ISSN 2568 - 0641 Werkstattbericht der Forschungs- und Dokumentationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersachsen (FoDEx) 2 — 18

Demokratie- Dialog

Radikaler Protest Vom Neonazi Staatsleugnerinnen im Kontext des zum Muǧāhid vor Gericht G20-Gipfels – eine Beobachtung Philipp Scharf Annemieke Munderloh Stefan Eisen / Lars Geiges Demokratie-Dialog 2-2018

Inhalt Linke Militanz

Debattenbeitrag: Die blinden Flecken in der Über „Forschungsethik“ Kritik an der Extremismus­theorie Stine Marg 2 Eine Antwort auf J. Riedl und M. Micus Armin Pfahl-Traughber 24

Can I have your Attention Space? Radikalismus der Tat Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft: Linke Militanz oder die Ethnologie Tagung der Themengruppe „Internet und Politik“ der (Post-)Autonomen zum Thema „Fake News, Bots und Propaganda“ Jens Gmeiner / Matthias Micus 29 – ein Bericht Christopher Schmitz 10 Radikaler Protest im Kontext des G20-Gipfels Philipp Scharf 36 Kick it like Jesse? Warum die Debatte um den Extremismusbegriff einer zähen Von einer KPD-Initiative zur Fußballpartie ähnelt. Ein Workshop-Bericht Autonomen Lars Geiges 16 Antifaschistische Aktion gestern und heute Alexander Deycke 41 Impressum 97 

Religiöser Extreme Rechte Fundamentalismus und ihr Umfeld

Wahlen und Demokratie „Welcome to the show“ versus Scharia? Zwei Staatsleugnerinnen vor Gericht Salafismus und die Teilhabe – eine Beobachtung am politischen Leben im Westen Stefan Eisen / Lars Geiges 74 Mahmud El-Wereny 48 Mächtiges Überraschen Vom Neonazi zum Muǧāhid Die Crux des AfD-Erfolges am Beispiel Der Fall des „Northeimer Salafisten“ der Landtagswahl in Niedersachsen 2017 Sascha L. und die Parallelen Florian Finkbeiner 80 zwischen dschihadistischem und rechtsradikalem Extremismus Die sogenannten Germanen Annemieke Munderloh 55 Fragen zum Umgang mit einem Faszinosum Niels Penke / Heike Sahm 87 IS vor Gericht Der Prozess gegen das Netzwerk um ‚Abu Walaa‘ am Oberlandesgericht (OLG) Celle Lino Klevesath 64 Debattenbeitrag: Über „Forschungsethik“

Stine Marg

it der Einrichtung nen „Berufsstandes“ zu missachten.1 Während der Forschungs- und wir aus dem rechten Spektrum in der Vergan- Dokumentationsstelle genheit direkt mit Klagen und einstweiligen zur Analyse politischer und religiöser Extre- mismen in Niedersach- 1 Vgl. exemplarisch: Volpers, Simon / Wiedener, Rune: sen (FoDEx) wurde es Wissenschaftliche Neubetrachtung des Extre- mismusbegriffs, in: Neues Deutschland Online, etwas ungemütlich für 22.02.2017, URL: https://www.neues-deutschland. die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler de/artikel/1042563.wissenschaftliche-neubetrach- am Institut für Demokratieforschung. Neben tung-des-extremismusbegriffs.html [eingesehen Mviel Lob häuften sich auch Anwürfe, Verdäch- am 03.03.2018]; o. V.: Limo-Broschüre: Tatvorwurf: tigungen und Beschuldigungen, ohne dass gemeinschaftlich begangene Politische Verfolgung sich die Kritiker en détail mit unserer Arbeit gegen Links, URL: https://www.inventati.org/ali/pic- auseinandergesetzt hätten. Während uns einige tures/2017/solidaritaet/limo-kampagne/broschure/ der „staatsnahen Forschung“ bezichtigten, be- limo-broschure-web.pdf [eingesehen am 14.02.2018]; Pressemitteilung des Allgemeinen Studierendenaus- schimpften uns andere als „Agenten des Ver- schusses, Universität Göttingen: Verfassungsschutz fassungsschutzes“ und wieder andere meinten, und Wissenschaft – ein Kommentar, 17.02.2017, URL: unsere Arbeit delegitimieren zu können, indem https://asta.uni-goettingen.de/wp-content/upload- sie uns vorwarfen, den „Ethik-Kodex“ des eige- s/2017/02/2017_02_17-Verfassungschutz-und-Wis- senschaft.pdf [eingesehen am 14.02.2018].

2 Stine Marg | Debattenbeitrag: Über „Forschungsethik“

Verfügungen konfrontiert wurden, erreichten Fehlverhaltens. Immerhin wird ohne Beleg uns insbesondere aus dem linken Spektrum den Forschenden die Integrität, ein redliches nun Haus- und Redeverbote. So wurden Mitar- Streben nach Erkenntnis, mithin die Wissen- beitende namentlich gebrandmarkt, öffentlich schaftlichkeit abgesprochen. Der impliziten und an den Pranger gestellt oder Mitstreiter auf- expliziten Behauptung, dass der Drittmittelzu- gefordert, keinesfalls mit der Forschungs- und wender und die Positionierung des Forschers Dokumentationsstelle zusammenzuarbeiten. im Feld den Zugang zum Gegenstand und Zuletzt schickte uns ein Café Kollektiv eine Material verstellten, dass mehr denunziert statt Mitteilung, dass man unsere Arbeit als „schäd- beschrieben, mehr verdeckt statt erhellt, mehr lich für linkes und feministisches Engagement“ manipuliert statt erklärt würde, wird hier auf betrachte und die im Rahmen von FoDEx das Entschiedenste widersprochen. tätigen Mitarbeitenden daher weder bei politi- schen Veranstaltungen gewünscht seien, noch So schrieb bspw. die Antifaschistische Linke im „normalen Cafébetrieb“ Personen für ihre International >A.L.I.< im November 2017: Forschung „gewinnen“ dürften (solche Versuche „Gleichzeitig sind im Ethik-Kodex für Soziolo- wurden freilich nie unternommen) – bei Zu- gInnen eindeutige Richtlinien festgelegt, wie widerhandlung mache man von seinem Haus- soziologische Forschung stattzufinden hat. § 2 recht Gebrauch. legt das Prinzip der informierten Einwilligung der ProbandInnen fest. Es ist offenkundig, dass Nun soll es im Folgenden weniger um die doch dieses Prinzip beim Besuch von linken Veran- recht anmaßende Vorstellung gehen, dass ein staltungen und insbesondere beim Besuch von Demos, durch die MitarbeiterInnen des IfD [Ins- linkes Kollektiv darauf drängt, der Arbeitgeber tituts für Demokratieforschung] missachtet wird. solle die Freizeitgestaltung seiner Mitarbeiten- Die ‚Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler‘ den regulieren oder um die in dem Schreiben des IfD sehen sich offensichtlich nicht einmal zum Ausdruck gebrachte „Sippenhaft“. Zu- an die ethischen Grundsätze ihres Berufsstan- mal diese Ausgrenzungsbemühungen einzig des gebunden und versuchen sich trotzdem als darauf beruhen, dass sich Mitarbeitende der VertreterInnen einer ‚neutralen und objektiven‘ Forschung zu inszenieren.“2 Forschungsstelle wissenschaftlich fundiert mit Linker Militanz, mit der extremen Rechten und ihrem Umfeld oder mit religiösem Fundamen- Indes: Die hier vorgetragene Argumentation talismus beschäftigen. mit Verweis auf „Ethik-Kodizes“ befremdet auf mindestens zwei Ebenen. Zum einen werden Im Fokus steht vielmehr eine nähere Beschrei- diese „ethischen“ Maximen oft, wie auch hier, bung unserer Forschungspraxis und unseres lediglich auszugsweise zur Kenntnis genom- Feldzugangs respektive eine Auseinanderset- men und einseitig instrumentalisiert. Zum zung mit dem Vorwurf der Missachtung von anderen sollte gerade aus dem kritischen „Ethik-Richtlinien“. Was im ersten Heft des linken Spektrum die historische Genese dieses vorliegenden Werkstattberichts mit der Be- Herrschaftsinstruments zumindest mitbedacht schreibung der Arbeitsweise des Instituts für werden. Demokratieforschung im Rahmen von FoDEx begonnen worden ist, soll nun in loser Folge fortgesetzt werden; auch, um ein paar irrigen Annahmen über unser Vorgehen zu begegnen. Schließlich ist die Missachtung der eigenen 2 O. V.: Limo-Broschüre: Tatvorwurf: gemeinschaft- Standards einer der härtesten Vorwürfe, die lich begangene Politische Verfolgung gegen Links, man Wissenschaftlern gegenüber äußern kann URL: https://www.inventati.org/ali/pictures/2017/ – neben der bewussten Manipulation von solidaritaet/limo-kampagne/broschure/limo-bro- Daten als extremster Form wissenschaftlichen schure-web.pdf [eingesehen am 14.02.2018].

3 Demokratie-Dialog 2-2018

„Ethik-Kodizes“ sind zwar insbesondere in den che nicht herangezogen werden sollten.3 Auch Sozialwissenschaften ein verhältnismäßig neu- wenn die „ethische“ (Selbst-)Verpflichtung der es Phänomen, doch rekurrieren sie auf „ethi- Mediziner keinesfalls eine progressive, linear sche“ Selbstverpflichtungen der Naturwissen- ansteigende Entwicklung nahm, sondern immer schaftler respektive Mediziner aus dem Jahr wieder gebrochen wurde, stellt Giovanni Maio 1947. Diese waren eine explizite Reaktion auf in einer Untersuchung fest, dass es derartige die Grausamkeit der NS-Medizinverbrechen im Kodifizierungen zu Beginn des 20. Jahrhun- Namen der Wissenschaft, die im Nürnberger derts auch in anderen Ländern und sie als Ärzteprozess vor einem amerikanischen Ge- „Meinungsbild“ unter den Mediziner präsent richt verhandelt wurden. Mit der Bezugnahme gewesen waren.4 Doch diese selbst gesetzten auf den aus diesem Verfahren resultierenden „ethischen Kodizes“ hielten die Mediziner, die „Nürnberger-Kodex“ sind jedoch zwei zentrale Wissenschaftler, die zu Verbrechern wurden, Probleme verbunden. Zunächst suggerierten keineswegs im Zaum, im Gegenteil: Die Verbre- diese Standards, das Problem an sich sei be- chen gegen die Menschlichkeit im Namen der reits durch ihre Fixierung behoben und Verbre- medizinischen Forschung und des Fortschritts chen durch medizinische Forschung somit für wurden durch die Prinzipien der Wissenschaft alle Zeit und in Zukunft ausgeschlossen. Dass selbst gerechtfertigt und legitimiert. Medi- diese Annahme eine trügerische Illusion war, zinverbrecher waren sich auch deshalb kei- zeigt – um nur ein Beispiel zu nennen – die ner ethischen Verstöße bewusst, weil sie in Tuskegee-Syphilli-Studie aus dem Jahr 1972, ihrer Logik „ethischen Erwägungen“ folgten. in der mehrere hundert schwarze Männer So vertrat bspw. der durch die Alliierten dann ohne ihr Wissen scheinbehandelt wurden bzw. zum Tode verurteilte und hingerichtete Karl unbehandelt blieben, damit Mediziner in Ruhe Brandt selbst vor Gericht noch beharrlich die den Krankheitsverlauf beobachten konnten. Auffassung, dass das Opfer von fünf Menschen Und, obwohl es zynisch klingt: Die Medizinver- im Rahmen von medizinischen Versuchen brechen im Nationalsozialismus konnten nicht gerechtfertigt wäre, wenn durch die so gewon- wegen fehlender „Ethik-Kodizes“, sondern trotz nenen Erkenntnisse fünf Millionen Soldaten ge- der Existenz „ethischer“ Selbstverpflichtungen rettet werden könnten. Die „Medizinethik“, die der Mediziner durchgeführt werden, weil diese im NS zählte, war eine biologistische Kollekti- – ganz einer Kollektivethik verpflichtet – ihre vethik, in der das Gemeinwohl vor dem Wohl Experimente für ethisch gerechtfertigt hielten. des Einzelnen stand.

Insbesondere über den Aspekt der Freiwillig- Nun soll keinesfalls behauptet werden, dass keit der Probanden im Zusammenhang mit von der Medizinethik des frühen 20. Jahrhun- Menschenversuchen hat man in der Medizin derts und deren Versagen eine bruchlose Linie seit dem 19. Jahrhundert intensiv diskutiert. zu den „ethischen Kodizes“ der Sozialwissen- Die Debattenergebnisse wurden auch mit schaften gezogen werden kann – wer diese dem „Erlass der Preußischen Anweisungen im Erzählung hier so begreift, will die Autorin Jahr 1900“ in gesetzliche Bestimmungen ge- gossen, die festlegten, dass die Einwilligung zu

Humanexperimenten erst nach einer umfas- 3 Vgl. Maio, Giovanni: Medizinhistorische Überle- senden Aufklärung des Patienten über Risiken gungen zur Medizinethik 1900–1950: Das Hu- eingeholt werden dürfe und nichteinwilligungs- manexperiment in Frankreich und Deutsch- fähige Patienten grundsätzlich für diese Versu- land, in: Frewert, Andreas / Neumann, Josef N. (Hrsg.): Medizingeschichte und Medizinethik. Kontroversen und Begründungsansätze 1990–1950, Frankfurt a. M. 2001, S. 374–382.

4 Ebd., S. 382.

4 Stine Marg | Debattenbeitrag: Über „Forschungsethik“ bewusst falsch verstehen. Durch die bruchlose bezogenen Daten im Blick. Ein solcher Per- Übernahme der Kodizes wird jedoch so getan, sonenbezug liegt in der Interpretation des als wären sozialwissenschaftliche Forschungen Bundesdatenschutzgesetzes dann vor, wenn mit medizinischen Experimenten gleichzu- „Einzelangaben über persönliche oder sach- setzen. Das ist absurd, denn experimentelle liche Verhältnisse einer bestimmten oder medizinische Menschenversuche sind etwas bestimmbaren natürlichen Person“ gemacht grundlegend anderes als ein Interview oder werden.6 eine Befragung. Personenbezogene Daten, also bspw. die Ver- Eines ist bis hierhin bereits deutlich gewor- bindung von Klarnamen mit dem Organisati- den: Ein Blick auf die Wissenschaftsgeschichte onszusammenhang, Stationen der individuellen lehrt, dass „ethische Grundsätze“ für jedwe- Biografie und Einkommensverhältnisse, mögen de Rechtfertigung zu gebrauchen sind. Daher im Rahmen manch eines Forschungsprojek- erscheinen uns die beständige reflexive und tes sicherlich interessant sein, für die in der kritische Spiegelung der eigenen Arbeit und Forschungsstelle tätigen Wissenschaftler sind die gemeinsame lebendige Diskussion darü- diese Informationen jedoch nicht relevant. Wie ber, die letztlich auch eine gegenseitige aktive wir bereits in der ersten Ausgabe des Demo- (Selbst-)Kontrolle ist, zielführender als die Be- kratie-Dialog beschrieben haben, interessieren folgung starrer Regeln und Konventionen. wir uns für die wissenschaftliche Erforschung ‚demokratiegefährdender‘ Tendenzen in der Der durch die A.L.I. propagierte „Ethik-Kodex niedersächsischen Gesellschaft, nicht mit dem der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) Ansinnen einer Stigmatisierung, sondern im und des Berufsverbandes der Soziologinnen Rahmen der Debatte und Konkretisierung von und Soziologen (BDS)“5 verhandelt das ein- (demokratischen) Werten bzw. Verfahrensweisen: geforderte „informierte Einverständnis“ der „Hierbei sind in einem umfassenden histo- Beforschten unter Paragraf zwei, „Rechte der risch-längsschnittartigen Zugriff ideologische, Probandinnen und Probanden“ – wir würden personelle und organisatorische Zusammenhän- immer sagen: Forschungspartner. Dort geht es ge ebenso zu berücksichtigen wie Mentalitäten, im Wesentlichen um die Verantwortung des Deutungsmuster und Einstellungen der entspre- Forschers seinen Befragten gegenüber; thema- chenden Akteure und Bewegungen. Im Zentrum tisiert werden die Schweigepflicht sowie die steht die Erforschung aktueller Ausprägungen politischer Gewalt und Militanz, von Dissidenz, Aufgabe des Soziologen, mögliche Nachteile für Radikalismus und gruppenbezogener Menschen- die Forschungspartner durch sein Agieren im feindlichkeit, mit innovativen, ertragreichen Feld möglichst frühzeitig zu antizipieren und Methoden, um Entstehungszusammenhänge, schützende Maßnahmen zu ergreifen, auch die Entwicklungsverläufe, Zerfalls- oder Progres- Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen sionsprozesse analysieren und erklären zu der Persönlichkeitsrechte und schließlich die können. Es sollen sich wandelnde Gesellschafts- entwürfe, Selbstverständnisse und Demokratie- „informierte Einwilligung“ werden in diesem konzepte unterschiedlicher gesellschaftlicher Paragrafen behandelt. Diese informierte Ein- Akteure ebenso berücksichtigt werden wie willigung – und das geht aus dem gesamten die in der Forschungsstelle zu untersuchen- Paragrafen hervor – hat jedoch die Erhebung, den Analysebereiche: schwerpunktmäßig die Speicherung und Verwendung der personen- Extreme Rechte, die Radikale Linke und religiös

5 Stand Juni 2017. URL: http://www.soziologie.de/ fileadmin/user_upload/DGS_Redaktion_BE_FM/ DGSallgemein/Ethik-Kodex_2017-06-10. 6 Vgl. hierzu Bundesdatenschutz- pdf [eingesehen am 14.02.2018] gesetz (BDSG) § 3, Satz 1.

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motivierte politische Gewalt, jeweils in ihrer sondere vor der Veröffentlichung potenzielle gesellschaftlichen Bedingtheit.“7 Gefährdungen Einzelner. Dies ist im Übrigen keine Besonderheit von FoDEx, sondern die Wir konzentrieren uns demzufolge auf die Maxime unserer qualitativen Forschung im Feld Aushandlung im öffentlichen Raum, die politi- mit Parteivorsitzenden und Ortsvorstehern, mit sche Meinungsbildung, die Entstehung von ge- Bewegungsunternehmern oder Internetaktivis- sellschaftlichen Assoziationszusammenhängen, ten seit vielen Jahren. die Genese neuer politischer Forderungen oder alternativer Konzepte sowie auf Mechanismen Im „Ethik-Kodex“ sowohl der Soziologie als und Ressourcen zur Durchsetzung derselben, auch der beinahe wortgleichen Variante der ebenso auf Symbole, Traditionen, Strukturen, Deutschen Gesellschaft für Politikwissen- Ordnungen oder Ideologien von Gruppen. Im schaft (DVPW) ist nicht nur das informierte Rahmen der politischen Kulturforschung (in Einverständnis gefordert, sondern dort heißt der Tradition von Karl Rohe) wollen wir in das es auch: „Nicht immer kann das Prinzip der Forschungsfeld eintauchen, Vorstellungen und informierten Einwilligung in die Praxis umge- Praktiken erfassen, quasi „Fremdverstehen“ setzt werden, z. B. wenn durch eine umfassende – ein Vorgang, der im Übrigen eine perma- Vorabinformation die Forschungsergebnisse nente Reflexion voraussetzt und somit die in in nicht vertretbarer Weise verzerrt würden. In Paragraf zwei des „Ethik-Kodex“ angespro- solchen Fällen muss versucht werden, andere chenen Erwägungen stets mitbedenkt. Und ja, Möglichkeiten der informierten Einwilligung zu sicherlich interessieren wir uns in diesem Zu- nutzen.“ Wir haben aus unserer Tätigkeit nie sammenhang auch für biografische Hintergrün- ein Geheimnis gemacht, im Gegenteil: Frühzei- de, individuelle Motivlagen der Akteure und tig machten wir mit einer Pressemitteilung auf Lebensläufe, aber eben auf der Aggregatebene, die Arbeit der Forschungsstelle aufmerksam; kumuliert, und nicht auf individuellem Niveau. durch den vorliegenden Demokratie-Dialog, wie Auch insofern spielen personenbezogene Daten auch in Bälde auf einer separaten Website8, in unserer Erhebung keine Rolle. Wenn sie je- wurden und werden maßgebliche Informatio- doch quasi als Beifang bei unseren Forschun- nen und erste Ergebnisse – entsprechend den gen zwangsläufig im Netz der Erhebungen Fortschritten der Forschungs- und Dokumen- landen, behandeln wir sie selbstverständlich tationsstelle – vorgestellt. Überdies haben wir auf der Grundlage gesetzlich geltender Bestim- allen Kritikern beständig das Gespräch und mungen und fachinterner Routinen, d. h. bspw., den Austausch angeboten. dass wir für die Weiterverarbeitung die Da- ten keinesfalls zusammen mit den Klarnamen In der Präambel dieser Forschungskodizes aufbewahren; wir reduzieren schützenswerte wird ebenso darauf verwiesen, dass es immer Angaben in den Transkripten und speichern eine Güterabwägung geben muss zwischen nur die für die Forschungsfragen notwendigen Forschungsfreiheit und Erkenntnisgewinn auf Informationen. Selbstverständlich geben wir die der einen und Datenschutzanliegen sowie den im Forschungsprozess gewonnenen Daten und Rechten der Forschungspartner auf der an- Informationen nicht weiter und prüfen insbe- deren Seite. Dies bedeutet im Umkehrschluss auch, dass Letztere nicht einfach mit einem lapidaren Verweis auf ein Nicht-beforscht-wer- den-wollen und auf die existierenden Richtli- 7 Vgl. Trittel, Katharina u. a.: Demokratie-Dia- nien einseitig Rechte einfordern können. Denn log. Die Arbeit des Instituts für Demokratie- forschung im Rahmen der Forschungs- und Dokumentationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersachsen, 8 Die Seite www.fodex-online.de in: Demokratie-Dialog, Jg. 1 (2017), H. 1, S. 2–9. befindet sich noch im Aufbau.

6 Stine Marg | Debattenbeitrag: Über „Forschungsethik“ wenn es danach ginge, würde jeder Beteiligte Wissen einschränken würde. Überdies befördert einer politischen Hinterzimmervereinbarung, eine solche Argumentation das Eindringen von jeder Parteivorstand, jeder Pharmakonzern, „Nutzen“ und „Risiko“ in den Forschungspro- der seine Praktiken lieber verschleiern möch- zess, ist reduktionistisch und epistemologisch te, auch jede Konzernzentrale darauf pochen problematisch. wollen, dass ihre Person, ihre Institution, ihre Gruppe ein Recht darauf habe, von der wis- Und schließlich muss – freilich argumentativ senschaftlichen Untersuchung ausgenommen auf einer anderen Ebene – angemerkt werden: zu werden. Und überhaupt: Warum sollten In Zeiten, in denen (nicht nur) linke Aktivisten zivilgesellschaftliche und politische Eliten verstärkt das Internet und soziale Medien nut- sowie Akteure, die in der Öffentlichkeit agieren zen, um ihre Standpunkte zu verbreiten, über oder deren Handeln womöglich maßgeblichen Termine zu informieren, aber vor allem um gesellschaftlichen Werten und Praktiken zuwi- ihre Aktionen zu dokumentieren, mit denen derläuft, nicht beforscht werden? Warum sollte wiederum neue Anhänger gewonnen werden jemand das Recht haben, sich der öffentlichen sollen, ist die Angst vor dem analog agieren- Auseinandersetzung und kritischen Betrach- den Forscher schon etwas possierlich. Denn im tung zu entziehen? Unter den entsprechen- Netz löst sich die so vehement eingeforderte den Voraussetzungen – eben keine einzelnen Anonymität ohnehin zunehmend auf. IP-Ad- Personen an den Pranger zu stellen, den For- ressen und Standortdaten machen eine Nut- schungsprozess transparent und nachvollzieh- zer- und Anwenderidentifizierung so leicht wie bar zu gestalten, die Datenerhebung, -speiche- nie und selbst Entpixelungen von Bildern und rung und -verarbeitung verantwortungsbewusst Videos sind auf dem heimischen PC für tech- umzusetzen – darf, so meinen wir, nichts der nische Laien kein Hexenwerk mehr. Wer sich Kritik entzogen werden, ist nichts sakrosankt. dem Internet andient bzw. sich Facebook und Twitter als Transformationsmedium bedient, Mit dem Dogma, dass Forschung lediglich mit braucht sich vor Forschern nicht zu fürchten. einer informierten und aktiven Einwilligung der Immerhin sind wir nicht nur an rechtliche Befragten durchführbar sei, verunmöglicht man Regelungen gebunden, sondern speichern die in weiten Teilen Forschung über Gesellschaft. (wohlgemerkt analog gesammelten) Daten auf Wie soll z. B. das informierte Einverständnis heimischen Forschungsservern und nicht in von Hooligans eingeholt werden, deren Verhal- Irland oder anderen nahezu rechtsfreien Räu- ten man während eines Fußballspiels erfor- men. schen möchte? Wie sollen bei einer Massen- veranstaltung, deren Formationen, Symbole Oft entstehen die Probleme jedoch nicht bei und Rituale man untersucht, die Anwesenden der Datenerhebung, sondern bei der Publika- über das Projekt informiert und deren Ein- tion der Forschungsergebnisse, insbesondere willigung erlangt werden? Wer soll bspw. bei dann, wenn kleinräumige Einheiten erkundet einer nüchternen organisationssoziologischen wurden. In diesem Zusammenhang kollidiert Untersuchung einer Partei die Zustimmung die Forderung nach Transparenz und Nachprüf- des Parteivorstandes, der Mitglieder etc. be- barkeit – die selbstverständlich immer wieder schaffen? Was ist mit der Untersuchung von zu Recht an die Wissenschaft gestellt wird – Lebensläufen oder Gruppenbiografien Ver- mit dem Recht auf Anonymisierung sowie dem storbener? Biografien über Karl Marx oder Schutz der Privatsphäre der Betroffenen. Dem Wilhelm II., Martin Luther oder Jeanne D’Arc soll mit einem reflexivem Prozess zwischen wären perdu, da ein post festum eingeholtes Forschern und Forschungspartnern begegnet Einverständnis nicht vorliegt. Diese Aufzählung werden, d. h., dass die Ergebnisse der For- zeigt überdeutlich die Absurdität des Dogmas schung an die beforschten Partner zurückge- auf, welches strikt angewendet die Genese von spielt werden und der Forscher offen für Kritik,

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Ergänzungen oder Ähnliches durch die For- scher kritisieren die Nicht-Anwendbarkeit für schungspartner ist. Genau dies ist ein Anliegen ihren Forschungsprozess, da hier Standards der Forschungsstelle in der Forschungstradition und Formate der quantitativen Forschung den des Göttinger Institutes für Demokratiefor- qualitativen Zugängen übergestülpt und diese schung. Eines unserer Gründungsanliegen war somit erheblich erschwert, wenn nicht gar und bleibt die Öffnung hin zur interessierten verunmöglicht werden. So ist bspw. gerade das Öffentlichkeit, der die Ergebnisse nicht nur in theoretical sampling – also wenn sich das einer handhabbaren Form jenseits des Fach- Forschungsdesign im Prozess verändert – mit aufsatzes vermittelt, sondern die insbesondere der informierten Einwilligung keinesfalls in die Diskussion der Ergebnisse einbezogen zu vereinbaren. werden soll. Dieser Prozess ermöglicht den Forschungspartnern bzw. den Akteuren im Doch bleiben all dies für uns eher theoreti- beforschten Feld schließlich deutlich weiterge- sche Erwägungen, denn, nochmal: Wir sind gar hende Mitsprachemöglichkeiten als die re- nicht an personenbezogenen Daten interes- flexhafte Bezugnahme auf die „Ethik-Kodizes“. siert, sondern an der Erforschung von Dis- kursen, Deutungsmustern und Handlungen im Schließlich sind diese Regelungen, die durch öffentlichen Raum. Das Sprechen mit Akteuren, sogenannte Ethik-Kommissionen festgelegt die Analyse von produzierten Texten, Bildern, werden, auch immer ein Machtinstrument, das Videos oder Ähnlichem ist nicht das Gleiche, bestehende Herrschaftsprozesse und Macht- wie jemanden zu überwachen oder zu bespit- gleichgewichte absichert, ja: Wissenschaft zeln. Überdies – und das soll provokativ am reguliert. Etablierte Professoren und andere Ende angemerkt werden: Wenn es keine durch Interessengruppen (und diese vertreten oft- die Wissenschaftsgemeinschaft und Öffent- mals – wie das Beispiel der Stammzellenfor- lichkeit kontrollierte Forschung gibt, die über schung zeigt – handfeste Lobbyinteressen) Linke Militanz, die extreme Rechte oder religiös beraten hier unter Ausschluss der Öffentlich- motivierte Gewalt in der Bundesrepublik Wis- keit und der randständigen Einbeziehung des sen produziert, heißt das nicht, dass niemand akademischen Mittelbaus über Standards und über diese Gruppen berichten würde. Jour- Methoden des Fachs. So weitet das innerhalb nalisten, Akteure aus den Zusammenhängen der Wissenschaft agierende Kontrollorgan seine zum Zwecke der Selbstvermarktung, Agenten Macht beständig aus – nicht nur, weil solche und V-Männer des Staats- und Verfassungs- Kommissionen als Stabsstellen an beinahe schutzes – sie alle stellen Wissen oder Infor- allen Universitäten etabliert werden, sondern mationen bereit, erzählen Geschichten oder weil Veröffentlichungen in (internationalen) verbreiten (Fake) News in einer interessen- Zeitschriften oder die Einwerbung von Dritt- geleiteten, intransparenten und motivational mitteln mehr und mehr an die Zertifizierung nicht nachvollziehbaren Weise. Auch wenn wir einer „ethischen“ Lauterbarkeit gebunden wer- als Forschende keinesfalls behaupten wollen, den. Diese Prozesse der Institutionalisierung völlig „neutral“ und „objektiv“ zu arbeiten, so und Formalisierung stehen einem individuellen sind unsere Prinzipien, Beispiele und Argu- und verantwortungsbewussten Reflexionspro- mentationsstränge doch einsehbar, nachvoll- zess der Wissenschaftler jedoch eher im Wege, ziehbar und öffentlich kritisierbar. Gerade weil als ihn zu ermöglichen. wir nach einer (nicht nach der) „Wahrheit“ streben, indem wir Deutungen anbieten, Fragen Zuletzt: Die Diskussion innerhalb der Fachöf- und Thesen formulieren, schaffen wir zwar kei- fentlichkeit über die Frage der „Ethik-Kodizes“ ne unumstößlichen „Fakten“, bieten aber doch verläuft überdies keinesfalls so eindeutig, wie Orientierung. In Zeiten, in denen die „Krise es die oben zitierten A.L.I.-Autoren suggerie- der Demokratie“ beschworen wird, ist nicht ren. Insbesondere qualitativ arbeitende For- nur unsere Forschung über „demokratiegefähr-

8 Stine Marg | Debattenbeitrag: Über „Forschungsethik“ dende“ Bestrebungen umso wichtiger, sondern auch ein selbstbewusstes Eintreten für die eigenen Forschungsansätze und Methoden und eine konstruktive und nicht polemische Dis- kussion ihrer Grenzen. Wer im theoretischen Elfenbeinturm verbleibt, mag unangreifbarer sein, aber in manchen Forschungsfeldern umso weiter von gesellschaftsrelevanten Erkenntnis- sen entfernt.

