheint. taugt immer dann, wenn der Gegensatz zur klassi- Sinfonien nach traditionellem Vorbild. Doch ist dies freilich nur die trivialisierte Bedeutung schen, „aufklärerischen“ sinfonischen Tradition

6 7 ANTON BRUCKNER ANTON BRUCKNER Sinfonie Nr. 4 Es-Dur Sinfonie Nr. 4 Es-Dur

GENAUER HINGEHÖRT Haydns oder Beethovens aufgezeigt werden soll: sätzlich anders komponiert als etwa in der Dritten. breiter melodischer „Strom“ und Ideenfülle statt kom­ Bruckners singulärem Stil ist immer auch eine strenge,

Das Hornmotiv, mit dem pakter motivischer Arbeit; räumliche Entwicklung in intellektuelle und gar nicht schwärmerisch-romanti- Bruckners Vierte anhebt, zieht ausgedehnten Klangfeldern statt kontrastreicher sche Grundhaltung eigen: Als Organist kam er mit sich mit seinem charakteris­ Dichte; Stimmung statt Struktur. Franz Schuberts älterer Kirchenmusik in Kontakt, studierte die Werke tischen Quintfall und punk- tierten Rhythmus durch die „Große“ C-Dur-Sinfonie ist das Paradebeispiel für Palestrinas, machte endlos Kontrapunktübungen und ganze Sinfonie. Im Mittelteil diese „romantische“ Tendenz – und tatsächlich hat zeigte sich durch sein Interesse an formaler Konstruk­ des 1. Satzes wird es zunächst Bruckners Vierte mit ihr in punkto Dimension und tion nicht zuletzt auch als Jünger Beethovens. Das Fi- mit dem Hauptthema kombi- Struktur einiges gemeinsam, ja, sogar das Instrument, nale der dreimal revidierten Vierten Sinfonie erfuhr niert, später von den Bratschen Anton Bruckner und umspielt und schließlich in den mit dem beide Komponisten ihren sinfonischen seine letzte Bearbeitung bezeichnenderweise, nachdem Richard Wagner. Karikatur erhabenen Choralzeilen der Riesenbau eröffnen, ist identisch: Es ist das Horn als Bruckner Studien zu Schlussbildungen bei Beethoven von Otto Böhler Blechbläser aufgegriffen, die den Höhepunkt der Durchfüh- Symbol für Natur und Jagd, mithin ein ausgesprochen veröffentlicht hatte. Tatsächlich hielt auch der bereits rung bilden. Auch die Coda „romantisches“ Instrument. Durch seine Kenntnis zitierte Rezensent über Bruckner fest: „Der treffliche BRUCKNER UND WAGNER (Schlussgruppe) wird mit dem der Werke Schuberts, Webers, Berlioz’ und vor allem Organist, hervorgegangen aus der Schule der alten Motiv beschlossen. Es ist zu- gleich die Initiale des weit Wagners wurde Bruckner zweifellos von der roman­ Kontrapunktisten, könnte sich sehr gerne ebenso gut Bruckner war ein glühender gespannten Cello-Themas im tischen Musiksprache geprägt. in den herkömmlichen Formen bewegen und sich in Verehrer der Musik Richard 2. Satz, während das Scherzo diesen Formen ebenso präzise ausdrücken. […] Wagners und orientierte sich mit seinen Hörnerklängen über in seinen Werken deutlich an Streichertremolo wiederum Überdies ist in der Vierten auch das Ideal einer roman­ Bruckner ist ein Wagnerianer, allerdings genau so, wie der chromatischen Harmonik, eindeutige Bezüge zur Sinfonie- tischen Einheit verwirklicht, wie sie Robert Schumann Wagner ein Beethovianer, wie Beethoven