Nahaufnahme aus Thüringen (II): Landolf Scherzer hat einen Landrat bei der Arbeit begleitet und vor Ort den Prozeß der deutsch-deutschen Vereinigung aufgezeichnet. Im letzten Teil der Serie schildert der ostdeutsche Schriftsteller zwei turbulente Versammlungen, in denen sich des Volkes Zorn entlädt. „Kaum noch Unterschiede, was?“ F. HELLER / ARGUM F. Rhöndorf Oechsen: „Habt ihr uns denn gefragt, ob wir unter Naturschutz gestellt werden wollen?“

er Landrat plant mit seinem persönlichen Referenten Aus Erfurt hat Baldus ein Regierungsfax erhalten, in dem ihm Kürschner die nächsten Termine. Am Mittwoch Kreis- mitgeteilt wird, daß nach den neuesten Plänen der Innenminister Dtagssitzung, aber in Oechsen auch eine Einwohnerver- Schuster den Kreis an die Kreise Eisenach, Schmal- sammlung mit dem Amerikaner Mr. Werner, und die Oechsener kalden und Meiningen aufteilen will. Alarmstufe 1. Alle Mitar- bestehen darauf, daß Stefan Baldus persönlich erscheint. „Ich beiter wieseln im Büro umher, organisieren Protestschreiben, werde trotz der Kreistagssitzung nach Oechsen fahren. Verscho- sammeln Bürgerbriefe. Es geht um Existenzen. Baldus scheint bene Schlachten sind meist schon verlorene Schlachten.“ ungerührt, er fährt am Nachmittag mit seiner Frau nach Fulda. Ein Gespräch mit den Pfarrern sei nötig. In einem weiteren Brief Morgens begrüßt mich nun der Landrat immer mit Handschlag protestieren sieben Pfarrer des Kreises energisch gegen die ge- und freundlichem Lächeln. Im Laufe des Tages nutzt sich das plante Mülleinlagerung in den Kaligruben an der Werra. „Müll Lächeln ab. Die bevorstehende Aufteilung des Kreises, die dro- statt des weißen Goldes? Wollen Sie, Herr Landrat, die Umwelt hende Arbeitslosigkeit der Kalikumpel, der Streit mit dem Ame- und die Menschen dem Gewinn der Müllfirmen opfern?“ Baldus rikaner wegen des Oechsener Gewerbegebietes, der Konkurs der empört sich: „Die sollen anständig predigen, anstatt Politik ma- Klosterbrauerei und des Hartmetallwerks Immelborn lassen ihn, chen zu wollen!“ während der kurzen Terminpausen hastig an seiner Pfeife ziehend Ich sage ihm, daß die Pfarrer zu DDR-Zeiten fast die einzigen und in seinen Stoppelbart brubbelnd, im Eiltempo durch das Zim- gewesen seien, die es gewagt hätten, Umweltproteste zu organi- mer marschieren. sieren. „Aber wir leben inzwischen nicht mehr in der DDR, Herr Vier Stunden lang debattiert Baldus heute mit Experten der Er- Scherzer. Das müssen nun auch die Pfarrer begreifen.“ furter Wirtschaftsplanungsfirma Ercosplan über Ökologie, Müll und Verbrennungsanlagen auf dem Gelände des Kalibetriebes in © 1997 Aufbau-Verlag, Berlin. – Der ungekürzte Text von Landolf Scherzer erscheint Merkers. Ercosplan-Chef Dr. Bartel dankt dem Landrat für das am 1. August als Buch unter dem Titel „Der Zweite“ (270 Seiten; 29,90 Mark). Vertrauen in sein Büro, denn wegen der Planung eines Gewerbe-

86 der spiegel 30/1997 Serie gebietes würden sich heutzutage Kommune, Kreis und das Land Verkauf der Hopfenaue an Enterprises nicht einmal Eigentums- in die Haare kriegen, weil jeder einem anderen Planungsbüro die probleme.“ Option erteilt hätte. Der Vertreter des Umweltamtes entgegnet, daß es nach dem Baldus winkt ab, kein vorzeitiges Dankeschön, er wisse noch Thüringer Naturschutzgesetz nicht möglich sei, ohne weiteres nicht einmal, ob der Recyclingpark in Merkers zu realisieren sei. auf der grünen Wiese im Landschaftsschutzgebiet der Rhön zu Er sehe zwei entscheidende Kampffronten: die innere und die bauen. Zwischenrufe aus dem Saal. „Wir fressen aber kein grü- äußere. Wobei der Kampf nach außen wahrscheinlich leichter zu nes Gras!“ „Wozu ein Landschaftsschutzgebiet? Damit die Ar- gewinnen sei. Dazu müßte man einen der Müllströme mit Wert- beitslosen dort spazierengehen und frische Luft schnappen kön- stoffen (die im Osten zwar mitfinanziert würden, aber vor allem nen?“ „Wir brauchen hier keine Naturschutzwiese, sondern die nach Köln oder in den Schwarzwald gelenkt würden) nach Mer- 700 Arbeitsplätze des Amerikaners.“ „Habt ihr uns denn gefragt, kers umleiten. „Sonst deponieren wir hier nur wertlosen Haus- ob wir unter Naturschutz gestellt werden wollen?“ müll.Aber ich denke an Elektroschrottrecycling, an Autorecycling, Mitten im Tumult geht Mr. Werner aus der ersten Reihe nach Plast- und Papierverwertung.“ Dieses Umlenken könnte man, vorn zum Rednerpult. Er ist klein und spricht kurzatmig, aber fast obwohl die Konkurrenz auf dem Müllmarkt immer unerbittli- ohne Akzent. „Ich vertrete 39 amerikanische Unternehmen, die alle cher würde, noch organisieren. zu den 600 größten der Welt gehören. Sie wollen als Anfangska- Schwieriger sei der Kampf nach innen, denn der Gegner wür- pital 130 Millionen Dollar ohne Vorbedingungen nach Oechsen de die Emotionen der Leute als wirkungsvollste Waffe benutzen. bringen.Aber scheinbar sind 130 Millionen für den Landkreis kein „40 Jahre lang haben die Funktionäre den Leuten in Merkers er- Geschäft, denn nichts geschieht. Die Bürokraten tun nur alles, um zählt, daß aus dem Kalischornstein kein Dreck herauskommt. uns zu hemmen.Wenn denen die 700 Arbeitsplätze, die ich für euch Aber kilometerweit färbte sich die Wäsche auf der Leine schwarz. schaffen will, zuviel sind, dann sollen sie es einfach sagen.