Dr. Stine Marg, geb. 1983, ist Politikwissenschaftlerin und geschäftsführende Leite- rin des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.

9 Can I have your Attention Space?

Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft: Tagung der Themengruppe „Internet und Politik“ zum Thema „Fake News, Bots und Propaganda“ – ein Bericht

Christopher Schmitz

as „Brexit“-Votum, die Politikwissenschaft (DVPW) hat den Zeitpunkt Wahl Donald Trumps zum kurz nach der Bundestagswahl genutzt, um Präsidenten der Vereinig- die Rolle des Internets unter die Lupe zu ten Staaten, die möglichen nehmen. Unmittelbar nach den gescheiter- Verwicklungen Russlands in ten Sondierungsgesprächen in über ein die US-Wahl und schließ- Jamaika-Bündnis kamen Vertreterinnen und lich das Abschneiden der Vertreter der Politik-, Sozial- und Kommuni- AfD bei der Bundestags- kationswissenschaften am 23. und 24. Novem- wahl mit 12,5 Prozent der Wählerstimmen – bei ber 2017 in den Räumlichkeiten des Center for all diesen Themen war das Internet immer Advanced Internet Studies in Bochum zusam- Din aller Munde: Falschmeldungen, sogenannte men, um Projekte vorzustellen, sich unterein- Fake News, Propaganda und die Einmischung ander auszutauschen und Problemfelder und durch automatisierte Inhalte mittels sogenann- Forschungsbedarfe zu identifizieren.1 ter Bots. Die zwei vergangenen Jahre bieten mehr als genug Anlässe für die Wissenschaft, tätig zu werden, Ergebnisse zu begutachten, 1 Eine Übersicht über die Referentinnen und Refe- zu hinterfragen und Erklärungen anzubieten renten sowie das Tagungsprogramm findet sich auf oder überhaupt erst einmal Zusammenhän- der Seite des CAIS, o. V.: 2. Tagung der DVPW-The- ge zu entdecken. Die Themengruppe „Internet mengruppe „Internet und Politik“ Wahlkampf-Online und Politik“ der Deutschen Vereinigung für 2017: Fake News, Bots und Propaganda?, in: CAIS,

10 Christopher Schmitz | Can I have your Attention Space?

Im Mittelpunkt standen Herausforderungen der geblieben, hat sich jedoch in einen soliden Forschung hinsichtlich der Rolle von Usern Pessimismus verkehrt.4 als Wählerinnen und Wählern, social network sites (SNS) als Medium und Mediendistributor für die Nutzenden und ihre Interaktionen mit (Fake) News. Im Endeffekt ging es also um eine „Instagram is the thing to come.“ alte Frage: jene, nach dem Einfluss des Inter- nets auf Politik und Demokratie – in einem So weit zur Ausgangssituation und dem all- neuen Gewand. Aber: Der Optimismus, der den gemeinen Leumund des Internets zum Ende zwischenzeitlichen Aufstieg der Piratenpartei des Bundestagswahljahres 2017. Gemäß der ab dem Jahr 2009 begleitet und der das Netz Omnipräsenz des Wortes beschäftigte sich als Lösung von Schwächen der Demokratie die Tagung zunächst viel mit dem Phänomen gesehen hatte,2 ist auch aufgrund der oben der Fake News. In seiner Keynote gab Christi- erwähnten Ereignisse, bei denen Onlineprozes- an Vaccari von der Royal Halloway University sen und -effekten jeweils eine große Rolle zu- of London einen begriffskritischen Input zu kam, längst verflogen. Statt „Liquid Feedback“, „Online disinformation in context: Media, Ins- „Demokratie 2.0“, „der Weisheit der Vielen“ und titutions and Platforms“. Vaccari beginnt seine der romantischen Vorstellung einer „digitalen Ausführungen mit einer Feststellung, welche Agora“ beherrschen nun pessimistische Töne die öffentliche und wissenschaftliche Ausein- die Debatte. Wenn von politischer Aktivität andersetzung zur Kenntnis nehmen sollte: Fake im Netz die Rede ist, dann assoziiert damit News als Begriff, so Vaccari, sei schlichtweg so gut wie niemand mehr den überschießen- kompromittiert. Spätestens seit dem Wahlsieg den, jungen, optimistischen Protest gegen das Donald Trumps, der Medienvorwürfe gegen ihn Handelsabkommen ACTA aus dem Jahr 2012.3 gerne als Fake News diskreditierte, habe der Vielmehr bedeutet Aktivismus heute allzu oft Begriff endgültig jeden analytischen Sinn und auch Hate Speech, die Notwendigkeit eines Zweck verloren und sollte deshalb auch nicht Netzwerkdurchsetzungsgesetzes, Fake News mehr verwendet werden. Er sei schlichtweg vom oder Echokammern. Die utopischen Energien Gegenstand okkupiert worden. Vaccari präferiert sind verbraucht, der „magische Digitalismus“ den Begriff der disinformation. Diesen unter- – das ehrfürchtige Staunen über die schier scheidet er von „misinformation“.5 Die Ver- endlose Allmacht des Internets – ist zwar breitung von Falschinformation sei vor allem malicious, also bösartig, vorsätzlich oder ab- sichtlich, jene von Fehlinformationen hingegen der Unachtsamkeit geschuldet, jedenfalls nicht intentional. Den Unterschied, so Vaccari, kön- ne man in vielen Fällen nicht ohne Weiteres

URL: www.cais.nrw​/​event/​2-tagung-der-dvpw-the- ermitteln. Fake News seien ein Kontinuum und mengruppe-internet-und-politik-wahl- um die careless misinformation von der mali- kampf-online-2017-fake-news-bots-und-pro- paganda/ ​[eingesehen am 13.02.2018].

2 Vgl. Klecha, Stephan / Hensel, Alexander: Zwi- 4 Lobo, Sascha: Wie unser Technik-Aberglaube allen schen digitalem Aufbruch und analogem Ab- schadet, in: Spiegel Online, 07.12.2016, URL: www. sturz: Die Piratenpartei, Opladen 2013. spiegel.de​/​netzwelt/​web/​magischer-digitalis- mus-wie-unser-technik-aberglaube-uns-allen-scha- 3 Vgl. Hensel, Alexander et al.: „Vernetzt euch – das det-a-1124836.html [eingesehen am 13.02.2018]. ist die einzige Waffe, die man hat.“ Internetpro- teste, in: Marg, Stine et al. (Hrsg.): Die neue Macht 5 Die Begriffstrennung zwischen „disinformation“ und der Bürger. Was motiviert die Protestbewegun- „misinformation“ wird im Folgenden mit „Falsch-“ gen?, Reinbek bei Hamburg, 2013, S. 267–300. bzw. „Fehlinformationen“ übersetzt und verwendet.

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cious disinformation zu trennen, müssten die keine solchen enthielten. Diese Befunde sind Ebenen der Intention, Rezeption und Interak- beunruhigend. Nicht nur, weil das Sample, mit tion ins Zentrum rücken, es müsste qualitativ dem das Experiment durchgeführt wurde, laut überprüft werden, was die Leute bezwecken, Geise und Hänelt im Durchschnitt über einen meinen und verstehen. relativ hohen Bildungsgrad verfügt habe, son- dern auch, weil es verdeutlicht, wie schwierig Im Zentrum von Vaccaris Vortrag standen es offenbar sein kann, falsche Informationen weder politische Eliten oder Journalisten noch treffend zu identifizieren. Dies dürfte erst recht Bots oder Algorithmen. Ihm geht es um die für Situationen jenseits des experimentellen Userinnen und User: Wer wird Falschinformati- Kontextes gelten, also bspw. abends mit dem onen ausgesetzt? Wer ist „immun“, wer ver- Smartphone auf dem Sofa. breitet sie? Was kann man dagegen tun? Die Beantwortung dieser Fragen fällt eher pessi- mistisch aus und auch nicht alle Schlussfol- gerungen überraschen: Sowohl die Verbreitung Populismus und Aufmerksamkeitsräume von als auch die Konfrontation mit Falschin- formationen sei geringer und nähme ab, wenn Denn dort werden sie dem ausgesetzt, was Nutzerinnen und Nutzer sich für Politik inter- Ralph Schroeder vom Oxford Internet Institute essierten, den Medien allgemein höheres Ver- in seinem Vortrag zum Abschluss der Tagung trauen entgegenbrächten und sich darüber hi- als eine wesentliche Bedingung für den Wahl- naus in einem offeneren, nicht parteipolitisch sieg Donald Trumps ausgemacht hat: Attention polarisierten Mediensystem befänden. Dennoch Spaces.6 Schroeders Argument ist zügig erläu- sei Falschinformation ein gravierendes Problem, tert: Der Hauptgrund für Donald Trumps Wahl- vor allem – und das war dann doch über- sieg liege nicht zwingend in seiner Kampag- raschend – auf der Plattform Instagram und ne, sondern an dem schieren Ausmaß seiner nicht einmal unbedingt auf Facebook. Dadurch Medienpräsenz und dem ihm damit zugestan- sei Instagram, so Vaccari, „the thing to come“. denen Aufmerksamkeitsraum. Jeder Tweet, jede Wahlkampfrede Trumps seien ergiebig disku- tiert und minutiös begleitet worden. Faktisch sei es unmöglich gewesen, Trump nicht zu Falsche Fake News begegnen. Doch waren es laut Schroeder nicht allein die Aufmerksamkeitsräume, die hierbei Wie, inwiefern und warum Leute auf Fake wesentlich waren, sondern technologische Ent- News hereinfallen, war Thema des Vortrags von wicklungen – also Digitalisierung und soziale Stephanie Geise und Maria Hänelt. Sie prä- Medien –, die eine der wichtigsten politischen sentierten die Ergebnisse eines Experiments, Entwicklungen in den USA der vergangenen das danach fragte, woran Menschen Nachrich- Jahrzehnte maßgeblich, so Schroeder, begüns- tenartikel mit Falschinformationen erkennen tigt hätten: den Populismus. Die Entwicklung und von solchen ohne falsche Informationen digitaler Medien und eine ihrer bedeutendsten unterscheiden können. Die Ergebnisse sind laut Eigenschaften, die Umgehung zentraler medi- Hänelt und Geise eher ernüchternd. Nicht nur aler Gatekeeper, stelle eine wesentliche, wenn ist es den Probandinnen und Probanden relativ nicht die wesentliche Erfolgsbedingung des häufig nicht gelungen, die desinformieren- den Texte zu identifizieren; in einem zweiten Durchgang produzierten diese darüber hinaus auch noch eine beachtliche Anzahl falsch po- 6 Vgl. Schroeder, Ralph: Social Theory af- sitiver Treffer: Es wurden also Artikel im Nach- ter the Internet. Media, Technology and Glo- hinein als Falschinformationen benannt, die balization, London 2018, S. 15 ff.

12 Christopher Schmitz | Can I have your Attention Space? modernen Populismus dar.7 Denn neue soziale tont wird –, welche die Inhalte auf „magische Medien ermöglichten die direkte Ansprache Weise“ für das Individuum vorsortierten und der Wählerklientele. Ob aus Konkurrenzgründen schließlich hermetisch abriegelten, genießt der wie in den USA oder aufgrund öffentlich-recht- Begriff große Popularität. In einer solchen Kon- licher Medienstrukturen, die ihrem Informa- zeptionierung von Echokammern als einer Zu- tionsauftrag gerecht werden und sich von sammenschau von Knotenpunkten und Infor- populistischen Inhalten abgrenzen wollen – die mationsflüssen fällt der empirische Nachweis Thematisierung und Verbreitung populistischer tatsächlich negativ aus.8 Diese Ansätze gehen Botschaften erscheint unausweichlich. Und sie davon aus, dass eine Echokammer nicht mehr produziert sogleich neuen Stoff für die popu- existent sein kann, sobald eine kritische Masse listische Auseinandersetzung; denn schließlich widerstreitender Informationen die Grenze sei die Wiedergabe der Inhalte in den traditi- der Kammer überschreitet. Diese Perspektive onellen Medien gemäß derjenigen, die von der fokussiert jedoch gänzlich auf die Übermitt- populistischen Agenda überzeugt sind, ohne- lung der Informationen und lässt die Ebene hin verzerrt. Was Schroeder in seinem Vortrag der Rezeption außer Acht. Diese haben auf umreißt, ähnelt einem perpetuum mobile der der Tagung sowohl Norbert Kersting und Max gegenwärtigen politischen Auseinandersetzung, Mehl wie auch Wolf Schünemann (Universität einem Wechselspiel zwischen Provokation, Hildesheim) und Christopher Schmitz (Univer- Empörung, Gegenempörung, Gewöhnung und sität Göttingen) in den Blick genommen. neuerlicher Provokation. Kersting und Mehl referierten über „Echokam- mern im deutschen Bundestagswahlkampf“. Grundlage ihrer Arbeit ist das Verständnis des Empörung, Empörungsecho und Echokammern Internets und sozialer Medien als expressiver, auf die Äußerung von Kritik ausgerichteter, Diese beständige Kaskade aus Provokation, konfrontativer und eben nicht als deliberati- Empörung und Gegenempörung provoziert ver – wie in den ursprünglichen Netzutopien – die Frage nach dem Begriff der Echokammer. Kommunikationsraum. Entsprechend gibt es Einerseits deutet die tendenzielle Abkopplung Parteiformationen, die in Online-Medien, vor der populistischen Agenda von traditionellen allem auf Facebook, eine hohe Anzahl exklusi- Medien auf die Herausbildung solcher vonei- ver Anhängerinnen und Anhänger haben, die nander abgeschotteten Bereiche hin. Auf der z. B. auch unterschiedliche Medien konsumie- anderen Seite ist es aber gerade die skizzierte ren. Schünemann und Schmitz haben ähnliche Interdependenz von Provokation, Empörung Effekte beobachtet und konnten herausstel- und Empörungsecho, welche die Annahme der len, dass sich vor allem das Kommunikati- Existenz hermetischer Echokammern infrage onsverhalten von Followern der AfD deutlich stellt. Auch Christian Vaccari wies darauf hin, von denen anderer Parteien mit Aussicht auf dass die Struktur sozialer Medien eher der von Einzug in den Bundestag unterscheide. Dieses klassischen Medien ähnele und die Konfron- sei reich an Invektiven, Kraftausdrücken und tation mit gegenläufigen Meinungen durchaus anderen verbalen Ausfälligkeiten, die sich in gegeben und ausgeprägt sei. Denn obwohl es keine Echokammern im Sinne einer „un- sichtbaren Hand der Algorithmen“ gebe – wie 8 Vgl. Bakshy, Eytan et al.: The Role of Social Net- im Laufe der Veranstaltung bspw. auch von works in Information Diffusion. WWW 2012 – Ses- Andreas Jungherr besonders pointiert be- sion: Information Diffusion in Social Networks, in: Association for Computing Machinery (Hrsg.), WWW ’12: Proceedings of the 21st international 7 Vgl. ebd., S. 60 ff. conference on World Wide Web 2012, S. 519–528.

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dieser Form und Häufigkeit nur in den Kom- grifflichen Konnex zu leiden. Auch deshalb ist mentaren unter Postings der AfD finden ließen. der Begriff in der deutschsprachigen Debatte Dies lasse sich, so Schünemann und Schmitz, zu einem Modebegriff avanciert. Bloß, als ana- als ein brutalisierter Diskurs begreifen. Diese lytische Kategorie taugt der Begriff deswegen Ballung von Kommunikationsmustern ließe hierzulande noch nicht. Von Fehl- und Fal- sich durchaus als diskursive Echokammer schinformationen zu sprechen erscheint somit verstehen, die sich aus der nicht sanktionier- zwar eine begrifflich etwas sperrige, aber doch ten Art und Weise des Redens bzw. Schreibens die treffendere Variante zu sein. ergebe – und nicht über Informationen, welche die Individuen erreichten oder nicht erreichten. Auffällig ist auch, wie abhängig die politik- Eine solche Echokammer jedoch bleibt auf der wissenschaftliche und kommunikationswis- Ebene von Netzwerken und Knotenpunkten un- senschaftliche Forschung über und in sozialen sichtbar, da sie sich über die Kommunikation Medien von quantitativen Methoden zu sein zwischen den beteiligten Individuen herausbil- scheint. Die schiere Menge der Daten macht det und wesentlich von Interaktionsprozessen ein solches Vorgehen beinahe obligatorisch. abhängt. Diese Interaktionsprozesse wiederum Zugleich ist aber im Laufe der Tagung an sind mittels quantitativer Netzwerkanalysen je- mehreren Stellen deutlich geworden, dass es doch höchstens zu erahnen; wirklich analysie- Leerstellen im Verständnis von sozialen Netz- ren lassen sie sich jedoch erst mittels qualita- werken gibt, die sich nur schwerlich über rein tiver Zugänge, welche die Interaktion auf der quantitative Zugänge aufdecken lassen. Hier Ebene der einzelnen Beiträge und Kommentare sind eigentlich qualitative Methoden gefragt, in den Fokus rücken. die jedoch vor der Herausforderung stehen, in einem Kontext, in dem die Einträge für die Datensätze schnell in die Millionen gehen, eine sinnvolle Fallauswahl treffen zu können. Resümee Darüber hinaus wurden genügend Anknüp- Was lässt sich also aus der Tagung lernen? fungspunkte für Kontroversen, Debatten und Zunächst: Für die Auseinandersetzung im weiteren Forschungsbedarf aufgezeigt und deutschsprachigen Raum hat die sehr nach- formuliert: dass bspw. Instagram the thing to vollziehbare Disqualifikation des BegriffesFake come sei, wie Vaccari formuliert hat, stimmt News durch Vaccari eher gemischte Auswir- etwas nachdenklich, gibt es schließlich eine kungen. Zunächst ist das sprachliche Äquiva- Vielzahl von Forschungsarbeiten zu Facebook lent im deutschsprachigen Kontext am ehes- und auch Twitter, aber noch recht wenig zu ten der Begriff der „Lügenpresse“. Und dieser Instagram. Ebenfalls ist im Laufe der Tagung ist – spätestens seit dem Auftritt von PEGIDA, deutlich geworden, dass die Methoden der Bil- doch auch schon früher – nachhaltig diskredi- danalyse – gleich ob quantitativ oder qualita- tiert, politisiert und als politischer Kampfbe- tiv – im Rahmen der politikwissenschaftlichen griff in Gebrauch. Dadurch ist die Übernahme Auseinandersetzung mit sozialen Netzwerken des Begriffs zu analytischen Zwecken faktisch deutlich wichtiger werden dürften. Denn Bilder ausgeschlossen.9 Fake News, so ließe sich und Videos transportieren einen nicht unwe- argumentieren, ist insofern ein willkommener sentlichen Teil der Informationen. Auch sollten Ausweichbegriff, der dasselbe oder etwas sehr Wissenschaft und Öffentlichkeit, die Warnung Ähnliches meint, ohne unter demselben be- Vaccaris von der zunehmenden Bedeutung Instagrams im Hinterkopf, das eigene Bewusst- sein dafür schärfen, dass Facebook zu einem 9 Vgl. Geiges, Lars et al.: Pegida. Die schmutzige Synonym und Sammelbegriff für soziale Netz- Seite der Zivilgesellschaft?, Bielefeld 2015, S. 100 f. werke im Allgemeinen avanciert ist. All das hat

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Folgen für die wissenschaftliche und öffent- liche Auseinandersetzung, da dies mitunter Leerstellen und blinde Flecken produziert.

Im Rahmen der Tagung ist aber auch deutlich geworden, dass der Begriff des Populismus konzeptionell wenig ausgearbeitet und vertieft zu sein scheint. Im Verlauf der Diskussionen avancierte der Begriff zu einem Signalwort, dessen Gebrauch Konnotationen setzte, die ihrerseits kaum hinterfragt wurden: Die Frage, ob der Begriff des (Rechts-)Populismus geeig- net ist, die Phänomene, die er bezeichnen will, überhaupt angemessen zu beschreiben, wird von der potenziellen Beliebigkeit des Begriffes faktisch verdeckt. Dabei wäre eine Diskussion darüber, ob (Rechts-)Populismus eine inhaltli- che politische Positionierung eigener Art dar- stellt oder sich nicht stattdessen auf die Be- schreibung kommunikativer Stile beschränken sollte, angesichts der Omnipräsenz des Begrif- fes durchaus wünschenswert. Damit zusammen hängt auch die Frage nach Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeitsräumen. So ist im Laufe dieser zwei Tage auch deutlich geworden, dass sich die Frage nach dem richtigen Umgang mit widerstreitenden Meinungen im Zuge einer Bild: Christopher Schmitz / Twitter-Screenshot Ausdehnung der Politik in die Sphäre des Digitalen für alle Beteiligten aus Wissenschaft, Medien und Politik mit aktualisierter Dringlich- keit stellt.

Christopher Schmitz M. A., ist Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratie- forschung. Seine For- schungsschwerpunkte sind historische und kulturelle Grundlagen des Inter- nets sowie Protest- und politische Kulturforschung.

15 Kick it like Jesse?

Warum die Debatte um den Extremismusbegriff einer zähen Fußballpartie ähnelt. Ein Workshop-Bericht

Lars Geiges

er Himmel ist grau, Regen Begegnung, die keinem (mehr) so recht Freude prasselt hernieder und auf bereitet, aber trotzdem fortgesetzt wird. Die dem Spielfeld hat sich eine Debatte hat dadurch etwas Reflexhaftes an Abwehrschlacht entwickelt. sich, strahlt etwas Festgefahrenes und Abge- Auf schwerem Geläuf be- schlossenes aus, als folge sie einem Skript: gegnen sich die Kontrahen- Wiederholungen von bereits Dagewesenem. ten unversöhnlich. Es geht Abpfiff und Neuansetzung der Partie wären da zur Sache, die äußeren wohl zu empfehlen, doch so einfach ist das Bedingungen sind widrig: böiger, kalter Gegen- nicht. wind, sich verfeindet gegenüberstehende Fan- Dlager, die ihre Mannschaften frenetisch nach Gewiss, man sollte es mit der Ballspielmeta- vorne peitschen. Attackiert wird meist über phorik nicht übertreiben. Sie wird ohnehin viel links außen, z. T. geht’s auch mal schnell durch zu häufig bemüht und taugt auch nur für eine die Mitte – oder eben mit der Brechstange. grobe Hinführung. Nuancen, Feinheiten, Un- Immer wieder kommt Hektik ins Spiel. tertöne – die es ja auch in der umkämpften Auseinandersetzung um den Extremismusbe- So etwa könnte es klingen, beschriebe man griff gibt – werden so eingeebnet. Begriffsde- die öffentliche wie wissenschaftliche Ausein- batten gehören nicht nach neunzig Minuten andersetzung um den Extremismusbegriff als abgepfiffen, sollten aber auch nicht auf End- Fußballreportage: eine wahrlich unerbittliche losschleife gestellt werden. Daher ist die Frage,

16 Lars Geiges | Kick it like Jesse? was der Extremismusbegriff (noch) zu leisten als Waffen gegen Passanten benutzen, Bomben vermag, berechtigt. Sie darf, ja muss, gestellt zünden und Macheten schwingen oder sich und diskutiert werden. Schließlich erlebt die darauf vorbereiten, im selbsternannten Kalifat Figur des „Extremisten“ ganz offenkundig eine zu kämpfen: Wer die öffentliche Debatte ver- Renaissance – in Sicherheitskreisen, wo sie folgt, erhält den Eindruck, die Extremisten wä- letztlich schon seit Jahrzehnten fest beheima- ren allerorten und würden immer mehr. Auch tet ist, vor allem aber in den Medien. „Noch der „Extremismus der Mitte“, wie die taz meint, nie hielten die drei Formen des politisch habe mit der Alternative für Deutschland (AfD) etikettierten, gewaltbereiten Extremismus die hierzulande wieder eine Partei, die ihn verkör- Menschen in einem so engen Zeitraum derart pere, und 2017 gar den Einzug in den Bundes- in Atem wie gegenwärtig“1, schrieb etwa die tag schaffte.2 Eine neue Qualität des Extre- FAZ im Sommer 2017. Ob Linksextremisten, die mismus, heißt es oft, sei zu beobachten. Aber das Hamburger Schanzenviertel demolieren, als warum ist das Bild vom „Extremismus“ sowohl Zeichen ihres Protests Bahnstrecken lahmle- bei Befürwortern als auch bei entschiedenen gen oder Büros von AfD-Politikern „entglasen“; Ablehnern dennoch wieder bzw. noch immer in ob Rechtsextremisten, die Asylunterkünfte Mode? in Brand setzen, Flüchtlinge im Namen des Heimatschutzes angreifen oder sich auf Voll- Kein Zweifel, es bestehen Zweifel. Und es gibt kontaktkampfsportveranstaltungen und Rock- Klärungsbedarf, das Bedürfnis nach Einordnung, konzerten treffen; ob Islamisten, die Fahrzeuge auch Deutung, und gegebenenfalls nach einer Neujustierung entwickelter Kategorien und vor- handener Betrachtungsfolien von linker Mili- tanz, rechtem Radikalismus und islamisch-re- 1 Lohse, Eckart: Die Sehnsucht nach Gewalt, in: Frank- furter Allgemeine Zeitung, 19.07.2017, URL: http:// ligiösem Fundamentalismus. Mit ebendieser www.faz.net/aktuell/politik/inland/gewalt-im-linksex- Formulierung einer scheinbar gleichrangigen tremismus-rechtsextremismus-und-islamis- Phänomen-Trias hat sich der Verfasser nun mus-15112108.html [eingesehen am 10.01.2018]. selbst auf das schwierige Spielfeld begeben und – mehr noch als das – den Anstoß bereits ausgeführt. Denn das Göttinger Institut für Demokratieforschung ist mit dem dort ange- Am 5. und 6. Oktober 2017 hat siedelten wissenschaftlichen Part von FoDEx, FoDEx unter der Überschrift der Forschungs- und Dokumentationsstelle zur „Der Extremismusbegriff im Span- Analyse politischer und religiöser Extremismen nungsfeld der streitbaren Demokratie“ in Niedersachsen, bereits mitten im Spiel. Und zu einem Workshop ins Göttinger In- zu diesem gehören auch Protestaktionen von stitut für Demokratieforschung gela- der sich als politisch links außen begreifen- den. Impulsvorträge kamen dabei von den Seite vor dem Eingang des Instituts sowie Hans-Gerd Jaschke (Hochschule für mehr pastoral als radikal klingende Vorwür- Wirtschaft und Recht Berlin), Eckhard fe, forschungsethisch unredlich zu arbeiten3, Jesse (TU Chemnitz), Maximilian Fuhr- während zeitgleich Staatsschutzermittlungen mann (Bremen), Astrid Bötticher (Ber- lin) und Gereon Flümann (Bundeszent- rale für politische Bildung, Bonn) sowie 2 Vgl. Gutmair, Ulrich: Der Extremismus der Mit- Matthias Micus (FoDEx, Göttingen). te, in: die tageszeitung, 21.10.2017, URL: https:// www.taz.de/Archiv-Suche/!5454393&s=Ext- remismus/ [eingesehen am 10.01.2018].