ein Mozarti­a­ opulenten Klangfülle und Ins- Eröffnung herstellt. Das Haupt­ postulierte: Alles ist irgendwie mit allem verwandt, ner ist“ (und man darf getrost fortsetzen: „wie Mozart trumentation des Bayreuther thema des 4. Satzes mutet dann Meisters. Der Musikwissen- wie eine Vergrößerung des ein Motto-Thema durchzieht das gesamte Werk, und ein Bachianer ist“). In der Tat trifft bei Bruckner vieles schaftler Constantin Floros hat Quintfalls zum Oktavfall an. die weiteren Themen und Motive lassen sich aus die- aufeinander und verschränkt sich zu seiner ganz eigen­ zudem das romantische Bild Außerdem erklingen hier Re- ser Urzelle ableiten. In Bruckners Vierter Sinfonie ist ständigen Musiksprache: barocke Kontrapunktik, mit den Hornrufen zu Beginn miniszenzen an das Hornthema der Vierten Sinfonie (siehe dazu des 3. Satzes, und der erste es der einleitende Hornruf mit seinem charakteristi- klassische Motivarbeit, romantische Stimmung, Har- auch Bruckners poetische große Dur-Ausbruch fällt zu- schen Quintfall und der „romantischen Beugung um monik und Instrumentation; Einflüsse von Palestrina, Beschreibung, S. 10) mit dem- sammen mit einem direkten eine sehnsüchtige Halbstufe nach aufwärts“ (August Bach, Beethoven, Schubert und Wagner. jenigen aus dem 2. Akt von Aufgriff des Hornrufs aus dem Wagners „Lohengrin“ (Antwer­ 1. Satz. In der dritten Themen- Göllerich). Er erscheint über typischem Bruckner-Tre- pen im Morgengrauen) ver­ gruppe ist erneut der Hornruf molo zu Beginn des 1. Satzes und fungiert hier gleich- Die Spurensuche nach dem „Romantischen“ in glichen. Ob diese Anspielung auszumachen, diesmal als ob sam als atmosphärischer Vorspann, bevor das eigent- Bruckners Vierter muss also über rein musikalische bewusst geschah, sie dahin­ „zu Kampf und Trutz“ (August gestellt. Denn insgesamt Göllerich) geblasen werde. liche Hauptthema formuliert wird. Dennoch prägt Kategorien hinausgehen. Wenn diese Sinfonie von fungiert das Horn-Motiv bei In der Coda schließlich führen der Hornruf das weitere Geschehen stärker als dieses. den Zeitgenossen wie auch von nachfolgenden Inter- Bruckner, anders als bei zuerst düstere, denn erhaben preten mit schmückenden Titeln wie „Bergwelt“- oder Wagner, mehr thematisch als emporsteigende Akkorde zur tonmalerisch. Zudem gehören letzten Apotheose des allgegen­ Romantische Einheit, Harmonik oder Weiträumigkeit – „Waldsinfonie“, „Bild deutschen Mittelalters“ und solche Eröffnungen – vergleich­ wärtigen Hornrufs. dies sind allenfalls musikalische Tendenzen. Weder „Hymnus an die Natur“ belegt wurde, dann scheint sie bar dem Trompeten-Motiv in gibt es eindeutig bestimmbare Kategorien einer spe- doch auch etwas mit jener eingangs beschriebenen der Dritten Sinfonie oder den Signalen in der Neunten Sinfo­ zifisch romantischen Musiksprache, noch lässt sich Kunstströmung der Romantik gemein zu haben? – nie – zu Bruckners sinfonischen behaupten, Bruckner habe in seiner Vierten grund- Von Bruckners Freund Joseph Schalk sind dazu grund­ Markenzeichen.