“ Weshalb sollten sie heute den Beteuerungen der Experten, daß Die Frau neben mir erzählt, daß Mr. Werner krebskrank sei. aus einer Müllverbrennungsanlage in Merkers nur reine Ge- Trotzdem opfere ein Fremder, ein Amerikaner, sich für die Oech- birgsluft entweicht, glauben?“ Der Herr Wollny, Bürgermeister in sener auf. Die eigenen Leute dagegen würden dem ehrenwerten Merkers, habe in einem Presseartikel geschrieben: „Keiner, der Mann nur Steine in den Weg legen. eine solche Anlage plant, wohnt persönlich in Merkers ... Unser Baldus geht nach vorn. Er hält sich am Pult fest, redet von oben Kreis darf nicht die Müllkippe von Europa werden. Davor haben herab, nicht locker und gewandt wie sonst, sondern im eckigen Be- wir Angst.“ Dazu kämen noch Anti-Müllpredigten der Pfarrer des amtendeutsch. „Verantwortung … Verpflichtung … Versprechung Kreises von der Kanzel herunter und die von den Grünen ge- … Verordnung …“ Auch als Amerikaner müßte man sich genau schürten Gerüchte über Giftmüll- und Sondermüllverbrennung. an deutsche Gesetze und Vorschriften halten: „Herr Werner, Sie sollten sich eines sehr gut merken: n der Gemeinde Oechsen hof- Für ein Gewerbegebiet, auch wenn fen alle Leute, die ich befrage, es von Amerikanern finanziert Iauf die Arbeitsplätze, die „der wird, steht eine gesetzlich saubere reiche Onkel aus Amerika“ be- Planung im Mittelpunkt.“ Da steht schaffen wird. Fast jeder zweite ar- Mr. Werner in der ersten Reihe auf beite im Kali.Wenn Kali sterbe und und ruft nach vorn: „Herr Landrat, Mr.Werner die Grundstücke für sei- Sie irren! Ich stehe heute hier im ne Mineralwasserfabrik nicht kau- Mittelpunkt!“ fen dürfe, werde die Rhön wie vor Beifall im Saal. 1945 zum Armenhaus von Deutsch- Und Baldus schreit: „Mr.Werner, land. Ihr Auftreten und Ihr Benehmen Das Volk von Oechsen (mit Aus- sind so schlecht und mies wie Ihre nahme der Kinder und Kranken) Argumente!“ hat sich an diesem Abend in der Stille im Saal. Danach Pfiffe und Turnhalle versammelt. Alle Bänke Buh-Rufe. „Treten Sie ab, Baldus!“

sind besetzt, auch die Sprossen- D.-S. HEURICH „Verräter!“ „Drecksack, wir brau- wände, Stufenbarren und Schwebe- Landrat Baldus*: „Gesetzlich saubere Planung“ chen Mr. Werner und nicht euch balken. Baldus kommt eine Stunde Wessis.“ zu spät. Er schreitet nach vorn (eine Frau neben mir an der Spros- Mr. Werner nutzt die Chance, als Baldus mühsam, um Fassung senwand sagt: „Das ist der Scheiß-Wessi“) und setzt sich in die bemüht und kreidebleich, wieder in der ersten Reihe sitzt. „Herr erste Reihe. Baldus, Sie sind hier fehl am Platz, denn Sie haben nicht einmal Bürgermeister Wreschniock begrüßt den Landrat vom Präsi- genügend Verstand, um zu beurteilen, ob wir deutsche Gesetze dium aus und wiederholt die Chronologie des zweijährigen Ver- brechen.“ suches, in der Oechsener Hopfenaue Baurecht für die von Mister Jubelndes Volk. Werner vertretene amerikanische Firma Christa Enterprise und Und Bürgermeister Wreschniock gibt noch eins drauf. „Es ist die Investorengruppe STL International IMT zu erhalten. Schuld richtig gesagt worden, nicht der Herr Landrat, sondern Mr. Wer- am bisherigen Mißerfolg hätten nur das Landratsamt in Salzun- ner ist heute hier der Mittelpunkt.“ gen und die Erfurter Behörden, denn weil das geplante Gewer- Versöhnliche Vorschläge aus dem Präsidium: Gesprächstermin begebiet am Rande des Unesco-Biosphärenreservats Rhön liege, für Mr. Werner beim Thüringer Wirtschaftsminister, neue Gut- erteilten die Behörden ständig neue Auflagen, beispielsweise Pro- achten vom Umweltamt. bebohrungen zum Wassernachweis. Aber Mr.Werner ist mit den mündlichen Versprechungen nicht „In Wirklichkeit“, so Wreschniock, „geht es aber gar nicht um zufrieden. „Geben Sie es mir endlich schriftlich, damit ich mei- das Biosphärenreservat. Es paßt den Herren in Erfurt und Sal- nen Auftraggebern sagen kann: In der Rhön ist das Land, in dem zungen nur nicht, daß wir ohne ihre Berater, ohne ihre Mil- ihr bauen werdet! Ich bin doch nach Oechsen gekommen, um euch lionenkredite und ohne ihre Kontrolle dieses Projekt selber hier goldene Brücken zu bauen. Dafür habe ich auf Millionen-Ge- realisieren und allein 700 Arbeitsplatze schaffen. 15 Hektar der schäfte in Asien verzichtet und persönlich große finanzielle Op- Fläche befinden sich in kommunalem Besitz, es entstehen beim fer gebracht.“ Hinter mir an der Wand hängen sehr alte Anschauungstafeln * Mit Ehefrau beim einem Faschingsfest in Bad Salzungen. für den Sportunterricht. Ich studiere die Hilfestellungen für die

der spiegel 30/1997 87 Serie verschiedenen Turngeräte. alten Bundesländern. Der „Merke: Beim Knieauf- andere, der Habenichts, sei schwung kräftiger Schub am noch unter seinem Vorgän- Knie und …“ ger im Verkehrsamt vom Rat Mr. Werner geht zum des Kreises tätig gewesen, Rednerpult: „Um für euch der habe die Informationen, Arbeitsplätze zu schaffen, die Beziehungen und die war ich nicht einmal am Aufträge besorgt. Ich sage Weihnachtsabend zu Hause ihm, daß ich annahm, beide in Amerika. Da hat meine würden aus den alten Bun- Frau gesagt: Du hast keine desländern kommen. Er Heimat mehr! Es tut mir grient: „Kaum noch Unter- sehr leid, aber ich muß schiede, was?“ euch jetzt sagen: Ich werde von Oechsen weggehen! m Betriebstor des Im- Meine Kräfte sind aufge- melborner Hartme- braucht, meine Koffer schon Atallwerkes stehen Ar- gepackt. Vielleicht werden beiter in dicken Wattejacken wir eines Tages zurück- und Filzstiefeln. Sie trampeln kehren.“ mit den Füßen und gestiku-

