Sendung vom 3.1.2013, 21.00 Uhr

Albert Dohmen Internationaler -Bariton im Gespräch mit Hans-Jürgen Mende

Mende: Ganz herzlich willkommen zum alpha-Forum, meine Damen und Herren. Der Holländer, Hans Sachs, Wotan, Wanderer, Jochanaan – die großen Heldenbaritonrollen sang er und singt er: Albert Dohmen ist heute bei uns zu Gast, ein internationaler Sänger, der zur wirklichen Weltelite gehört. Vielen Dank, dass Sie trotzdem Zeit gefunden haben, hier zu uns nach München zu kommen. Dohmen: Es ist mir eine Freude, obwohl ich morgen wieder als "steinerner Gast" in Sachen "" unterwegs bin. Aber dafür werde ich hier endlich mal nicht so dunkel geschminkt. Mende: Heldenbariton! Dieser Ausdruck ist ja wunderschön, aber was heißt das? Ist das eine Haltung oder ist das ein Fach? Dohmen: Ich bin da immer ein bisschen skeptisch, denn alle diese Helden sind ja im Grunde genommen auch nur Menschen. Der Heldenbariton ist eine fachspezifische Kategorie, die versucht, eine Stimme zu beschreiben, an die folgende Anforderungen gestellt werden: So ein Heldenbariton muss in der Lage sein, vom Stimmumfang her den Bass und den Baritonbereich abzudecken; er muss in der Lage sein, Partien zu singen, die unglaublich lang sind. Wenn ich z. B. den Wotan singe, dann gehe ich um 16.00 Uhr in Bayreuth ins Festspielhaus und komme um erst um 22.00 Uhr wieder heraus. Das heißt, ich muss eine große Ausdauer haben: Ich muss meiner Stimme eine Ausdauer zumuten, die nicht normal ist. Meine italienischen Freunde sagen immer, dass sie in der Zeit dreimal die "Tosca" hätten spielen können. Die längste und größte Herausforderung ist sicherlich der Hans Sachs. Wenn man da zur letzten Arie kommt und die Stimme ist immer noch da und man kann sogar noch Musik machen mit ihr, dann ist das das größte Geschenk, das man als Sänger bekommen kann: Da dankt man dann dem lieben Gott und , dem Einmaligen, dass man das hat singen dürfen. Aber man kann das nicht von heute auf morgen, d. h. man braucht eine lange, lange Zeit der Vorbereitung dafür. Mende: Wie fühlen Sie sich denn da, wenn Sie als Hans Sachs über zwei Stunden alleine auf der Bühne singen? Dohmen: Ich bekomme jetzt schon wieder Gänsehaut, wenn ich nur daran denke. Mende: Was ist das für ein Gefühl hinterher? Dohmen: Man kommt auf die Bühne und singt zuerst einmal den ersten Akt. Da sagen dann alle noch: "Na ja, der erste Akt ist ja leicht. Da singt man halt den Rotz runter!" Aber das stimmt überhaupt nicht, weil der Richard den so fies für den Hans Sachs geschrieben hat: immer wieder mit vielen "Es". Das sind zwar keine langen, exponierten Töne, auf die man Häuser bauen könnte, aber sie müssen doch immer da sein. Im Gegensatz zum Alberich, der im "Rheingold" wunderbar tief anfängt und erst allmählich nach 20 Minuten ein erstes hohes F singt, fängt der "Sachs" immer gleich mit einem Es an. Ich denke, der Richard hat das – übrigens genau wie beim Wotan, dem er in der "Walküre" in der ersten Seite gleich ein hohes Fis reingeschrieben hat – deshalb so gemacht, weil er uns wohl sagen wollte: "Jungs, ihr müsst eingesungen sein, bevor ihr auf die Bühne kommt. Auch wenn die Partie so lange ist, geht das Einsingen erst mit der Partie einfach nicht!" Wenn man dann den ersten Akt geschafft hat, dann hat man sich praktisch aufgewärmt. Dann kommt der zweite Akt, von dem man normalerweise immer sagt, das sei der Beckmesser-Akt. Aber man hat da den Flieder-Monolog, man hat dieses wirklich wunderbare Duett mit dem Evchen. Und dann hat man diese Szene mit dem Beckmesser und dann hat man seine Schusterlieder. Und die muss man singen! Man muss sie zwar nicht brüllen, aber der Sachs ist doch das störende akustische Gegengewicht, der hier ganz bewusst dagegenhalten muss. Er muss nicht röhren wie ein Brunfthirsch, er muss singen. Und da geht es eben doch zur Sache. Und dann kommt der kleine dritte Akt. Er fängt an mit einem der schönsten Vorspiele überhaupt, die uns der Richard geschrieben hat. Und dann kommt eben diese fantastische Szene mit dem Stolzing: Da kommen einem fast die Tränen. Aber man hat gar keine Zeit, über Tränen nachzudenken, sondern man muss sie permanent spüren. Und das geht mir wirklich so, wenn ich das mal eben einschieben darf: Für mich ist es ein Privileg, diese unglaubliche Gefühlswelt, die die Musik zum Ausdruck bringt, dem Publikum vermitteln zu dürfen. Wenn ich jetzt wieder zum "Crashkurs" Meistersinger-Sachs zurückkehren darf. Nach dieser wahnsinnig schönen Szene in der Schusterstube könnte man als Sänger ja eigentlich sagen: "So, das war's jetzt, ich geh jetzt duschen und nach Hause!" Aber nein, da fängt das Ganze überhaupt erst an. Ich habe mir daher ganz bewusst – und das, obwohl mein Agent immer mit mir geschimpft hat, weil wir laufend Angebote für den Sachs bekommen hatten und ich ihn nicht singen wollte – meinen Sachs zu meinem 50. Geburtstag geschenkt. Das heißt, ich habe mich "nur" 20 Jahre lang darauf vorbereitet, aus Respekt gegenüber der Größe dieser Partie. Mende: Weil man auch die Erfahrung braucht, die man in den vielen Jahren davor macht, um sich das überhaupt einteilen zu können. Dohmen: Ja, ich habe gesagt, dass ich meinen ersten Sachs erst nach über 150-mal "Wotan" singen möchte. Damit ich mit der nötigen Ruhe an diese unglaubliche Partie herangehen kann. Denn hier kommen wir gleich auf den Punkt, und das kann ich einem jungen Kollegen wirklich ins Stammbuch schreiben: Die Ruhe macht es! Natürlich muss man die Stimme dafür haben, das ist klar. Und die Stimme muss man auch hüten und pflegen. Aber wenn es dann wirklich auf die Bühne geht – dabei ist es egal, ob ich in Klagenfurt, in Coburg, am Covent Garden, an der Met oder sonst wo singe: In dem Moment, wenn in der Vorstellung der Vorhang hochgeht, geht es immer um Spitzensport, wenn ich mal