3 Zu diesen Vorwürfen siehe den Beitrag von Stine Marg im vorliegenden Heft.

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gegen Institutsmitarbeiter liefen, die von extremist“, pointierte dies Jesse während des rechts außen betrieben worden sind. So weit, Workshops. So träten Strukturmerkmale extre- so bekannt. mistischen Denkens aus der Anwendung der Negativdefinition hervor, die sich benennen Auch der Doyen der Extremismusforschung, ließen und Vergleichbarkeit herstellten. Dazu Eckhard Jesse, kennt das, wird kritisiert, ja zählten Absolutheitsansprüche, Dogmatismus, angefeindet, teilt selbst zuweilen hart aus Utopismus bzw. kategorischer Utopie-Verzicht, und sagt im Rückblick: „Es ist ein solches Freund-Feind-Stereotype, Verschwörungsthe- Minenfeld: Spaß macht das auf Dauer nicht.“ orien, Fanatismus und Aktivismus.5 Zu finden Mit dem Dresdner Politikwissenschaftler Uwe seien diese Merkmale in einer Vielzahl von Backes konzeptionierte er bereits ab Ende der – sodann als extremistisch zu bezeichnen- 1980er Jahre die bis heute so verbissen dis- den – Gruppen, Organisationen und Ideologien kutierte „Extremismustheorie“ als „normative gleich welchen weltanschaulichen Ursprungs. Rahmentheorie“, die Extremismus als Ableh- Äquidistanz im Umgang mit den resultieren- nung (der Regeln und Normen) des demokra- den verschiedenen Formen des Extremismus tischen Verfassungsstaates beschreibt.4 Jesse, sei das oberste Gebot. ein – im besten Sinne – streitbarer Forscher aus Chemnitz, war einer der Vortragenden Etliche Einwände gegen die vergleichende Ex- beim zweitägigen FoDEx-Workshop zum Ext- tremismusforschung fallen in der Tat reichlich remismusbegriff in unserem Institut, zu dem reflexhaft aus.6 Die Extremismustheorie setze Gegner wie Anhänger der Extremismustheorie so unterschiedliche Phänomene wie Links- geladen worden waren (siehe Infokasten). Die und Rechtsextremismus gleich, kritisieren eigene Begriffsschärfung voranzutreiben, laute- diverse Autoren. Dabei handelt es sich jedoch te das übergeordnete Ziel der Zusammenkunft. um Vergleiche und nicht um Gleichsetzungen. Sie verbanne problematisches Gedankengut Für Jesse, sowie für die Anhänger des po- an die extremen Ränder der Gesellschaft und litikwissenschaftlichen Modells sächsischer exkulpiere damit die politische Mitte, impräg- Provenienz, ist Extremismus gleichbedeutend niere sie gleichsam gegen Extremismen. Dabei mit Antidemokratie; für sie bilden die Begriffe gibt die Extremismustheorie à la Jesse gar Extremismus und Demokratie ein antitheti- nicht vor, soziale Gruppen der Gesellschaft wie sches Paar. Dieser eingängigen, aber denkbar „die Mitte“ zu beschreiben, sondern versucht, weiten „Negativdefinition“ ist von den Au- politische Ideen zu systematisieren. Die Ext- toren der Extremismustheorie eine „Positiv- remismustheorie sei unterkomplex und könne definition“ zur Seite gestellt worden, um den Gegenstandsbereich zu beschreiben. Bei allen Unterschieden, welche die verschiedenen 5 Vgl. Backes, Uwe: Politischer Extremismus in de- Extremismen trennen, ließen sich doch Ge- mokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer meinsamkeiten benennen, lautet ihre Prämisse. normativen Rahmentheorie, Opladen 1989, S. 298 f. „Jeder Rechtsextremist ist ein Antidemokrat. 6 Hier und im Folgenden in deutlicher Anleh- Aber nicht jeder Antidemokrat ist ein Rechts- nung an Brodkorb, Mathias: Eine Kritik der Kritik. Über die missverstandene Extremismustheorie, in: ders. (Hrsg.): Extremistenjäger!? Der Extre- mismus-Begriff und der demokratische Verfas- 4 Vgl. auch dazu Backes, Uwe / Jesse, Eckhard: Demo- sungsstaat, Banzkow 2011, S. 89–99, hier S. 89 ff.; kratie und Extremismus: Anmerkungen zu einem überdies vgl. dazu auch Pfahl-Traughber, Armin: antithetischen Begriffspaar, in: Aus Politik und Kritik der Kritik der Extremismustheorie. Eine Zeitgeschichte, Jg. 33 (1983), H. 44, S. 3–18; Ba- Auseinandersetzung mit einschlägigen Vorwür- ckes, Uwe / Jesse, Eckhard: Politischer Extremismus fen, in: Jahrbuch für Extremismus- und Terro- in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1989. rismusforschung 2013, Brühl 2013, S. 31–55.

18 Lars Geiges | Kick it like Jesse? die gesellschaftlichen Entstehungsbedingun- lismus, Gewaltenteilung und Menschenrechte gen extremistischer Zusammenschlüsse nicht ablehne? Getestet worden sei dies jedenfalls erklären, formulieren Kritiker des Ansatzes. noch nicht; die Abgrenzung und Anwendung Aber auch das behauptet sie nicht. Es geht ihr sei schwierig. Daher schaffe die Negativdefini- vielmehr um eine willkürfreie Bestimmung der tion einen „enormen Interpretationsspielraum Untersuchungsgegenstände der Extremismus- für die Forscher und erhöht die Wahrschein- forschung. Ebenfalls häufig anzutreffen ist der lichkeit politisch motivierter Einschätzungen“, Vorwurf, die Extremismustheorie sei staatsnah, führt Fuhrmann aus. Die Positivdefinition und rechtfertige sicherheitspolitisches Handeln. Es Herleitung der extremistischen Strukturmerk- mag sein, dass die zentralen Extremismus- male hält er für „mit Verlaub empirisch dünn“. theoretiker dem Prinzip eines vorgelagerten Uwe Backes habe sie 1989 auf zwanzig Sei- Demokratieschutzes anhängen, Behörden wie ten abgehandelt. Die zahlreiche und kritiklose die Verfassungsschutzämter für notwendig Rezeption verwundere ihn. Für den Bereich erachten; dass Ideen und Begriffe politisch Linksextremismus etwa stütze sie sich auf die instrumentalisiert werden, ist jedoch kein in- Ausführungen Lenins aus dem Jahr 1902, „de- haltliches Argument gegen die „Extremismus- ren Repräsentativität für den Linksextremismus theorie“, ebenso wenig wie der Normativitäts- heute durchaus angezweifelt werden kann“. Zu- vorwurf. Denn was hätten uns nicht-normativ dem existiere kein klarer Schwellenwert, dessen ausgerichtete politische Wissenschaften über Überschreitung es legitimieren würde, von Ext- gesellschaftliche Wirklichkeiten noch mitzutei- remismus zu sprechen. Müssten ein, zwei oder len: eher wenig. mehrere Strukturmerkmale des Extremismus erfüllt sein, fragt Fuhrmann, und verweist auf Der Bremer Soziologe Maximilian Fuhrmann das Merkmal Verschwörungstheorien, das ja in vermied in seinem Vortrag schablonenhafte ganz verschiedenen politischen Gesellschafts- Kritik, wie sie z. T. von sich nicht-normativ milieus gleichermaßen anzutreffen sei. gerierenden sowie von ausdrücklich norma- tiv-aktivistisch auftretenden Sozialwissen- Fuhrmann kritisiert anschließend und hier schaftlern meist im Gestus der Empörung noch einmal grundsätzlicher werdend, dass die gegenüber Extremismustheoretikern vorge- Negativ- und die Positivdefinition jeweils un- bracht wird, und replizierte stattdessen ana- terschiedliche Gegenstandsbereiche beschrie- lytisch, nicht apodiktisch. Fuhrmann, der über ben, die zwar Schnittmengen aufwiesen, aber die Wirkmächtigkeit des Extremismuskon- nicht deckungsgleich seien, was zur Unbrauch- zeptes promoviert hat (und ihm ablehnend barkeit führe. Mit Blick auf die Bezeichnungen gegenübersteht), argumentiert deutlich näher Links- und Rechtsextremismus, die in der entlang der extremismustheoretischen Schrif- Extremismustheorie aus der Negativdefiniti- ten und damit triftiger. Er setzt sich mit den on entwickelt und mit den Ideen des Turiner inhaltlichen Prämissen und deren praktischen Rechtsphilosophen Norberto Bobbio begrün- Folgerungen auseinander: Demnach, so wendet det werden, verwirft Fuhrmann insbesondere er zunächst gegen Jesse ein, werde die Nega- den Linksextremismusbegriff. Alle Versuche, tivdefinition selektiv angewandt; denn sie sei linksextreme Einstellungen wissenschaftlich zu noch nicht an der Gesamtheit aller politischen erfassen, seien bisher vergeblich gewesen. Die Strömungen überprüft worden und könne Empörung darüber, dass in deutschen Biblio- daher nicht als verifiziert angesehen werden. theken mehr Literatur zum Thema Rechtsextre- Stünden nicht möglicherweise auch Kirchen, mismus als zum Linksextremismus vorhanden Regierungsparteien und zivilgesellschaftliche sei, „empfinde ich als populistisch“, so Fuhr- Akteure unter Extremismusverdacht, wenn mann. Es gebe schlichtweg gute Gründe dafür, derjenige als extremistisch gilt, der eines der dass in den Bibliotheken einschlägige Literatur drei demokratischen Wesensmerkmale Plura- nicht unter dem Begriff Linksextremismus,

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sondern bspw. unter den Schlagworten So- und betonte den internationalen Kontext. Die zialismus und Kommunismus sowie in den deutsche extremismustheoretisch ausgerichte- Bereichen der Parteien-, Milieu- und Kultur- te Forschung spiele in der angloamerikanisch forschung zu finden sei. Der Linksextremis- dominierten research on extremism jedenfalls musbegriff verschleiere tatsächlich gefährliche überhaupt keine Rolle – auch weil vergleichen- Entwicklungen, weil er bspw. radikaldemokrati- de Länderstudien mit diesem „emotionali- sche Ideen, die „mit Sicherheit nicht ins Gulag sierten Wissensgebiet, das niemand in Europa führen“, mit antisemitischen, maoistischen kennt“, nicht möglich seien. Strömungen zusammenfasse. Unterschiede gin- gen leicht verloren; eine Stigmatisierung finde Braucht es denn (definitorischen) Konsens? statt. Zudem ersticke die „Klassifizierung als Konzepte und Begriffe konkurrierten und die linksextrem“ die Tatsache, dass sich in vielen Debatten dazu seien wichtig, sagt Hans-Gerd darunter gefassten Gruppen und Szenen selbst Jaschke, der seit Anfang der 1980er Jahre zur „durchaus aktiv“ mit Problemen wie Antisemi- extremen Rechten forscht. Er befürwortet einen tismus, Autoritarismus, Rassismus und Gewalt eher forschungspragmatischen Zugang und „in den eigenen Reihen und darüber hinaus“ betont im Workshop die Anschlussfähigkeit. auseinandergesetzt werde. Linksautonome Demnach sollte sich die (Rechts-)Extremis- Zentren seien vielerorts kulturelle Treffpunk- musforschung nicht in Ansatz- und Begriffs- te, politische und soziale Lern- und Hilfsorte. debatten verstricken, jedenfalls nicht mit dem Fuhrmann fasst zusammen: „Interessiert man Ergebnis, dass damit Diskurse unterbrochen sich für die Beschaffenheit der Phänomene, würden. Wer den Begriff nicht benutze, neh- soll man vom Extremismus- und vom Linksex- me nicht am „Sicherheitsdiskurs“ teil und sei tremismusbegriff in seiner bestehenden Form damit auch bei vielen Debatten außen vor, weit Abstand nehmen.“ Anders verhalte es sich habe in der öffentlichen Diskussion, in wel- beim Rechtsextremismusbegriff. Dieser sei von cher der Extremismusbegriff umherschwirrt, einer Vielzahl von Wissenschaftlern, welche die „ein Problem bei der Vermittlung“, befinde sich Ablehnung des demokratischen Verfassungs- beim Transfer der eigenen wissenschaftlichen staates nicht in ihre Rechtsextremismusdefi- Erkenntnisse in einem Übersetzungsdilemma. nitionen aufnähmen, „in Ermangelung einer Alternative“ angewandt worden, wie Fuhrmann So arbeitet auch die Bundeszentrale für poli- sagt. Er habe sich letztlich aber durchgesetzt tische Bildung (BpB) als nachgeordnete Be- und sei mittlerweile theoretisch und empirisch hörde des Bundesinnenministeriums mit dem gesättigt und damit trotz anhaltenden Unbe- Extremismusbegriff, wie BpB-Referent Gereon hagens seitens der Forscher etabliert. Flümann beim Workshop betonte – wenngleich diese Ausrichtung intern nicht unumstritten Dass ein solch fächerübergreifendes Defini- sei. Der Bundeszentrale sei letztlich der ver- tionsbüfett problematisch sei – es droht die gleichende Charakter besonders wichtig für die Beliebigkeit –, führt Astrid Bötticher aus.7 Einordnung hinsichtlich der streitbaren Demo- Die Berliner Politikwissenschaftlerin tischte kratie und der Ausrichtung ihrer Bildungs- und gleich fünfzig Extremismusdefinitionen auf Informationsarbeit. Politik, Medien, Ministerien und Behörden: Hans-Gerd Jaschke rät aufgrund der umfassenden Präsenz und Verwendung der Begriffe dazu, von Rechtsextremismus zu 7 Vgl. Bötticher, Astrid: Radikalismus und Ext- sprechen, den Begriff zugleich aber kritisch zu remismus. Konzeptualisierung und Differen- zierung zweier umstrittener Begriffe in der begleiten – bspw. hinsichtlich seiner Etikettie- deutschen Diskussion, Leiden University Repo- rungsfunktion. Denn es gebe genug zu tun, es sitory 2017, URL: https://openaccess.leidenuniv. gelte, den Blick auf die Empirie zu richten. nl/handle/1887/49257 [eingesehen 10.01.2018].

20 Lars Geiges | Kick it like Jesse?

Jaschke stellte drei offene Fragen heraus. größere Nachholbedarf. Dass er auch deshalb Erstens: Radikalisierung betreffe Individuen. entstanden sein könnte, weil man sich theo- Heute sei es „mehr oder weniger zufällig, in retisch aufgerieben hat, kann wohl nicht ganz welche Milieus sie geraten“, die Radikalisie- ausgeschlossen werden. Ein analytisch sortie- rungsprozesse verliefen jeweils ähnlich, so render Blick auf und die kritische Rückbin- Jaschke. Aber auch Gruppen und Organisatio- dung an vorhandene Begrifflichkeiten, deren nen können sich (de-)radikalisieren. Wie genau etwaige Anpassung und Korrektur aufgrund sich diese Prozesse vollziehen, dazu existiere neu entwickelter empirischer Befunde: So etwa jedoch bislang nur wenig Wissen. Zweitens: ließe sich wieder Bewegung ins Spiel bringen Über die staatlichen Auseinandersetzungen mit und vielleicht so manche Abwehr knacken. Extremismus sei vieles bekannt, die zivilge- Man wird es jedenfalls versuchen müssen. sellschaftlichen seien indes deutlich weniger intensiv erforscht worden. Wie reagieren Politik und Gesellschaft auf extremistische Vorgän- ge und welche Interaktionen und Dynamiken unter welchen Lokalbedingungen lassen sich rekonstruieren? Drittens: Es gebe kaum Stu- dien über die Zusammenhänge von primärer, sekundärer und tertiärer Prävention.8 Die drei Bereiche arbeiteten „für sich und zusammen- hanglos“. Sie zu verbinden, auf ihre Schnitt- stellen hin zu erforschen, sei ein Desiderat.

Gewiss: Dies sind lediglich drei Hinweise Jasch- kes auf empirische Leerstellen in einem sich sehr dynamisch entwickelnden Forschungs- feld, das von verschiedenen Disziplinen durch vielfältige Zugänge betreten wird; doch weitere offene Fragen ließen sich problemlos hinzu- fügen, wie auch der Verlauf des Workshops gezeigt hat. Und vielleicht befindet sich ja hier – also auf der beweisenden Seite – der Dr. Lars Geiges, geb. 1981, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger 8 Primäre Prävention setzt bereits im Vorfeld des Institut für Demokratiefor- Auftretens unerwünschter Zustände an und will schung. Seit 2016 arbeitet deren Herausbildung unterbinden; sekundäre er für die Forschungsstelle Prävention richtet sich auf erste Ausprägungen zur Analyse politischer und und Anzeichen und möchte deren Verfestigung religiöser Extremismen in verhindern; und tertiäre Prävention richtet sich Niedersachsen (FoDEx) ins- auf bereits manifeste Erscheinungen, um einem besondere über die extreme erneuten Auftreten vorzubeugen. Vgl. Johans- Rechte und ihr Umfeld. son, Susanne: Rechtsextremismusprävention und Demokratieförderung in den Feldern der Pädagogik, der Beratung und Vernetzung: Eine kurze Be- griffseinordnung und -abgrenzung, 2012, S. 2, URL: https://www.demokratie-leben.de/fileadmin/content/ PDF-DOC-XLS/Wissen/Aufsatz_S._Johannson_RE- praevention_final.pdf [eingesehen am 10.01.2018].

21 Demokratie-Dialog 2-2018

22 Linke Militanz Die blinden Flecken in der Kritik an der Extremismus­ theorie Eine Antwort auf Jonathan Riedl und Matthias Micus

Armin Pfahl-Traughber

ie Extremismustheorie ist Allein der Blick in die Fußnoten macht deut- in Öffentlichkeit und Wis- lich: Lediglich in einem von 25 Literaturver- senschaft gelegentlich einer weisen wird auf eine Publikation von zwei Kritik ausgesetzt. Dabei Extremismustheoretikern verwiesen. Ansonsten fällt immer wieder auf, dass referieren die beiden Autoren andere Kriti- deren Kernpositionen nicht ker, die wiederum ebenfalls eine einseitige selten einseitig bis falsch bis falsche Sicht vortragen. In der vorliegen- wiedergegeben werden. den Antwort auf Riedl / Micus sollen daher die Nicht das, was die Extremismustheorie aus- Auffassungen der Extremismustheorie noch macht, sondern das, was der Extremismusthe- einmal erläutert und eine Kritik an der Kritik Dorie von Kritikern unterstellt wird, bildet dabei der Extremismustheorie formuliert werden.2 den Bezugspunkt. Diese Einschätzung kann auch gegenüber dem Beitrag „Der blinde Fleck des Extremismus (-Begriffes). Überlegungen zu einer möglichen Alternative, in: Demokratie-Di- zu einer möglichen Alternative“ von Jonathan alog, Jg. 1 (2011), H. 1, S. 16–22. Der Autor dankt Riedl und Matthias Micus formuliert werden.1 ausdrücklich Matthias Micus für die Möglichkeit, hier eine kritische Sicht vortragen zu können.

2 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der 1 Vgl. Riedl, Jonathan / Micus, Matthias: Der blinde Kritik an der Kritik der Extremismustheorie findet Fleck des Extremismus(-Begriffes). Überlegungen sich in: Pfahl-Traughber, Armin: Kritik der Kritik

24 Armin Pfahl-Traughber | Die blinden Flecken in der Kritik an der Extremismustheorie

Ausgangspunkt und Grundpositionen tisch wäre eine solche Sichtweise absurd. Auch der tatsächlichen Extremismustheorie hinsichtlich des Gefahrenpotenzials wird nicht von einer Gleichsetzung ausgegangen. Die Der Ausgangspunkt der Extremismustheorie Extremismustheorie macht lediglich deutlich, ist das Individuum und nicht der Staat. Der dass die gemeinten politischen Akteure sich Blick in die Geschichte lehrt, dass Freiheit mit ihrem Denken und Handeln im Spannungs- und Sicherheit für den Einzelnen am stärks- verhältnis zu den Prinzipien einer modernen ten in auf Demokratie und Menschenrechten Demokratie und offenen Gesellschaft befinden. gründenden politischen Ordnungen realisiert Warum dies auf eine „Verharmlosung“ des werden. Als Grundlagen moderner Demokrati- Rechtsextremismus hinauslaufen soll, er- en und offener Gesellschaften gelten im Sinne schließt sich nicht. Gerade die vergleichende eines „übergreifenden Konsens“ (John Rawls)3 Betrachtung von Links- und Rechtsextremis- Abwählbarkeit und Gewaltenkontrolle, Individu- mus macht erst die Unterschiede deutlich. Aus alitätsprinzip und Menschenrechte, Pluralismus diesbezüglichen Erkenntnissen können dann und Volkssouveränität. Die Ablehnung dieser differenzierte Einschätzungen zum Gefahren- Prinzipien steht für das, was als „Extremismus“ potenzial und zur Wirkung abgeleitet werden. unabhängig von der Ideologie und Strategie verstanden wird. Demgemäß geht es der Ext- Ähnlich unangemessen ist die Auffassung, die remismustheorie auch nicht um „Staatsnähe“4. Extremismustheorie trage dazu bei, „zivilge- Die Ausrichtung an den Normen und Regeln sellschaftliche Debatten und Aktionen, die das des demokratischen Verfassungsstaates erklärt Ziel verfolgen, andere, demokratischere For- sich lediglich durch dessen Gewährleistung men des politischen und auch ökonomischen von moderner Demokratie und offener Gesell- Zusammenlebens durchzusetzen, von vornher- schaft. Gegner der Extremismustheorie müss- ein durch Stigmatisierung und Kriminalisierung ten übrigens begründen, warum für sie bei der kleinzuhalten“. Denn die erwähnten Abgren- Einschätzung eines politischen Phänomens zungskriterien der Extremismustheorie sind dessen Verhältnis zu Demokratie und Men- wirtschaftspolitisch neutral, d. h. auch: Kapita- schenrechten uninteressant ist. lismuskritik wird nicht per se als linksextre- mistisch interpretiert; denn sofern die erwähn- Die erläuterte Auffassung nimmt entgegen kur- ten Grundprinzipien moderner Demokratie und sierender Behauptungen weder eine „Gleich- offener Gesellschaft geteilt werden, muss selbst setzung von links und rechts“ vor, noch geht die Forderung nach einer Überwindung dieser es ihr um „eine Verharmlosung des Rechts- Wirtschaftsordnung nicht als extremistisch extremismus“. Angesichts der ideologischen eingeschätzt werden. Anders verhält es sich, Differenzen sowohl von „links und rechts“ wie wenn die gemeinten politischen Akteure die von linksextremistisch und rechtsextremis- Forderung nach einer sozialistischen Diktatur vortragen oder Gewalttaten unterschiedlicher Intensitätsgrade begehen. Eine „Kriminalisie- der Extremismustheorie. Eine Auseinandersetzung rung“ von Letzterem wäre dann auch ange- mit einschlägigen Vorwürfen, in: Pfahl-Traughber, messen, handelt es sich doch unabhängig von Armin (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und der Absicht um Straftatbestände. Terrorismusforschung 2013, Brühl 2013, S. 31–55.

3 Rawls, John: Politischer Liberalis- mus, Frankfurt a. M. 1998, S. 219–265.

4 Die in Anführungszeichen stehenden Ausfüh- rungen verweisen auf von Riedl / Micus for- mulierte oder referierte Kritik, welche fortan nicht mehr gesondert nachgewiesen wird.

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Die Irrelevanz der Rede von einer en wählten.5 Spätere Forschungen bestätigten „Mitte“ für die Extremismustheorie dies, wenn von der NSDAP als „Volkspartei mit Mittelstandsbauch“6 die Rede war. Lipsets Aus- Ein ebenfalls von Riedl und Micus vorgetrage- sage lautete: Der rechte Extremismus kommt ner Einwand läuft darauf hinaus, der Extremis- aus der sozialen Mitte, womit auf die gesell- mustheorie die konstitutive Annahme, dass es schaftliche Herkunft abgestellt wurde. eine „verfassungsbejahende politische Mitte gebe“, zuzuschreiben. Doch welcher Extre- Demnach handelte es sich nicht um eine mismusforscher nimmt über die „Mitte“ eine politische Mitte, denn die soziale Mitte hatte Zuordnung vor? Davon kann nach einem Blick sich hin zum politischen Rechtsextremismus in die Literatur keinesfalls die Rede sein, denn entwickelt. Diese Erkenntnis widerspricht auch die Kategorie ist für das ganze Konzept völlig nicht der Extremismustheorie. Man kann mit irrelevant. Der Ausgangspunkt der Extremis- ihrem analytischen Instrumentarium, das z. B. mustheorie besteht in der konstatierten Front- eine politische und soziale Dimension des stellung der extremistischen Akteure gegen die Rechtsextremismus unterscheidet, sehr wohl Grundlagen moderner Demokratie und offener auch extremistische Potenziale in der sozialen Gesellschaft, nicht gegen eine wie auch immer Mitte zur Kenntnis nehmen. Die Ergebnisse der geartete „Mitte“. Insofern kann der Auffassung, empirischen Sozialforschung haben deutlich wonach die „inhaltliche Bestimmung dieses gemacht, dass sich autoritäre oder fremden- Ortes recht beliebig ist“, ebenso zugestimmt feindliche Denkweisen auch in der Mittel- werden wie dem Hinweis, wonach die „Defi- schicht finden.7 Diese werden in einschlägigen nition der ‚Mitte‘ abhängig von sozialen und Analysen sehr wohl zur Kenntnis genommen. kulturellen Kräfteverhältnissen und akuten po- Gleiches gilt indessen nicht primär für die litischen Konfliktlinien“ bleibt. Genau deswegen Frage, inwieweit ebendort „postdemokratische findet in der Extremismustheorie ebendiese Mentalitäten“ (Colin Crouch) verbreitet sind.8 Kategorie mangels Klarheit und Trennschärfe Eine darauf bezogene Analyse wäre die Aufga- auch gar keine Verwendung. be anderer Forschungsfelder der Politik- und Sozialwissenschaften. Dennoch findet man die Formulierung von einem „Extremismus der Mitte“, die auf ei- nen Deutungsansatz von Seymour M. Lipset zurückgeht. Bei der Diskussion um diesen werden häufig ein politisches und ein soziales Verständnis durcheinandergeworfen. Für den ersten Fall steht die Formulierung „Extremis- mus der Mitte“, für den zweiten Fall „Extremis- 5 Vgl. Lipset, Seymour: Der „Faschismus“, die mus aus der Mitte“. Was ist damit gemeint? Linke, die Rechte und die Mitte, in: Nol- Nach Lipset existierte neben einem linken und te, Ernst (Hrsg.), Theorien über den Fa- einem rechten Extremismus ein „Extremismus schismus, Köln 1967, S. 449–491. der Mitte“, womit er den Faschismus ansprach. 6 Vgl. Falter, Jürgen W.: Hitlers Wäh- Dieser stelle eine sowohl gegen Kapitalismus ler, München 1991, S. 371. wie Sozialismus gerichtete Bewegung des Mit- 7 Hier kann auf die von Elmar Brähler und Oliver telstandes dar. Lipset rekurrierte darauf, dass Decker herausgegebenen „Mitte“-Studien und auf die Angehörigen der erwähnten sozialen Grup- die von Wilhelm Heitmeyer und Andreas Zick pe überproportional stark faschistische Partei- herausgegebenen Studien zu „Gruppenbezoge- ner Menschenfeindlichkeit“ verwiesen werden.