Die Frau neben mir heult. FREIES WORT lieren wie Taubstumme mit Ich schaue zweimal hin, sie SED-Chef Honecker im Kalibetrieb Merkers (1976): „Sieben Gramm links“ den Händen. Alles an ihnen heult wirklich. bewegt sich. Trotzdem trop- „Merke: Beim Felgaufschwung ist zu beachten, daß immer fen bei einigen die roten Frostnasen. Ich muß mich beim Pförtner eine Hand in Hilfestellung …“ anmelden. „Strenge Arbeiterkontrolle“, sagt einer der Frierenden, Schimpfend läuft das Volk nach einer Weile auseinander. „damit nicht noch eine Million zum Tor hinausgeschleppt wird.“ Ich frage sie nach dem Betriebsratsvorsitzenden Peter Schaaf. eute stolziert der Landrat nicht wie üblich im kerzenge- „Der organisiert heißen Tee in der Betriebskantine.“ Ich solle war- raden Offiziersschritt in seinem Zimmer herum, sondern ten. Außerdem könnten sie mich auch ohne ihren Betriebsrats- Hläuft krumm wie der Glöckner von Notre Dame. Hexen- vorsitzenden über den Scheiß informieren, der hier gelaufen sei. schuß. Ich erzähle ihm etwas von „aufrechten Gang üben“. Doch Früher 1400 Beschäftigte, jetzt noch 300, aber nicht weil der Be- diese Anspielung aus DDR-Zeiten versteht er nicht. trieb veraltet sei. Sie hätten schon in der DDR mit modernsten Mit der Fernbedienung unterbricht der Landrat die Haydn- westlichen Maschinen produziert. Ihre Wendeschleifplatten, Dreh- Sinfonie. Draußen wartet ein, wie Baldus sagt, „Jungunternehmer stähle, Spezialwerkzeuge wären allererste Qualitätsarbeit, in al- aus den alten Bundesländern“. Eine Straßenplanungsfirma. Den ler Welt begehrt gewesen. Aber mit der Wende hätte die Aus- Namen solle ich nicht aufschreiben. Die zwei jungen Männer re- plünderung begonnen. den sehr laut und sehr schnell, erklären, daß sie die Datenbank „Zuerst kam Krupp-Widia, die wollten den Betrieb überneh- aller Straßen im Kreis Bad Salzungen nur zum Vorteil des Land- men, aber was sie ,übernahmen‘ war nur die Kundenkartei und ratsamtes und außerdem sehr billig angelegt hätten, nun wäre eine einige Kollegen aus der Vertriebsabteilung. Danach wurden von effektive Straßeninstandhaltung möglich. der Treuhand drei geschäftsführende Berater – wir nannten sie die Baldus fragt, ob sie, weil der Auftrag „so billig gewesen wäre“, Drei Blinden – kommissarisch eingesetzt. Die nahmen lieber auch gleich noch die nicht zur Zuständigkeit des Kreises gehören- gleich bares Geld, nämlich dicke Beraterhonorare, im Monat so den Bundes- und Landesstraßen mit ausgemessen und berechnet viel, wie unsereiner in einem Jahr nicht verdient.“ Und den Rest hätten und wie er sich wohl die 100000 Mark Differenz ihrer hätte Kauhausen rausgeschleppt. Rechnungen erklären solle. Da sind sie plötzlich still, und der eine Den Betriebsratsvorsitzenden Schaaf finde ich nicht in der Kan- von beiden stottert etwas von einem Computerfehler. tine, sondern in seinem Büro. Er trägt eine blaue, ölverschmierte Aber Baldus schlägt einen Kompromiß vor: Wenn sie bei ihrem Monteurskombination, die Hände sind schwielig, ein klapperdür- nächsten Auftrag für das Landratsamt den Preis deutlich senken rer, aber wahrscheinlich zäher Körper. Auf seinem Tisch liegt eine würden, könnte er von ei- zerbeulte Brotbüchse aus Aluminiumblech, und daneben steht eine ner Weiterleitung der Rech- abgewetzte schweinslederne Aktentasche der fünfziger Jahre. nungsdifferenz absehen. Eil- Schaaf erzählt von den Sternstunden der Betriebsdemokratie fertig, sich mit Worten und nach der Wende. „Die alte BGL wurde abgesetzt, und danach, das Haltung immer wieder ver- ist wohl einmalig, durften alle Betriebsangehörigen über ihre al- beugend, versprechen sie ten beziehungsweise neuen Direktoren abstimmen. So was gab’s Preisnachlaß. „In Größen- ja nicht mal im Westen. Wir haben damals außer dem techni- ordnungen, Herr Landrat, schen Direktor Voigt die gesamte alte Leitung und die meisten Un- in Größenordnungen.“ Also einsichtigen mit den ‚sieben Gramm links‘ – so nannten wir das doch Schonung für seine SED-Parteiabzeichen am Revers – aus dem Betrieb gejagt. Den „Landsleute“, denke ich. Kauhausen, den hat ja dann die Treuhand ausgesucht.“ Er sagt, als sie draußen Er kramt in seinen Unterlagen, holt einen Zeitungsartikel, der sind: „Solche zwei finden noch nicht einmal ein Jahr alt ist, liest laut vor: „Den Zuschlag er- sich immer: Denn wo ein hielt … ein Familienunternehmen mit gesunder Bilanz. Der Name Bettler ist, findet sich sehr Kauhausen scheint den Ausschlag für den Kaufzuschlag gegeben schnell auch ein Dieb.“ Der zu haben … Engagement für das Unternehmen, sparsames Wirt- eine, der Geldgeber der schaften und Qualitätsarbeit sind für den Wahlrheinländer die beiden, stamme aus den Grundvoraussetzung, erfolgreich am Markt bestehen zu können.