diesen Vergleich machen darf. Ich muss zu einem bestimmten Zeitpunkt von meinem Körper eine bestimmte Leistung abrufen. Da geht es dann auch darum, dass man sich in Bezug auf die eigene Nervenkonstitution wirklich so programmieren muss, dass man diese Leistung auch wirklich auf den Punkt genau abliefern kann. Da interessiert es im Publikum niemanden, ob man ein paar Stunden davor noch mit dem eigenen Sohn Englisch oder Französisch gepaukt hat oder ob ich ein Telefonat mit meiner Tochter hatte, weil sie wieder mit ihrem Klavier nicht klarkommt usw., denn unser Alltagsleben geht ja auch weiter. Ich liebe zu sehr meine Familie, ich bin zu sehr ein Familienmensch, als dass ich nicht auch am Tag der Vorstellung permanent in Kontakt mit ihnen wäre. Aber dann kommt es: Man muss abschalten können, man muss das, was um einen herum ist, total vergessen können und versuchen, diese Einmaligkeit der Darstellung dieser Musik emotional so rüberzubringen, dass man das, was man fühlt, dem Publikum klar machen kann. Ich muss also versuchen, das zu reproduzieren, was diese Genies "da oben" in diese Musik reingelegt haben. Mende: Diese Genies sind in erster Linie ... Dohmen: ... meine "Richards". Mende: Das sind also Richard Wagner und . Vico von Bülow sagte immer, Strauss sei der dritte Richard, denn einen zweiten Richard Wagner könne es gar nicht geben. Diese beiden Richards haben das Schöne und auch gleichzeitig Unangenehme, dass sie jeweils ein riesengroßes Orchester mit ungefähr 135 Musikern ausbreiten. Mende: So ist es. Dohmen: Mit wie vielen Orchestermitgliedern haben Sie denn schon singen müssen? Haben Sie die schon mal nachgezählt? Dohmen: Ich zähle nie nach, aber ich weiß, dass es ungeheuer viele sind. Ich wollte das mal miterleben und habe mich deswegen in Bayreuth unten in den Graben reingesetzt. Mende: Das ist wahrscheinlich ein Höllenlärm. Dohmen: Das ist unglaublich! Das sind ja quasi sechs Terrassenstufen: Oben sitzt der Dirigent. Die sitzen dort übrigens alle in T-Shirt und kurzen Hosen, weil sie ja überdeckt sind und sie von keinem Menschen gesehen werden. Denn im Sommer ist es dort ja wirklich heiß. Ich habe mich also dort unten zu den "Blechis" hingesetzt, also zu den Basstuben usw. Wenn man das mal mitbekommt! Das ist unvorstellbar! Das ist aber auch wahnsinnig genial. Der Wagner hat ja gesagt: "Die lautesten Instrumente setze ich auf die tiefste Stufe!" Dann kommen die Holzbläser und ganz oben sitzen bei Wagner die ersten Geigen. Dies bewirkt natürlich Verschiedenes. Erstens ist es so, dass die Musiker dort unten im Graben uns Sänger oben auf der Bühne so gut wie überhaupt nicht hören. Man hört höchstens mal ab und zu eine laute Phrase vom Sopran, aber das war es dann schon, was die "Blechis" dort unten hören. Gut, das ist denen vielleicht auch egal, denn dann werden sie eben nicht gestört. Etwas anderes ist es, wenn man auf der Bühne oben steht: Ich selbst höre da z. B. selbst in Fortissimoakkorden die Bratsche! Dieses unglaublich geniale System der Abstufung des Grabens, das es ja sonst nirgendwo auf der Welt gibt, führt dazu, dass der Klang unglaublich differenziert ist. In anderen Opernhäusern ist es doch so, dass die "Blechis" alles kaputt hauen, alles erschlagen. Deswegen war es für mich eine unglaubliche tolle Erfahrung, als wir nach all den Aufführungen in Bayreuth eines Tages mit Thielemann in Wien an der Staatsoper den "Ring" gemacht haben. Denn dort habe ich mir gedacht: "Menschenskind, wie soll das denn hier gehen?" Der Graben dort ist auch nicht abgedeckelt und wir wissen doch, dass die Wiener Philharmoniker gerne sehr hoch sitzen, damit man sie schön sehen kann. "Wie soll das um Himmels willen gehen!", habe ich mir also gedacht. Und dann geschah etwas, was ich fast als Weltwunder bezeichnen möchte: Thielemann hat es mit den "Wienern" geschafft, eine unglaubliche dynamische Abschattierung herzustellen. Das war so pianissimo, man hätte in "Wotans Abschied" fast pianissimo Schubert-Phrasen singen können! Das fand ich phänomenal. Mende: Sie haben mir jetzt bereits viele Stichworte geliefert. Sie haben an den ganz, ganz großen Häusern der Welt mit den Hauptrollen Ihres Fachs ganz große Erfolge gefeiert. Ein Höhepunkt waren vielleicht diese vier Jahre "Wotan" und "Wanderer" bei den Bayreuther Festspielen. Man muss hier vielleicht erwähnen, dass Wagner damals dieses Festspielhaus selbst konstruiert hat. Dohmen: Ja, für den "Ring"! Mende: Genau, für den "Ring". Aus diesem Grund hat er eben auch das Orchester ganz anders aufgestellt, als wir es normalerweise kennen. Was war denn das für ein Gefühl, als Sie zum ersten Mal als Wotan – der Auftritt als Wotan in Bayreuth ist vielleicht die höchste Ehre, die man als Sänger in diesem Fach erhalten kann – in Bayreuth auf der Bühne standen und wussten, dass Sie jetzt in einem Haus singen, das Richard Wagner für diese Musik gebaut hat? Dohmen: Das war wirklich etwas ganz, ganz Besonderes. Auch wenn ich seit über 20 Jahren in Italien lebe: Ich fühle mich nach wie vor meiner deutschen Kultur so verbunden! Als dann eben der Ruf kam, habe ich mich sehr, sehr gefreut. Ich muss vielleicht dazu sagen, dass ich davor in Berlin mit Thielemann zusammen bereits Zyklen gesungen hatte. Das hat musikalisch so fantastisch geklappt. Mit einer kleinen Episode will ich das kurz erläutern. Das allererste Zusammentreffen von uns beiden war wirklich das Treffen auf der Bühne mit Orchester: "Guten Tag, Herr Dohmen!", "Guten Tag, Herr Thielemann!" Und dann probten wir sofort "Walküre". Wir haben also davor keine einzige Sekunde miteinander gesprochen, haben nicht am Klavier irgendetwas probiert oder so. Nein, dafür hatten wir keine Zeit, wir trafen uns also erst auf der Bühne. Dort fand dann aber etwas statt, was wirklich einzigartig war: Obwohl