8 Vgl. Crouch, Colin: Postdemokra- tie, Frankfurt a. M. 2008.

26 Armin Pfahl-Traughber | Die blinden Flecken in der Kritik an der Extremismustheorie

Die Erfassung von Wandlungsprozessen aus der vergleichenden Extremismusperspekti- der Untersuchungsobjekte ve gut prognostizieren können.9

Dennoch kursiert die Formulierung, mit der Ex- Ähnlich verhält es sich mit der Frage der tremismustheorie würden die „aktuellen Wand- Nicht-Erkennung des Nationalsozialistischen lungsprozesse der Untersuchungsobjekte“ nicht Untergrundes (NSU), hätte man diesem doch erfasst. „Um solche Veränderungen konzeptio- mit dem Blick der vergleichenden Extremis- nell zu integrieren, ist der Extremismus-Begriff musforschung auf die Spur kommen können: denkbar schlecht gerüstet – basiert er doch Die in Deutschland bestehende Fixierung auf auf der Zuschreibung eines bestimmten Ortes die Rote Armee Fraktion führte zu einer ein- im politischen Raum, der als statisch begriffen seitigen Vorstellung von Terrorismus – wurde wird.“ Demnach könnten „dynamische Ent- dieser dadurch doch primär als hierarchisch wicklungen und […] das Werden und Vergehen strukturiert und relativ personenstark gedacht. von Erscheinungen“ kaum eingefangen werden. Eine „Braune Armee Fraktion“ war der NSU Diese Kritik ist überaus diffus formuliert, bleibt demgemäß auch nicht. Aber im Linksterroris- doch das konkret Gemeinte unklar. Betrachtet mus gab es noch die „Revolutionären Zellen“, man die Extremismusforschung, die auf der die aus relativ autonomen Kleingruppen mit Extremismustheorie gründet, nur hinsichtlich nur wenigen Personen bestanden; die Frühform eines Erkenntnisinteresses daran, dass die eines terroristischen Organisationsmodells, das politischen Akteure in einem Spannungsver- heute als „Leaderless Resistance“ bezeich- hältnis zu feststehenden Werten stehen, wäre net wird. Genau so hatte sich auch der NSU ein solcher Einwand nachvollziehbar. Aber das formiert, wenngleich er nur eine Zelle ohne ist nicht der Fall, geht es doch gerade um eine Zellenstruktur war. Mittels der vergleichenden komparative Perspektive. Mit ihr lassen sich Extremismusforschung hätte man somit die die Dynamiken und Neuorientierungen der Neuorientierung im gewalttätigen Extremismus Untersuchungsobjekte sehr wohl erfassen. durchaus erfassen können.10

Damit kann man nicht nur Besonderheiten konstatieren, sondern ebenso Entwicklungen prognostizieren. Auch politische Extremismen Begrenzter Erkenntnisgewinn von sind „lernende Systeme“. Sie bewegen sich in postulierten Alternativen der bestehenden Gesellschaft in einem sozia- len Kontext, der die konkrete Hintergrundfolie Abschließend soll noch auf die postulierten zu vielfältigen Veränderungsprozessen bildet. Alternativen und deren begrenzten Erkennt- Gleichzeitig nehmen Extremisten die „Konkur- renz“ wahr: So kopierte etwa die Neonazi-Sze- ne im Rechtsextremismus viele Organisations- 9 Vgl. Gödecke, Chris: Die Bedeutung des Kamerad- und Strategieformen von den Autonomen schaftsmodells für den quantitativen Anstieg der im Linksextremismus. Dies gilt bspw. für die Neonazi-Szene. Ein Vergleich des vorherrschenden Organisationstyps mit den traditionellen Orga- „Autonomen Nationalisten“, nur mit anderer nisationsstrukturen, in: Pfahl-Traughber, Armin Ideologie. Auch das „Kameradschafts“-Modell (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terroris- zur Organisation wurde von diesen übernom- musforschung 2014(I), Brühl 2014, S. 173–206. men. Damit reagierte man auf die staatliche 10 Vgl. Pfahl-Traughber, Armin: Die Nicht-Er- Verbotswelle – sollten doch neue Formen kennung des NSU-Rechtsterrorismus und die der Organisation ohne Verbotsmöglichkeiten vergleichende Extremismusforschung, in: Ba- geschaffen werden. Für sie ergaben sich dann ckes, Uwe / Gallus, Alexander / Jesse, Eckhard ähnliche Vor- und Nachteile wie im Linksext- (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokra- remismus. Genau diese Dynamiken hätte man tie, Bd. 27, Baden-Baden 2015, S. 73–93.

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nisgewinn eingegangen werden. Als Erstes Aber auch hier stellt sich die Frage: Wer be- wird die „soziale Demokratie“ genannt, was hauptet das Gegenteil? Die Forderung nach ein entwickeltes Demokratiemodell auf sozial- mehr Gleichheit kann mit einer demokrati- staatlicher Grundlage meint. Doch bleibt unklar, schen wie mit einer extremistischen Zielset- inwieweit es sich hier um eine Alternative zung einhergehen. Tatsächlich kommt es auf handelt: Geht es darum, dass die Abgrenzung die „angewandten Mittel der Durchsetzung“ von Extremismus über die Frontstellung gegen und damit auf „die Annahme oder auf die „soziale Demokratie“ statt zum demokratischen Verweigerung der demokratischen Methode“ Verfassungsstaat erfolgen soll? Dann würde (Norberto Bobbio)11 an. Eine demokratische man aber mehr liberale und marktwirtschaftli- Linke wird ansonsten durch die angesprochene che Demokratiekonzeptionen aus einem demo- Pauschalisierung diskreditiert. kratischen Konsens ausschließen. Oder geht es darum, dass der sozioökonomische Hintergrund Die erwähnten Alternativen wollen das angeb- der gemeinten Phänomene stärker berücksich- lich statische Element der Extremismustheorie tigt werden sollte? Dies wäre eine durchaus überwinden. Doch worin soll dieses eigent- begrüßenswerte Forderung, um die Blickrich- lich bestehen? Abgrenzungskriterien sind u. a. tung der Extremismusforschung zu erweitern. das moderne Demokratieverständnis oder die Doch spricht ein solcher Ansatz nicht gegen konkretisierten Menschenrechte, ein essentia- die Extremismustheorie. Ein auf sie bezogener listisches Deutungsmonopol oder ein identitä- Einwand bewegt sich auf einer ganz anderen res Gesellschaftsbild. Dies sind zugegebener- Ebene. maßen abstrakte Begriffe, die sehr wohl nur für die Forschung messbar gemacht werden Als weitere Alternative wird eine Orientierung können. Damit können politische Akteure aus an „Radikalität“ eingefordert. Doch auch hier einer demokratietheoretischen Perspektive bleibt unklar, worin die neue Blickrichtung untersucht werden, die ihre Aufmerksamkeit genau bestehen soll. Offenbar geht es nicht auch auf gesellschaftliche Einstellungen und um einen Austausch von Begriffen, also statt sozialen Wandel richtet. Die Ablehnung der „Extremismus“ besser „Radikalität“. Doch was Extremismustheorie muss von daher auch soll dann damit genau gemeint sein? Disku- immer Antworten auf die Frage geben können: tiert wird die Frage auch nur anhand der poli- Warum soll es nicht bedeutsam sein, wie eine tischen Linken und Bewegung, Organisation, Partei oder Subkultur deren „Zielvorstel- zu den Grundlagen moderner Demokratie und lung [von] sozialer offener Gesellschaft steht? Ein Desinteresse Gleichheit“. „Dieses an einer darauf bezogenen Erörterung führt abstrakte Ziel ist zur Erosion von gesellschaftlich und politisch durchaus mit dem erhaltenswerten Normen und Regeln. Grundgesetz verein- bar […].“ 11 Bobbio, Norberto: Rechts und links. Grün- de und Bedeutungen einer politischen Un- terscheidung, Berlin 1994, S. 83. Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber, geb. 1963, ist hauptamtlich Lehren- der an der Hochschule des Bundes für öffentliche Ver- waltung in Brühl und gibt ebendort das „Jahrbuch für Extremismus- und Terro- rismusforschung“ heraus.

28 Radikalismus der Tat

Linke Militanz oder die Ethnologie der (Post-)Autonomen

Jens Gmeiner / Matthias Micus

m Premierenheft des Demokratie-Dialog Nun erfasst die Kategorie des Radikalismus im haben wir unsere Kritik am Extremis- Wesentlichen Einstellungen; zur Untersuchung musbegriff durch den Vorschlag abge- der Handlungsebene, des Agierens sich als rundet, statt von „Linksextremismus“ radikal verstehender Akteure, taugt sie hinge- besser von der „radikalen Linken“ oder gen weniger. Diese lässt sich besser mit dem von „linkem Radikalismus“ zu sprechen.1 Begriff der Militanz fassen. Wobei wir analog zu Unsere Begründung war, dass hierdurch den etablierten Modellen zu politischen Radi- die im linken Politikspektrum geteilte kalisierungsverläufen – denen zufolge Einstel- Zielvorstellung einer soziale Gleichheit anstre- lungen nicht automatisch zu entsprechenden benden Veränderung der Gesellschaft an ihrer Handlungen führen, Letztere gegenüber Ers- IWurzel ausgedrückt und somit der statischen teren vielmehr ein höheres Radikalisierungs- Terminologie des Extremismus eine Alterna- niveau markieren – davon ausgehen, dass tive entgegengestellt werden könnte, welche Radikalität zwar keineswegs zwangsläufig mit die Dynamik von Prozessverläufen analytisch Militanz einhergehen muss, Militanz aber sehr berücksichtigt. wohl Radikalität voraussetzt.

Just diese als Militanz handlungswirksam ge- 1 Vgl. Riedl, Jonathan / Micus, Matthias: Der blin- wordene Radikalität ist nun seit den Protesten de Fleck des Extremismus(-Begriffes), in: De- gegen den Hamburger G20-Gipfel im Juli 2017 mokratie-Dialog, H. 1 / 2017, S. 16–22. und der von ihnen ausgelösten Debatte über

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linke Gewalt mit Aplomb in die öffentliche Rigorosität gar nicht behauptete Gleichsetzung, Arena zurückgekehrt. Während aber politisch dass nämlich „die vergleichende Betrachtung und medial Begrifflichkeiten wie Terrorismus, von Links- und Rechtsextremismus […] erst die Extremismus und Militanz bunt durcheinander- Unterschiede deutlich“ mache, bestätigt die gewürfelt werden, steht eine abwägende und Kritik an einer „konzeptuellen Gleichsetzung“ sachlich differenzierende sozialwissenschaft- genau betrachtet nur. Denn neben dem Gebot, liche Auseinandersetzung mit ebendiesem nicht die sprichwörtlichen Äpfel mit Birnen Phänomenbereich der (linken) Militanz weitge- vergleichen zu dürfen, kennt die Politikwissen- hend aus. schaft zwei, wenn man so will, Zentralstrate- gien analytischer Komparatistik: den Vergleich Aus diesem Grund wollen wir im Folgenden möglichst unterschiedlicher Fälle mit dem Ziel, unser Verständnis des Begriffes der linken deren Gemeinsamkeiten herauszudestillieren; Militanz erläutern. Zunächst: Inwieweit vermag und den Vergleich möglichst ähnlicher Fall- er als analytischer Begriff wissenschaftliche beispiele zur Beschreibung ihrer Differenzen. Untersuchungen anzuleiten? Und dann: Welche Wenn es der Extremismusforschung also da- Akteure lassen sich mit dieser Vokabel be- rum geht, die Unterschiede deutlich zu ma- schreiben? chen, so geht sie methodisch folglich von dem Gemeinsamen, von der Ähnlichkeit des Links- und Rechtsextremismus aus.

Ethnologie statt Formalismus Doch steht weder dieser Punkt noch jener Vorwurf im Zentrum unserer Kritik, es hande- Aber treten wir zunächst noch einmal einen le sich bei dem Extremismusbegriff um einen Schritt zurück. Armin Pfahl-Traughber moniert Containerbegriff3, der ganz unterschiedlichen in seiner Kritik an unserem Beitrag in der ideologischen, organisatorischen, sozialen Phä- letzten Ausgabe die vermeintliche Behaup- nomenen übergestülpt werde – ein Aspekt, der tung, der Extremismusbegriff setze links und wenig stichhaltig ist, trifft doch auf jede Ord- rechts gleich und verharmlose den Rechtsex- nungskategorie zu, dass sie die reale Vielfalt tremismus.2 In der Tat kann keine Rede davon zu reduzieren und unter bestimmten Aspekten sein, dass die Extremismusforschung jegliche zusammenzufassen versucht. inhaltlichen Differenzen zwischen Linken und Rechten negiere, erst recht wäre es Unsinn, Unsere Kritik richtet sich vielmehr erstens und ihren wissenschaftlichen Urhebern eine rech- noch einmal darauf, dass der Extremismusbe- te Gesinnung zu unterstellen, pauschal zumal. griff statisch und dementsprechend klassifika- Doch ist der Referenzrahmen der Extremis- torisch ist. Wir haben zur Veranschaulichung mustheorie für die Identifikation ihres Ge- seines analytischen Scheiterns an Prozessdy- genstandes – die diagnostizierte prinzipielle namiken, Ambivalenzen und unintendierten Ablehnung von Pluralismus, Gewaltenteilung Effekten in unserem bereits erwähnten Text in und der institutionalisierten Revidierbarkeit der Erstausgabe des Demokratie-Dialog auf einmal getroffener Beschlüsse durch auf Wah- len gründende Machtwechsel – mithin eine vorausgesetzte Gemeinsamkeit von Links- und Rechtsextremismus. Pfahl-Traughbers Argu- 3 Siehe Fuhrmann, Maximilian: Konjunkturen der Containerbegriffe. Das neue Bundesprogramm ment gegen die in der von ihm unterstellten „Demokratie leben!“ in extremismustheoretischer Hinsicht, in: Burschel, Friedrich (Hrsg.): Durch- marsch von rechts. Völkischer Aufbruch: Ras- 2 Vgl. den Beitrag von Armin Pfahl- sismus, Rechtspopulismus, Rechter Terror, Ro- Traughber in diesem Heft. sa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2016, S. 131–137.

30 Jens Gmeiner / Matthias Micus | Radikalismus der Tat den sukzessiven, an Zwischenetappen reichen weise unter sicherheitsrelevanter und nicht Wandel der späteren Volksparteien von – heu- selten strafrechtlicher Perspektive untersucht te wohl extremistisch genannten – Gegnern werden. Wir erinnern uns noch lebhaft an die der bestehenden staatlichen Ordnung zu sta- Forschungslage zur mittlerweile in der Links- bilitätsverbürgenden Staatsparteien verwiesen. partei aufgegangenen PDS in den 1990er Jah- Auch mit Blick auf die jüngere Nachkriegszeit ren. Damals wurden von Extremismusforschern lassen sich bemerkenswerte Beispiele für das regelmäßig und einigermaßen willkürlich Pro- Gemeinte finden: So schreibt der Literaturwis- grammaussagen der Gesamtpartei oder einzel- senschaftler und frühere Maoist Helmut Lethen ner ihrer innerparteilichen Gruppen, Interview­ über seine ehemalige politische Heimat der fragmente und Textpassagen von führenden 1970er Jahre, die vom Verfassungsschutz sei- Funktionären – selbst wenn sie Jahre zurück- nerzeit als linksextremistisch beobachtete KPD lagen –, formale organisatorische Beziehun- (AO) – wobei KPD für „Kommunistische Partei gen zu anderen als extremistisch etikettierten Deutschlands“ und AO für „Aufbauorganisati- Gruppen etc. aufgelistet, was in einer gerad- on“ steht –, sie habe die durch den Zerfall der linigen Beweisführungskette der Bestätigung Studentenbewegung freigesetzten destruktiven eines offensichtlich vorgefassten Extremis- Kräfte in die konstruktive Organisationsarbeit musverdachts diente. Dieser Fokus auf formale eingebunden und heiße Revolutionsneigun- Strukturen und Programme blendet unserer gen dadurch wie ein „Kühlaggregat“ erkalten Ansicht nach Fragen der gruppeninternen po- lassen. Im engen Takt der Ideologieschulungen, litischen Kultur, von Willensbildungsprozessen, Gremiensitzungen und Ausschlussverfahren Kommunikationsbeziehungen und informellen seien „Bewegungsenergien im Selbstlauf von Hierarchien, vom Wandel der (generationellen) Wiederholungen im Inneren“ verschlungen und Zusammensetzung, von Verschiebungen in den militante Impulse „in den Kreisläufen symboli- Motivlagen der Akteure und charakteristischen scher Praktiken aufgebraucht worden“. Die KPD Ausdrucksweisen ihres Protestes aus. Eine (AO) sei, wie auch die anderen bundesrepub- „Ethnologie“ linker Militanz, also eine ganzheit- likanischen K-Gruppen der ersten Hälfte der liche Analyse militant linker Infrastrukturen, 1970er Jahre, ein selbstreferenzielles System Lebenswelten und Verhaltensmuster, vermag gewesen, das – ungeachtet aller subjektiven hier mehr Befunde zutage zu fördern als der Umsturzabsichten ihrer Kader – mithin objek- formalistische Extremismusansatz. tiv „der Stabilisierung der Republik gedient“ habe.4 Hinzu kommt schließlich viertens ein for- schungspragmatischer Einwand, da Extremis- Zweitens bemängeln wir, dass der Extremis- mus eine reine Fremdzuschreibung darstellt, musbegriff mit seiner Betonung der Verfas- die von den adressierten Akteuren nicht sungsfeindschaft zwar radikal rechte Strö- gebraucht, ja kategorisch abgelehnt wird und mungen vielleicht adäquat erfasst, nicht aber Zugänge verschließt. Schon insofern ist der radikal linke – markiert doch deren forderndes Begriff der linken Militanz – als Arbeitsbe- Insistieren auf Gleichheit zugleich eine der ele- griff – ein Fortschritt, da er von linksradikalen mentarsten Forderungen und Errungenschaften Akteuren selbst auch zur Eigenbeschreibung der Demokratie. gebraucht wird.

Drittens erscheint er uns als zu normativ, weil die durch ihn erfassten Phänomene vorzugs-

4 Vgl. Lethen, Helmut: Suche nach dem Hand­ orakel. Ein Bericht, Göttingen 2012, S. 12 ff.

31 Demokratie-Dialog 2-2018

Militanz im Spannungsfeld von welche die Handlungsebene betonen, die Tat, Selbst- und Fremdbeschreibung deren Ort die Straße ist, der öffentliche Raum, nicht das Gedankengebäude von in der Stu- Was heißt nun Militanz? Militanz, darauf haben dierstube am Schreibtisch erdachten Theorien. verschiedene Autoren hingewiesen, stammt Und Militanz richtet sich drittens gegen alles vom lateinischen „militare“ ab und heißt „als Unentschlossene, Räsonierende, Zweiflerische, Soldat dienen, Kriegsdienste tun“. Daraus Halbherzige, gegen das Sowohl-als-auch. Mi- haben Forscher wie Wolfgang Kraushaar einen litanz ist radikal, fundamentalistisch, sie zielt schon begriffsetymologischen Bezug der Mili- auf das Grundsätzliche, auf Reinheit, Geschlos- tanz zum Kriegerischen, zur Gewalt, abgeleitet.5 senheit, zugleich auf Abgrenzung. Wir bestim- Unsere Untersuchungen, u. a. zum G20-Gipfel, men daher Militanz als eine a) kämpferische zeigen aber – bei aller Einschränkung, dass (aber nicht unbedingt automatisch gewalttä- man bei Umfragen auf die Bereitschaft der tige), b) tatbetonende politische Strategie mit Befragten zu wahrheitsgemäßen Selbstaus- c) radikalen Absichten und Zielen. künften angewiesen ist –, dass auch Akteure der linksradikalen Bündnisse „ums Ganze!“ und Damit ist aber die Frage nach dem spezifisch „Interventionistische Linke“ Gewalt weit über- Linken von „linker Militanz“, nach originär lin- wiegend ablehnen, sie in Form des initiativen ken Weltbildern, Handlungsmotiven und Praxis- Angriffs nicht als ein legitimes Instrument von formen noch nicht beantwortet. Linksradikale Protest sehen und einzig Gewalt als reaktive Gruppen fokussieren in der Regel auf ein oder Gegengewalt auf polizeiliche Härte und mit- mehrere Themen aus den Bereichen Antikapi- hin als Widerstand mehrheitlich befürworten.6 talismus, Antifaschismus, Antimilitarismus, An- Damit korrespondierend hält Nils Schuhmacher tiglobalisierung, Antisexismus, Antirepression, als Ergebnis seiner Forschungen zu autono- Antiatomkraft. Sie agitieren gegen Herrschafts- men Antifa-Gruppen fest, dass der Begriff der verhältnisse jeder Art, ob entlang von Schicht- Militanz nicht mit einer omnipräsenten Ge- und Klassengrenzen, zwischen Industriestaaten waltpraxis gleichzusetzen sei, sondern stärker und Entwicklungsländern oder im Umgang der auf „Inszenierungen [Herv. durch die Verf.] von Geschlechter miteinander; gegen Ausbeutung Gewaltfähigkeit und Verteidigungsbereitschaft“ des Menschen am Arbeitsplatz ebenso wie von fokussiere.7 natürlichen Ressourcen; und gegen Diskrimi- nierung, sei es von Migranten oder anderen Für uns steht daher erstens nicht die Gewalt- Minderheiten. tat, sondern das Selbstbekenntnis zu einer kämpferischen Haltung im Vordergrund. Mili- Dementsprechend vertreten die Akteure eine tanz ist zweitens verknüpft mit Politikansätzen, radikale Kritik am kapitalistischen System, prangern soziale Ungleichheit, Umweltzerstö- rung und einen vermeintlich allgegenwärtigen 5 Vgl. Kraushaar, Wolfgang: Die blinden Fle- Rassismus an. Kennzeichnend für ein militant cken der RAF, Stuttgart 2017, S. 71 ff. linkes Selbst- und Politikverständnis ist mithin das große Gewicht, das Fragen der Moral bei- 6 Siehe dazu der Beitrag von Philipp Scharf in diesem Heft sowie Zajak et al.: Zwischen Re- gemessen wird. Selbstausgeübte Gewalt – und form und Revolution: Ergebnisse der Befra- das bestätigt und relativiert die Ergebnisse gung von G20-Demonstrierenden am 02. und unserer G20-Befragungen gleichermaßen – gilt 08. Juli 2017 in Hamburg, in: Forschungsjournal ganz selbstverständlich als Gegengewalt, die neue soziale Bewegungen, H. 4 / 2017, S. 20–29. auf die „strukturelle Gewalt“ des Kapitalismus 7 Schuhmacher, Nils: „Küsst die Antifaschisten“. Autonomer Antifaschismus als Begriff und Pro- gramm, in: APuZ, H. 42-43 / 2017, S. 35–41, hier S. 40.

32 Jens Gmeiner / Matthias Micus | Radikalismus der Tat oder des „repressiven Staates“ und seiner Si- kurzum: ihre Überentschiedenheit, kaschieren cherheitsorgane reagiert.8 unter Umständen bloß eigene Selbstzweifel und Unentschiedenheit. „Der Vermummte“ [des Ganz unwillkürlich stellt sich freilich die Frage, schwarzen Blocks, Anm. d. Verf.], so urteilte der wie es um das linke Ideal der „Gleichheit aller Soziologe Rainer Paris, „vermummt sich gewis- Menschen“ bestellt ist, wenn der analog zu den sermaßen auch vor sich selbst.“11 Themen wechselnden Gegenseite die Gleich- berechtigung ihrer Interessen und Absichten Nicht zuletzt dieser zunächst unauflösbar an- abgesprochen und besonders aus linksradika- mutende Widerspruch macht es umso notwen- len Kreisen zwar gebetsmühlenartig „Gewalt diger, Situationsfaktoren, Rahmenbedingungen, gegen Personen“ abgelehnt wird, allerdings individuelle Motive und Überlegungen zu den „Polizisten, – was ja bemerkenswert ist, – verschiedenen Funktionen von Militanz in den nicht als Personen, sondern als Repräsentan- Analyserahmen einzubeziehen. So kann Mili- ten der Staatsgewalt umdefiniert werden“9. tanz die Folge eskalierender Auseinanderset- Der Historiker Gerd Koenen, der selbst in den zungen mit anderen Akteuren (Polizei, politi- 1970er Jahren Teil der radikalen Linken und im sche Gegner) sein, ein symbolischer Ausdruck Kommunistischen Bund Westdeutschland aktiv einer Systemfeindschaft, oder als Ausdruck war, schreibt daher über das von linksradikaler einer jugendlichen Gewaltästhetik angesehen Seite propagierte Mantra der Gegengewalt: „Das werden.12 Sebastian Haunss spricht davon, dass war und ist ein linkes Pharisäertum, mit dem Militanz „immer auch Inszenierung und Ritual“ sich eigene Gewaltlust bequem bemänteln darstelle, „in dem sich die Einzelnen kollektiv lässt und man politisch-moralische Selbster- als RebellInnen erschaffen“.13 Damit verbun- mächtigung bis zum Exzess treiben kann.“10 den ist ein weiterer Aspekt: Militantes Handeln generiert meist sofort öffentliche Aufmerksam- Insgesamt deutet über die grundsätzliche keit, gegebenenfalls wird über die Akteure und Handlungsorientierung und die schon damit mögliche Ziele berichtet, weshalb die Wechsel- verbundene Relativierung aller grauen Theorie wirkungen von militanten Selbstinszenierungen einiges darauf hin, dass statt der Ideologie im mit der Mediengesellschaft mitberücksichtigt engeren Sinne vielmehr Identitätsunsicherhei- werden müssen.14 ten und entsprechende Suchbewegungen in Phasen des biografischen Übergangs für die Dieses Verständnis von linker Militanz be- Angebote links-militanter Subkulturen emp- deutet für unser Erkenntnisinteresse: Es geht fänglich machen. Die radikale Antibürgerlich- uns diesseits des Formalen, d. h. von Organi- keit, der Normbruch, und die offensive Beto- nung der devianten Identitätsmerkmale von Militanz und Subversion bei militanten Linken, 11 Paris, Rainer: Vermummung, in: Leviat- han, H. 1 / 1991, S. 117–129, hier S. 126.

12 Zur Vielschichtigkeit des Militanz-Begriffs vgl. 8 Siehe vor allem zum Begriff der strukturel- Schuhmacher, Nils: Gewalt in der Antifa: Mythos len Gewalt Imbusch, Peter: Der Gewaltbegriff, und Realität, in: DJI-Impulse, H. 1 / 2015, S. 11–13. in: Heitmeyer, Wilhelm / Hagan, John (Hrsg.): 13 Haunss, Sebastian: Identität in Bewegung. Prozes- Internationales Handbuch der Gewaltfor- se kollektiver Identität bei den Autonomen und in schung, Opladen 2002, S. 26–57, hier. S. 39 f. der Schwulenbewegung, Wiesbaden 2004, S. 126. 9 Frommel, Monika: Gewalt als attrakti- 14 Siehe hierzu Glaser, Michaela: ,Linke‘ Militanz im ve Lebensform, in: Neue Kriminalpolitik, Jugendalter ein umstrittenes Phänomen, in: Schul- Jg. 29 (2017), H. 4, S. 355–368, hier S. 355. tens, René / Glaser, Michaela (Hrsg.): ‚Linke‘ Militanz 10 Koenen, Gerd: Frappierend ziel- im Jugendalter. Befunde zu einem umstrittenen los, in: Die Zeit, 13.07.2017. Phänomen. Halle (Saale) 2013, DJI, S. 4–21, hier S. 17.

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sationsweisen, Positionspapieren, Bündnissen, der vor allem gegen Polizeikräfte alle erdenkli- Aktionsformen, vor allem um individuelle chen Gewaltmittel unterhalb der Schwelle von Motive und Radikalisierungskarrieren, um Schusswaffen eingesetzt worden sind, wurde Selbstinszenierungen (Symbole, Rituale, Codes), seitdem nicht mehr erreicht.15 Zum anderen, um Lebenswelten und Verflechtungen mit der indem grundsätzlich betont wird, dass Radi- politischen Mehrheitskultur, um Bezugspunk- kalität nicht per se mit der demokratischen te zur gesellschaftlichen Mitte, Konflikt- und Ordnung kollidiert, sondern, salopp gesagt, Eskalationskonstellationen (also ebenfalls die radikale Fehlentwicklungen im Umkehrschluss Rolle von Polizei, Justiz, Verfassungsschutz und radikale Gegenstrategien erforderlich machen Medien). Kurz: Es geht uns – noch einmal – um können. eine Ethnologie linker Militanz. Daraus folgt aber andererseits keine Ver- harmlosung, weil Militanz sehr plausibel als Ausdruck einer mangelhaften „Abweichungs- Was untersuchen wir? toleranz“16 gefasst werden kann, und insofern, wenn auch nicht generell demokratiefeindlich, Wenn wir Militanz so bestimmen, dann werden auch nicht grundsätzlich demokratiekonform davon weder skrupulös abwägende, differen- ist. „Gewalt gegen Sachen“ stellt eben nicht ziert argumentierende und konsensorientiert das sich wechselseitig ausschließende Ge- handelnde Parteien und Organisationen (wie genstück zur „Gewalt gegen Personen“ dar, insbesondere die auf Ausgleich basieren- sondern markiert analog zur enthemmenden den Volksparteien) noch theoriefixierte, auf Wirkung jeglicher Gewaltanwendung eher einen den historisch-materialistisch grundierten ersten Radikalisierungsschritt auf dem Weg Selbstlauf der Geschichte bauende K-Grup- zu schwereren bis hin zu im extremsten Fall pen und -Parteien erfasst; dann stehen im lebensbedrohenden Gewalttaten. Kern der Untersuchung die Gruppen und Zusammenschlüsse aus dem autonomen und post-autonomen Spektrum, die jenseits aller Detaildifferenzen die drei genannten Kriterien Was ist, was kommt? – kämpferischer Gestus, Tatorientierung, Ra- dikalität – teilen. Wobei zur späteren, weiteren Abschließend: Die Prognose ist nicht abwegig, Schärfung des Begriffes der linken Militanz ein dass linke Militanz nach einem langanhalten- Vergleich mit den K-Gruppen in einem zweiten den Rückgang verglichen mit den 1970er und Schritt durchaus nützlich sein kann. 1980er Jahren künftig wieder an Bedeutung gewinnen könnte. Davon zeugen nicht nur Aus der Fassung des Begriffs und der Abgren- die eruptiven Krawalle im Hamburger Schan- zung vom Extremismus folgt zusammenfassend zenviertel beim G20-Gipfel im Sommer 2017 einerseits eine Relativierung der im öffent- – wobei die Frage durchaus berechtigt ist, ob lichen Sprachgebrauch pauschal an Militanz hier überhaupt von einer dezidiert „linken“ geknüpften Gefahren- und Bedrohungsannah- Militanz gesprochen werden kann oder ob wir men: Zum einen dadurch, dass mit Blick auf es nicht eher mit einer unübersichtlichen und die tatsächlichen Delikte (und nicht die rheto- rische Lautsprecherei) ein deutlicher Rückgang links-militanter Aktivitäten im Langzeitverlauf 15 Vgl. Mletzko, Matthias: Gewalthandeln lin- konstatiert werden kann – und zwar sowohl ker und rechter militanter Szenen, in: in quantitativer als auch in qualitativer Hin- APuZ, H. 44 / 2010, S. 9–16, hier S. 12. sicht. Die Größenordnung und Intensität von 16 Nassehi, Armin: Der Erfolg der AfD – ein deutlich Massenmilitanz wie in den 1980er Jahren, bei demokratischer Vorgang, in: Der Spiegel, H. 50 / 2017.