8 9 ANTON BRUCKNER ANTON BRUCKNER Sinfonie Nr. 4 Es-Dur Sinfonie Nr. 4 Es-Dur

legende Worte überliefert: Ein Charakter „zarter Feier­­ revidierte und 1881 uraufgeführte 2. Fassung seiner Weil die gegenwär- lichkeit“ kennzeichne das Werk. „Mag er sich in Stim­­- Sinfonie eigens neu komponierte. Die signalhaften tige Weltlage geistig mungen offenbaren, die mehr der großen äußeren Horn-Triolen bezeichnete der Komponist als „Jagd- Natur abgelauscht erscheinen, wie im ersten und dritten Thema“, und ohne weiteres lässt sich in der dreifachen gesehen Schwäche Satze, oder in solchen, die unmittelbarer Ausdruck Steigerung das Herannahen eines Jagdtrosses hören.“ ist, flüchte ich zur inneren Seelenlebens sind, wie im Andante und Finale, In einem Brief an Wilhelm Tappert erläuterte Bruckner er verkörpert das Bewußtwerden einer reinen Idealität 1878 den Inhalt des neuen Scherzos, „welches die Jagd Stärke und schreibe und ihrer Übereinstimmung mit dem Unendlichen, vorstellt, während das Trio eine Tanz­weise bildet, kraftvolle Musik. Ewigen, das hinter den Erscheinungen waltet. In die- welche den Jägern während der Mahlzeit aufgespielt Bruckners eigenhändige Partitur zur Vierten Sinfonie, sem Innewerden aber wurzelt das Grund­gefühl der wird.“ In der Tat sorgen im Mittelteil volks­tümliche Anton Bruckner 1874, Beginn des 1. Satzes Romantik.“ Aus diesen Zeilen spricht freilich ganz der Quinten und eine Leierkasten-Melodie für den Ein- während der Entstehung seiner Vierten Sinfonie Geist romantischer (Natur-)Philosophie. Ob Bruckner druck einer „romantisch“ konnotierten Dorf-Idylle. R O M A N T I S C H E solchen Denkfiguren geneigt war, ist fraglich. Aus MORGENSTIMMUNG seinem Munde wirken die (nachträglichen) Kommen- Mag man sich auch zu Beginn des 4. Satzes mit seinen tare über das „Romantische“ seiner Vierten ungleich Reminiszenzen an das Jagd-Thema die „Schauer der Mittelalterliche Stadt – Morgen- pragmatischer: „I’ hab mir ’denkt, wia der Türmer Nacht, die nach einem schön verlebten Tag herein­ dämmerung – von den Stadttür- in der Fruah ’s neue Deutsche Reich anblast“, soll er brechen“ (Bruckner) vorstellen, mag es wirken, als ob men ertönen Morgenweckrufe – die Tore öffnen sich – auf stolzen gegenüber dem Dirigenten Felix Mottl gesagt haben. die Jäger im Dunkel des nebligen, regnerischen Waldes Rossen sprengen die Ritter nach Hause drängen, mag Bruckner den beeindru- hinaus ins Freie – der Zauber des Für das gezupft begleitete Bratschenthema des 2. Satzes ckend feierlichen Schluss der Sinfonie als „Schwanen- Waldes umfängt sie – Waldes- rauschen, Vogelgesang – und so ist von Bruckner das Stichwort „Ständchen“ überliefert, lied der Romantik“ bezeichnet haben – ernster als alle entwickelt sich das romantische das er in die Partitur der 1. Fassung von 1874 eintrug. derartigen inhaltlichen Hinweise ist seine lapidare Bild weiter. Später erklärte er, in diesem Andante werde die durch­ Äußerung zu nehmen: „Und im letzten Satz – ja da