wir nie die Chance gehabt hatten, irgendetwas zu besprechen, haben wir absolut musikalisch kongruent die Akzente gesetzt, Ritardandi gemacht, als hätten wir davor 20 Jahre lang nichts anderes gemacht, als gemeinsam zu arbeiten. Das hat uns beide doch sehr beeindruckt. Diese gemeinsame Arbeit gipfelte dann wirklich in dem Höhepunkt, dass man diese Partien in Bayreuth dann Jahr für Jahr immer weiter in den Details erarbeiten und gemeinsam musizieren konnte. Da stellte ich fest: Man kann sich am Klavier im Detail noch so viel zurechtlegen, der Abend zählt! Und die Größe der Musik besteht eben in der Spontanität des Geschehens! Da macht man mal an einem Abend ein Ritardando, das man an dieser Stelle vorher nie gemacht hat. Man lässt so etwas aus dem Moment heraus erwachsen, entstehen. Und das verlangt natürlich auch ein gegenseitiges Zutrauen. Das dann im Moment entstehen zu lassen, das ist die Größe der Musik. Musik ist also kein festgelegtes Taktschlagen oder Zerhacken der Stücke usw. Wenn man sich heute wieder auf irgendwelche historischen Metronome beruft, dann ist das für mich alles Unsinn. Denn Musik, das ist die Größe der Emotionalität. Und diese Sprache der Emotion entsteht aus dem Moment heraus. Dass jeden Abend der Moment ein anderer ist, ist das Entscheidende an der Musik. Und wenn man dann so kongruent Musik erfühlt und empfindet und diese große Emotionalität geschehen lässt, indem man nämlich der Musik den Raum gibt und den Mut hat, die Ritardandi so zu zelebrieren, dass alles fast zum Stehen kommt, dann tritt die Größe der Musik zutage. Mende: Und dann gibt es da ja noch einen Faktor, nämlich den Zuschauerraum. Ich nehme an, dass Sie von oben auf der Bühne nur ein bisschen was von den Leuten sehen. Welche Zuschauer wünschen Sie sich denn? Wenn ich so ins Publikum schaue, dann stelle ich fest, dass es da z. B. auch Leute gibt, denen sofort anzumerken ist, dass sie nur überredet worden sind mitzukommen: Sie wollten an diesem Abend eigentlich lieber Fußball gucken oder so. Dann gibt es andere, die bereits in einer Form von Trance sind. Wobei man aber nicht weiß, ob sie schlafen oder ob sie sich nur konzentrieren. Und es gibt welche, die tatsächlich immer in ihrem Programmheft blättern. Dohmen: Ja, es gibt auch die, die dauernd irgendwelche Bonbons auspacken. Das Allerschlimmste ist aber, wenn bei jemand in den heiligsten Pianissimo- Übergängen das Handy klingelt: Dann ist die Vorstellung kaputt. Mende: Sie geben ja dort oben auf der Bühne alles. Das ist ja auch das Tolle an der Oper und der Musik überhaupt: dass in diesem Moment ein Kunstwerk geschaffen wird, denn es ist ja nicht fertig, wenn es niedergeschrieben ist. Anders als bei einem Bild oder einer Skulptur ist es bei der Musik so, dass Sie in diesem Moment zusammen mit anderen – das sind ja oft Hunderte von Leuten, die so eine Oper beschäftigt – ein Kunstwerk neu schaffen, das ein anderer Mensch vor 150 oder 200 Jahren erdacht hat. Dohmen: Genau so ist es: Es entsteht in diesem Moment. Mende: Welchen Zuschauer hätten Sie denn da gerne im Zuschauerraum? Dohmen: Ich habe es manchmal lieber, ich sehe überhaupt niemanden. Aber man spürt trotzdem so etwas wie ein kollektives Bewusstsein im Saal. Gerade in Bayreuth spürt man das: Da sind so viele Leute im Saal, für die der Richard eben mehr bedeutet. Ich will jetzt nicht von einer fast sakralen Wagnergemeinschaft sprechen. Aber so etwas Ähnliches ist doch vorhanden. Man trifft da Leute, die aus Japan, aus Australien, aus den USA, aus der ganzen Welt kommen und die glänzende Augen haben, weil sie sich einmal in ihrem Leben diesen Traum erfüllen wollen, im Haus des Meisters seine Werke zu hören. Es ist dann auch von Anfang an eine spezielle Atmosphäre vorhanden. Das kommt vor allem durch die Orchestermusiker. Ich habe ja nun wirklich die Wagner-Opern in der ganzen Welt mit allen möglichen Top-Orchestern der Welt gespielt, aber es gibt in Bayreuth diesbezüglich doch ein Spezifikum: Da spielen Orchestermusiker aus den deutschen Spitzensinfonieorchestern und den deutschen Spitzenopernhäusern. Diese Mischung aus Top-Sinfonikern und Top-Opernleuten schafft es jedes Mal, dass da etwas ganz Besonderes entsteht. Viele Orchestermusiker kommen gerne Jahr für Jahr wieder nach Bayreuth, weil die Musiker dort fast wie eine Familie geworden sind. Wenn man sie meinetwegen bei der ersten Probe bei der "Walküre" spielen hört, wenn sie zum ersten Mal nach einem Jahr wieder Wagner, wenn sie wieder "ihre" "Walküre" spielen, dann ist das fast beängstigend gut: Das könnte man sofort mitschneiden! Das ist unglaublich toll. Technische Schwierigkeiten? Die kennen diese Musiker nicht. Die Orchestermusiker in Bayreuth könnten die Stücke vermutlich auch rückwärts spielen. Und dann geht es "nur" noch darum: Wer steht da vorne? Ich muss sagen, dass wir da in diesen "Ring"-Jahren eine phantastische Harmonie hatten: Das konnte sich von Jahr zu Jahr weiterentwickeln und ich denke, das kann man auch hören und sehen, denn der "Ring" ist ja auf CD und "Walküre" sogar auf DVD mitgeschnitten worden. Das sind ganz große künstlerische Dokumente, die da geschaffen worden sind. Es war für mich sicherlich einer der Höhepunkte meiner musikalischen Laufbahn, daran teilgenommen zu haben. Mende: Bei der Premiere sitzt in der ersten Reihe ja immer mindestens einer, der so ein Spiralblöckchen auf den Knien liegen hat und fleißig mitschreibt: Das ist der Herr Kritiker. Wie sehen Sie das? Es gibt ja Künstler, die sagen: "Ach, ich lese das nie!" Dohmen: Aber sie lesen das dann trotzdem. Mende: Andere Künstler sagen, sie würden aus den Kritiken gelegentlich sogar mal eine Anregung bekommen. Aber letztlich ärgern sich doch viele Künstler über die Kritiker. Wie ist das bei Ihnen? Dohmen: Das Problem ist Folgendes: Ich lehne mich aus dem Fenster und da muss ich dann eben damit rechnen, dass man mich anders behandelt als jemanden, der im Publikum sitzt und sich die Vorstellung anhört. Das ist mir völlig klar. Aber eine Sache muss ich hier doch sagen. Für mich besteht die Grenze der Kritik darin, dass sie nicht verletzend sein darf. Der Kritiker beschreibt nicht mehr die objektive Leistung des Sängers, die er da gehört hat. Gerade in Deutschland ist das nämlich spezifisch anders als in der restlichen Welt. Ich singe ja wirklich in der ganzen Welt, d. h. ich lese Kritiken aus allen Ländern der Welt. In Deutschland stelle ich jedoch ein unglaubliches Übergewicht der szenischen Beurteilung fest. Wenn ich die Kritiken in Deutschland analysiere, dann stelle ich fest, dass 80 Prozent des Textes auf das Konzept des Regisseurs, das Bühnenbild, auf die Lichtregie verwendet wird. Und dann kommt gerade mal noch ein Adjektiv für einen Sänger, der vier Stunden lang die Partie gesungen hat. Mende: Hätten Sie es denn gerne, dass es umgekehrt ist, dass einer sich zu 80 Prozent in einer Kritik mit den Sängern beschäftigt? Dohmen: Ja, das fände ich viel objektiver – wenn er das könnte, dann fände ich das fantastisch. Aber ich muss eben feststellen, dass ... Nein, lassen Sie es mich so sagen: Bei internationalen Sportsendungen haben wir als Co- Kommentatoren ehemalige Spitzensportler, die durch ihre Kommentierung die Sache bereichern, weil sie uns Einblicke geben, was da ein Sportler gerade macht, wie er das macht usw. Als Publikum lerne ich davon. Aber in der klassischen Musik findet das nicht statt. Ich würde mir daher auch für das Publikum viel mehr wünschen, dass Co-Kommentatoren, also Ex- Profimusiker dem Publikum helfen zu verstehen, was diese Menschen da auf der Bühne eigentlich machen. Wenn man aber sarkastisch davon schreibt, dass man gerade seine 448. "Walküre" gehört hat, dann ist das ja nicht der normale Zuhörer. Der Punkt ist, wir Sänger wissen selbst sehr, sehr gut ... Oder ich will es so formulieren: Wenn wir Sänger nicht uns selbst gegenüber die knallhärtesten, objektiven Zuhörer wären, dann würden wir nicht jahrzehntelang auf diesem Niveau singen können. Das ist Nummer eins. Wenn Kritik konstruktiv ist, wenn ich merke, da schreibt jemand, der Sachverstand hat ... Mende: Haben Sie denn z. B. eine Kritik im Kopf, in der Ihnen jemand etwas gesagt hat, mit dem Sie etwas anfangen konnten? Dohmen: Ich habe z. B. mal ungefähr folgende Worte in einer Kritik gelesen: "Obwohl man auf der Bühne steht, sollte man eventuell doch den Mut zu mehr dynamischer Schattierung haben." Darüber habe ich nachgedacht. Denn das Problem ist ja Folgendes: Wenn man auf der Bühne steht und hat 120 Menschen vor sich im Orchestergraben, dann ist das wie eine Schall- Mauer, die für viele beängstigend wirkt. Als Sänger muss man da "drüberkommen". Natürlich hat Wagner-Gesang nichts mit Wagner- Brüllerei zu tun. Da ist von Belcanto die Rede und nicht von Bell-Canto – ein "l" reicht. Ich muss also selbst bei den schwersten Partien das Motto "cantare sul fiato" beherzigen: Ich muss selbst da auf dem Atem singen und darf nie forcieren. Aber das kann man als junger Sänger nicht nachvollziehen: Dafür braucht es jahrzehntelange Erfahrung. Mende: Und gute Nerven. Dohmen: Ja, das macht vielleicht sogar 80 Prozent von allem aus. Man muss eine Stimme haben, man muss die Ausdauer haben, aber man muss vor allem ein Nervenkostüm haben, das einen trägt. Wenn man auf der Bühne steht und es heißt, "so, wir sind live in der BBC", oder wenn es einen Live- Plattenmitschnitt gibt oder wenn eine DVD gemacht wird oder wenn man an der "Met" singt, dann gibt es einen Livestream, bei dem die ganze Welt zuhören kann oder es wird in Kinos übertragen: Es wird fast permanent irgendetwas mitgeschnitten und es ist keine normale Vorstellung. Und trotz alledem habe ich mir jetzt angewöhnt – ich weiß, es klingt überheblich, aber so meine ich das nicht –, dass es mir egal ist, ob irgendwo eine Kamera läuft oder irgendwo ein rotes oder ein gelbes Mikrofon steht: Ich singe für mein Publikum! Ob da jetzt Mikrofone vorgeschaltet sind, interessiert mich nicht. Ich denke, so kann man überleben, denn sonst wird man ja verrückt und macht sich nur fertig, weil das Fernsehen da ist usw. Ich singe für mein Publikum! Mende: Hören Sie sich denn diese Aufnahmen hinterher eigentlich an? Dohmen: Nein! Mende: Haben Sie Freude an den eigenen DVDs? Laden Sie Freunde ein wie früher zum Dia-Abend und sagen: "Guckt mal bzw. hört mal, das bin ich!"? Dohmen: Nein, nein. Ich habe wirklich wunderbare Freunde, die diese Sachen immer alle hören. Sie geben mir dann schon auch Rückmeldungen, wie bestimmte Dinge geworden sind, wie sie gewirkt haben. Denn ein wichtiger Punkt ist ja bei Tonband oder Stimmaufnahmen: Eine Stimme wirkt im Raum. Ich singe ja für Häuser mit 2000 oder 4000 Zuschauern, d. h. ich singe für den Raum und nicht für ein Mikrofon, das zehn Zentimeter vor mir steht. Deswegen sage ich oft zu Toningenieuren: "Setzt mir das Mikrofon nicht 20 Zentimeter vor die Nase, sondern hängt es hinten in die Halle, damit wir den Raumklang der Stimme haben!" Ich habe vor 20 Jahren z. B. mal den "Freischütz" in Paris gemacht und es wurde davon dann auch eine Tonbandaufnahme gemacht. Mein Freund sagte mir dann aber hinterher: "Albert, du klingst darauf ja leichter als eine Soubrette!" "Na," sagte ich sarkastisch, "das ist doch wunderbar!" Was war passiert? Man hatte die Mikrophone so nahe an uns ran platziert, dass die Aufnahme dann nichts mit dem realen Stimmklang zu tun hatte. Die lyrischen leichten Soprane kamen voll rüber und die dramatischen Stimmen hörte man kaum. Das ist auch ein Problem: Wie kann man eine Stimme so aufnehmen, dass der wirkliche Stimmklang reproduziert wird – und nicht einer, der sich nur in einer Entfernung von 20 Zentimetern abspielt? Mende: Man muss ihn quasi dreidimensional abbilden, also so, wie sich eine Stimme im Raum eben darstellt. Dohmen: Ja, und das ist schwer, das ist sehr schwer. Mende: Sie sind also niemand, der es genießen würde, sich selbst zu hören? Meiden Sie das, weil Sie sich sagen: "Welcher Mensch hört sich denn schon gerne selbst? Da fällt mir dann nur auf, dass ich an dieser Stelle und an der anderen ..."