34 Jens Gmeiner / Matthias Micus | Radikalismus der Tat komplexen Gemengelage zu tun hatten, die der Entladung der Gewalt, kurz: die „Propaganda Logik des Riots folgte, die Simon Teune wie der Tat“, die keinen ideologischen Zielsetzun- folgt beschrieben hat: „An vielen Orten wurden gen, keiner theoretischen Begründung folgt, Einsatzkräfte mit der Parole ‚ganz Hamburg dürfte nicht zuletzt auch durch die allmähliche hasst die Polizei‘ empfangen. Längst nicht nur Aufl ösung industriegesellschaftlicher Struk- die üblichen Verdächtigen warfen Flaschen und turen und Organisationen begünstigt worden Steine. Auf dem Höhepunkt des Geschehens sein. Die Erosion der organisationsgestützten vermischten sich Protest und Frust, politische Weltanschauungsmilieus, die Wut kanalisierten, Akteure und Zuschauer.“17 ihre Anhänger disziplinierten und Zukunftsver- sprechen sowie Visionen entwickelten, ist so- Die in Hamburg deutlich gewordene Struktur- mit Wasser auf die Mühlen selbstorganisierter, und Ziellosigkeit der Krawalle, die spontane spontaner Protesteskalationen und insurrektio- nalistischer Spontanerhebungen. Die Geschlos- senheit der Milieus aber dürfte so bald nicht 17 Teune, Simon: Das Scheitern der »Hambur- wiederkehren. Höchste Zeit also, sich endlich ger Linie«, in: Blätter für deutsche und inter- nüchterner, sachlicher und differenzie rter mit nationale Politik, H. 8 / 2017, S. 9–12, hier S. 12. linker Militanz zu beschäftigen.

Jens Gmeiner, geb. 1984, Dr. Matthias Micus, ist Politikwissenschaft- geb. 1977, ist Leiter der ler und Skandinavist. Er Forschungs- und Do- ist wissenschaftlicher kumentationsstelle zur Mitarbeiter am Göttinger Analyse politischer und Institut für Demokratiefor- religiöser Extremismen schung und befasst sich in Niedersachsen am insbesondere mit Links- Göttinger Institut für radikalismus im (nord-) Demokratieforschung. europäischen Vergleich.

35 Radikaler Protest im Kontext des G20-Gipfels

Philipp Scharf

er Hamburger G20-Gip- mit den begründbaren Inhalten des Protests fel liegt mittlerweile ein unmöglich macht. Daher versucht dieser Text, gutes halbes Jahr zurück die Protestmotive insbesondere derjenigen und noch immer domi- Personen, die dem radikalen Protestspektrum nieren die Bilder des zugeordnet werden können und dadurch in der nächtlichen brennenden öffentlichen Debatte oft ungehört bleiben, zu Schulterblatts, schwarz beleuchten, und so eine inhaltliche Auseinan- vermummter Steinewer- dersetzung mit dem G20-Protest voranzutrei- ferInnen und überforderter PolizistInnen die ben. mediale Berichterstattung. Konträre Darstel- Dlungen gewaltfreien Protests, etwa durch die Um ebenjene Protestmotive, weltanschauli- Kunstaktion „1000 Gestalten“, der alternative chen Hintergründe und Engagementformen Gegengipfel und zahlreiche weitere Demonst- zu ergründen, hat das Göttinger Institut für rationen sind hingegen aus dem öffentlichen Demokratieforschung gemeinsam mit Kolle- Gedächtnis beinahe vollständig verschwunden. gInnen des Instituts für Protest- und Bewe- Vor dem Hintergrund dieser aufgeheizten, ja gungsforschung und des Forschungszentrums beinahe hysterischen Grundstimmung scheint Ungleichheit und Sozialpolitik eine Demonstra- momentan nur eine Debatte möglich, die durch tionsbefragung auf den beiden größten De- beiderseitiges Polemisieren gekennzeichnet ist und eine inhaltliche Auseinandersetzung

36 Philipp Scharf | Radikaler Protest im Kontext des G20-Gipfels monstrationen1 im Kontext des Gipfels durch- gesellschaftlichen Protests zählen, verspricht geführt; insgesamt haben 3.515 Personen den eine Analyse ihrer Einstellungsmuster erkennt- Fragebogen angenommen, von denen letztlich nisreich auszufallen, weil derartige Positionen 1.095 Personen an der Umfrage teilnahmen.2 im Diskurs oft ungehört verhallen. Wichtig Unter anderem wurde darin erfragt, über wel- ist zu betonen, dass hier nicht Gruppenzu- che Organisationen die ProtestteilnehmerInnen gehörigkeiten, sondern Informationskanäle von den Demonstrationen erfahren haben.3 abgefragt wurden; daher können keine klaren Diejenigen unter ihnen, die hier „autonome Rückschlüsse dahingehend gezogen werden, ob und antifaschistische Gruppen“, die „Interven- die Befragten tatsächlich auch diesen Gruppen tionistische Linke“ oder das Protestbündnis angehören. Trotzdem kann diese Frage als ein „… ums Ganze!“ angegeben haben, sollen im Indikator für eine ideologische Nähe zwischen Folgenden gesondert betrachtet werden, um den ProtestteilnehmerInnen und den entspre- zu überprüfen, ob sie sich hinsichtlich ih- chenden Gruppen angesehen werden. Da die rer Einstellungsmuster von den verbliebenen individuelle Entscheidung, an einer Demonst- DemonstrationsteilnehmerInnen unterscheiden. ration teilzunehmen, das Resultat einer Reihe Da diese Gruppen aufgrund ihrer Selbstbe- kommunikativer Prozesse ist,6 ist die Frage schreibungen als kommunistisch4 und links- nach der hauptsächlichen Informationsquel- radikal5 zu der Speerspitze eines radikalen, le sinnvoll, da damit die zugrundeliegenden

onistische-linke.org/interventionistische-linke/ 1 Der Gipfel fand vom 7. bis zum 8. Juli 2017 in Ham- die-interventionistische-linke-wir-ueber-uns burg statt. Bei den hier befragten Demonstrationen [eingesehen am: 03.03.2017]. handelt es sich um die sogenannte Protestwelle am 6 Vgl. Scharf, Philipp et al.: Überwiegend fried- 2. Juli 2017, zu der unter dem Motto „Eine andere liche Protestmotive. Die Großdemonstrati- Politik ist nötig!“ u. a. Campact, Greenpeace etc. onen gegen den G20-Gipfel in Hamburg, aufgerufen haben, sowie die Großdemonstration in: Forum Wissenschaft, H. 4 / 2017, S. 51. am 8. Juli 2017, zu der unter dem Motto „Gren- zenlose Solidarität statt G20“ u. a. die globalisie- rungskritische Nichtregierungsorganisation „Attac“ und die Partei „Die Linke“ aufgerufen haben.

2 Vgl. Haunss, Sebastian et al.: #NoG20. Ergeb- nisse der Befragung von Demonstrierenden und der Beobachtung des Polizeieinsatzes, ipb working paper, URL: https://protestinstitut.eu/ wp-content/uploads/2017/11/NoG20_ipb-wor- king-paper.pdf [eingesehen am: 01.03.2017.]

3 „Über welche Organisation haben Sie von der G-20-Demonstration erfahren? Bitte wählen Sie die für sie wichtigste aus: Antifaschistische/ autono- me Gruppen, Attac, Bund für Umwelt und Natur- schutz, Campact, DGB/ Gewerkschaften, Die Grünen, Die Linke, Greenpeace, Interventionistische Linke, Kirchliche Gruppen, Bündnis ‚Ums Ganze!‘, eine andere Gruppe / Organisation aus Ihrem Heimatland.“

4 Selbstzuschreibung des „… ums Gan- ze!“-Bündnisses, URL: https://umsganze.org/ ueber-uns/ [eingesehen am: 03.03.2017].

5 Selbstzuschreibung der Interventionisti- schen Linken (IL), URL: http://www.interventi-

Bild: Julian Schenke Julian Bild: 37 Demokratie-Dialog 2-2018

Motivationslagen der Protestierenden ergründet Fragebogens hinsichtlich der Bewertung des werden können. Konzepts „G20“ durch die Befragten ab; dieses wird von den vermeintlich radikaleren Protest- Die Auswertung des Fragebogens hat gezeigt, teilnehmerInnen deutlich kritischer gesehen. dass zu den Problemfeldern, die den Teil- Auf die entsprechende Frage, ob die gegen- nehmerInnen, die sich aus dem Umfeld der wärtigen, globalen Konflikte und Krisen Folgen genannten Bündnisse rekrutieren, besonders der Politik der G20-Staaten seien, antworteten wichtig sind, „Armut und Hunger“ sowie „De- prozentual deutlich mehr Personen aus den mokratie und Menschenrechte“ zählen. Auffällig hier näher beleuchteten Gruppen mit der Ka- ist, dass unter den SympathisantInnen des „… tegorie „voll und ganz“ als die übrigen Protest- ums Ganze!“-Bündnisses „Globalisierung und teilnehmerInnen.9 Ein ähnliches Antwortverhal- fairer Handel“ einen verhältnismäßig größeren ten tritt bei der Stellungnahme zu der These Stellenwert einnehmen,7 bei SympathisantIn- auf, dass der Gipfel demokratischen Prinzipien nen der „Interventionistischen Linken“ steht widerspreche und die G20 reformierbar sei- das Thema „soziale Gerechtigkeit“ im Fokus.8 en.10 Aus demokratietheoretischer Sicht ist Insgesamt unterscheidet sich das Antwortver- halten hinsichtlich der Protestmotive zwischen den für diesen Bericht isoliert betrachteten 9 Autonome und antifaschistische Gruppen: 63,6 %, TeilnehmerInnen und den übrigen Demonstran- IL: 67,2 %, „… ums Ganze!“: 60,9 %, Protestteil- tInnen jedoch kaum. Es lässt sich beobachten, nehmerInnen, die sich nicht über eine der ge- dass nahezu alle Antwortkategorien, welche nannten Gruppen informiert haben: 44,5 %. die Protestmotive erfragten, von Personen, die 10 Anteil derjenigen Personen, die der These „die G20 sich aus dem Umfeld der genannten Gruppen sind reformierbar“, „überhaupt nicht“ und „eher rekrutieren, häufiger gewählt werden. Dies er- nicht“ zustimmten: Autonome und antifaschistische weckt letztlich den Anschein, dass ihre Pro- Gruppen: 62,7 %, IL: 63,9 %, „… ums Ganze!“: 78,3 %, testmotive vielfältiger gewesen sein könnten. ProtestteilnehmerInnen, die sich nicht über eine Als Leitmotive des Protests der genannten Gruppen informiert haben: 49,2 %. lassen sich somit der Kampf gegen Ausbeutung und glo- bale Ungleichverteilung und gegenteilig der Wunsch nach Demokratie und Frieden aus- machen.

Ein deutlicheres Bild zeichnet sich in der Auswertung des

7 Diesen Themenkomplex gaben 69,6 % der Befragten aus dem Umfeld des „… ums Gan- ze!“-Bündnisses als besonders wichtig für die Teilnahme am G20-Protest an; Mehrfach- nennungen waren möglich.

8 Diesen Themenkomplex gaben 52,5 % der Befragten aus dem Umfeld der IL als beson- ders wichtig für die Teilnah- me am G20-Protest an.

38 Schenke Julian Bild: Philipp Scharf | Radikaler Protest im Kontext des G20-Gipfels dies durchaus problematisch, da sich hier eine sowohl unter den radikalen Gruppen als auch empirisch messbare Entfremdung zwischen unter den restlichen Befragten weitverbreitet den Protestierenden, die einen Ausschnitt der sind. Dieser Befund stützt die Vermutung, dass Gesellschaft darstellen, und den PolitikerInnen, sich, mindestens in Teilen der Bevölkerung, die sie vertreten sollen, zeigt. Positiv gewen- ein demokratisches Bewusstsein ausgebildet det ließe sich jedoch konstatieren, dass in der hat, das für eine aktive, außerparlamentari- Bevölkerung Emanzipationsprozesse stattfinden sche Opposition charakteristisch ist. Gestützt und die BürgerInnen zunehmend als selbstbe- wird diese These davon, dass sich eine relative stimmte, politisch aktive Individuen auftreten Zufriedenheit mit dem Konzept der Demokra- (wollen).11 Vor diesem Hintergrund kann der tie im Allgemeinen – auch unter den mit den massenhafte Protest gegen den Gipfel als ein radikalen Gruppen assoziierten Protestteilneh- Versuch gewertet werden, „das Politische“ neu merInnen – beobachten lässt,14 was zumindest zu verhandeln und die vermeintlich unde- teilweise verwundern muss, wurde doch gleich- mokratischen Prinzipien des Gipfels offen zu zeitig eine deutliche Unzufriedenheit mit dem kritisieren. Die eingangs formulierte These, kapitalistischen System, das den westlichen dass der radikale Protest von den genannten Demokratien zugrunde liegt, artikuliert. Eine Gruppen getragen werde, scheint sich durch grundsätzliche Demokratiefeindlichkeit lässt das tendenziell extremere Antwortverhalten sich aus dem Antwortverhalten bei der Umfra- der ProtestteilnehmerInnen zunächst zu bestä- ge also auch unter den Demonstrationsteilneh- tigen. Die in den Fragebögen artikulierte Kritik merInnen, die sich über die radikalen Gruppen am Konzept der G20 steht in Verbindung mit informiert haben, nicht erkennen. einer Ablehnung des wirtschaftlichen Systems des Kapitalismus. Hier tritt der ideologische Auch die Einstellungen zur Akzeptanz von Unterschied zwischen den betrachteten Grup- Gewalt als politisch legitimem Mittel des Pro- pen und den verbliebenen ProtestteilnehmerIn- tests lassen sich nicht eindeutig beantworten. nen am deutlichsten zutage: Während aus den Genießen Blockaden noch ein hohes Ansehen radikalen Gruppen im Durchschnitt fast zwei unter den Befragten, die sich über die hier Drittel der Befragten der These, der Kapita- betrachteten Bündnisse informiert haben,15 lismus müsse überwunden werden, „voll und werden Sachbeschädigungen „als nebensäch- ganz“ zustimmten, war dies bei den restlichen liches Übel“ sowie Gewalt als legitimes Mittel, Protestierenden lediglich ein Drittel der Befrag- ten.12 die Befragten mit „überhaupt nicht“ oder „eher Weiterhin zeigt sich, dass die Ablehnung von nicht“: Autonome und antifaschistische Gruppen: Autoritäten und der Appell nach mehr Ver- 76,8 %, IL: 77,0 %, „… ums Ganze!“: 73,6 %, Pro- testteilnehmerInnen, die sich nicht über eine der antwortung für die einzelnen BürgerInnen13 genannten Gruppen informiert haben: 68,4 %.

14 Anteil derjenigen ProtestteilnehmerInnen, die mit der Idee der Demokratie im Allgemei- 11 Vgl. Scharf, Philipp et al.: Überwiegend fried- nen sehr oder eher zufrieden sind: Autono- liche Protestmotive. Die Großdemonstrati- me und antifaschistische Gruppen: 81,8 %, IL: onen gegen den G20-Gipfel in Hamburg, 86,9 %, „… ums Ganze!“: 82,6 %, Protestteilneh- in: Forum Wissenschaft, H. 4 / 2017, S. 50. merInnen, die sich nicht über eine der ge- 12 Autonome und antifaschistische Gruppen: 61,6 %, nannten Gruppen informiert haben: 90,3 %. IL: 63,9 %, „… ums Ganze!“: 73,9 %, Protestteil- 15 Anteil derjenigen Personen, welche der These nehmerInnen, die sich nicht über eine der ge- „Blockaden sind ein legitimes Mittel des Pro- nannten Gruppen informiert haben: 33,2 %. tests gegen G20“ „voll und ganz“ zustimm- 13 Auf die Frage, ob Kindern beigebracht werden ten: Autonome und antifaschistische Gruppen: sollte, Autoritäten zu gehorchen, antworteten 80,8 %, IL: 83,6 %, „… ums Ganze!“: 82,6 %.

39 Demokratie-Dialog 2-2018 Bild: Julian Schenke Julian Bild:

„um dem Protest Gehör zu verschaffen“16, kritischer bewer- tet. Tatsächlich ist der Anteil derjenigen Personen, die Gewalt grundsätzlich ablehnen, hoch;17 stattdessen scheint lediglich Konfrontationsgewalt in Situationen, in denen die Polizei „ge- walttätig“ vorgehe, von den radikalen Protestierenden akzep- tiert zu sein, obwohl hier Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen bestehen.18

Abschließend lässt sich festhalten, dass die hier vorgenom- Philipp Scharf, geb. 1993 in mene Analyse des Antwortverhaltens der nach Informati- Wolfenbüttel, studiert im onskanälen strukturierten Fragebögen erste Einblicke in die Master Politikwissenschaft Motivationslagen und ideologischen Hintergründe der Demons- an der Universität Göttin- trationsteilnehmerInnen liefern konnte. Entgegen intuitiven gen. Seit 2016 arbeitet er Erwartungen hat sich gezeigt, dass auch diejenigen Teilneh- als studentische Hilfskraft merInnen, die den radikaleren Gruppen ideologisch nahestehen, am Göttinger Institut für Demokratieforschung. keineswegs mehrheitlich demokratiefeindliche Einstellungen vertreten. Tatsächlich wird im Gegenteil klare Kritik am kapita- listischen System formuliert und für allgemein anerkannte und demokratietheoretisch erwünschte Werte gekämpft. Der gewalt- same Kampf spielt für einen Großteil der Befragten maximal eine untergeordnete Rolle.

16 Hierbei handelt es sich um direkte Zitate aus dem Fragebogen.

17 Anteil derjenigen Personen, welche der These „Gewalt leh- ne ich grundsätzlich ab“ „voll und ganz“ bzw. „überwie- gend“ zustimmten: Autonome und antifaschistische Gruppen: 20,2 % / 28,3 %, IL: 19,7 % / 32,8 %, „… ums Ganze!“: 26,1 % / 30,4 %.

18 Anteil derjenigen Personen, welche der These „bei ei- nem gewalttätigen Vorgehen der Polizei ist Widerstand legi- tim“ „voll und ganz“ zustimmten: Autonome und antifaschis- tische Gruppen: 59,6 %, IL: 49,2 %, „… ums Ganze!“: 39,2 %.

40 Von einer KPD- Initiative zur Autonomen Antifa

Antifaschistische Aktion gestern und heute

Alexander Deycke

uf die letzten Jahre der KPD-Projekt entworfen, sollte es dereinst den Weimarer Republik wird Schulterschluss der gespaltenen Arbeiterbewe- in der Regel als mah- gung im Kampf gegen den Nationalsozialismus nendes Beispiel einer auf symbolisieren.1 der Straße wie in den Parlamenten scheitern- den Demokratie zurück- geschaut. Angesichts Eine Kommunistische Initiative für dessen weckt das Vorliegen eines ausgespro- eine „Einheitsfront von unten“ chen positiven, identitätsstiftenden Rekurses Ader radikalen Linken auf eine kommunistische Eine Saalschlacht im preußischen Landtag Initiative des Jahres 1932 Neugier. Gemeint nahm die Führung der KPD am 25. April 1932 ist die „Antifaschistische Aktion“, deren Logo zum Anlass, in der Parteizeitung Die Rote – die von einem Ring mit dem Schriftzug „Antifaschistische Aktion“ umschlossenen Doppelfahnen – wohl als eines der bekanntes- 1 Zur Traditionskonstruktion vgl. Keller, Mirja u. a.: ten Symbole des kämpferischen linksradikalen Antifa: Geschichte und Organisierung, 2., aktual. Aktivismus der Gegenwart bezeichnet wer- Aufl., Stuttgart 2013; Langer, Bernd: Antifaschistische den kann. Von einem Grafikerduo des Bundes Aktion. Geschichte einer linksradikalen Bewegung, revolutionärer Bildender Künstler eigens für ein 2. aktual. Aufl., Münster 2015; zum Logo: ebd., S. 73.

41 Demokratie-Dialog 2-2018

Fahne einen an alle „Klassengenossen“ ge- sogenannte Sozialfaschismusdoktrin für ver- richteten Aufruf zur „Antifaschistischen bindlich erklärt, welche die Sozialdemokratie Aktion“ zu veröffentlichen. Die Passivität der als entscheidenden und am schärfsten zu sozialdemokratischen Parlamentarier wäh- bekämpfenden politischen Gegner brandmark- rend eines Angriffs der NSDAP-Abgeordneten te, da sie, deren Kader mit der Bourgeoisie auf die Fraktion der KPD anklagend, rief die im Bunde ständen, die revolutionäre Radika- Zeitung sozialdemokratische Arbeiter dazu lisierung der Arbeiterschaft verhindere. Als auf, als „rote Einheitsfront“ der „Faschisierung einzige Kraft, die sich nicht in irgendeiner Art Deutschlands Einhalt zu gebieten“.2 an der sukzessiven Errichtung der faschisti- schen Diktatur beteilige, begriff die KPD sich Wennschon hiermit erstmals die Bezeichnung selbst. Faschismus wurde aus kommunistischer „Antifaschistische Aktion“ Verwendung findet, Perspektive gedeutet als ein vielfältige Formen mit der eine vorgeblich neue Phase des anti- umfassendes Abwehrmittel der herrschenden faschistischen Kampfes eingeleitet Klasse in der krisenhaften End- werden sollte, waren derartige an phase des Kapitalismus, als Ver- die sozialdemokratische Basis ge- such der Bourgeoisie, die nahen- richtete Appelle alles andere als de kommunistische Revolution zu neu. Schon seit beinahe einem verhindern.4 Jahrzehnt gehörte die sogenannte Einheitsfront von unten zum stra- Eingedenk dieser Rahmenkons- tegischen Repertoire der KPD. Ziel tellation ist nicht verwunderlich, dieser Strategie sollte es sein, die dass die SPD-Zeitung Vorwärts sozialdemokratische Klientel zur über die kommunistische Initiati- KPD hinüberzuziehen, um die- ve urteilte: „Die ‚antifaschistische ser zu einer Massenbasis für die Aktion‘ ist also nichts anderes revolutionäre Errichtung Sowjet- als eine antisozialdemokratische deutschlands zu verhelfen.3 Plakat der Aktion!“5 Für ein solches Urteil „Antifaschistischen lassen sich auch etliche Argu- Doch stand einer ernsthaften Zu- Aktion“ von 1932, mente im parteiinternen Schrift- von Max Gebhard / Max sammenarbeit auf Augenhöhe mit Keilson (gemeinfrei), verkehr der KPD finden, in dem dem sozialistischen Flügel der URL: https://commons. die SPD nach wie vor als „Haupt- wikimedia.org/w/index. Arbeiterbewegung die von der php?curid=40186736 feind“ identifiziert wurde. Dort Kommunistischen Internationale wird zudem fündig, wer nach den (Komintern) vorgegebene und für Vorstellungen der Parteiführung die KPD als deren deutscher Sektion binden- von der konkreten Ausgestaltung der „Antifa- de Strategie entgegen. Bereits 1928 hatte der schistischen Aktion“ fragt. VI. Weltkongress der Komintern im Rahmen einer „ultralinken Wende“ die

4 Vgl. Finker, Kurt: KPD und Antifaschismus 1924– 1934, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 2 Vgl. Winkler, Heinrich August: Der Weg in die Bd. 41 / 1993, S. 385-398, hier S. 389 ff.; Wirsching, Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in Andreas: „Hauptfeind Sozialdemokratie“ oder der Weimarer Republik 1930–1933, Bonn 1990, „Antifaschistische Aktion“. KPD und Komintern in S. 558 ff.; , Nr. 113, 26.05.1932. der Endphase der Weimarer Republik, in Wink- ler, Heinrich August (Hrsg.): Weimar im Widerstreit. 3 Vgl. Wunderer, Hartmann: Arbeiterverei- Deutungen der ersten deutschen Republik im ne und Arbeiterparteien. Kultur- und Mas- geteilten Deutschland, München 2002, S. 105–130. senorganisationen in der Arbeiterbewe- gung (1890–1933), Frankfurt 1980, S. 137 ff. 5 Der Abend. Spätausgabe des „Vorwärts“, 22.06.1932.