Bruckners eigene Kommentare aus romantische Vorstellung eines „verliebten Bub, woaß i’ selber nimmer, was i’ mir dabei denkt hab!“. zum 1. Satz der Vierten Sinfonie der Fensterln geht“, dargestellt. Den trauermarscharti­ Anton Bruckners Vierte Sinfonie ist keine Programm- gen Satz mit seinen gewaltigen Steigerungen vor Ohren, musik im engeren Sinne, keine musikalische Abbil- muss der Ernst solcher launigen Hinweise jedoch be- dung konkreter Szenen. Sie ist eine „romantische Sin- zweifelt werden. Wenn sich hier der Mittelteil aus einer fonie“ mit all der bewussten Assoziationsfülle, die Art „Schreitmotiv“ entwickelt, das an einen Gedanken ein solcher Begriff eröffnen kann, ein „musikalischer aus dem später entstandenen „Parsifal“ von Wagner Ausnahmefall“ von großer „Originalität der Ideen“, erinnert, so scheint viel eher das von Schalk tradierte wie es weitsichtige Rezensenten schon damals in Wien Bild „mittelalterlicher Askese der Lebenspilgerfahrt feststellten, als die Uraufführung der Vierten dem des Büßers“ zuzutreffen, wenn denn überhaupt eine Komponisten einen der ersten größeren Erfolge in außermusikalische Deutung im Sinne des Romanti- dieser Stadt bescherte. Bis heute gehört die „Roman- schen gefunden werden muss ... Weniger spekulativ tische“ zu Bruckners populärsten Sinfonien. nehmen sich dagegen die romantischen Interpretatio­ nen zum Scherzo aus, das Bruckner für die 1878 – 80 Julius Heile

10 11 DIRIGENT VIOLONCELLO

Christoph Eschenbach Nicolas Altstaedt

Immer schon wurde versucht zu beschreiben, was Der deutsch-französische Cellist ist einer der vielsei- das Phänomen Christoph Eschenbach ausmacht. Ein tigsten Musiker unserer Tage. Als Solist, Dirigent und schwer zu fassendes Gefühl, das seine Konzerte zu- Künstlerischer Leiter führt er Repertoire von der Alten verlässig auslösen und das durch die lange Liste seiner bis zur Gegenwartsmusik auf. 2018/19 ist er Artist in äußeren Stationen und Erfolge allenfalls ansatzweise Residence beim NDR Elbphilharmonie Orchester und erklärt wird: weltweit aktiv als Dirigent und Pianist, war im Laufe der Spielzeit bereits mit vier weiteren berühmt für die Breite seines Repertoires und die Tiefe Programmen in unterschiedlichen Besetzungen zu seiner Interpretationen, unermüdlich als Förderer erleben. 2010 wurde Altstaedt mit dem Credit Suisse junger musikalischer Talente, Träger höchster musika­ Young Artist Award ausgezeichnet, der mit seinem STATIONEN ALS lischer Ehren. Das geradezu mit Händen zu greifende Debüt bei den Wiener Philharmonikern beim Lucerne HÖHEPUNKTE 2018/2019 CHEFDIRIGENT UND KÜNST - Charisma des Künstlers speist sich aus biografischen Festival verbunden war. Seitdem tritt er mit Orchestern LERISCHER LEITER und intellektuellen Quellen ebenso wie aus erlebter in aller Welt auf, darunter das Tonhalle- Orchester • Artist in Residence beim Geschichte. Eine rare Kombination aus persönlichem Zürich, die Tschechische Philharmonie Prag, das Tokyo NDR Elbphilharmonie • Tonhalle-Orchester Zürich Schicksal, musikalischem Bildungsweg und der Zu­ Metropolitan, Detroit Sympho­ny und Helsinki Philhar­ Orchester (19 82 – 86) • Konzerte mit dem Deutschen • Houston Symphony Orchestra gehörigkeit zu einer Generation, die die Tiefen und monic Orchestra. In der vergangenen Saison gab er Symphonie-Orchester Berlin, (19 8 8 – 9 9) später auch die Höhen des 20. Jahrhunderts durchlitten seine Recital-Debüts u. a. in der Carnegie Hall New York, Orchestre National de France, • Schleswig-Holstein Musik und durchlebt hat. Es wäre dennoch grundfalsch, in im Théâtre des Champs-Élysées Paris und in der Rotterdam Philharmonic Festival (1999 – 2002) Orchestra, BBC Symphony • NDR Elbphilharmonie Eschenbach nur den Lordsiegelbewahrer des kultu- Koerner Hall Toronto. Außerdem war er Artist in Spot- Orchestra, Finnish Radio Orchester (1998 – 2004) rellen Erbes zu sehen. Dafür ist seine künstlerische light am Concertgebouw Amsterdam. 