? Dohmen: Wissen Sie, der Punkt ist, man entspannt dabei nicht. Man hört immerzu genau hin: Aha, wie ist der Übergang? Wie habe ich das hier gemacht, wie ist hier meine Intonation? Aber je später der Abend wird, umso eher höre ich mir dann schon mal so etwas an. Aber doch eher weniger. Denn ich sage mir: Das ist eh schon passiert, du kannst es nicht mehr ändern! Mende: Sie haben ja eine wirkliche Weltkarriere hingelegt: Gibt es irgendetwas, von dem Sie sagen: "Schade, das würde ich gerne noch lernen"? Hans Hotter, ein großer Vorgänger von Ihnen in diesem Fach, hat mir 80 Jahren mal gesagt: "Jetzt wüsste ich, wie es geht. Aber jetzt will es keiner mehr hören von mir." Der Beruf des Sängers besteht wohl aus lebenslangem Lernen. Dohmen: Das sagen Sie was Richtiges! Das Publikum bekommt das jedoch überhaupt nicht mit. Wir müssen wirklich permanent unglaublich viel lernen. Und das nicht nur deswegen, weil wir unser Repertoire permanent erweitern. So große Partien singt man ja nicht jeden Tag und deswegen muss man permanent lernen. Ich freue mich jedenfalls auf die Zeit, in der ich irgendwann mal in Ruhe ein Buch lesen kann, ohne dabei das schlechte Gewissen zu haben, dass ich ja doch hätte lernen müssen. Das gehört dazu. Aber ich habe jetzt zum ersten Mal seit Jahren für drei Monate freigehabt. Gut, ich habe auch in diesen drei Monaten Konzerte in Australien gemacht und auch eine Plattenaufnahme in Südschweden, aber das ist ja egal. Es genießen zu können, in Ruhe mal wieder ein Buch zu lesen, hat mir sehr gut getan. Ich freue mich darauf, wenn ich das häufiger machen kann. Ich liebe meinen Gesang, ich liebe ihn über alles, aber ich freue mich wirklich darauf, wenn bei mir der Lebensabschnitt kommt, wo ich in Ruhe lesen kann. Mende: Da können Sie dann auch mal in Ruhe eine Erkältung oder eine Grippe auskurieren. Dohmen: Ja, genau, da hat man dann halt mal einen rauen Hals. Na und? Wenn jetzt im Winter bei der ganzen Fliegerei das mit den Bazillen wieder anfängt, wenn alles um einen herum schnupft und hustet, dann muss man als Sänger auch damit fertig werden. Mende: Haben Sie denn ein Geheimrezept, damit Sie nicht krank werden? Dohmen: Mein Geheimrezept ist: Lebe so normal wie möglich! Ich weiß, dass es Kollegen gab bzw. gibt, die vor den Vorstellungen nur noch Zettel geschrieben haben, weil sie nicht mehr reden wollten. Bei meinen beiden Kindern geht das nicht! Meine Frau ist Italienerin und da geht das schon mal überhaupt nicht. Also nutze ich das Reden, um meine Stimme warmzuhalten. Ich versuche jedenfalls, so normal wie möglich zu leben. Natürlich kann ich mich nicht abends stundenlang in verrauchten Kneipen aufhalten, natürlich kann ich mir nicht jede Nacht die Birne zusaufen, das ist alles klar. Das heißt, da gibt es schon eine Disziplin. Und ich versuche, so viel wie möglich in der Natur zu sein: am Meer, im Wald, Hauptsache draußen und sich bewegen. Wenn ich mir jedes Mal Gedanken machen würde, dass ich eine Erkältung bekommen könnte oder dass dort hinten gerade jemand genießt hat usw., dann würde ich ja wahnsinnig werden. Und das können wir uns nicht erlauben. Aber es ist nicht leicht, es ist nicht leicht. Mende: Sie haben vorhin gesagt, dass es in den Kritiken zu 80 Prozent um die Inszenierung geht. Das ist natürlich überhaupt ein sehr umstrittenes Thema: Die Regie ist in den letzten 50, 60 Jahren zunehmen wichtiger geworden – vielleicht auch deswegen, weil neue Werke fehlen, weil es keinen Nachschub an guten Opern gibt, hat sich die Regie als eine eigene Kunstform etabliert, die mal gut und mal weniger gut ist. Es gibt ja das viel diskutierte Stichwort vom Regietheater – obwohl eigentlich keiner so genau sagen kann, was "Regietheater" eigentlich heißt. Dohmen: Ich denke mir, dass Folgendes passiert ist: Noch in den 60er Jahren wurde die Besetzung einer Oper vom musikalischen Chef gemacht. Da wurde überhaupt nicht darüber nachgedacht, ob eventuell ein Regisseur sein Typen-Casting betreiben will. Heute ist es so, dass der Regisseur seine Besetzung haben möchte. Da kommt es dann eben auch zu bestimmten Perversionen: Da werden hervorragende Sänger nicht genommen, weil sie z. B. nicht so gut in ein schwarzes Kleid passen oder weil deren Wadenumfang zu groß ist. Das kann es aber doch nicht sein! Es ist so, die Zeit ist so! Heutzutage würde ein Luciano Pavarotti oder eine Margret Price oder eine Montserrat Caballé – alles göttliche Stimmen – keine Karriere machen können. Weil sie zu dick sind! Aber was heißt das? Diese Menschen mit ihrem Körper hatten einmalige Stimmen! Meine Grundsatzfrage lautet daher: Hat der Regisseur als Teamplayer das Recht zu so einer Ablehnung? Denn ein Teamplayer sollte wirklich ein Teamplayer sein, der genau wie der Dirigent mit den Sängern und den Musikern zusammen in einem Team die Oper auf die bestmögliche Art rüberzubringen versuchen muss. In den letzten Jahren hat sich hier aber das große Ungleichgewicht ergeben, dass nur noch alles auf den Regiefaktor reduziert wird! Und das führt zwangsläufig dazu, dass wir aus dem Gleichgewicht geraten. It's not balanced! Mende: Ist denn die Konkurrenz nicht einfach auch sehr visuell, also der Film, das Fernsehen und in zunehmendem Maße das Internet? Die Oper reagiert also irgendwie darauf, dass die Menschen von heute sehr vieles vor allem