C. HARTMANN / SÜDTHÜRINGER ZEITUNG C. HARTMANN Die Voraussetzungen sind in Immelborn vorhanden. Die Beleg- * Ausriß aus der südthüringer zei- Heilsversprecher Werner* schaft hochqualifiziert und motiviert, wie Kauhausen es nur noch tung. „Goldene Brücken bauen“ von Japanern kenne …“

90 der spiegel 30/1997 Schaaf: „Wer von uns ahnte damals, daß der gutsituierte Un- niedrig, daß sich nicht einmal ein Hase, geschweige denn ein ternehmer im Rheinland mangels Geld in einem Reihenhaus Mar- Mensch hinter ihnen schützend verkriechen könnte. Freies Schuß- ke ‚Proletariat‘ wohnte. Das heißt, die Treuhand hätte es wissen feld! müssen!“ Der dicke Beobachtungsturm ähnelt einem Leuchtturm. Doch Ich sage ihm, daß ich nicht begreife, weshalb er, ein alter Fuchs, auf der oberen, mit Fensterscheiben verglasten Rundumplatt- seit über 30 Jahren im Betrieb, als Betriebsrat nichts bemerkt form, von der aus die Feuerlampen des Leuchtturmes die Schif- habe. fe aus der Dunkelheit der Meere in den sicheren Hafen geleiten, „Dem haben alle vertraut, der hat die Leute besoffen ge- sind Suchscheinwerfer montiert. Die Tür in das Innere des Turmes quatscht, konnte reden, als ob er es bei den Jesuiten gelernt hät- ist mit Hohlblocksteinen zugemauert. An die Wände gesprayt: te. Und unsere Frauen in der Finanzabteilung waren noch unsi- „Endlich frei!“ – „Steve Gainey war hier“ – „Friends for ever“. cher, wollten ihren Job behalten, trauten sich nicht, ihn oder sei- Ich laufe genau 92 Schritt, dann stehe ich vor dem leicht ge- ne Frau – die hatte er eingestellt und die bekam ihr Gehalt dafür, bauten, einer Bohrplattform ähnelnden Beobachtungsturm der 11. daß sie monatlich mit ihrem dicken Hund zweimal über den Hof US-Armee. Um den Turm herum stehen Kasernen, davor ein dackelte – streng zu kontrollieren.“ kreisrunder Appellplatz. Fahnenstangen. Alles noch ordentlich Erst der Liqudator, ein gewisser Günter Wagner, Diplomvolks- umzäunt. „Point Alpha“ war der am weitesten nach Osten vor- wirt aus dem Westen, habe dann den wahren Sachverhalt festge- geschobene Nato-Posten in Europa. Und die hier stationierte US- stellt. Der Herr Wagner sei ein erfahrener Konkursverwalter, Panzeraufklärungseinheit hatte Vietnam-Erfahrung. Nach „Point er habe im Osten schon Dutzende Betriebe ordnungsgemäß li- Alpha“ fuhr man die im Hinterland der BRD kasernierten US-Sol- quidiert. Hier im Kreis unter anderem die Klosterbrauerei, einen daten, um sie durch „Feindberührung“ zu motivieren. Supermarkt in der Kreisstadt, den Konsumverband Nordthürin- Ein Stück vom Grenzzaun steht noch. Ich stecke die Finger gen … Und er verdiene natürlich eine Menge an jedem kaputten durch die Maschen. An dem mit Stacheldraht gekrönten Draht- Betrieb. geflecht hängt ein Schild: „Denkmalschutz, Regenbogenverein“. „Aber kurz vor Weihnachten, als wir keine Lohngelder mehr Daneben haben Künstler neue, avantgardistische Denkmäler auf- auszahlen konnten, haben wir vom Betriebsrat den Herrn Wag- gestellt. Immer kleiner werdende offene Tore, am Ende von einer ner angerufen. Der sprach mit seiner Bank. Die übernahm die Stahlplatte verschlossen. Zwei Telefonzellen, die Fenster mit Ble- Gelddeckung. Dann trafen wir uns mit ihm auf der Autobahn, und chen zugeschweißt und der Innenraum ohne Telefon. er übergab uns die Schecks mit einigen hunderttausend Mark.“ Mich friert, ich fahre hinunter nach . Im Rathaus gewährt Wahrscheinlich würde Herr Wagner eine der leeren Hallen des mir Bernhard Schuchert (CDU) auch ohne Voranmeldung ein Betriebes kaufen, um dort die Akten der liquidierten Betriebe auf- Viertelstundengespräch. Der Sechsunddreißigjährige hat Geisa zubewahren. „Denn auch wenn die Betriebe nicht mehr existie- schon vor der Wende als einer der jüngsten Bürgermeister des ren, die Akten müssen erhalten bleiben.“ Kreises regiert. „Ich bin, wie man so schön sagte, in den Sozia- lismus hineingeboren worden und hier an der Grenze und mit der berhalb von Geisa trennte jahrzehntelang die Mauer Grenze aufgewachsen. Die Grenze gehörte zum Alltag, man konn- Deutschland und Europa in die zwei Weltsysteme. Ich lau- te sie sich nicht einfach wegdenken. Und ihr Verschwinden war Ofe quer über Äcker und Wiesen, bis ich aus der Ferne den kein Thema für die nahe Zukunft.“ Beobachtungsturm aus Beton sehe. Kein Baum ringsum, nur ein- Es sei doch auch in Geisa nicht so gewesen, daß bei jedem zelne Hagebuttensträucher und Schlehenbüsche. Aber die sind so Schritt, den man gemacht hat, einer mit der MPi dahinter stand. Und sie hätten auch nicht jeden Tag geschrien oder geflüstert: * Links: nach der Wende; rechts: vor der Wende. „Weg mit der Grenze!“ Er erinnere sich, daß ihn damals auch La- FOTOS: F. HELLER / ARGUM F. FOTOS: Bürgermeister Wollny mit Schaubildern des Kalibetriebes Merkers*: „Die DDR ist auch an ihren Erfolgslügen kaputtgegangen“

