JENS EDER

Das Spielzeug im Zeitalter seiner digitalen Animierbarkeit*

Von der Filmwissenschaft weitgehend unbeachtet, hat sich innerhalb der letz- ten Jahre ein neues Genre in den Spitzenbereich der Kino- und DVD-Charts katapultiert: der computeranimierte Familienfilm. Faszinierend an diesem Genre, zu dem Filme wie Toy Story (USA 1995, Regie: John Lasseter), Ice Age (USA 2002, R: Chris Wedge), Finding Nemo (USA 2003, R: Andrew Stanton) oder Cars (USA 2006, R: John Lasseter/Joe Ranft) gehören, ist nicht nur die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der es sich durchgesetzt hat und technische Innovationen hervorbringt. Interessant sind auch seine Vorliebe für Identitäts-Themen, seine crossmediale Verflechtung und kommerzielle Aus- wertung. Die Filme werfen Fragen zum Zusammenhang zwischen Medien, Kultur und Technik auf, mit denen sich Harro Segeberg mehrfach auseinan- dergesetzt hat, insbesondere zum Wechselverhältnis zwischen menschlichen Bedürfnissen und medientechnischer Entwicklung.1 Im Folgenden möchte ich dazu am Beispiel von Toy Story 2 (USA 1999, Regie: John Lasseter/Ash Brannon/Lee Unkrich) einige Überlegungen anstellen.

Der Boom eines neuen Genres

Computeranimierte Familienfilme zeichnen sich dadurch aus, dass sie Ele- mente des Family-Adventure Movies2 und des klassischen Animationsfeatures mit den technischen Möglichkeiten der dreidimensionalen Computeranimation verbinden. Zum einen weisen sie also Gemeinsamkeiten mit jenen actionrei- chen Genrehybriden wie der Star Wars-Reihe (USA 1977-2005, R: George Lucas) auf, die seit den 1970er Jahren mit einem hohen Budget auf möglichst breite Zuschauergruppen und primär auf Familien zielen. Zum anderen liegen ihre Vorläufer im abendfüllenden Zeichentrickfilm der Disney-Tradition. Von beiden Angebotsformen unterscheiden sie sich durch Animationstechnik, Er- zählstrukturen und Nutzungsformen. Das technische Spezifikum der compu- teranimierten Familienfilme besteht nicht darin, dass ihre Bilder am Computer erzeugt werden (Computer Generated Imagery, CGI) – das gilt mittlerweile

* Für Ideen und Hinweise danke ich den Teilnehmern des Oberseminars „Animation, Emotion, Identität“ (Universität Hamburg, Wintersemester 2006). 1 Harro Segeberg: „Kaputte Technik. Zum Abschied von der Perfektion der Technik“. In: Ders. (Hg.): Die Medien und ihre Technik. Theorien – Modelle – Methoden. Marburg 2004, S. 10- 27. 2 Vgl. Peter Krämer: „’It's aimed at kids – the kid in everybody‘: George Lucas, Star Wars and Children's Entertainment“. In: Scope. An Online Journal of Film Studies. Nr. 5, 2006, http://www.scope.nottingham.ac.uk/reader/chapter.php?id=9, 21.09.2006 (= Sonderausgabe: 21st Century Film Studies: A Scope Reader, hg. von James Burton). 354 JENS EDER auch für Filme, die wie Zeichentrick- oder Puppenanimation aussehen. Cha- rakteristisch ist vielmehr die Art, wie Computer in einem mehrjährigen Pro- duktionsprozess zum Aufbau dreidimensionaler Objekte eingesetzt werden: Mit Hilfe spezieller Programme wird berechnet, wie sich die Körpermasse von Figuren um deren „Skelette“ bewegt, wie Haut, Haar und Kleidung darüber gleiten, wie sich Licht auf ihnen bricht und sich Mimik und Gestik entwickeln. Bislang werden computeranimierte Familienfilme vorwiegend von einer Handvoll Firmen aus den USA produziert, die über die nötige Hard- und Software verfügen; Marktführer sind Disney/Pixar und DreamWorks. Die Europäer versuchen, sich ebenfalls auf diesem Markt zu etablieren. Die Erfolgsgeschichte des computeranimierten Familienfilms beginnt 1995 mit Toy Story als erstem abendfüllenden Film, dessen Bilder vollständig am Computer generiert wurden. Bereits 2002 schlägt (USA 2001, Regie: Andrew Adamson/) die traditionellere Konkurrenz um den neu eingeführten Animations-Oscar aus dem Rennen. In den folgenden Jahren belegen Finding Nemo und (USA 2004, R: Andrew Adamson/Vicky Jenson/J. David Stem/David N. Weiss) Spitzenpositionen der Box-Office- Charts und gelangen in die internationalen All-Time-Top-Ten.3 Unter den 50 erfolgreichsten Filmen in Deutschland zwischen 2000 und 2006 befinden sich nicht weniger als sieben Computeranimationsfilme.4 Während seiner kurzen Existenz hat das Genre bereits elf Blockbuster mit jeweils über 300 Millionen Dollar weltweitem Einspielergebnis hervorgebracht, deren Auswertung durch DVDs, Computerspiele, Fernsehen und Merchandizing noch weitaus mehr einbringt.5 Dementsprechend ist die Zahl computeranimierter Familienfilme sprunghaft angestiegen, 2006 waren mindestens 16 im Kino oder in Produkti- on.6 Studios wie Disney reduzieren ihre Zeichentrick-Abteilungen und setzen stattdessen auf den Computer. In den letzten 12 Jahren hatten fast ebenso viele Animations-Langfilme im US-Kino Premiere wie in den 70 Jahren davor, was in erster Linie auf den computeranimierten Familienfilm zurückzuführen ist.7 Die Filmkritik reagierte auf diesen Boom überwiegend positiv, es entwi- ckelten sich aber auch Kontroversen darüber, ob es sich um Kitsch oder eine neue Kunstform handele, ob die Filme zur Aufklärung oder zur Infantilisie- rung beitrügen, ob sie sich durch Kreativität oder kommerzielle Berechnung auszeichneten. In kürzester Zeit ist das Genre jedenfalls zu einem Erfolgsge- schäft, einem kulturellen Einflussfaktor und einer ästhetischen Größe avan- ciert. Mit seinem Erfolg scheinen sich im gegenwärtigen Filmangebot Figu- renkonzeptionen und Erzählformen verbreitet zu haben, die tradierte Konven-

3 Vgl. Box Office Mojo, http://www.boxofficemojo.com/movies/?id=shrek2.htm (Stand: 21.09.2006). 4 Vgl. InsideKino, http://www.insidekino.com/DJahr/D2000-2009.htm (Stand: 21.09.2006). 5 Vgl. http://www.boxofficemojo.com/alltime/world/ (Stand : 21.09.2006); Reihenfolge des Rankings: Shrek 2, Finding Nemo, Ice Age 2: The Meltdown (USA 2006, R: Carlos Sal- danha), The Incredibles (USA 2004, R: Brad Bird), Madagascar, Monsters, Inc., Toy Story 2, Shrek, Cars, Ice Age, (USA 2004, R: Bibo Bergeron / Vicky Jenson). 6 Vgl. InsideKino, http://www.insidekino.com/TALK/Thema33.htm (Stand: 21.09.2006). 7 Vgl. Jerry Beck: Animated Movie Guide. Chicago 2004, S. XV-XX.