visuell wahrnehmen. Dohmen: Richtig. Sie haben da völlig recht und ich bin auch kein Mensch aus dem Mittelalter, der sagen würde: "Nein, das nehme ich alles nicht zur Kenntnis!" Aber wir haben es bei der Oper mit einer spezifischen Gattung zu tun, bei der die Stimme und die Musik das Entscheidende sind. Was nutzt es einem denn, wenn einer gut aussieht, aber nicht singen kann? Da könnte man ja gleich ein Model-Casting machen und nur noch Models für die Oper engagieren und sagen: "Von denen kann zwar keiner bzw. keine singen, aber das ist kein Problem! Wir nehmen einfach ein paar Mikrofone und die drehen wir dann auf!" Das kann es doch nicht sein! Mende: Aber es gibt ja bereits eine Sängergeneration, die beides kann, die also nicht nur sehr gut singen, sondern auch eine Rolle glaubwürdig verkörpern kann. Wenn man sich Margret Price und Luciano Pavarotti in diesen alten Aufnahmen der 70er Jahre nicht nur anhört, sondern auch ansieht, weil diese alten Operninszenierungen nun mehr und mehr auch auf DVD erscheinen, dann merkt man: Die stehen halt nur am Bühnenrand und bewegen sich kaum. Dohmen: Aber was hatten diese Leute für eine Stimme! Was sagten die alle alleine mit ihrer Stimme aus! Mende: Aber die Oper ist nun einmal ein Gesamtkunstwerk, bei dem das Optische und die Musik gemeinsam eine Rolle spielen. Dohmen: Das weiß ich natürlich. Mende: Die Extreme in der einen oder anderen Richtung können also auch nicht das Richtige sein. Dohmen: Ich will hier ja keinen Pessimisten abgeben ... Mende: Sie sind doch auch ein schlanker Mann und das hat Ihnen doch sicherlich auch geholfen beim Besetztwerden. Dohmen: Ja, schon, aber der Punkt ist Folgender: Wir Sänger brauchen natürlich schon gute Regisseure, das ist klar. Es geht also nicht darum, dass ich für ein Steh-Theater plädieren würde. Mende: Was ist denn ein guter Regisseur für Sie? Dohmen: Ein guter Regisseur? Davon habe ich in all den Jahren leider Gottes nur sehr wenige erlebt. Ein guter Regisseur ist einer, der die Musik so liebt, wie ich sie liebe, der so viel Respekt vor der Größe der Musik hat wie ich und der es vor diesem Hintergrund schafft, mich so in den Charakter der Rolle versetzen zu lassen, dass ich diese Person werde. Aber dazu braucht es wirklich einen unglaublich guten Regisseur. Und dieses Einfühlungsvermögen hat er ja nur dann, wenn er die Musik genauso erfühlt. Und es kommt noch ein anderer Aspekt hinzu: Es gibt einfach bestimmte Opern, die abstrakt sind, bei denen praktisch nur psychische Innenwelten beschrieben werden und äußere Handlungen kaum stattfinden. Wenn man eine Oper, die sozusagen ein Handlungsdefizit hat, mit Bühnenkonstruktionen so pervertiert, so kaputt baut, dass ich auf Müllhalden, auf Schrottplätzen, auf Kühlschränken, in Ventilatorenfabriken usw. ende, dann macht man damit alles lächerlich. Und das kann es nicht sein. Mende: Aber es kann doch auch sein, dass so ein 200 Jahre altes Stück, das von einem Komponisten und einem Librettisten konstruiert worden ist, die ja selbst auch bestimmte Szenenvorstellungen hatten, auch auf der Müllhalde funktioniert. Das wäre doch auch ein Ausweis der Qualität, des Wertes, den so eine Oper für uns heute noch hat. Es kann doch sein, dass so ein Stück uns auch dann noch etwas sagen kann, wenn es auf der Müllkippe spielt, weil es zeitlos ist, weil es universell gültig ist. Dohmen: Ich verstehe schon, was Sie meinen. Das wäre dann stimmig, wenn der Wert der Aussage durch die Müllkippe potenziert werden würde, also noch vergrößert werden würde. Ich muss Ihnen jedoch sagen, dass ich so etwas nur sehr selten erlebt habe. Mein Verdacht ist nämlich: Nur um einem Modegeschmack zu entsprechen, wird manchmal alles grau in grau gehalten. Dadurch, dass man einem Modetrend folgt, werden die Opern aber fast austauschbar. Das heißt, da geht es dann gar nicht mehr um den Kerngehalt der jeweiligen Oper. Und das kann es doch nicht sein! Ich kann doch nicht Opern auf ein Regiegleis schieben, damit man einen Modetrend bedient, der dann auch von bestimmten Medien zur herrschenden Lehre erkoren wird. Das kann es nicht sein! Mende: Aber das führt doch auch dazu, dass diskutiert wird, denn eine Gleichgültigkeit wäre doch das Schlimmste überhaupt. Dohmen: Richtig. Mende: Es wäre doch schlimm, wenn in der Pause einer Oper über den nächsten Urlaub oder über das neue Kleid gesprochen wird und nicht über dieses unglaubliche Ärgernis, das sich dieser Regisseur da wieder erlaubt hat. Dohmen: Ich verstehe, was Sie meinen. Mende: Solche Inszenierungen rufen doch Reaktionen in den Menschen hervor. Und die Wirkung davon kommt vielleicht sogar erst viel später. Dohmen: Das ist sicherlich ein Argument, das will ich auch gar nicht bestreiten. Aber es muss einfach gut gemacht sein! Was mir als jemandem, der sich schon auch ein bisschen mit dieser Sache beschäftigt, oft auffällt, ist: Ich finde selbst auf höchster Ebene – also dort, wo ich überhaupt nie damit gerechnet hätte – komplette Ahnungslosigkeit. Mende: Würden Sie denn selbst gerne inszenieren? Dohmen: Ich habe eine Idee, gerade was Wagner-Opern anbelangt. Ich weiß nicht, ob das wirklich funktionieren kann, aber das ist immerhin meine Vision: Man müsste viel mehr in abstrakten Lichträumen arbeiten. Ich habe z. B. jetzt gerade in Wien eine fantastische Sache gemacht: Das war praktisch eine Lightshow, wo die Karlskirche durch Computersimulation in völlig verschiedene Lichträume verwandelt wurde. Das war unglaublich! Das, was auf der Opernbühne für mich nicht mehr funktioniert, ist Realismus: Der wirkt so klein, den kennen wir inzwischen durch den Film und andere Dinge viel besser. Unsere Sehgewohnheiten haben sich da völlig verändert. Aber gerade abstrakte Opern – und viele Wagner-Opern wie der "Ring" oder der "" sind ja fast abstrakt – könnten sich so phänomenal in Lichträumen wiedergeben lassen, sodass man der Musik wieder den nötigen Stellenwert zukommen lassen kann. Durch die Lichtebenen kann man Räume schaffen, die die Musik fantastisch kongruent sich entwickeln lässt. Mende: Aber das hatte man ja schon. Als 1951 Wieland Wagner die Bayreuther Festspiele übernahm ... Dohmen: ... hat er sie entrümpelt. Mende: Man hat alle Hörner, Helme, Kelche etc. weggeräumt und stattdessen genau diese Räume geschaffen. Ist also dieses Gefühl für den Raum verloren gegangen? Dohmen: Ja, das denke ich schon. Unsere Sehgewohnheiten haben sich durch Film und Fernsehen natürlich auch völlig verändert, aber ich sage immer: Der Kerngehalt eines Werkes, der Kerngehalt der Musik muss für mich die oberste Maxime sein. Wenn ich Regisseur wäre, dann würde ich mich fragen: Was kann ich tun, damit dieser Kerngehalt, dieses Juwel so in Szene gesetzt wird, dass ich dem Werk diene? Wenn ich selbst auf der Bühne stehe, dann versuche ich immer, dem Werk zu dienen. Aber das will heute kein Mensch mehr hören. Ich behaupte jedoch, dass das etwas mit Demut vor der Größe des Werkes zu tun hat. Mende: Sie haben ja vorhin so nett von "Richard" gesprochen: Wenn wir jetzt den Richard Wagner auch hierher ins Studio eingeladen hätten, was würden Sie ihm dann sagen? Wagner war ja nicht besonders groß, ich glaube, er war gerade mal 1,60m groß, und er hat wohl ziemlich gesächselt. Was würde also Albert Dohmen zu ihm sagen? Dohmen: Ich würde ihm sagen: "Richard, du bist ein Wahnsinniger! Denn was du der menschlichen Stimme zugemutet hast, ist so im Extrembereich, dass es fast unmöglich ist." Aber es ist der Mühe wert, diese Unmöglichkeit, dieses Risiko einzugehen, denn das Ergebnis dessen, was er produziert hat, ist einfach einmalig. Gucken Sie mal, das ist der Punkt: Ich bin kein Prophet, aber ich sage Ihnen, in 100 Jahren wird Richard Wagners Musik nach wie vor ein Höhepunkt sein. Warum? Weil er an Grenzbereiche rangegangen ist, die für jeden Musiker – ob an der Piccoloflöte oder als Bassbariton oder als Dirigent usw. – außerhalb der Norm ist. Wenn man den Hans Sachs gesungen hat und kommt dann zum letzten Monolog "Verachtet mir die Meister nicht!" oder man kommt als Wotan zu "Leb wohl du kühnes, herrliches Kind", dann kommen einem die Tränen. Diese Kraft, diese Größe ... Mende: Ihnen aber doch nicht als Sänger, oder? Dohmen: Ich darf sie nicht haben. Mende: Den Zuschauern sollen die Tränen kommen. Dohmen: Sie haben völlig recht. Aber bei dieser letzten Sache, die wir da in Wien gemacht haben, habe ich selbst mit den Tränen gekämpft. Und ich habe diese Partie ja nun schon sehr, sehr oft gesungen. Aber das liegt einfach an der Stärke der Emotion, die in dieser Musik steckt. Hier kommt für mich noch ein anderes riesengroßes Kriterium ins Spiel: die Echtheit, die Authentizität! Das echte, große Gefühl kann ich aber nur rüberbringen, wenn ich es selbst empfinde! Da habe ich manchmal meine großen Probleme mit vielen Dirigenten. Ich habe darüber auch mal ein langes Gespräch mit Masur gehabt, mit dem großen alten , mit dem ich in der ganzen Welt gearbeitet habe. Er sagte mir: "Weißte, Dohmen, das Entscheidende ist das Gefühl! Du musst es fühlen!" Adorno und die Frankfurter Schule haben ja verlangt, dass man der Musik sozialkritische Funktionen einräumen muss. Aber C-Dur ist eben nicht der Ausdruck der Bourgeoisie, während Es-Dur die Belange der Klassen oder der Arbeitbewegung interpretiert. Nein, Musik ist die Sprache der Gefühle. Und wenn ich als Ausübender nicht in der Lage bin, diese Kraft der Gefühle zu empfinden, dann kann ich sie auch nicht rüberbringen. Mende: Stattdessen müssen Sie sie ja übertragen. Ist das also ein Ziel, das für Sie wichtig ist? Dohmen: Ja, absolut! Mende: Sie sagen also: "Ich möchte, dass die Leute dort unten das fühlen, dass sie diese Größe fühlen!" Dohmen: So ist es. Und da kann es dann eben passieren, dass ich so eine Gratwanderung mache, dass ich – weil ich das in dem Moment selbst so empfinde – mit den Tränen kämpfe. Aber dann kämpfe ich eben an dieser Stelle mit den Tränen, weil ich das echt so empfinde. Und dann ist es mir auch völlig egal, ob die Stimme da mal einen Kiekser hat oder weggluckst, weil das authentisch ist. Und deswegen sage ich auch: Wenn ein Horn einen authentischen Kiekser macht, dann macht der Bläser das eben. Wir sollten aufhören mit diesem widerlichen, klinischen Perfektionsanspruch, der besagt, dass wir nur perfekte, lupenreine Töne produzieren dürfen. Nein, wir sind Menschen, die sich in einer emotionalen Situation befinden. Und das muss rüberkommen. Mende: Sie sind ja ursprünglich mal Jurist gewesen, Herr Dohmen. Dohmen: Ja, Himmel Herrgott! Mende: Das passt ja nun so gar nicht ... Dohmen: Was meinen Sie, warum ich die Juristerei verlassen habe? Mende: Wo kommt denn bei Ihnen diese Emotionalität, diese Stärke, dieses Gefühl her? Dohmen: Das kommt aus meinem Elternhaus, von meinem Vater, der uns leider alle viel zu früh verlassen hat. Dieser Mensch war wirklich Emotion pur. Er war Lehrer aus Überzeugung und aus Liebe, er hat sich immer mit den Problemfällen beschäftigt: dass man denen hilft, dass die weiterkommen. Denn er meinte immer, die anderen laufen ja eh von alleine. Er hatte diese Liebe zur Musik und die habe ich wohl von ihm geerbt. Ich kann mich daran erinnern, wie ich damals meinen ersten Liederabend gemacht habe. Er kam dann nachher zu mir und umarmte mich mit Tränen in den Augen. Ich denke, das Große der Musik ist wirklich, dass sie eine Sprache ohne Worte ist und dass sie Emotionen ausdrücken kann, die wir mit Worten nie definieren könnten. Und sie funktioniert genauso in Taipeh wie in Tokio, Wien oder Buenos Aires. Ich werde nie vergessen, wie ich mal mit Masur und den "New Yorkern" in