der spiegel 30/1997 91 Serie denbesitzer, Lehrer oder Bauern, egal zu welcher Zeit, anriefen, die Grenze spannen, ein künstlerisches Symbol der Wiederverei- um ihm mitzuteilen, daß im Geschäft ein Fremder einkaufe nigung schaffen wollen. Kosten rund 500000 Mark. Daraufhin sei oder aber Unbekannte über die Wiesen in Richtung Grenze der „Regenbogenverein“ gegründet worden, Geisa und die hes- laufen würden. „Und die da anriefen, das waren keine Grenz- sische Nachbargemeinde Rasdorf und auch der Landkreis Bad Sal- helfer, keine Stasi-IM oder Parteifunktionäre. Die hätten nicht zungen seien beigetreten. Für Idee und Konzeption sei bereits anrufen müssen.“ Geld an den Künstler gezahlt worden, doch wegen der finanziel- „Sie haben diese Meldungen an die Sicherheitsorgane weiter- len und bürokratischen Hindernisse habe er bald aufgegeben. gegeben?“ „Dazu war ich als Bürgermeister von Amts wegen verpflichtet, m Vorzimmer des Landrats wartet ein junger Mann im Anzug allerdings …“, er macht eine lange Pause, wählt die Worte sehr und mit Krawatte auf den Landrat. „Wuchert. Hiesiger Ge- sorgfältig: „Die zuvor bei mir angerufen hatten, waren dazu nicht Ischäftsführer der Firma Kirchner.“ Die Hermann Kirchner amtlich verpflichtet.“ Und manche dieser Anrufer würden heute GmbH & Co. KG hat von der Treuhand sowohl das Immelborner keine Gelegenheit auslassen, öffentlich mit dem „verbrecheri- Kieswerk und die rund um den Kiessee schon erschlossenen La- schen Grenzsystem, unter dem sie Tag und Nacht unbeschreiblich gerstätten als auch den noch unter Wiesen und Äckern liegenden gelitten hätten“, abzurechnen. Kies gekauft. Der Bürgermeister wollte in dem leeren amerikanischen Stütz- Aber eben nur den Kies, nicht die Wiesen und Äcker darüber. punkt „Point Alpha“ eine internationale Stätte der Begegnung Die befinden sich in Privatbesitz. Denn im Osten gehören den und Mahnung für junge Leute einrichten, ein multinationales Grundstücksbesitzern nicht wie nach westdeutschem Bergrecht Kulturzentrum aufbauen. „Ich habe mit Pontius und Pilatus dar- auch die Bodenschätze darunter. Die waren Volkseigentum, über verhandelt, sogar mit dem Bonner Staatssekretär Waffen- danach Treuhand-Eigentum und nun also Kirchners Eigentum. schmidt. Ihm gesagt, wie wichtig es wäre, hier zwischen den vor- Will er jedoch seine gekauften Bodenschätze heben, muß er auch geschobenen Posten des früheren Warschauer Paktes und der das Land darüber kaufen. Er hatte erst 15 Mark pro Quadratmeter Nato ein Zentrum für Frieden und Verständigung zu schaffen. Er vertraglich vereinbart, sich dann aber schnell auf 1,40 Mark versprach nachzudenken, aber wir sollten auch Verständnis dafür revidiert. Im Moment ist er bereit, maximal 6 Mark zu zahlen. Weil aber kurzfristig keine Einigung mit den Landbesitzern möglich sei und die Kiesvorräte zu Ende gingen, müßte der Betrieb, droht Ge- schäftsführer Wuchert, notgedrungen weitere Arbeiter entlassen. „Also, Herr Landrat, Sie sollten schnellstens ein GAV einleiten.“ GAV heißt „Grundabtretungsverfahren“ und bedeutet auf schlecht Deutsch: einstweilige Enteignung der Flächen- besitzer zum Zwecke höherer Inter- essen. Rückgabe, nachdem der Kies raus ist und das Land unter Wasser steht. Baldus sagt, daß er das nicht vor der morgigen Versammlung mit den Grundeigentümern in Immelborn ent- scheiden werde. Und außerdem müßte die Regierung das hiesige Bergrecht dem westdeutschen endlich angleichen: Die das Land oben besitzen, denen gehören auch die Bodenschätze dar- Ehemaliges deutsch-deutsches Grenzgebiet bei Geisa (Thüringen): „Friends forever“ unter. Nur so könnte man verhindern, daß halb Thüringen unterirdisch von haben, daß sich die Bundesregierung nicht mit, wie er sagte, kom- der Treuhand billig verkauft würde. „Denn Kiesgruben, munalen Problemen beschäftigen könnte. Kommunal? Hier stan- machen wir uns nichts vor, Herr Wuchert, sind heutzutage ja den sich die mächtigsten Armeen der Welt gegenüber!“ Goldgruben.