42 Alexander Deycke | Von einer KPD-Initiative zur Autonomen Antifa

Vor allem in Gewerkschaften und Betrieben sei Kurs des ZK an der Basis vielfach auf Unver- diese zu verankern, denn als „entscheidende ständnis.9 Kommunistische Arbeiter wollten Waffe des Proletariats“ galt laut Parteilinie der die Provokationen und tätlichen Angriffe der „politische Massenstreik“.6 Dieser sollte sich Nationalsozialisten mit gleicher Münze ver- in der Erwartung der Parteiführung dann zur gelten und zugleich physische Stärke, mithin bewaffneten Insurrektion ausweiten. Andere Bereitschaft zur Revolution, demonstrieren.10 In offensive Aktionsformen (Straßenkampf) hatte Anbetracht der hohen Arbeitslosigkeit, welche das Zentralkomitee der Partei (ZK) im Vorjahr die Weltwirtschaftskrise mit sich brachte und in einer Resolution über „individuellen Terror“ von der nicht zuletzt Kommunisten besonders als nicht zielführend, disziplinzersetzend und betroffen waren, war ein erfolgreicher politi- parteischädigend verurteilt.7 scher Streik unrealistisch. Vielmehr stand das Jahr 1932, insbesondere dessen Sommer, im Die politische Auseinandersetzung zwischen Zeichen außerordentlich blutig verlaufender Kommunisten und ihren politischen Gegnern Straßenkämpfe um „öffentliches Terrain und an der Basis entfaltete indessen eine Dy- Symbole“11, die in Preußen allein 155 Todesop- namik, die nicht mit den Vorstellungen der fer forderten und deren Protagonisten aus den Parteiführung korrespondierte. Zum einen Reihen der KPD und NSDAP kamen.12 So be- kam es verschiedentlich zu von der Partei- stimmten – auch von kommunistischer Seite führung nicht gewollten und rasch durch die begonnene –Veranstaltungsstörungen, Saal- KPD-Bezirksleitungen unterbundenen lokalen schlachten, Überfälle auf Verkehrslokale, Part- Einheitsfrontverhandlungen zwischen KPDlern eigebäude und Wohnviertel sowie spontane und Funktionären von SPD und linken Split- Straßenschlägereien den Kampf an der Basis.13 terparteien. Gemeinsam wollte man Demons- trationen und Versammlungen auf lokaler Es spricht jedoch wenig dafür, dass die „An- Ebene organisieren.8 Zum anderen stieß der tifaschistische Aktion“ besondere Akzente in agitationsfokussierte, geradezu legalistische der Zurückdrängung des SA-Terrors gesetzt hätte. Selbiges darf – allgemeiner formuliert – auch für die Bestrebungen gelten, die Mach- NSDAP 6 Rundschreiben des Sekretariats des ZK vom tübergabe an die zu verhindern. Mehr 04.06.1932, in: Die Generallinie. Rundschrei- als den Versuch einer Propagandaoffensive ben des Zentralkomitees der KPD an die Be- brachte die KPD mit ihr kaum zustande. Und zirke 1929-1933, eingeleitet und bearbeitet von auch eine spontane Basis-Zusammenarbeit Hermann Weber, Düsseldorf 1981, S. 492–510. von Kommunisten und Sozialdemokraten mit 7 Vgl. Rosenhaft, Eve: Beating the Fascists. The German communists and political violence, 1929–1933, Cambridge 1982, S. 37 u. S. 57 ff. 9 Vgl. Wirsching, Andreas: Vom Weltkrieg zum Bür- 8 Vgl. Wirsching: Hauptfeind Sozialdemokratie, S. 121; gerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland LaPorte, Norman H.: The German Communist und Frankreich 1918–1933, München 1999, S. 581 f. Party in Saxony, 1924–1933: Factionalism, Fracti- 10 Vgl. Stracke, Stephan: Mit rabenschwar- cide and Political Failure, Stirling 1998, S. 388 ff.; zer Zuversicht. Kommunistische Jugend- Voigt, Carsten: Kampfbünde der Arbeiterbewe- liche in Wuppertal 1916–1936 Milieu und gung: Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und Widerstand, Bocholt 1998, S. 49. der Rote Frontkämpferbund in Sachsen 1924–1933, Köln u. a. 2009, S. 544 ff.; Becker, Klaus J.: Spar- 11 Schumann, Dirk: Politische Gewalt in der Weima- takus, Rote Front, Antifa. Ausübung und Instru- rer Republik 1918–1933. Kampf um die Straße und mentalisierung politischer Gewalt in der Weima- Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001, S. 359. rer Republik am Beispiel des Bezirkes Pfalz der 12 Vgl. ebd., S. 320. KPD, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz, Bd. 107 (2009), S. 405–431, hier S. 426. 13 Vgl. ebd., S.309

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dem Ziel, SA-Angriffe auf die gemeinsam ge- ihr besonderes antifaschistisches Engagement teilten lebensweltlichen Einrichtungen zu ver- hervor. In ihren Reihen wurde eine eigene hindern, hatte es zuvor bereits häufig gegeben; Theorie der schleichenden „Faschisierung“ der ein erkennbarer Kurswechsel gegenüber dem Bundesrepublik entwickelt. Dieser zufolge ar- „Hauptfeind“ Sozialdemokratie ging mit der beite die Bourgeoisie nicht als letzte Abwehr- „Antifaschistischen Aktion“ also nicht einher. möglichkeit angesichts drohender Revolution planmäßig auf eine faschistische Herrschaft hin, sondern im Sinne einer systemstabilisie- renden Präventivmaßnahme. Unter der Regie Kommunistischer Bund und Autonome Antifa einer zentralen Kommission sammelte der KB Informationen über rechtsradikale und neo- Zeiträumlich weit umfangreicher als die Ge- nazistische Organisationen und Personen, die schichte der ursprünglichen „Antifaschisti- an die Öffentlichkeit getragen wurden. Damit schen Aktion“ ist die Geschichte des Rekurses und durch das Organisieren von Demonstratio- auf die KPD-Initiative und ihr faschismusthe- nen gegen Aufmärsche und Parteitage rechter oretisches Fundament. Nicht eine stalinistisch Parteien, Besetzungen von Veranstaltungsor- geführte Partei und die Arbeiterbewegung ten und Initiativen wie „Rock gegen Rechts“ bilden ihren Rahmen; vielmehr spielt sie sich wurden die Aktivitäten des KB prägend für das größtenteils in weniger greifbaren Strukturen Handlungsfeld des linken Antifaschismus.14 Der von Jugendkulturen, städtischen Szenen und autonome Antifaschismus der 1980er Jahre mehr oder weniger hermetischen, autonomen schloss in mancherlei Hinsicht an die Aktivi- Gruppen ab. täten des KB an. Indessen war die gesteigerte Gewaltbereitschaft autonomer Antifa-Gruppen Bereits seit den frühen 1980er Jahren ver- ein wichtiges Distinktionsmerkmal gegenüber bindet man das Logo der „Antifaschistischen dem Agieren der K-Gruppen. So kam es etwa Aktion“ – nun in einer modifizierten Form, in über Konfrontationsgewalt auf Demonstratio- der eine der roten durch eine schwarze Fahne nen hinausgehend auch zu Brandanschlägen als Bezugnahme auf anarchistische Traditionen auf Immobilien rechtsradikaler Aktivisten. ersetzt und die Ausrichtung der Fahnen um- gekehrt wurde – mit einem sich als „autonom“ verstehenden Antifaschismus. Für diesen hat sich das Kürzel „Antifa“ als Eigen- und Fremd- Antifaschismus als linksradikale bezeichnung etabliert. Das Adjektiv „autonom“ Sammlungsbewegung verwies zunächst auf zweierlei: zum einen auf die personelle und ideelle Nähe zur sich Unter dem Eindruck von Wiedervereinigung, formierenden Bewegung der Autonomen, von rechtsradikalen Wahlerfolgen und einem der sich die autonomen Antifa-Gruppen durch deutlichen Anstieg rechter, vor allem rassis- thematische Fokussierung, Konspirativität, tischer Gewalt erfuhr Antifaschismus in den Organisiertheit und Vernetzung abhoben; zum 1990er Jahren einen Bedeutungszuwachs in anderen auf die Eigenständigkeit gegenüber anderen organisierten Akteuren. Denn ein An- knüpfen an die „Antifaschistische Aktion“ von 1932 hatte bereits Mitte der vorausgegangenen 14 Vgl. Steffen, Michael: Geschichten vom Trüf- felschwein. Politik und Organisation des Kom- Dekade der Kommunistische Bund (KB) für munistischen Bundes 1971 bis 1991, Univ. Diss., sich beansprucht. Diese vorwiegend in Nord- Marburg 2002, S. 123 ff. u. S. 208 ff.; Schuma- deutschland aktive, bündnisoffene, um Mobili- cher, Nils: „Nicht nichts machen“? Selbstdar- sierung und Breitenwirkung bemühte K-Gruppe stellungen politischen Handelns in der Au- stach aus dem maoistischen Spektrum durch tonomen Antifa, Duisburg 2014, S. 20–24.

44 Alexander Deycke | Von einer KPD-Initiative zur Autonomen Antifa der undogmatischen, also nicht auf unver- In die 1990er Jahre fiel daneben der Beginn rückbare Theoriegebilde festgelegten radikalen popkultureller Selbstdarstellung durch die Ver- Linken. Er vermochte gar zum Leitthema zu dichtung spezifischer, ein „sportlich-toughes“17, avancieren, unter dem ein organisierungswilli- militantes Image transportierender Symbole ger Teil zusammenfand. Mit der Antifaschisti- und ritueller Inszenierungsformen, nicht zuletzt schen Aktion / Bundesweite Organisation (AA/ auch Kleidungsstile zu einer „Marke Antifa“. BO), in der eine Göttinger Gruppe namens Diese Entwicklung vollzog sich keineswegs Autonome Antifa [M] eine führende Rolle allein eigendynamisch. Vielmehr lagen ihr auch spielte, und dem Bundesweiten Antifa Treffen bewusste Entscheidungen von Antifa-Grup- (BAT) entstanden zwei Bündnisstrukturen, die pen zugrunde, die das Ziel hatten, die eigene lokale autonome Gruppen zusammenbrachten. jugendkulturelle Attraktivität zu steigern.18 Das erstgenannte Bündnis war eher förmlich organisiert und auf Öffentlichkeitswirksamkeit bedacht, das zweitgenannte eher spontaner, unverbindlicherer Natur. Zur Begründung eines Fragmentierung, Ausdifferenzierung und als „revolutionärer Antifaschismus“ begrif- Reorganisation in postautonomen Bündnissen fenen Engagements wurde nicht mehr auf eine unmittelbar bevorstehende faschistische Das Streben nach einer linken Sammlungsbe- Herrschaft verwiesen, sondern auf „die gesell- wegung unter dem Doppelbanner endete 2001 schaftlichen Bedingungen […], mit der Selbstauflösung der aus denen heraus faschistische AA / BO. Die von der rot-grünen Bewegungen entstehen“, die sich Bundesregierung durch Gerhard letztlich sämtlich auf das „kapi- Schröders Appell zum „Aufstand talistische Konkurrenzprinzip“15 der Anständigen“ in die Wege zurückführen ließen. Faschismus geleiteten staatlichen und zivilge- sollte offenbar nicht länger allein sellschaftlichen Aktivitäten gegen als ein bewusst gewähltes Ins- Rechtsextremismus erschwerten trument einer imperialistischen die Abgrenzung gegenüber ande- Bourgeoisie verstanden werden; ren Akteuren und die Schärfung stattdessen wurde von einem komplexeren Zu- eines systemkritischen Profils über das Thema sammenspiel an strukturellen Ermöglichungs- Antifaschismus. Zudem zog in den Jahren um faktoren ausgegangen. Zu diesen wurden bspw. die Jahrtausendwende mit der Globalisierungs- neben der kapitalistischen Wirtschaftsverfas- kritik ein neues Feld radikallinke Aufmerk- sung auch rassistische und nationalistische samkeit auf sich.19 Auch vermochte der anti- Überzeugungen sowie patriarchale Strukturen faschistische Konsens nicht die an Bedeutung gezählt. Dadurch sollte ein breites Spektrum zunehmende innerlinke Konfliktlinie zwischen an Themen und Aktivitäten unter dem Label des Antifaschismus als zentralem „Dreh- und Angelpunkt politischer Agitation und Praxis“16 anarchismus.at/die-autonomen/491-zur-aufloe- subsumiert werden. sung-der-aab [eingesehen am 14.03.2017].

17 Schuhmacher, Nils: Gewalt in der Antifa: Mythos und Realität, in: DJI Impulse, H. 1 / 2015, S. 11–13, hier S. 12.

15 Der archivierte Internetauftritt der AA / BO, 18 Vgl. Keller, Mirja u. a.: Antifa. S. 100 ff. vgl. URL: https://www.nadir.org/nadir/initiativ/ 19 Vgl. Schuhmann, Nils: Die Antifa im Umbruch. aam/aabo.html [eingesehen am 14.03.2017]. Neuformierungen und aktuelle Diskurse über Kon- 16 Auflösungserklärung der Antifaschistischen Ak- zepte politischer Intervention, in Forschungsjournal tion Berlin vom Februar 2003, URL: https://www. Soziale Bewegungen, H. 2 / 2015, S. 5–16, hier S. 7.

45 Demokratie-Dialog 2-2018

antiimperialistischen und antideutschen20 menhalt stiftende Symbole. Möglicherweise ist Überzeugungssets zu überbrücken und die auf ein Grund seiner Attraktivität darin zu fi nden, diese zurückzuführenden Spaltungen und Neu- dass es eine Präferenz „direkter Intervention“22 konstituierungen von Gruppen und Bündnis- gegenüber anderen Beteiligungsformen augen- sen zu verhindern. Nach der Selbstaufl ösung fällig zu repräsentieren vermag: Die gleichsam von AA / BO und BAT haben sich einige Anti- im Ansturm wehenden Fahnen, wie auch der fa-Gruppen je nach Selbstverortung den unter Begriff der „Aktion“, seit jeher mit Gegenent- dem Einfl uss der genannten Konfl iktlinien ge- würfen zur formal-institutionalisierten Partizi- gründeten postautonomen Bündnissen „Inter- pation verbunden, laden jedenfalls zu derarti- ventionistische Linke“ (IL) und „… ums Ganze!“ gen Assoziationen ein. Gleichzeitig bieten die angeschlossen. Auch die Göttinger Autonome Doppelfahnen die Möglichkeit – entsprechende Antifa [M] spaltete sich. Aus ihr gingen die Deutungen des historischen Entstehungskon- Gruppen Antifaschistische Linke International texts vorausgesetzt –, sowohl als Zeichen der (A.L.I.) und Redical [M] hervor. Während erstere Bündnispolitik als auch der Fundamentaloppo- Gruppe sich der IL anschloss, ist letztere im sition gegen die gegenwärtige Ordnung inter- Bündnis „… ums Ganze!“ aktiv. Die Mehrheit pretiert zu werden. autonomer Antifa-Gruppen, zumeist mehr auf die Auseinandersetzung mit rechtsextremen Das Emblem von 1932 steht heute für eine Strukturen und Personen fokussiert, bleibt die- Landschaft von hunderten autonomen Grup- sen Zusammenschlüssen hingegen fern.21 pen, zahlreiche spezialisierte Informations- und Diskussionsmedien, unterschiedlichste Das historische Logo wie auch der Name der Handlungsformen von Dokumentations- und KPD-Initiative dienen heute einem heteroge- Bildungsarbeit bis hin zu konfrontativen Aus- nen Akteursspektrum als Identität und Zusam- einandersetzungen mit der extremen Rechten, aber auch den Polizeikräften, die deren Veran- staltungen schützen. Die verbindende Klammer 20 Zentraler Streitpunkt zwischen Antiimperialisten und ist dabei anscheinend weniger ein geteilter Antideutschen ist die Haltung zum Nahostkonfl ikt. Faschismusbegriff als vielmehr eine kapitalis- Während die antiimperialistische Solidarität den muskritische Grundhaltung und der Anspruch, Palästinensern gilt, die als Opfer kolonialistischen rechtsextremen Akteuren und Strukturen mit Expansionsdrangs gesehen werden, solidarisieren sich Antideutsche mit Israel als Staat der Holocaust-Über- einer kämpferischen Haltung, aber nicht zwin- lebenden und Refugium für bedrohte Juden. gend auch gewaltsam entgegenzutreten.

21 Vgl. Keller u. a.: Antifa, S. 126 ff.

22 Schumacher, Nils: „Nicht nichts machen“? Selbstdarstellungen politischen Handelns in der Autonomen Antifa, Duisburg 2014, S. 91.

Alexander Deycke, geb. 1987, ist wissen- schaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung und arbeitet in der Bundes- fachstelle Linke Militanz.

46 Religiöser Fundamentalismus Wahlen und Demokratie versus Scharia?

Salafismus und die Teilhabe am politischen Leben im Westen

Mahmud El-Wereny

Einleitung pheten Muhammad (gest. 632), deduziert. Da für die Normendeduktion weitere rechtstheo- ie Scharia stellt nach retische Methoden und Instrumente eingesetzt allgemeiner muslimischer werden, die je nach Zeitgeist und Lebensum- Auffassung die vollkom- ständen der Menschen variieren, fallen die Be- mene Ordnung Gottes dar, wertungen ein und derselben Handlung nicht die Gerechtigkeit, Wohl- selten verschieden aus. Dies führte durch die ergehen und Frieden für gesamte islamische Rechtsgeschichte hindurch, alle Menschen schafft. Als insbesondere im Zeitraum zwischen dem 8. holistisches Gebilde regelt und dem 9. Jahrhundert n. Chr., zur Entwick- sie alle Belange des Lebens, sprich die Glau- lung einer Systematik der Scharia und zur bensfragen ( ʿaqīda), die rituelle Praxis ( ʿibādāt) Entstehung zahlreicher Rechtsschulen.1 Dsowie die zwischenmenschlichen Beziehungen (mu ʿāmalāt). Dennoch existiert die Scharia nicht in Form eines Gesetzbuches, das Musli- 1 Vgl. weiterführend dazu z. B. Rohe, Mathias: Das isla- men genaue Anweisungen für alle Fragen des mische Recht. Geschichte und Gegenwart, München Lebens gäbe. Religiöse bzw. rechtliche Bestim- 2011, S. 9 ff. und El-Wereny, Mahmud: Normenlehre mungen werden vielmehr grundsätzlich aus des Zusammenlebens: Religiöse Normenfindung für den islamischen Grundtexten, dem Koran und Muslime im Westen. Theoretische Grundlagen und der Sunna (Sprüche und Handlungen) des Pro- praktische Anwendung, Frankfurt a. M. 2018, S. 15 ff.

48 Mahmud El-Wereny | Wahlen und Demokratie versus Scharia?

Von der Überzeugung getragen, dass die Scha- Auch einschlägige, deutschsprachige und via ria alle Belange des Lebens abdecke, legen Internet verbreitete Propaganda-Videos werden viele Muslime Wert darauf, ihr Leben nach den Beachtung finden; ein Indiz für deren Relevanz Vorschriften der Scharia auszurichten. Vie- kann die These deutscher Sicherheitsbehörden le zeitgenössische Islamgelehrte, die sich mit darstellen, denen zufolge digitale Medien eine der Frage der Ableitung von Scharianormen „große Rolle“ bei der Radikalisierung vor allem beschäftigen, setzen sich daher dafür ein, die junger Menschen spielen.5 islamischen Quellentexte zeitgemäß zu inter- bzw. zu reinterpretieren und sie den Heraus- forderungen der Moderne anzupassen, um den Muslimen ein schariakonformes Leben zu er- Salafisten – Begriffsbestimmung möglichen und den Islam mit modernen politi- schen Ideen wie Demokratie, Menschenrechten Bevor wir uns nun der Frage nach Salafismus und Gleichberechtigung von Mann und Frau in und Demokratie zuwenden, sei zunächst der Einklang zu bringen.2 Andere Gelehrte salafis- hier verwendete Begriff der „Salafisten“ näher tischer Prägung orientieren sich hingegen am bestimmt. Man unterscheidet im Großen und Wortlaut der Islamquellen und wollen ihr Leben Ganzen zwischen drei Typen von Salafisten: nach dem Lebensstandard der muslimischen Puristen bzw. Quietisten, politischen Salafisten Frühgemeinde der ersten drei Generationen und salafistischen Dschihadisten. Die Puristen ausrichten.3 lehnen politischen Aktivismus und die An- wendung von Gewalt strikt ab und plädieren Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags steht für die geistige Beschäftigung mit religiösen die Frage, wie salafistisch orientierte Gelehrte Fragen. Die Gesellschaft wollen sie eher durch und Prediger zur Demokratie und zur politi- persönliche Frömmigkeit und individuelles schen Partizipation von Muslimen im Westen frommes Handeln verändern, um ihr Ziel, ein stehen und wie sie ihre Position zu rechtferti- islamisches Gemeinwesen zu begründen, peu gen suchen. Hierfür werden vor allem die on- à peu zu verwirklichen. Zu diesem Zweck set- line kursierenden Ansichten namhafter zeitge- zen sie sich stark für Missionsarbeit (da ʿwa) nössischer Autoren aus Saudi-Arabien – dem ein. Zwar verfolgen sie keine aktive politische Ursprungsland des Salafismus4 – herangezogen. Agenda gegen den demokratischen Rechts- staat, aber sie stehen der parlamentarischen Demokratie zurückhaltend gegenüber. Auf 2 Vgl. z. B. Krämer, Gudrun: Demokratie im Is- diesem Wege wollen sie den Islam und dessen lam: Der Kampf für Toleranz und Freiheit in vermeintlich universale und ewig gültige Ord- der arabischen Welt, München 2011 und dies.: nung von kompromissbasierter Politik – aus Gottes Staat als Republik: Reflexionen zeitge- ihrer Perspektive – rein halten.6 nössischer Muslime zu Islam, Menschenrech- ten und Demokratie, Baden-Baden 1999.

3 Nach Nedza besteht kein Konsens darüber, welche Zeitspanne genau diese drei Generationen, etwa 5 Vgl. z. B. Niedersächsisches Ministerium für Inneres zwischen dem sechsten und dem neunten Jahr- und Sport, Abteilung Verfassungsschutz (Hrsg.): Sa- hundert n. Chr., umfasst. Vgl. dazu Nedza, Justyna: lafismus: Erscheinungsformen und aktuelle Entwick- „Salafismus“ – Überlegungen zur Schärfung ei- lungen, Hannover 2017, S. 20 ff. sowie Bundesamt für ner Analysekategorie, in: Said, Behnam T. / Fouad, Verfassungsschutz (Hrsg.): Islamismus: Entstehung Hazim (Hrsg.): Salafismus: auf der Suche nach dem und Erscheinungsformen, Köln 2013, S. 15 u. S. 28 ff. wahren Islam, Bonn 2014, S. 80–106, hier, S. 97 f. 6 Diese Gruppe bezeichnet der Islamwissenschaftler 4 Siehe dazu Steinberg, Guido: Saudi-Arabi- Joas Wagemakers als Quietisten und unterschie- en: Der Salafismus in seinem Mutterland, det zwischen drei Typen quietistischer Salafisten: in: Said / Fouad: Salafismus,, S. 265–297. den „Distanzierten“, die Distanz zur Politik wahren;

49 Demokratie-Dialog 2-2018

Die politischen Salafisten machen Politik. Sie Wahlen und Demokratie aus streben ein gottgefälliges, schariakonformes salafistischer Sicht Staatssystem an und lehnen alle Staatsformen ab, die ihrer Auffassung nach der Scharia wi- Im Internet finden sich unzählige Beispiele dersprechen. Diese Gruppe, welche die Islam- salafistischer Propaganda, seien es Videos oder wissenschaftlerin Nina Wiedl im deutschen Schriften. Sie beschäftigen sich u. a. mit Wah- Kontext als „Mainstream-Salafismus“ bezeich- len als Mittel politischer Partizipation sowie net, ist der politischen Ideologie des Islamis- der Idee der Demokratie und haben inhaltlich mus zuzuordnen. Die salafistischen Dschiha- große Schnittmengen.8 Die propagandistischen disten lehnen sowohl Missionsarbeit als auch Abhandlungen werden meist in der Form einer politische Aktivitäten in bestehenden staatli- „Fatwa“ präsentiert. Eine Fatwa ist ein religi- chen Strukturen als Strategie für die Wiederer- öses Rechtsgutachten und wird in der Regel richtung eines islamischen Gemeinwesens ab. von einer muslimischen Autorität auf Anfra- Der Dreh und Angelpunkt ihrer Ideologie ist die ge eines um Rat ersuchenden Mitgliedes der Anwendung von Gewalt. Darin sehen sie den muslimischen Gemeinde erstellt. Fatwas sind einzigen Weg zu dem ihnen vorschwebenden nicht wie ein Gerichtsurteil rechtsverbindlich, Staatswesen.7 Wenn im Folgenden die Rede genießen aber bei vielen Muslimen besonde- von Salafisten ist, so werden darunter grund- re Beachtung und werden als Wegweiser und sätzlich Angehörige der ersten beiden Gruppen Orientierung für ein schariagerechtes Leben verstanden. angesehen. Nach dem Verständnis der Sa- lafisten geben der Koran, die Sunna und die Lebensweise der ‚frommen Altvorderen‘ (as-sa- laf aṣ-ṣāliḥ) ein Idealbild einer sozioökono- mischen und politischen Ordnung vor – eine ganzheitliche Ordnung, die unabhängig von den zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten durchgesetzt werden sollte. Demnach sehen die Salafisten in Gott die höchste universale Auto- den „Loyalisten“, die eine aktive Teilnahme an der rität in allen Angelegenheiten; ihm allein stehe Politik befürworten, aber nur wenn es um die Un- das Recht zu, nicht nur über religiöse, sondern terstützung muslimischer Staatssysteme geht, und auch über politische Belange zu entscheiden. den „Propagandisten“, die religiös-politische Regime Stellte man dies infrage oder hielte man sich parteilich unterstützen, vor allem das in Saudi Ara- bien. Vgl. Wagemakers, Joas: Salafistische Strömun- an die von Menschen gemachten Entscheidun- gen und ihre Sicht auf al-wala‘ wa-l bara‘ (Loyalität gen und Gesetze, so verstieße man gegen die und Lossagung), in: Said / Fouad: Salafismus, S. 58 ff. Allmacht Gottes – ein von Salafisten wie auch von einigen anderen islamistischen Gruppen 7 Vgl. El-Wereny, Mahmud: Salafiyya, Salafismus und Islamismus: Verhältnisbestimmung und Ideologie- politisch verstandenes Konzept, die sogenann- merkmale, in: Demokratie-Dialog, Jg. 1 (2017), H. 1, te Herrschaft Gottes (ḥākimīyat Allāh), das die S. 32–40; Steinberg, Guido: Wer sind die Salafis- ten? Zum Umgang mit einer schnell wachsenden und sich politisierenden Bewegung, in: SWP-Ak- tuell, 28.05.2012, URL: https://www.swp-berlin.org/ 8 Vgl. z. B. URL: https://www.youtube.com/watch?- fileadmin/contents/products/aktuell/2012A28_sbg. v=I_PaI6SKJIA; https://www.youtube.com/watch?- pdf [eingesehen am 25.12.2017], S. 2 ff.; Wiedl, Nina: v=cDOeGIR3Lew; https://www.youtube.com/ Geschichte des Salafismus in Deutschland, in: watch?v=7O0FiY8vDig und URL: http://www.kalifat. Said / Fouad: Salafismus, S. 411–442, hier S. 413 ff. und org/islam-und-demokratie_d494.html [einge- Wagemakers, Joas: Salafistische Strömungen und sehen am 25.12.2017]. Bei den in diesen Videos ihre Sicht auf al-wala‘ wa-l bara‘ (Loyalität und gezeigten Personen handelt es sich um füh- Lossagung), in: Said / Fouad: Salafismus, S. 57 ff. rende Köpfe des Salafismus in Deutschland.

50 Mahmud El-Wereny | Wahlen und Demokratie versus Scharia?

Grundlage für die Ablehnung demokratischer was Gott (in der Schrift) herabgesandt hat, Ordnungsvorstellungen bildet.9 sind die wahren Ungläubigen.“12

Vor diesem Hintergrund bewerten salafisti- Politische Systeme im Westen basieren nach sche Autoritäten wie etwa Ibn Bāz10, von dem dieser Auffassung auf Unglauben, da das zahlreiche Fatwas in deutscher Sprache auf Parlament anstelle Gottes die gesetzgebende dem reichweitenstarken Internetportal islam- Funktion einnehme. Würde man an Präsident- fatwa.de übersetzt vorliegen,11 die Beteiligung schafts- oder Parlamentswahlen teilnehmen an einer Wahl oder am politischen Leben im oder eine Partei unterstützen, sei dies eine Generellen, in dem nicht nach Vorschriften der Art Bevollmächtigung zum Vollzug verbotener Scharia geurteilt und gelebt wird, als Abfall Handlungen; denn bei der Wahl eines Kan- vom Glauben. Denn auf diesem Wege werde didaten handele es sich nicht bloß um eine Gott als souveräner Herrscher und obers- Personenwahl, sondern um die Wahl eines te Autorität abgelöst und den Menschen die politischen Programms, das schariawidrige Herrschaft überlassen. Zur Rechtfertigung der Grundsätze beinhalte und somit der Salafisten Gottesherrschaft dienen Belege aus dem Koran vorschwebenden Staatsordnung widerspricht. und der Sunna, die jedoch aus ihrem Kontext Die Mehrheit der Salafisten erachtet es dem- herausgerissen werden, wie z. B. folgender Vers: nach als verboten, sich politisch zu engagie- „Diejenigen, die nicht nach dem entscheiden, ren oder an Wahlen teilzunehmen. Keinesfalls dürften politische Agenden unterstützt werden wie bspw. die gleichgeschlechtliche Ehe, denn dies sei mit den Werten des Islams nicht ver- einbar.13

9 Siehe zum Konzept der ḥākimīya statt vieler 12 Koran 5:44. z. B. al-Munağğid: „Ḥukm ad-dīmuqrāṭīya Damir-Geilsdorf, Sabine: Herrschaft und Gesell- wa-l-intiḫābāt wa-l- ʿamal fī anẓimatihā“, unter: schaft. Der islamistische Wegbereiter Sayyid URL: https://islamqa.info/ar/107166; URL: https:// Qutb und seine Rezeption, Würzburg 2003. www.youtube.com/watch?v=I_PaI6SKJIA und URL: 10 ʿAbd al- ʿAzīz Ibn Bāz ist einer der populärsten http://www.kalifat.org/islam-und-demokratie_d494. und einflussreichsten Rechtsgelehrten des sun- html [eingesehen am 23.12.2017]. Zu den weiteren nitischen Islam und wird heute als Leitfigur des erwähnten Koranstellen in diesem Zusammen- puristisch-traditionalistischen Salafismus an- hang zählen u. a.: „Gottes Urteil ist fürwahr das gesehen. Neben seinen zahlreichen staatlichen beste; das erkennen nur die Menschen, die von Funktionen fungierte er von 1992 bis zu seinem Gottes Gerechtigkeit (innerlich) überzeugt sind.“ Tode 1999 als Großmufti Saudi-Arabiens. Seine (5:50); „Diejenigen, die nicht nach dem entschei- Fatwas und Predigten wurden sowohl in diver- den, was Gott (als Offenbarungsschrift) herab- sen Printmedien als auch online veröffentlicht gesandt hat, sind die (wahren) Frevler.“ (5:47). und sind daher einem breiten Publikum zu- 13 Vgl. URL: https://islamqa.info/ar/118135 [eingesehen gänglich. Vgl. URL: https://www.binbaz.org.sa/ am 23.12.2017]. Ähnliche Position vertreten Anhän- life-article/256 [eingesehen am 15.01.2018]. ger der Hizb-ut-Taḥrīr – einer dem Islamismus 11 Die Website Islamfatwa.de ist eine deutschspra- zuzurechnenden Partei, die in Deutschland auf- chige Fatwa-Datenbank salafistischer Prägung. grund ihrer Befürwortung der Gewaltanwendung für Die Mehrzahl der dort erstellten Rechtsgutachten die Durchsetzung ihrer Ziele, der Wiedererrichtung stammt von Gelehrten saudi-arabischer Herkunft. des islamischen Kalifats, 2003 verboten wurde. In Vgl. URL: https://islamfatwa.de/gelehrte [einge- ihrer online verfügbaren Abhandlung zur politi- sehen am 15.01.2018]. In der deutschen Version schen Partizipation im Westen werden alle poli- der Google-Suchmaschine wird die Seite den tischen Aktivitäten in den bestehenden Staaten Nutzern als erstes muslimisches Angebot, um aus schariarechtlicher Sicht für strikt verboten sich über Fatwas zu informieren, angezeigt. erklärt. Vgl. Hizb-ut-Tahrir in Europa (Hrsg.): Die