Taipeh die Neunte von Beethoven gemacht habe. Das Konzert wurde auch nach draußen übertragen, auf so ganz große Leinwände auf den Platz vor der Konzerthalle. Dort waren 50000 Taiwaner. Nach dem Konzert sagte Masur zu mir: "Dohmen, wir müssen jetzt da raus!" Die Kulturministerin war eine Konzertpianistin, wie mir der Masur erklärte. Wir kamen also raus auf diesen Platz mit 50000 Taiwanern. Die Kulturministerin sagte: "Wir bedanken uns sehr bei Ihnen!" Und die Leute haben applaudiert. Aber dann kam noch etwas, was ich nie vergessen werde. Denn diese Kulturministerin sagte zu uns Solisten: "Jetzt haben wir noch ein Geschenk für Sie vorbereitet!" Und dann sangen 50000 Taiwaner "Freude schöner Götterfunken" auf Chinesisch. Da guckte Masur mich an und sagte: "Dohmen, das ist Asien!" Da habe ich diese Liebe zur Musik gespürt, diesen Respekt vor der Größe dieser Musik: 50000 Menschen haben gesungen! Und warum? Weil dort diese Kulturministerin nachvollziehen konnte, was diese Musik darstellt, welchen Wert und welche Größe diese Musik hat. Ich habe dabei zweierlei erfahren. Ich war erstens überwältigt, denn wann singen einem schon mal 50000 Menschen "Freude schöner Götterfunken" auf Chinesisch? Ich habe aber vor allem diese Kraft der Musik gespürt, diese vereinigende Kraft der Musik. Man schafft sich damit ein Erlebnis, das einen erhöht, das einen aus seinem Alltag herausführt. Das kann die Kraft der Emotionalität der Musik. Und ich habe gesehen, was Politik bewirken kann, wenn sie selbst die Größe dieser Musik erkennt. Mende: Das war in Asien: Dort sind die Konzerte voll, dort stehen die Menschen Schlange für eine Karte. Dohmen: Ja, Schlangen! Mende: Ich würde gerne noch ein Thema ansprechen. Mir hat neulich jemand gesagt, Australien habe die Kängurus, Deutschland habe die Oper. Haben Sie das Gefühl, dass diese einmalige Tatsache, dass wir in Deutschland so viele Opernhäuser haben wie die ganze restliche Welt nicht, von der Politik und auch von denen, die Oper machen, die Musik machen und letztlich auch von den Zuschauern, den Bürgern wirklich entsprechend goutiert wird? Dohmen: Das ist ein Privileg! Ich glaube, es wissen viel zu wenig Menschen, wie – unter diesem Aspekt – privilegiert unser Land Deutschland die klassische Musik behandelt. Ich wünschte mir, dass nicht nur unsere Bundeskanzlerin, mit der ich in Bayreuth immer gerne über Musik gesprochen habe und die durch Ihre Besuche immer wieder zeigt, wie sehr sie diese Kunst liebt und schätzt, sondern alle, die an den kulturellen Hebeln sitzen, sich der Tatsache bewusst sind, in welch privilegierter Situation wir uns befinden. Mende: Das ist eben nicht nur eine Belastung, sondern ein großes Vermögen. Dohmen: Genau, das ist ein Reichtum. Ich merke das ja immer, wenn ich im Ausland bin, denn z. B. die Italiener sagen mir ja auch immer: "Madonna! Was habt ihr in Deutschland nur für eine Vielfalt an Orchestern!" Denn in Italien wird ja ein Orchester nach dem anderen geschlossen, denn das kulturelle Sterben hat dort längst begonnen. Ich denke mir daher, dass wir hier in Deutschland eine kleine Krankheit haben: Wir beklagen uns gerne. Und das ist auch gut so, denn man soll klagen, damit etwas besser wird. Aber ich sage auch: "Seid euch bewusst, auf welch hohem Niveau wir uns beklagen! Lasst uns immer im Bewusstsein haben, was für ein Privileg es ist, diesen Musikreichtum weiter würdevoll in die nächsten Generationen bringen zu können." Das wäre mein Anliegen. Mende: Herr Dohmen, das war jetzt ein sehr flammendes und sehr mitreißendes Plädoyer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es auch nur einen Zuschauer gibt, der nicht sofort schaut, wann im Opernhaus in der Nähe – denn es gibt einfach so viele wunderschöne Opernhäuser in Deutschland – das nächste Mal Wagner oder Richard Strauss gespielt wird. Wenn sich jemand, der mit der Oper noch nicht so firm ist, zum ersten Mal Richard Wagner nähern möchte, welche Oper würden Sie ihm für den Anfang raten? Dohmen: Da würde ich ihm nicht raten, sich zuerst den "Ring" anzusehen. Stattdessen soll er sich den "Fliegenden Holländer" anschauen oder "Tannhäuser" oder "". Wir müssten ihm aber auch sagen: "Bereite dich darauf vor, dass das ein langer Abend wird!" Aber die Schönheit dieser Musik ist so überwältigend, dass ich denke, er sollte mit diesen Opern den Einstieg machen. Mende: Soll er sich vorbereiten, soll er viel lesen usw.? Oder soll er sich einfach hinsetzen, die Augen und die Ohren und das Herz aufmachen und alles auf sich zukommen lassen? Dohmen: Das ist individuell völlig unterschiedlich. Es gibt Menschen, die wollen sich vorbereiten, und es gibt Menschen, die sagen: "Nein, ich möchte das spontan auf mich wirken lassen." Ich sehe das ja bei meinen Kindern, die natürlich vorbelastet sind: Sie wollen lieber vorbereitet werden. Sie wollen vorher vom Papa genau wissen, was da passiert, weil sie denken, sie haben dann mehr davon. Ich denke, das soll einfach jeder selbst entscheiden. Aber er soll sich mit offenem Herzen diese Musik anhören. Mende: Herr Dohmen, ich hoffe, dass dann entweder Sie auf der Bühne stehen werden oder jemand, der diese Mission "Musik" ... Dohmen: Ja, das ist eine Mission. Mende: ... mit genau der gleichen Ernsthaftigkeit und mit der gleichen Freude betreiben kann wie Sie. Ich danke Ihnen ganz herzlich fürs Kommen. Dohmen: Es war mir eine Freude. Mende: Ich wünsche Ihnen noch viele gute und schöne Jahre auf der Bühne und natürlich auch eine schöne Zeit, wenn Sie endlich mal einen Schnupfen bekommen dürfen. Dohmen: Oh, vielen Dank. Mende: Alles Gute für Sie und vielen herzlichen Dank. Auch Ihnen, meine Damen und Herren, natürlich ein herzliches Dankeschön für Ihr Interesse an dieser Sendung heute.

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