“ Inzwischen sei dieses multikulturelle Zentrum „Point Alpha“ Bevor sich am nächsten Tag die Mitglieder der „Interessenge- in anderer Weise verwirklicht worden: „Die Hessen haben ihre meinschaft Kiesliegenschaft“ mit der Firma Kirchner und dem Asylbewerber dort untergebracht. Die sanitären Anlagen der Landrat in der Turnhalle treffen, möchte ich mit deren Vorsit- Amerikaner sind ja okay, alles ist weit abgelegen, Stacheldraht zendem Gerhard Weißenborn sprechen. Er wohnt in einem klei- drumherum.“ Und so gebe es jetzt über die ehemalige Grenze hin- nen farbenfroh bemalten Einfamilienhaus. Gerhard Weißenborn, weg zwar keinen Regenbogen des Gedenkens, aber dafür einen früher Lehrer, hat wenig Zeit. Er muß die abendliche Kies-Ver- regen Bogen des Geschäfts – denn die „hessischen Asylanten“ sammlung noch vorbereiten und stapelt mir nur dicke Aktenord- oben in der Rasdorfer ehemaligen US-Kaserne „Point Alpha“ ner auf den Küchentisch. und die „thüringischen Asylanten“ unten in der ehemaligen NVA- Ich blättere in den Akten. Briefe an Weizsäcker, Süssmuth, Grenztruppenkaserne Geisa würden nicht nur informelle Ver- Kohl, Kinkel, Krause, Möllemann,Vogel, Engholm, Däubler-Gme- bindungen herstellen. lin, Klose, Bohn … Ich frage, ob das Schild „Denkmalschutz“ an einem Teil der Und fast alle haben brav geantwortet: „… weitergeleitet … dan- Geisaer Grenzanlage ein Scherz ist. Nein, sie hätten die Grenze ke für das Vertrauen … leider keine Möglichkeit … weitergelei- erst abgerissen und dann ein Stück Grenzzaun mühsam wieder tet …“ aufgebaut. Und der aus Oberhessen stammende Künstler Josef Abends in der Turnhalle reichen die Stühle und Bänke nicht. Knecht habe einen 25 Meter hohen stählernen Regenbogen über Einige Männer lehnen an den Sprossenwänden. Kirchner selbst ist

94 der spiegel 30/1997 Serie nicht erschienen, er hat nur den kleinen Wuchert vorgeschickt. Eisenach behält bis zur geplanten Kreisfreiheit der Stadt den Und der versucht bei seinem Eintritt, sehr gerade zu gehen und Kreisstadtstatus. Bad Salzungen verliert ihn vorerst. Landrat Lu- zu lächeln. Aber schon als er sich durch die Reihen drängelt, ther aus Schmalkalden muß gegen den Meininger „Wessi-Land- schubsen ihn einige an die Sprossenwand. rat“ Puderbach um die Nominierung zum CDU-Landratskandi- Gerhard Weißenborn von der Interessengemeinschaft berich- daten für den neuen Kreis Meiningen-Schmalkalden antreten. tet von dem bisher erfolglosen Briefwechsel und von Kirchners Und Baldus muß gegen den Eisenacher Dr. Kaspari (einen ehe- Zugeständnis, 6 Mark für den Quadratmeter zu zahlen. „Doch wir maligen DDR-Tierarzt) kämpfen. Und dazu gegen die anderen werden unser Land nicht unter 15 Mark weggeben. Niemals, Herr Gegner aus der eigenen Kreis-CDU. Die begrüßen die Vereinigung Wuchert!“ Beifall. mit Eisenach, hoffen, daß sie dadurch Baldus loswerden, denn, so Wuchert versucht, forsch dagegen anzureden. „Sechs Mark, das sagen sie, besser ein Eisenacher regiere in Bad Salzungen als ein ist das Maximum. Wenn wir wegen der fehlenden Kiesabbau- Wessi. grundstücke Leute entlassen müssen, geht das auf Ihre Kappe!“ Am Tag vor dem vierten Advent ist es soweit: Die CDU kürt Und er droht mit Gerichten, mit Grundabtretungsverfahren – der bei einer Versammlung in Kreuzberg ihren Mann. Baldus unter- einstweiligen Enteignung. „Und nach dem Ausbaggern erhalten liegt mit einem Stimmenverhältnis von 214 zu 320. Er trägt es Sie selbstverständlich Ihre Grundstücke zurück, sogar als lukra- äußerlich mit Gelassenheit und gratuliert Kaspari zur Wahl. Als tive Wassergrundstücke!“ er mich draußen vor Abfahrt der Busse in der Dunkelheit sieht, Das ist zuviel. Fäusterecken und Geschrei: „Und dich, Wu- müht er sich um ein Lächeln und sagt: „Scheiße!“ chert, findet keiner, wenn du erst im Kiessee schwimmst!“ „Der Kerl hat den Namen, den er verdient!“ „Geldschweine!“ m Dezember 1996 knüpfe ich noch einmal an meine Salzun- „Blutsauger!“ „Kapitalistenknecht!