2012 wurde ihm Symphony Orchestra, • Philadelphia Orchestra Neugier allzu wach, seine unverminderte Lust, weltweit auf Vorschlag von die Leitung des Kam­ Il Giardino Armonico und (2 0 03 – 0 8) Yomiuri Symphony Orchestra • Orchestre de Paris (2000 – 10) auf der Bühne zu stehen und mit möglichst unterschied­ mermusikfests Lockenhaus anvertraut. Darüber hinaus in der Suntory Hall Tokio • Washington National lichen Orchestern zu arbeiten. Seine größte Passion ist Altstaedt Nachfolger von Ádám Fischer als Chef­ • Europa-Tournee mit dem Symphony Orchestra (2010 – 17) bezieht sich ohnehin längst nicht mehr auf die eigene dirigent der Haydn- Philharmonie. 2019 und 2020 wird SWR Symphonieorchester unter der Leitung von Karriere. Er möchte die Fackel weitergeben an die er Künstlerischer Leiter der Pfingstfestspiele Ittingen AUSZEICHNUNGEN nächste Generation, als Mentor, der sich selbst inspi- sein. Zu Altstaedts ständigen Kammermusikpartnern • Auftritte als Dirigent beim (AUSWAHL) rieren und mitreißen lässt von der Energie und Moti­­ gehören , , Tabea Zimmer- SWR Stuttgart, Orchestre Philharmonique de Radio vation der Jungen. Zu seinen Entdeckungen zählen mann, Christian Tetzlaff, Alexander Lonquich, Jörg France, Zürcher Kammer- • Bundesverdienstkreuz Lang Lang, Julia Fischer oder Daniel Müller-Schott. Widmann oder das Quatuor Ébène. Mit ihnen gastiert orchester, Scottish Chamber • Ordre de la Légion d’honneur Für die künftige Weltklasse engagiert er sich zudem er regelmäßig bei den Festivals in Salzburg, Verbier, Orchestra und Orchestre de • Commandeur dans l’Ordre Chambre de Lausanne des Arts et des Lettres als Künstlerischer Beirat und Dozent der Kronberg Luzern, Gstaad und Schleswig-Holstein. Altstaedts • Grammy Award Academy. Schließlich wird Eschenbach selbst nicht vielfach ausgezeich­nete Diskografie enthält u. a. eine • Ernst-von-Siemens-Musikpreis müde, zu neuen Ufern aufzubrechen – in naher Zu- Aufnahme der Cello­konzerte von C.P.E. Bach sowie kunft auch an die Spree: Ab September übernimmt seine jüngste CD „Four Cities“ mit Fazil Say. Altstaedt er die Leitung des Konzerthausorchesters Berlin. spielt ein Cello von Francesco Rugeri (Cremona, 1675).

12 13 laf Malzahn O IMPRESSUM Foto: Malzahn Olaf

Herausgegeben vom NORDDEUTSCHEN RUNDFUNK Programmdirektion Hörfunk Orchester, Chor und Konzerte Rothenbaumchaussee 132 20149 Hamburg Leitung: Achim Dobschall

NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTER Management: Sonja Epping

Redaktion des Programmheftes Julius Heile

Die Einführungstexte von Dr. Ilja Stephan und Julius Heile sind Originalbeiträge für den NDR. MARTIN GRUBINGER Fotos AKG-Images (S. 4, 7, 9, 10) Eric Brissaud (S. 12) Marco Borggreve (S. 13)

NDR Markendesign Design: Factor, Realisation: Klasse 3b Druck: Eurodruck in der Printarena Litho: Otterbach Medien KG GmbH & Co.

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des NDR gestattet.

DAS NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTER AUF NDR KULTUR Regelmäßige Sendetermine: NDR Elbphilharmonie Orchester | montags | 20.00 Uhr Das Sonntagskonzert | sonntags | 11.00 Uhr

UKW-Frequenzen unter ndr.de/ndrkultur, im Digitalradio über DAB+ 14 Hören und genießen

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