51 Demokratie-Dialog 2-2018

Die salafistische Ablehnung der Demokratie Islam infrage stellen. Im Kontext der politischen geht Hand in Hand mit dem „Glauben an Gott“ Ideologie der Salafisten wirdkufr auf alle (tauḥīd): Man unterscheidet im islamisch-theo- Handlungen übertragen, die den Absolutheits- logischen Sinne zwischen tauḥīd al-rubūbiyya, anspruch der Scharia konterkarieren oder die d. h. dem Glauben an Gott als alleinigen Schöp- demokratisch verfassten Systeme unterstützen. fer, und tauḥīd al-ulūhiyya, d. h. die alleinige Folgerichtig werden säkulare Verfassungen wie Anbetungswürdigkeit Gottes. Dieses theologi- auch die „Allgemeine Erklärung der Menschen- sche Grundprinzip wird von Salafisten politisch rechte“ gleichermaßen als kufr gebrandmarkt.16 instrumentalisiert. Sie interpretieren tauḥīd al-rubūbiyya dahin gehend, dass Gott eine ab- Eng verknüpft mit der Debatte über die aus solute, d. h. auch eine politische und gesetzge- salafistischer Sicht postulierte Unzulässigkeit bende Gewalt zukomme. Der Mensch habe sich einer politischen Partizipation der im Westen dem zu unterwerfen und dieses Verständnis lebenden Muslime ist die Frage nach deren des tauḥīd stets aufrechtzuerhalten. Der tauḥīd Haltung gegenüber dem Staat und dessen Ge- alulūhiyya wiederum impliziert, dass allein setzen: Wie sollen sich diese Muslime stattdes- Gottes Herrschaft und Gesetz gelten müssten, sen verhalten? Muslimen, die sich für ein dau- was die Ablehnung demokratischer Syste- erhaftes Leben außerhalb islamisch geprägter me mit sich bringt. Nach diesem Verständnis Gesellschaften entscheiden, wird auferlegt, sich stellt es einen eindeutigen Verstoß gegen den von sämtlichen als unislamisch stigmatisierten tauḥīd dar, wenn man schariawidrige Verfas- politischen Systemen loszusagen. Gesetze seien sungsordnungen und Gesetze anwendet oder nur im Notfall zu akzeptieren, d. h. nur dann, jedwede Form von Demokratie akzeptiert.14 wenn man keine andere Alternative habe. In Diese Ideologie hat zur Folge, dass Muslime, diesem Zusammenhang dient das Prinzip des welche die Demokratie befürworten oder an sogenannten al-walāʾ wa-l-barāʾ („Loyalität und demokratischen Prozessen teilnehmen, für un- Lossagung“) als zentrale argumentative Grund- gläubig (kāfir) erklärt werden.15 lage. Wenngleich diese Doktrin in erster Linie theologischer Natur ist und sich vor allem auf Der Begriff kāfir („Ungläubige“) oder kufr („Un- das Verhalten gegenüber Gott, seinem Prophe- glaube“) ist ebenfalls in erster Linie theolo- ten und anderen Mitmenschen bezieht, wird gischer Natur, wird aber auch politisch inst- sie von Salafisten politisch ausgelegt und ihre rumentalisiert: Ursprünglich bezeichnet er die Umsetzung den Gläubigen zur Pflicht gemacht. Gegner des Propheten Muḥammad bzw. Men- Sie erklären die Loyalität zu westlichen – aus schen, welche die Einheit Gottes im theologi- ihrer Sicht schariawidrigen – Staatssystemen schen Sinne oder grundlegende Prinzipien des für verboten, da nur Gott allein das Recht auf Gesetzgebung zustehe. Jegliche Form von Demokratie oder Rechtsstaat wird, weil sie

politische Partizipation im Westen und der diesbe- dieser Grundidee widerspricht, als unislamisch zügliche Rechtsspruch des Islam. 1423 / 2002, URL: betrachtet, und die Lossagung von diesen http://www.hizb-ut-tahrir.info/info/files/German/ politischen Systemen wird propagiert. Musli- Books/die_politische_partizipation_im_westen. me, die ein Mehrparteiensystem befürworten pdf [eingesehen am 03.01.2018]., S. 10 f. u. S. 38. oder sich in diesem engagieren, machen sich 14 Siehe ausführlich dazu Farschid, Olaf: Salafis- gemäß dieser Meinung unzulässiger Loyalität mus als politische Ideologie, in: Said / Fouad: gegenüber politischen Führern schuldig und Salafismus, S. 160–193, hier S. 168 f. seien somit keine wahren Muslime. Was die

15 Vgl. ebd., S. 172 f., URL: https://www.youtu- Menschen verbinde, sei weder das Blut noch be.com/watch?v=7O0FiY8vDig sowie ht- tps://www.youtube.com/watch?v=YMde- GenYIpk [eingesehen am 27.12.2017]. 16 Vgl. Farschid: Salafismus, S. 170.

52 Mahmud El-Wereny | Wahlen und Demokratie versus Scharia? die Schwägerschaft noch das Land noch die der Kandidat nicht muslimischen Glaubens sei. Heimat noch die Sprache, sondern allein der Von diesem Wege erhofft man sich, ein posi- Glaube. Gestützt darauf erachten Salafisten tives Bild des Islams zu vermitteln und dessen es als Pflicht eines jeden Muslims, einerseits Kompatibilität mit den Werten und Gesetzen gegenüber Gott, seinem Gesandten und den der Mehrheitsgesellschaft zu verdeutlichen.19 muslimischen Gläubigen bedingungslos loyal Anderen Intellektuellen wie etwa dem Schwei- zu sein und sich andererseits von allen nicht zer Islamwissenschaftler Tariq Ramadan geht durch die Scharia legitimierten Staatsformen es nicht allein um den Nutzen der Muslime. sowie – auf sozialer Ebene – von privaten Nach seinem Verständnis sollten sich Muslime Kontakten mit Nicht-Muslimen loszusagen.17 am politischen Leben und Debatten konst- ruktiv beteiligen, und zwar aus einem Gefühl Im Gegensatz zu den Salafisten propagieren der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft viele andere zeitgenössische Autoren und heraus. Dazu schreibt er: Rechtsgelehrte, die oft dem islamistischen „Europäer muslimischen Glaubens haben ent- Spektrum zugeordnet werden,18 die Teilnah- sprechend jener Prinzipien zu wählen, denen me von Muslimen am politischen Leben im sie nach Gewissen und Verstand verpflichtet Westen. Eine solche Partizipation wird von sind, und nicht nach Kriterien ethnischer oder ihnen nicht nur als erwünscht, sondern sogar religiöser Identität […]. Der muslimische Glaube als geboten verstanden. Dabei geht es aller- verpflichtet unser Gewissen und die demokrati- dings weder darum, sich zu den demokrati- sche Vernunft gebietet unserem Verstand, dass die Entscheidung bei Wahlen nach der Aufrich- schen Prozessen in der Gesellschaft in Gänze tigkeit und Kompetenz des Kandidaten getroffen zu bekennen, noch darum, aktiv im Dienste werden, ob er nun Muslim ist oder nicht.“20 der gesamten Gesellschaft zu wirken. Vielmehr wird das Hauptaugenmerk auf die Muslime im Westen gerichtet und auf die Frage, wie man durch den Gebrauch des Wahlrechts und ande- Fazit re Aktivitäten den Nutzen für die muslimische Bevölkerung mehren kann. Nach dieser Auffas- Dreh- und Angelpunkt der politischen Ideolo- sung sollen Muslime ihre Stimmen nutzen, um gie der Salafisten ist dieḥākimīyat Allāh, die gesellschaftliche und politische Entscheidun- absolute Herrschaft Gottes. Dabei gelten der gen im Dienste der muslimischen Minderheiten Koran und die Sunna als allumfassende Gesell- herbeizuführen. Mit politischem Aktivismus ist schaftsordnung, ungeachtet des zeitlichen oder nicht nur die Stimmabgabe gemeint, sondern örtlichen Kontextes. Jedwede Ordnung und auch die Bildung politischer Parteien, die jedwedes Recht, die durch Menschen in poli- Mitgliedschaft in diesen sowie die Kandidatur tischen Prozessen herbeigeführt wurden, sind für politische Ämter. Muslime dürften zudem, für Salafisten null und nichtig, Demokratie und wenn dies im Nutzen der Muslime liege, Wah- len und Kampagnen finanzieren, auch wenn

19 Vgl. al- ʿUṯaimīn: „Ḥukm al-mušārka fī l-intiḫābāt“, URL: https://www.youtube.com/watch?v=u7hgfceIjb4; 17 Vgl. dazu Wagemakers: Salafistische Strömungen, ähnlich URL: http://www.alukah.net/sharia/0/98042/, S. 50 ff. sowie URL: https://islamfatwa.de/sozia- in englischer Sprache unter https://islamqa.info/ le-angelegenheiten/150-muslime-in-nicht-mus- en/111898 sowie https://www.youtube.com/watch?- limischen-laendern/760-gerichtsverfah- v=cDOeGIR3Lew [eingesehen am 27.12.2017]. ren-vor-kuffar- [eingesehen am 23.12.2017]. 20 Siehe statt vieler Ramadan, Tariq: Muslim- 18 Vgl. z. B. Wendelin Wenzel-Teuber: Islamische sein in Europa. Untersuchung der islami- Ethik und moderne Gesellschaft im Islamis- schen Quellen im europäischen Kontext, Köln mus von Yusuf al-Qaradawi, Hamburg 2005. 2001 und El-Wereny: Normenlehre, S. 221 ff.

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Wahlen werden abgelehnt. Zuwiderhandlungen Vielmehr sei es die Aufgabe der Menschen, gelten als Verstoß gegen die Allmacht und sich selbst je nach zeitlichen und örtlichen die Autorität Gottes. Allein die Teilnahme an Umständen eine Verfassung und Gesetze zu einer freien Wahl wird als Abfall vom Glauben geben. (kufr) verstanden und mit Polytheismus (širk) gleichgesetzt. Die salafistische Ideologie basiert Um die von Sicherheitsbehörden aufgestellte auf einer rigiden, buchstabengetreuen Inter- These, salafistische Internetangebote stellten pretation der Quellentexte ohne Rücksicht auf einen Weg zur islamistischen Radikalisierung die Lebensumstände oder historische Entwick- junger Menschen dar, zu verifizieren oder zu lungen. Während ein Großteil der Salafisten der falsifizieren, braucht es einerseits empirische Beteiligung an Wahlen oder an demokratischen Forschung, die der Frage nachgeht, ob und Systemen ablehnend gegenüber steht, urteilen inwieweit im Internet verbreitete salafistische viele andere Autoren, die dem islamistischen Propaganda von Muslimen in Deutschland Spektrum zuzuordnen sind, dass man wählen rezipiert wird. Dabei wäre es geboten, die der gehen solle, um das kleinste Übel zu wählen Radikalisierung zugrunde liegenden Inhalte, die und den Muslimen im Westen einen Vorteil Prädispositionen der jungen Menschen und zu verschaffen. Wiederum andere muslimische deren gesellschaftlich-objektive Bedingungen zeitgenössische Theologen und Intellektuelle zu hinterfragen. Andererseits bedarf es auch vertreten die Auffassung, dass sich Muslime der Debatte über den Begriff der „Radikalisie- des Westens in die Aufnahmegesellschaft in- rung“. Versteht man unter Radikalisierung die tegrieren und an den politischen Debatten des Beeinflussung mittels demokratiefeindlicher Landes beteiligen sollten. Sie sind der Ansicht, Darstellungen und Meinungen, können sala- dass Gott keine holistische, absolute Gesell- fistische Internetangebote, wie oben gezeigt, schaftsordnung vorherbestimmt habe. durchaus als Quelle islamistischer Radikali- sierung bewertet werden. Versteht man unter Radikalisierung die Förderung gewaltbefürwor- tender Auffassungen sowie den Aufruf zur Ver- übung terroristischer Anschläge zur Durchset- zung der göttlichen Ordnung, kann dies nicht pauschal bestätigt werden. Als gewaltbereit sind ohne weitere Überprüfung lediglich die salafistischen Dschihadisten einzustufen. Um dies in Bezug auf andere salafistische Gruppen zu prüfen, wird eine ausführliche Auseinander- setzung mit ihren Ansichten zur Gewaltanwen- dung vonnöten sein. Dr. Mahmud El-Wereny, geb. 1984, ist seit 2017 wissenschaftlicher Mitar- beiter der Forschungsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersachsen am Institut für Demokratieforschung der Universität Göttingen. Er lehrt und forscht zu folgenden Schwerpunkten: Politischer Islam, Salafis- mus, islamisches Recht und schiitischer Islam.

54 Vom Neonazi zum Muǧāhid

Der Fall des „Northeimer Salafisten“ Sascha L. und die Parallelen zwischen dschihadistischem und rechtsradikalem Extremismus

Annemieke Munderloh

errorverdächtiger festge- noch unklar ist, ob Sascha L. Teil eines Terror- nommen! – Sascha L. (26) netzwerkes sein könnte. Das Gerichtsverfahren wollte Polizisten in die über die Anklage wegen der „Vorbereitung Luft sprengen“1, prangt es einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat am 23. Februar 2017 in der und Verstoß gegen das Sprengstoffgesetz“3 BILD-Zeitung. Zwei Tage erstreckte sich vom 20. September bis zum zuvor war L. in Northeim 18. Dezember 2017 über insgesamt 14 Prozess- verhaftet worden. Schon tage. Seinen drei Mitangeklagten wird „Beihilfe wird von der „Salafisten-Hochburg Niedersach- sen“2 gesprochen, obwohl zu diesem Zeitpunkt

„T lafisten-hochburg-niedersachsen-50584724. bild.html [eingesehen am 31.01.2018]. 1 Keim, K. / Tunnat, F, in: BILD Zeitung, URL: http:// 3 O. V.: Verhandlung über Anklage wegen Vor- www.bild.de/news/inland/festnahme/sascha-l- bereitung einer schweren staatsgefährdenden wollte-polizisten-in-die-luft-sprengen-50575676. Gewalttat, in: Landgericht Braunschweig, URL: bild.html [eingesehen am 31.01.2018]. https://www.landgericht-braunschweig.nie- 2 O. V.: Nach Festnahme von Sascha L. (26) in dersachsen.de/aktuelles/presseinformationen/ Northeim. Salafisten-Hochburg Niedersach- verhandlung-ueber-anklage-wegen-vorberei- sen, in: BILD Zeitung, URL: http://www.bild.de/ tung-einer-schweren-staatsgefaehrdenden-ge- regional/hannover/festnahme/in-northeim-sa- walttat-157184.html [eingesehen am 31.01.2018].

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zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Ge- Und so entsteht ein Bild von Sascha L.: Ein walttat in Tateinheit mit unerlaubten Umgang ehemaliger Neonazi aus Berlin-Neukölln, mit explosionsgefährlichen Stoffen“4 vorgewor- mehrmals vorbestraft, Vater zweier Kinder aus fen. Etwa dreißig Zeugen wurden gehört, mehr zwei gescheiterten Beziehungen und ohne Sor- als 3.100 Seiten Akten gefüllt. gerecht, nach eigenen Angaben 2014 zum Islam konvertiert, nun angeklagt, weil er im Namen Die Anhörung findet im Schwurgerichtssaal des Allahs einen Anschlag auf deutsche Staatsdie- Landgerichts Braunschweig statt. Zu Beginn ner geplant habe. des Verhandlungstages öffnet sich die Tür hinten rechts im Raum, Richter und Schöffen Bis zu seiner Konversion verbreitete er noch treten ein und das Geräusch von Hand- und als „Peter Unsterblich“ mit der rechtsextremen Fußketten verrät das Herannahen der Ange- Szene verbundene Inhalte über diverse Profile klagten. Nur Wladislav S. (21) betritt den Raum auf YouTube und Facebook. Seine Ex-Freundin durch den Besuchereingang, zumindest zu und Mutter seines Sohnes sagt aus, dass sie Beginn des Prozesses. Etwa zur Hälfte des ihn damals – etwa 2013 – „als Nationalsozia- Strafverfahrens werden die beiden Mitangeklag- listen“5 über das Internet kennengelernt habe. ten Masie S. (27) und Alpaslan Ü. (27) aus der Aufgrund seines wachsenden Interesses am Untersuchungshaft entlassen, da sich aus der Islam habe er versucht, sie und ihre gemeinsa- Hauptverhandlung kein dringender Tatverdacht men Szenefreunde davon zu überzeugen, dass ergeben hatte und sie zu diesem Zeitpunkt der „Islam zum Nationalsozialismus gehört“6. bereits mehr als sieben Monate in der JVA Das sei aber „nicht gut angekommen“7, wes- verbracht haben. Sascha L. und Masie S. sitzen halb er sich nach und nach selbst aus dem an der rechten Seite des Raumes, hinter ihnen Freundeskreis ausgeschlossen habe. Weiter eine schwarze Wand aus Sicherheitsbeamten sagt sie: „Es war nicht mehr möglich, zu ihm in voller Montur. Alpaslan Ü. und Wladislav S. durchzukommen, da war er komplett dicht“ 8. Er sitzen den Richtern zugewandt, neben jedem habe sich viel über Videos bekannter Prediger der vier ein Anwalt. wie Pierre Vogel oder „Abu Walaa“ – dessen Prozess zeitgleich mit L.s Verhandlung vor dem In erster Linie werden Polizeibeamte in den Oberlandesgericht in Celle stattfindet9 – infor- Zeugenstand gerufen, die an dem Untersu- miert, Bücher über den Islam gelesen und „mit chungsverfahren beteiligt gewesen sind. Ihre Muslimen geskyped“10. Den Ermittlern blieb Berichterstattung bezüglich der Fundsachen, aber unbekannt, ob er regelmäßig eine Mo- der Ermittlungen und der gezogenen Schlüsse schee besucht oder auch nur gemeinsam mit fällt fast immer deckungsgleich aus. Deut- anderen Muslimen gebetet habe; von einem lich interessanter für den Beobachter sind lokalen Netzwerk könne also nach derzeitigem Aussagen von Familienangehörigen, Bewäh- Kenntnisstand nicht die Rede sein. rungshelfern und Sozialarbeitern. Natürlich auf die Natur des Verfahrens zugeschnitten und dadurch notwendig unvollständig, geben sie aufschlussreiche Einblicke in das Leben und 5 Aussage vom 8. Prozesstag, 20.11.2017. den Charakter der Angeklagten – Informatio- nen, die Forschern und der Öffentlichkeit sonst 6 Ebd. kaum zugänglich sind. 7 Ebd.

8 Ebd.

9 Siehe dazu den Beitrag von Lino Klevesath in diesem Heft.

4 Ebd. 10 Aussage vom 8. Prozesstag, 20.11.2017.

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L. berichtet, dass er sich innerhalb von zwei Der Vater habe seine Mutter geschlagen (auch Wochen über YouTube-Kurse Arabisch beige- L.s Vorstrafe erfolgte wegen Körperverletzung bracht habe, zunächst, um anāšīd11 (Anaschid) gegen seine damals schwangere Freundin). zu verstehen, dann, um den Qur ʾān (Koran) Noch während der Schulzeit zog er in einer Ju- lesen zu können. Rasch hatte er Administ- gend-WG mit „anderen Problemfällen“14 zusam- rator-Positionen in diversen muslimischen men, schmiss die Realschule und wurde mit Facebook-Gruppen inne, u. a. in einer On- 19 Jahren zum ersten Mal Vater. line-Heiratsvermittlung. L. scheint im Islam einen Weg gefunden zu haben, seine Autorität Im Juli 2016 fiel L. der Polizei erstmals als ra- unter Beweis stellen zu können, indem er im dikaler Konvertit auf. Er habe ein Video geteilt, Netz selbstbewusst Fragen zum Koran beant- auf dem die Fahne des „Islamischen Staates“ wortet und sich in der Position sieht, andere (IS) zu sehen war, und musste eine Geldstrafe gläubige Muslime bezüglich ihrer Lebensweisen zahlen. In diesem Ermittlungszusammenhang zu belehren. So bekam ein Mädchen, das im wurde L.s Wohnung in Northeim durchsucht Prozessverlauf auch als Zeugin gehört wurde, und sein PC samt Handy konfisziert. Beides von ihm zu hören, sie sei eine „Schlampe“12, habe er allerdings nach kurzer Zeit wiederbe- da sie kein Kopftuch trage. Hier, wie auch kommen. Es sei (noch) nichts Auffälliges gefun- in vielen anderen Momenten des Prozesses, den worden, was auf eine dschihadistische wird das starke Geltungsbedürfnis Sascha L.s Radikalisierung schließen lassen würde; auf deutlich. Es könnte ein Versuch sein, sich von dem PC habe sich neben „islamischer Musik“15 der Masse abzuheben, seine Position in der vordergründig grenzwertiges rechtsextremis- Gesellschaft (scheinbar) aufzubessern und tisches Gedankengut befunden. L. sagt aus, Handlungsmacht zurückzugewinnen; ob nun dass ihn diese Durchsuchung und das Einbe- einstmals mithilfe seines – recht gut frequen- halten seiner elektronischen Geräte von der tierten13 – rechtsgerichteten YouTube-Kanals „Ungerechtigkeit“16 des deutschen Justizwesens oder später dann als vermeintlicher Kopf überzeugt hätten und er sich deswegen zuneh- hinter den Anschlagsplänen der Gruppe. Denn mend radikalisiert habe; man habe hier, statt seine virtuelle Selbstpräsentation steht im das Gespräch mit ihm zu suchen, „mit Kano- Kontrast zu seinem bislang eher erfolglosen nen auf Spatzen“17 geschossen. Lebensweg: Seine Bewährungshelferin aus einer früheren Vorstrafe berichtet von L.s Ver- Endgültig aufhorchen ließ die Polizei L.s Ver- gangenheit mit Drogenkonsum, Depressionen, halten Anfang 2017. Er habe bei einer interna- Essstörungen, längeren Phasen der Arbeits- tionalen Hilfsorganisation mehrmals angefragt, losigkeit, zwischenzeitlicher Unterbringung in ob sie ihm beim Vollzug der hiǧra18 (Hidschra) Obdachlosenunterkünften und hohen Schulden.

14 Aussage vom 10. Prozesstag, 04.12.2017. 11 Ursprünglich religiös-islamische Gesänge, in der 15 Aussage vom 4. Prozesstag, 06.11.2017. Regel auf Arabisch vorgetragen, inzwischen belieb- tes, verschiedensprachiges Stilmittel in dschiha- 16 Aussage vom 3. Prozesstag, 18.10.2017. distischen Propagandavideos; vgl. Said, Benham: 17 Aussage vom 4. Prozesstag, 06.11.2017. Hymns (Nasheeds). A Contribution to the Study of the Jihadist Culture, in: Studies in Conflict & 18 Historisch beschreibt hiǧra die Emigration des Pro- Terrorism, Jg. 35 (2012), H. 12, S. 863–879, hier S. 864. pheten Mohammed von Mekka nach Medina, heute ist damit meist die Ausreise in ein muslimisches 12 Aussage vom 10. Prozesstag, 04.12.2017. „Herrschaftsgebiet“ (dār al-islām) gemeint, die einige 13 Seine Videos haben zwischen 800 und Gelehrte als Pflicht für Muslime betrachten, die auf 6.800 Klicks (URL: https://www.youtube.com/ nicht-islamischem Territorium (dār al-ḥarb) leben; channel/UC4LTSClO8XmRJ8WCgisEAbA). vgl. Tottoli, Roberto: Dār al-islām / dār al-ḥarb

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behilfl ich sein könnte. Er wolle in Syrien oder im Irak humanitäre Hilfe leisten und als gläu- biger Muslim unter der šarīʿa (Scharia) leben. Ab diesem Zeitpunkt wurde eine Kommunika- tionsüberwachung eingerichtet. Nachdem ein Telefonat L.s mit einem Elektroniklieferanten über den richtigen Zusammenbau eines Fern- zünders abgehört worden war und die Post die Ermittler über die Lieferung einer Lichterkette benachrichtigt hatte, welche sich Spezialis- ten zufolge als Auslöser für den Zünder eigne, wurde L.s Wohnung am 21. Februar 2017 erneut durchsucht. Als tatsächlich mehrere Bestand- teile für den Bau einer TATP-Bombe19 gefunden wurden, erfolgte schließlich der Haftbefehl und L. wurde auf die Polizeistation Northeim-Os- terode gebracht. Bei der anschließenden ersten Beschuldigtenvernehmung habe der Ange- klagte umfassend ausgesagt, was sich mil- dernd auf sein Strafmaß ausgewirkt habe. Er habe von einer Probesprengung Anfang Januar berichtet, von der später noch ein Amateurvi- deo (gefi lmt vom Mitangeklagten Wladislav S.) auf seinem Handy gefunden werden wird. Laut eines Beamten der Kriminalpolizei habe L. überzeugend Reue gezeigt und ausgesagt, dass er schon vor seiner Verhaftung Abstand von seinen Anschlagsplänen genommen habe, viel- mehr Hilfe beim Ausstieg aus der Szene suche. Jedoch: Das Bild des verlorenen Sohnes beginnt während des Prozesses zu bröckeln, die Kam- mer wird seine angebliche Distanzierung vom IS bei der Urteilsverkündung schließlich als „nicht glaubhaft“20 bewerten.

in the Tafsīr by Ibn Jarīr al-Ṭabarī and in Early Traditions, in: Lancioni, Giuliano / Calasso, Giovanna (Hrsg.): Dār al-islām / dār al-ḥarb. Territories, Peo- Bild: Arne L. Gellrich / „Prozess Sascha L.“ ple, Identities, Boston 2017, S. 108–124, hier S. 108 ff.

19 Triacetontriperoxid hat laut einem im Prozessver- lauf befragten Sprengstoffexperten etwa sechzig Prozent der Sprengkraft von TNT. Die Materi- albeschaffung ist vergleichsweise einfach, die Herstellung für Laien jedoch umso riskanter.

20 Aussage vom 14. Prozesstag, 18.12.2017.

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Bis zu seiner Inhaftierung ging es den Er- Facebook-Gruppe kennengelernt, später mit mittlern nur um Sascha L. Doch im April 2017 ihm privat über den Messengerdienst Telegram meldet sich der 15-jährige Alan B., dessen Bru- – laut L. ein sichereres Kommunikationsme- der 2016 an dem dschihadistisch motivierten dium – über den Islam gesprochen und einen Anschlag auf den Sikh-Tempel in Essen betei- Gleichgesinnten in ihm gefunden. Es habe eine ligt war, beim Staatsschutz in Bielefeld. Er sagt von L. geleitete Telegram-Gruppe existiert, in aus, dass er Mitwisser des von L. geplanten der auch die Mitangeklagten gewesen seien Bombenangriffs sei. Er habe L. 2016 in einer und in der über die Anschlagspläne diskutiert

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worden sei. Wenige Tage nach B.s Aussage mit einer zunehmenden Verrohung der Ge- wurden Alpaslan Ü. (Köln) und Masie S. (Bünde) folgschaft und Entmenschlichung des erklärten verhaftet, Ende des Monats folgte der Haftbe- Feindes einhergehe.24 Es könne bei ersteren fehl gegen Wladislav S. (Katlenburg-Lindau). fast von einer künstlerischen Inszenierung der Gewalt, einer Ästhetisierung des Todes, Nun sitzen die vier nebeneinander auf der An- die Rede sein. Vergleichbare rechte „politi- klagebank. Wladislav S. fällt nicht nur aufgrund sche Ästhetik“25 wiederum, wie es sie bspw. seines Aussehens gleich am zweiten Prozess- im Nationalsozialismus gab, drücke sich heute tag aus der Reihe. Den nationalsozialistischen vor allem in szenetypischer Musik aus26 – die Chefideologen Alfred Rosenberg zitierend und auch auf L.s PC gefunden wurde. Sascha L. darüber seinen tiefgreifenden Antisemitis- plante seinen Anschlag als inszenierten Propa- mus erklärend, stellt sich S. als „bekennender ganda-Akt, der für zukünftige IS-Werbevideos Nationalsozialist“21 vor – sein Verteidigungs- aufwendig gefilmt werden und somit weit über argument, warum er rein ideologisch betrach- seine lokale Wirkung hinausgehen sollte. In tet kein Interesse an einem dschihadistisch einer Audiodatei an seinen Mitangeklagten Al- geprägten Anschlag gehabt haben könnte. Er paslan Ü. klingt er mehr als euphorisch, wenn kenne Sascha L. noch aus früheren „politischen er davon spricht, dass er sich auf den An- Projekten“ und habe zwischenzeitlich bei ihm schlag freue, „wie ein Kind auf Weihnachten“27. gewohnt, das sei alles. Doch vielleicht ist die Er lacht auf bei der Vorstellung, Polizisten in Sascha L. gegebene und von Wladislav S. durch das Attentat in Angst und Schrecken zu so selbstverständlich abgelehnte Vermischung versetzen, und fabuliert über mögliche stylishe von Ideologieelementen des Nationalsozialis- Outfits, die „Angst in ihre Herzen“28 bringen mus und des dschihadistischen Islamismus würden. Der Gedanke an die auf den Anschlag gar nicht so ungewöhnlich, wie sie auf den folgende Medienberühmtheit lässt keinen Platz ersten Blick scheinen mag. Eine Frage, die sich für Mitleid mit den Opfern, die zuvor als „Un- – blickt man auf seine vom Richter verlese- gläubige“29 klassifiziert worden sind und somit nen Google-Suchanfragen – auch Wladislav S. ohnehin als unterlegen gelten. gestellt haben könnte, suchte dieser doch etwa nach „Nazis und Muslime“ oder „NS und IS“22. Auch verlange es beiden Bewegungen nach ei- ner charismatischen, starken Führerfigur an der Auch in der Wissenschaft wird seit einigen Spitze einer neuen Elite, die ihre Interessen Jahren über die Verbindung von dschihadis- vereine und die (quasi-)religiöse Gefolgschaft tischem Islamismus und Rechtsextremismus diskutiert. Parallelen zwischen den beiden Bewegungen lassen sich grob in drei Kategori- vgl. auch Jaschke, Hans-Gerd: Rechtsextremis- en einteilen: Merkmale der Ideologie, Ausprä- mus und Fremdenfeindlichkeit. Begriffe – Posi- gungen ihres Feindbildes und Art und Weise tionen – Praxisfelder, Wiesbaden 2001, S. 83. der Rechtfertigung ihrer Taten. Sowohl beim IS als auch bei Rechtsextremisten lasse sich ein 24 Vgl. Charters, David A.: Something Old, Something New …? Al Qaeda, Jihadism, and , in: regelrechter „Kult der Gewalt“23 feststellen, der Terrorism and Political Violence, Jg. 19 (2007), H. 1, S. 65–93, hier S. 81; Priester, S. 248 ff.