“ ger Zeit vom Dezember 1992 bis zum Februar 1994 an und su- Der Landrat versucht zu schlichten, will beide Seiten zu Ge- Iche ein paar meiner Gesprächspartner von damals auf. Ich sprächen einladen. Natürlich denke er nicht daran, ein Grundab- fange dort wieder an, wo ich 1992 begonnen hatte: „Der Urban tretungsverfahren einzuleiten, aber er müsse auch die Interessen sitzt jetzt ganz oben, unterm Dach, ist Betriebspersonalrat“, sagt des Unternehmers Kirchner und der übrig- mir der Pförtner im Landratsamt. Das sei gebliebenen Kiesarbeiter berücksichtigen. jetzt eine hauptamtliche Stelle. In dem win- Wahrscheinlich durch die Rede des Land- zigen Dachzimmer sagt Urban, daß der rats ermutigt, steht ein Mann in blauer Mensch alles erlernen könne, „auch das Ge- Schlossermontur auf. Sofort Buhrufe in der schäft eines Personalrates“. Turnhalle. „Ich werde mein Kiesgrundstück Ich erkundige mich nach Personalchef verkaufen, auch für sechs Mark. Und ich Graf und Dr. Eib. Graf, der Wessi mit den bitte alle hier Anwesenden, es ebenfalls zu vielen Schlipsen, sei Leiter vom Amt für of- tun.“ Er kann nicht weiterreden. „Schlim- fene Vermögensfragen geworden. Dr. Eib mer als Judas! Nur damit du deine Arbeit im sei, weil der 1. Beigeordnete eine Wahl- Kieswerk behältst. Verräter!“ funktion war, nicht mehr im Landratsamt. Arbeiter gegen Arbeiter, Grundstücksei- Stefan Baldus wohnt nicht mehr zur Mie- gentümer gegen Grundstückseigentümer. te an den überschwemmungsgefährdeten Nichts stimmt mehr. Ein kleiner älterer Werrawiesen. Er hat sich in dem zur Stadt Mann, der die wenigen Haare sorgfältig ge- Bad Salzungen gehörenden Dorf Kalten- scheitelt hat, versucht sich mitten im Saal born ein Haus bauen lassen. Hohe helle Gehör zu verschaffen. Man könne doch Zimmer, holzverkleidet, der Blick reicht jetzt nicht nur wegen des Bergrechts den ge- vom Dorfrand bis hinüber zu den blanken samten Einigungsvertrag in Frage stellen. Rhöngipfeln. Die nächsten wären die adligen Gutsbesit- Am Ende seiner Amtszeit als Landrat zer, die dadurch ermuntert gegen die Bo- („Ministerpräsident Vogel ließ keinen von denreform klagen würden. „Meine Schwe- uns im Regen stehen“) hat er sich gegen die ster hat nach dem Krieg in der Nähe von Militär- und Politikerlaufbahn für die Wirt- Seelow einige Hektar Bodenreformland er- schaft entschieden und die heutige „Ent- halten, ein kleines Häuschen für die Fami- wicklungsgesellschaft West-Thüringen“ ge- lie darauf gebaut, einen Stall für die Kühe.“ gründet. Von hinten schreit einer den kleinen Aktenverwalter Schaaf: Das Geschäft läuft Inzwischen residiert Geschäftsführer Bal- Mann an: „Egon, mich interessieren die dus nahe des Opel-Werkes in der Eise- Bauern in Mecklenburg einen Scheißdreck! Von mir aus können nacher Wartburgstraße, hat 17 Mitarbeiter, 3 davon aus dem We- die Gutsbesitzer ihr Land zurückholen. Hauptsache der Kirchner, sten. Er nennt mir Projekte, die sie in den zwei Jahren angescho- dieser Dreckskerl, zahlt uns die 15 Mark.“ ben oder verwirklicht haben: einen Käufer für das Kugellagerwerk Irgendwann rufen einige: „Wuchert, mach, daß du hier raus- Schweina gefunden, der in Barchfeld einen neuen Betrieb baut. kommst!“ Und der steht auch sofort auf und geht, sichtlich er- Alternative Wärmegewinnung aus Holz in Merkers. „Außerdem leichtert, aus der Turnhalle. planen wir für Merkers einen 500-Mann-Betrieb, der für diejeni- Und weil danach niemand mehr da ist, an dem man seine Wut gen, die sich nicht solch ein Haus wie ich leisten können, billige auslassen kann, beendet Weißenborn die Versammlung. Es ist Fertigteilhäuser herstellt.“ Freitagabend, kurz vor dem Fernsehkrimi. Die Leute gehen zwar Im Herbst ’95 ist Baldus in das neue Haus eingezogen, im Fe- schimpfend, aber sehr schnell auseinander. bruar ’96 stieg der Ex-Landrat beim Kaltenborner Fasching in die Bütt. „Ich bin jetzt hier zu Hause, fühle mich, wenn ich höre, wie ei der Entscheidung vom Thüringer Landtag zur Gebiets- die Wessis arrogant über den Osten urteilen und versuchen, die reform im Herbst 1993 wird die für Baldus ungeeignetste Va- Lebensleistung der Hiesigen zu verunglimpfen, solidarisch mit den Briante zum Gesetz erhoben: keine Eigenständigkeit für den Ostdeutschen. Die Westdeutschen leben ihr Leben in Köln und Kreis Bad Salzungen und auch kein Zusammenschluß mit Schmal- München so weiter wie bisher, so als ob es den Osten gar nicht kalden und dem Landkreis Suhl (die werden mit Meiningen fu- gibt. Der Osten interessiert sie nicht. Mein Bruder hat mich nach sioniert), sondern Vereinigung mit dem Kreis Eisenach zum so- unserem Umzug noch nicht besucht. Das ist, als wäre unsereiner genannten . nach Sizilien ausgewandert und hätte sich dort ein Haus gebaut.“

96 der spiegel 30/1997 Die Immelborner Hartmetaller arbeiten noch, reißen Teile ih- Zentner Buntmetall, wie viele Kastanien für die Wildfütterung. res Betriebes ab. In einer der Hallen, die noch steht, finde ich Ad Stolz lebten wir von gemeldeten, aber nicht vorhandenen Kasta- Acta. Das ist die Aktenaufbewahrungs-Firma, die der westdeut- nien, Buntmetallen, Heilkräutern, leeren Flaschen. Ich glaube, sche Konkursverwalter Wagner gegründet hat. Peter Schaaf, den daß die DDR auch an ihren geforderten Erfolgslügen kaputt- früheren Betriebsratsvorsitzenden, hat er für seine Aktenlager an- gegangen ist.“ gestellt. Insgesamt verwahren sie schon rund 60000 Ordner. Das Inzwischen steht Wollny der Einheitsgemeinde Merkers- Geschäft läuft gut. Kieselbach mit rund 3600 Einwohnern vor. Heute müßte er als Beim Rückweg vom Hartmetallwerk treffe ich vor der Bahn- Bürgermeister keine Statistiken über Flaschen und Papier- schranke die Frau von Gerhard Weißenborn, dem Chef der „Im- sammlungen mehr schönen. Er sei nur noch der Wirklich- melborner Kiesrebellen“. Ich frage, ob der westdeutsche Unter- keit, den leeren Kassen, den Schlaglöchern, den herunter- nehmer Kirchner im Streit um die Kiesgrundstücke nachgegeben gewirtschafteten kommunalen Häusern verpflichtet. Trotzdem habe und mehr als 6 DM zahle. Nein. Aber sie selbst hätten in- strahlt er. zwischen eine Wiese für 6 Mark hingegeben. „Wir brauchten das Ich frage ihn, ob er lacht, weil er mit seiner pessimistischen Geld.“ Kaliprognose recht behalten hat. Nein, darüber natürlich nicht. Um Hans-Dieter Fritschler, den ehemaligen „Ersten“ der SED Die Hessen würden inzwischen wirklich das Thüringer Kali ab- und der PDS im Kreis Bad Salzungen, zu treffen, muß ich am bauen, und die hervorragende Merkerser Lagerstätte sei mit- Sonntag nach Salzungen fahren. In der Woche schläft der Mitar- nichten geschlossen, die wolle man von auffah- beiter vom Thüringer PDS-Landesvorstand in Erfurt. ren. Und die BASF sei dabei – nachdem sie einige Gruben ge- Er sei, sagt Fritschler, in den letzten Jahren vielen SED-Funk- schlossen und die anderen durch die Milliarde an Steuergeldern tionären und Blockpolitikern begegnet, die im Interesse ihrer jet- wieder „verkaufswert“ machen konnte –, ihre Eigneranteile an zigen Karriere nicht mehr an ihre „sozialistischen Jugendsün- der Kali und Salz AG für 250 Millionen DM an den kanadischen den“ erinnert werden möchten, die heute die Chefs der Markt- Kaliweltmarktführer Potash Corporation of Saskatchewan Inc. wirtschaft anbeten würden wie zuvor den Marx. zu verhökern. Und ob die Kanadier die deutschen Konkurrenz-

Schauplatz Bad Salzungen: „Die Westdeutschen leben ihr Leben so weiter wie bisher, der Osten interessiert sie nicht“

Doch Fritschler bestreitet, daß die sich deshalb charakterlich gruben nur aufkaufen, um sie bei der ersten Gelegenheit zu wenden mußten. „Eigentlich gibt es keine Wendehälse. Denn nie- schließen, wisse ja keiner. mand hat seinen Charakter nach ’89 verändert. Was zuvor Spei- Aber,Wollny strahlt wieder wie ein Honigkuchenpferd, es gebe chellecker waren, sind Speichellecker geblieben, und die zuvor auch ungetrübten Grund zum Lachen, schließlich habe er die nicht an die Gemeinschaft dachten, sondern nur in die eigene Ta- Wahl zum Bürgermeister der Einheitsgemeinde gegen keinen sche wirtschafteten, die tun das – allerdings sehr viel gewinn- Geringeren als den CDU-Kreisvorsitzenden Grob gewonnen. bringender – heute wieder. Nur die Verhältnisse, die Bedingun- Außerdem freue er sich, daß der Gewerbepark nun auch ohne gen für das Ausleben guter oder schlechter Eigenschaften, haben Müllverbrennungsanlage weiter wachse („Ich erzähle lieber sich im Osten verändert.“ nicht, wie hoch die Summen waren, die mir telefonisch an- Wolfgang Wollny, den Bürgermeister der Gemeinde Merkers, geboten wurden, damit wir im Gemeinderat für die Müllver- finde ich nicht mehr in seinem alten kleinen Büro mitten im Dorf, brennung stimmen“). sondern in einem großzügig modernisierten Verwaltungstrakt Und schließlich freue er sich, daß Merkers, entgegen allen Un- vom ehemaligen Kali-Kulturhaus. Wollny hat, wie er sagt, „sein kenrufen, die sozialen Leistungen der Kommune noch nicht halbes Leben als Bergmann unten in der Grube“ verbracht. Ein schmerzlich beschneiden mußte. Die Sportler könnten immer Jahr vor der Wende bestimmte ihn dann die SED zum Bürger- noch kostenlos die Turnhalle benutzen. Kein Kindergarten sei meister von Merkers. geschlossen worden. „Da mußte gemeldet werden, wie viele Flaschen die Bevöl- kerung gesammelt hatte, wie viele Kilo Heilkräuter, wie viele ende

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