25 Jaschke, S. 82 f. 21 Aussage vom 2. Prozesstag, 12.10.2017. 26 Vgl. ebd. 22 Ebd. 27 Aussage vom 7. Prozesstag, 15.11.2017. 23 Vgl. Priester, Karin: Warum Europäer in den Heiligen 28 Aussage vom 10. Prozesstag, 04.12.2017. Krieg ziehen. Der Dschihadismus als rechtsra- dikale Jugendbewegung, Frankfurt 2017, S. 255; 29 Aussage vom 2. Prozesstag, 12.10.2017.

60 Annemieke Munderloh | Vom Neonazi zum Muǧāhid in Form einer militarisierten Massenbewegung eine ausgeprägte Ablehnung von Demokratie in eine neue Ordnung führe.30 L. selbst hat und Liberalismus aus, jene Werte, für die „der den Treueschwur des IS abgelegt und dessen Westen“ sinnbildlich steht.33 L. wollte Deutsch- Anführer Abu Bakr al-Baghdadi als Kalifen land – dem „Willkürstaat“, dem „satanischen anerkannt. Er spricht in einer weiteren Audio- System“34 – den Rücken kehren, um unter der aufnahme davon, dass alle Muslime, die diesen Scharia zu leben, obwohl es ihm nach eige- Eid nicht leisteten, ebenso abzuschlachten nen Angaben nicht um eine Islamisierung seien wie die „Ungläubigen“. Europas gegangen sei. Verachtung von Moder- nismus, Amerikanismus und auch Zionismus Hinzu kämen Helden- und Märtyrermythen einen darüber hinaus die beiden Bewegun- und eine damit einhergehende Verherrlichung gen, insbesondere der für alle Komponenten des Todes. Die Affinität des Rechtsextremis- sinnbildlich stehende gemeinsame ‚Feind‘, die mus zu nordischen Riten und eine helden- USA. Dschihadisten schreiben ihnen und ihrem hafte Verehrung „des Führers“ sind bekannt. Neokolonialismus die derzeitige missliche Lage Und wenn sich einerseits der Todeskult bei der Muslime weltweit zu; in der rechtsextre- dschihadistischen Islamisten in einer gewis- men Szene stehen die Vereinigten Staaten für sen Todessehnsucht durch den Einsatz von „Dekadenz, Nivellierung und Vermassung“35, Selbstmordattentätern artikuliert, so werden welche die völkische bzw. ethnische Iden- andererseits auch heute noch landesweit regel- tität zu vernichten drohten. Modernisierung mäßig Demonstrationen organisiert, die an die und Globalisierung brächten neue Normen Todestage Hitlers, Heß’ oder anderer hochran- und Werte, die nicht nur die Souveränität giger Nationalsozialisten erinnern. Beiden ist der Religion bedrohten, sondern auch die der gemein, dass ihr angestrebtes Ziel, ihre ideale Nationalstaaten.36 Antizionismus führe zu einer Welt, nur durch eine gewaltsame Revolution Solidarisierung verschiedener rechter Gruppen (wieder-)hergestellt werden kann. Das verlange mit islamistischen Bewegungen gegen den Aufopferung von ihren Anhängern, teilweise bis angeblich USA-gesteuerten „Staatsterrorismus zum Tod.31 Sascha L.s Ziel schien zwar nicht Israels“37. Am zentralsten für die dschihadisti- gewesen zu sein, selbst bei dem Anschlag zu sche Bewegung ist jedoch ein aus alldem ent- sterben, doch betont er in einer Sprachnach- springendes Gefühl der Demütigung durch den richt, die Anschläge in Deutschland solle man Westen, der den Islam in eine Krise gestürzt „feiern, denn sie [die Attentäter] sind für uns habe. Vor allem Gebietsverluste – insbeson- als Märtyrer gestorben“32. dere nach der Niederlage im Sechstagekrieg – sowie ein Gefühl der Fremdbestimmung ara- Auch in Bezug auf die Rechtfertigung gibt es bischer Regierungen spielten dabei eine Rolle. Parallelen zwischen rechtsextremistisch und Obendrein werde die als vom Westen aufge- dschihadistisch motivierten Taten. Sie zeich- nen sich zumindest nach außen hin durch 33 Vgl. Priester, S. 254 ff.; Pfahl-Traughber, S. 214.

34 Aussage vom 2. Prozesstag, 12.10.2017. 30 Vgl. Pfahl-Traughber, Armin: Ideologien des islamistischen, linken und rechten Extre- 35 Pfahl-Traughber, S. 214. mismus in Deutschland. Eine vergleichende 36 Vgl. ebd., S. 215; Dantschke, Claudia: Zwischen Betrachtung, in: Backes, Uwe / Jesse, Eck- Feindbild und Partner. Die extreme Rech- hard (Hrsg.): Gefährdungen der Freiheit. Extre- te und der Islamismus, in: Braun, Stephan mistische Ideologien im Vergleich, Göttingen et al. (Hrsg.): Strategien der extremen Rech- 2006, S. 205–222, hier S. 211; Priester, S. 249. ten. Hintergründe – Analysen – Antworten, 31 Vgl. Priester, S. 255 sowie S. 271 f. Wiesbaden 2009, S. 440–460, hier S. 446.

32 Aussage vom 6. Prozesstag, 13.11.2017. 37 Dantschke, S. 446.

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drängt empfundene Säkularisierung in arabi- Ende gebe es immer genügend Beweise, die schen Ländern als Angriff auf die Grundfesten seine Schuld belegten, egal, ob er nun schuldig des islamischen Glaubens verstanden: die über sei oder nicht. „Der Jude“ hat als Figur eine dem Staat stehende Religion.38 Radikalisierte lange Tradition der Personalisierung als Draht- hierzulande spürten aufgrund ihrer Verbunden- zieher hinter abstrakten Herrschaftsprozessen heit zum Islam diese Demütigung, als wäre sie und wird von Dschihadisten und Rechtsra- ihnen persönlich widerfahren.39 In der globalen dikalen aus zweierlei Gründen verachtet: als „Neo-Umma“40 entstehe ein Hass auf westliche Vertreter einer als minderwertig klassifizierten Strukturen und Staatsdiener, der oft durch per- Bevölkerungsgruppe, aber gleichzeitig auch als sönliche negative Erfahrungen mit Vertretern übermächtiger Feind, der im Weltgeschehen des Staates unterstrichen werde, wie auch im scheinbar überall seine Finger im Spiel habe.45 Falle Sascha L.s. Daraus entstehe der Wunsch nach Rache, befeuert durch die vielzähligen Ein fundamentaler Gegensatz beider Ideologien Demütigungen, die Muslimen – tatsächlich bleibt zwar vermeintlich unvereinbar, verläuft oder wahrgenommen – andernorts widerfahren im Grunde jedoch in ähnlichen Bahnen: die sei. Die Opferrolle, in die sich beide Bewegun- jeweilige Rechtfertigung der Überlegenheit gen durch empfundene Erniedrigungen und der eigenen Ingroup. Auf der einen Seite die Souveränitätsbeschneidungen gedrängt fühl- „Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit“46, ten, eigne sich wiederum hervorragend, um gekennzeichnet durch eine empfundene Präva- ihre Anhänger davon zu überzeugen, dass im lenz der eigenen Rasse, die alle Außenstehen- Kampf gegen ihre Feinde alle Mittel erlaubt den zu Minderwertigen bestimme und einen seien.41 Wechsel vom Dschihadismus zum Rechtsextre- mismus zumindest für gebürtige Muslime auf- Konkret wird der Hass in seiner Manifestie- grund ihrer Herkunft quasi unmöglich mache; rung im Antisemitismus und in Verbindung auf der anderen Seite die Superiorität durch mit Verschwörungstheorien insbesondere in den vermeintlich „wahren Glauben“ und damit Bezug auf Juden.42 Laut L.s Aussagen seien die Zugehörigkeit zur Umma (muslimische alle Staatsvertreter „Judendiener“43, dem ge- Gemeinschaft), die alle Außenstehenden als samten Rechtssystem in Deutschland sei nicht kuffār (Ungläubige) diffamiere47 – den Seiten- zu trauen, selbst im laufenden Prozess würden wechsel eines vormals rechtsradikalen „Her- „Inhalte [seiner Aussagen] verdreht“44 und am kunftsdeutschen“48 durch Konversion jedoch nicht ausschließe.

38 Vgl. Charters, S. 70. Sascha L.s Wandlung vom Neonazi zum 39 Vgl. Khosrokhavar, Farhad: Radika- Dschihadisten ist zwar für den Forscher lisierung, Bonn 2016, S. 52. faszinierend, war für den Prozess und die

40 Neuartige, radikalislamistische Idee einer Gemein- Urteilsfindung allerdings nur am Rande von schaft aus muslimischen Gläubigen, die nicht Bedeutung. L. wird zu einer Haftstrafe von drei mehr nur auf lokaler / nationaler Ebene solidari- Jahren und drei Monaten verurteilt, Alpaslan siert, sondern alle Muslime weltweit umfasst und Ü.s einjährige Haftstrafe wird zur Bewäh- ihren historischen Ursprung in den salaf sieht, den Gefährten des Propheten (Khosrokhavar, S. 27).

41 Vgl. ebd., S. 52; Pfahl-Traughber, S. 215. 45 Vgl. Pfahl-Traughber, S. 206 f.; Dantsch- ke, S. 447; Priester, 2017, S. 272 ff. 42 Vgl. Pfahl-Traughber, S. 206 f.; Char- ters, S. 78; Dantschke, S. 447. 46 Pfahl-Traughber, S. 212 f.

43 Aussage vom 4. Prozesstag, 06.11.2017. 47 Ebd., S. 219 f.

44 Aussage vom 2. Prozesstag, 12.10.2017. 48 Dantschke, S. 442.

62 Annemieke Munderloh | Vom Neonazi zum Muǧāhid rung ausgesetzt, Wladislav S. werden hundert für Radikalisierer. Aus dem, was im Prozess Arbeitsstunden verordnet und Masie S. wird deutlich wurde, hätte L. Potenzial zu beidem. freigesprochen. Doch irgendwie fühlt sich das Sein Geltungsbedürfnis könnte ihn zu Erste- Ganze mit der Urteilsverkündung nicht wie rem machen, seine schon zuvor auftretenden abgeschlossen an. Es stellt sich die Frage, was psychischen Probleme könnten zu Letzterem nun folgt. Setzt Sascha L. im Gefängnis seine führen. Obwohl es in deutschen Gefängnissen schon vorweg eifrig bekundete Distanzierung immer mehr Deradikalisierungsprogramme gibt vom IS fort oder radikalisiert er sich vielmehr und eine größer werdende Zahl an Imamen weiter? Noch während des Prozessverlaufs als Gefängnisgeistliche eingesetzt werden, wird Sascha L. ermahnt, weil er eine selbstge- scheint ihre Anzahl aber dennoch zu gering. malte IS-Flagge an seine Zellenwand gehängt Das erleichtere Radikalisierern, sich als selbst- hat; ein Polizeihauptkommissar erzählt im erklärte geistige Führer zu etablieren und die Zeugenstand, L. werde in der Justizvollzugsan- „Sakralisierung des Hasses“53 mit ihren eigenen stalt von anderen Muslimen nur als „Bruder“ Qur ʾān-Auslegungen voranzutreiben. Trotz viel- angesprochen und gelte „als König“, wahr- versprechender Modellprojekte zur Deradikali- scheinlich „weil er was vorbereitet hat, das sie sierung und Radikalisierungsprävention sowie als achtenswert betrachten“.49 Und: Würde es neuer pädagogischer Ansätze, Programme und überhaupt einen Unterschied machen, wenn er Multiplikatorenschulungen, wie z. B. das „Vio- doch entweder zu Unrecht beschuldigt wurde, lence Prevention Network“, ist das Gefängnis sich nicht ausreichend distanziert zu haben, – und das ist am Ende des Prozesses gewiss – und durch diese erneute Ungerechtigkeit nun mitnichten ein Ort für eine garantierte Abkehr ein vielleicht viel größeres Radikalisierungs- vom Extremen. potenzial in sich trägt – oder er sich eben tatsächlich nicht vom IS und seinen Plänen abgewandt hat und mögliche Radikalisierungs- 53 Ebd., S. 192. versuche somit auf fruchtbaren Boden fallen?

Denn: Gefängnisse gelten auch in Deutschland als Orte der Radikalisierung. Farhad Khosrok- havar beschreibt sie als „Zwangsgemeinschaft verurteilter oder auf das Urteil wartender Individuen […], die oft ein gespanntes Verhält- nis zur Gesellschaft haben und unter sozialer Frustration, wirtschaftlicher Exklusion oder kultureller Stigmatisierung leiden“50 und den Islam, der zur „Religion der Unterdrückten“51 geworden sei, als möglichen Halt sehen. Er unterscheidet im Gefängnis zwei Typen: die „Radikalisierer“ und die „Radikalisierten“52. Annemieke Munderloh, Letztere seien häufig durch ihre im Gefängnis geb. 1994 in Münster, stu- verstärkte psychische Labilität ein leichtes Ziel diert im Bachelor Politik- wissenschaft und Soziologie an der Universität Göttin- gen. Seit 2017 arbeitet sie 49 Aussage vom 4. Prozesstag, 06.11.2017. als studentische Hilfskraft 50 Khosrokhavar, S. 183. am Göttinger Institut für Demokratieforschung und 51 Ebd., S. 185. am Methodenzentrum 52 Ebd., S. 183. Sozialwissenschaften.

63 IS vor Gericht

Der Prozess gegen das Netzwerk um ‚Abu Walaa‘ am Oberlandesgericht (OLG) Celle

Lino Klevesath

Einleitung dass die Allerstadt nun schon seit mehreren Monaten an jedem Dienstag und Mittwoch ei- wischen Celler Bahnhof ner Festung gleicht, liegt allerdings schon mehr und Innenstadt rast an als ein Jahr zurück. einem Dienstagmorgen im Herbst 2017 eine Kolonne Am 8. November 2016 vermeldeten die über- aus Polizeiwagen mit ho- regionalen Medien einen Erfolg im Kampf der her Geschwindigkeit und Sicherheitsbehörden gegen die dschihadis- Blaulicht die Straße entlang. tischen Strukturen in Deutschland: Mit der Durch den pittoresken Celler Festnahme des heute 34-jährigen Ahmad Ab- Schlosspark patrouillieren Polizisten. Vor dem dulaziz Abdullah A., genannt ‚Abu Walaa‘1, im nahegelegenen Gebäude des Oberlandesge- Zrichtes in der Kanzleistraße ist faktisch eine Hochsicherheitszone eingerichtet. Autofahrer, 1 Im Arabischen ist es üblich, einem Menschen nach die kurz halten wollen, werden von Beamten der Geburt seines oder ihres ersten Kindes eine ‚Kunya‘ – eine Art Spitznamen – zu geben und angewiesen, weiterzufahren. Die Stimmung ist nach dem ältesten Kind zu benennen, bspw. „Abu angespannt. Jeder, der das Gebäude betreten Muhammad“ (Vater von Muhammad) oder Umm will, muss ausgiebige Kontrollen, die man sonst Muhammad (Mutter von Muhammad). Auch der vor allem von Flughäfen kennt, über sich und Angeklagte erklärte vor Gericht, dass sich sein sein Gepäck ergehen lassen. Der Grund dafür, Name auf Seine Tochter Walaa beziehe. Der Name

64 Lino Klevesath | IS vor Gericht niedersächsischen Bad Salzdetfurth2 hätten die zur Verfügung gestellt. Zeitgleich wurden der Behörden den vermeintlich wichtigsten Mann 52-jährige Hasan C., der 38-jährige Boban S., des IS in Deutschland verhaftet3 – so hatte es der 29-jährige Mahmoud O. und der 28-jährige zumindest der ehemalige IS-Unterstützer und Ahmed F. Y. festgenommen. heute 24-jährige Syrien-Rückkehrer Anil O. gegenüber dem Recherche-Netzwerk von NDR, Schließlich begann am 26. September 2017 WDR und Süddeutscher Zeitung erklärt und gegen alle fünf der Strafprozess vor dem Ober- sich den Sicherheitsbehörden als Kronzeuge landesgericht Celle aufgrund der Anklage der „Unterstützung der ausländischen terroristi- schen Vereinigung ‚Islamischer Staat‘“4. Geleitet wird das bis 2019 angesetzte Verfahren von ‚Abu Walaa‘ hat jedoch eine doppelte Bedeu- Richter Frank Rosenow, der seit dem von ihm tung; wörtlich bedeutet er ‚Vater der Loyalität‘. Der Namensträger stellt damit mutmaßlich auf das 2013 bis 2014 geführten Strafverfahren gegen Prinzip al-walāʾ wa-l-barāʾ (‚Loyalität und Lossa- den ehemaligen Bundespräsidenten Christian gung‘) ab, demzufolge wahre Muslime gegenüber Wulff eine gewisse Prominenz genießt. Konkret anderen wahren Muslimen und den von ihnen wird Abu Walaa vorgeworfen, „als Repräsen- gebildeten Institutionen Loyalität schuldig sind, sich tant des sogenannten Islamischen Staates (IS) aber von allen anderen Menschen und Einrich- in Deutschland die zentrale Führungsposition tungen lossagen müssen – auch vermeintlichen übernommen“5 und der Organisation Aus- falschen Muslimen. Während dieses Prinzip von reisewillige vermittelt zu haben. Er soll vor sunnitischen Gelehrten der islamischen Frühzeit als unislamische Neuerung (‚bid‘a’) verdammt wurde, allem von der DIK-Moschee in Hildesheim aus ist es hingegen im heutigen salafistischen Spekt- operiert haben, der er als Imam vorstand und rum vorherrschend. Manche Interpreten beziehen die das Niedersächsische Innenministerium das Prinzip auch auf die Politik und halten die schließlich im März 2017 per Vereinsverbot Lossagung von nicht-islamischen Herrschern für schließen ließ.6 Mahmoud O. und Ahmed F. Y. notwendig, wobei dschihadistische Interpreten wie habe er die konkrete Durchführung von Ausrei- Abū Muḥammad ʿĀṣim ibn Muḥammad al-Maqdisī sevorbereitungen übertragen. Die beiden ande- eine gewaltsame Form der Lossagung befürwor- ren Angeklagten hätten in Nordrhein-Westfalen ten. Auch wenn die Wahl des Namens ‘Abu Walaa’ somit nicht notwendigerweise eine Befürwortung Unterrichtsinhalte gelehrt, mit denen Sym- des gewaltsamen Dschihads bedeutet, spricht sie pathisanten und Ausreisewillige ideologisch doch für eine radikale Ablehnung der nicht-isla- auf eine spätere Tätigkeit für die Organisation mischen Umwelt und eine Hinwendung zum als vorbereitet worden seien. wahrhaft islamisch verstandenen Milieu. Siehe Wagemakers, Joas: The transformation of a radical concept: al-wala’ wa-l-bara’ in the ideology of Abu Muhammad al-Maqdisi, in Global Salafism: Islam’s 4 Verfahren gegen Ahmad Abdulaziz Abdul- new religious movement, London 2013, S. 81–106. lah A. (‚Abu Walaa‘) u. a., Oberlandesgericht Celle, 07.09.2017, URL: https://www.oberlan- 2 Randermann, Heiko und Morchner, Tobias: desgericht-celle.niedersachsen.de/aktuelles/ IS-Prediger Abu Walaa aus Hildesheim soll in presseinformationen/eroeffnung-des-verfah- Celle vor Gericht, in: Hannoversche Allgemei- rens-akkreditierung-und-verhandlungsbe- ne Zeitung, 13.07.2017, URL: http://www.haz.de/ ginn—157435.html [eingesehen am 29.01.2018]. Nachrichten/Politik/Niedersachsen/IS-Predi- ger-Abu-Walaa-aus-Hildesheim-soll-in-Cel- 5 Verfahren gegen Ahmad Abdulaziz Ab- le-vor-Gericht [eingesehen am 29.01.2018. dullah A. (‚Abu Walaa‘) u. a.

3 Heil, Georg; Kabisch, Volkmar und Mascolo, Ge- 6 Islamkreis Hildesheim war Rekrutierungsort für org: Das ist der Schlimmste, in: sueddeutsche. den IS, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, de, 08.11.2016, URL: http://www.sueddeutsche.de/ 14.03.2017, http://www.haz.de/Nachrichten/Politik/ politik/islamisten-in-deutschland-das-ist-der- Niedersachsen/Deutschsprachiger-Islamkreis-Hil- schlimmste-1.3239861 [eingesehen am 29.01.2018]. desheim-verboten, abgerufen am 29.01.2018.

65 Demokratie-Dialog 2-2018

In den Medien werden die Angeklagten zudem früher via YouTube und anderer sozialer Netz- mit zahlreichen weiteren Straftaten in Verbin- werke die Öffentlichkeit suchte und mehr als dung gebracht, die jedoch nicht Gegenstand 25.000 Menschen seinem Facebook-Account folg- des Strafverfahrens sind: So soll Abu Walaa ten, bleibt er während des Prozesses stumm.10 Anschlagsplanungen von Anis Amri, der am Das Gericht ist daher vor allem auf die Aussa- 19. Dezember 2016 in Berlin zwölf Menschen gen des Kronzeugen Anil O. angewiesen. Vom tötete, autorisiert haben.7 Auch der im Dezem- 8. November 2017 bis Anfang Februar 2018 ber 2017 festgenommene Dasbar W., welcher wird er an fast jedem Prozesstag vernommen. der Planung eines Anschlags auf den Karlsru- Er selbst ist bereits 2017 vor dem OLG Düs- her Weihnachtsmarkt verdächtigt wird, habe seldorf wegen Mitgliedschaft in einer terroris- ein Seminar Abu Walaas besucht.8 Hasan C. tischen Vereinigung zu einer zweijährigen Be- soll durch die Seminare im Hinterzimmer sei- währungsstrafe verurteilt worden.11 Nun lebt er nes Duisburger Reisebüros Jugendliche radi- kalisiert haben, die am 16. April 2016 einen Terroranschlag auf einen Essener Sikh-Tempel 10 Ebd., S. 6. Die meisten von ihm verwalteten Ac- begingen.9 counts und eingestellten Inhalte sind mittlerweile gelöscht. Im Netz findet sich allerdings noch ein Jedoch: Lässt sich auch gerichtsfest beweisen, Youtube-Statement zu einer Razzia gegen die dass die Angeklagten gemeinsam das zentrale Hildesheimer DIK-Moschee im Sommer 2016, URL: deutsche IS-Netzwerk gebildet haben und Nie- https://www.youtube.com/watch?v=89GDNyaV9E8. In dersachsen tatsächlich zu einem Zentrum des dem Video, in dem er – wie in all seinen Auf- internationalen Terrorismus wurde? nahmen – nie sein Gesicht zeigt, beschwert er sich über den bekannten Salafisten Pierre Vogel. Er bringe ihn ständig mit dem ‚IS‘ in Verbindung und habe so dazu beigetragen, dass die Moschee in den Fokus der Polizei geraten sei. Allerdings Die Aussagen des Kronzeugen Anil O. widerspricht Abu Walaa in dem Video auch nicht der Behauptung, dass er mit der Organisation Die Angeklagten verfolgen den Prozess fast in Verbindung stehe. Außerdem erklärt er, dass durchweg schweigend hinter einer Glasschei- die von ihm geführte Gebetsstätte „eine von den be, die sie ebenso wie die Zuschauer vom wenigsten Moscheen, die nach Koran und Sunna Gerichtssaal abschirmt. Während Abu Walaa geführt wird“, sei (8:59 ff.). Er streitet somit implizit ab, dass viele andere Moscheen und deren Anhän- ger auch dem Koran und der Sunna, der münd- lichen Überlieferung vom Propheten, folgen. Da beide Quellen jedoch gemeinhin als für den Islam 7 Anschlag am Breitscheidplatz. Anis Amri soll verbindlich gelten, stellt der Vorwurf der bewussten direkt von Abu Walaa angeworben worden Abweichung von den Quellen auch den islamischen sein, in: Die Zeit, 11.12.2017, URL: http://www. Glauben des Betroffenen infrage. Abu Walaa steht zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-12/an- somit in einer Tradition des „Takfir“, in der nomi- schlag-breitscheidplatz-anis-amri-einzeltae- nelle Muslime für ungläubig erklärt werden. Diese ter-is-abu-walaa [eingesehen am 29.01.2018]. Tradition geht auf radikale Gruppen in Ägypten 8 Karlsruhe. Terrorverdächtiger hatte laut Be- der 1970er Jahre zurück. Siehe Ibrahim, Saaded- richt Kontakt zu Abu Walaa, in: Die Zeit, din: Sozialprofil und Ideologie militanter muslimi- 16.01.2018, URL: http://www.zeit.de/ge- scher Gruppen in Ägypten, in: Schölch, Alexan- sellschaft/zeitgeschehen/2018-01/kar- der / Mejcher, Helmut: Die ägyptische Gesellschaft lsruhe-terrorverdacht-abu-walaa-das- im 20. Jahrhundert, Hamburg 1992, S. 171–190. bar-w [eingesehen am 29.01.2018]. 11 Schnelles Urteil im Prozess gegen IS-Aussteiger, 9 Heil, Georg: The Berlin Attack and the “Abu in: wdr.de, 16.05.2017, URL: https://www1.wdr.de/ Walaa” Islamic State Recruitment Network, in: nachrichten/rheinland/bewaehrungsstrafe-is-aus- CTC Sentinel, Jg. 10 (2017), H. 2, S. 1–11, hier S. 7. steiger-100.html [eingesehen am 30.01.2018].

66 Lino Klevesath | IS vor Gericht

zum Schutz vor seinen früheren Weggefährten gentlich greift er auf Fachtermini der Sicher- im Zeugenschutzprogramm an einem unbe- heitsbehörden oder der Islamwissenschaft kannten Ort. Damit er heute möglichst uner- zurück – etwa, wenn der Ex-IS-Anhänger das kannt leben kann, erscheint er im Gerichts- Milieu, in dem er einst verkehrte, als ‚neosala- saal stets in Verkleidung und mit Perücke12, fi stisch‘ beschreibt. Über weite Strecken gelingt was seinen Auftritten eine gewisse Skurrilität ihm, nicht als verurteilter Straftäter, sondern verleiht. Mit seiner gewählten Ausdrucksweise als unverzichtbarer Experte wahrgenommen zu widerspricht O., der das Abitur 2014 mit der werden. Note 1,0 abgelegt habe,13 deutlich dem Klischee des Salafi sten als ein in der Mehrheitsgesell- O. berichtet, wie er sich bereits im Alter von schaft gescheiterter Bildungsverlierer. Gele- etwa 14 Jahren durch Kontakte zu Mitschü- lern der salafi stischen Szene angenähert habe, obwohl er selbst in einem religionsfer- 12 Die Angaben zu den Aussagen von Anil O. be- nen Elternhaus aufgewachsen sei. Schon über ruhen auf 13 Gedächtnisprotokollen des Autors, den Jahreswechsel 2013 / 14 sei er spontan der von Oktober bis Januar dieses Jahres die mit einem Bekannten von der Türkei aus für Verhandlungen aus dem Zuschauerraum beob- etwa zehn Tage nach Syrien in das Gebiet um achtete (am 17.10., 07.11., 08.11., 14.11., 15.11., 05.12., Aleppo gereist. Ursprünglich habe er nur Spen- 06.12., 12.12., 13.12., 19.12., 20.12., 10.01., 16.01., 17.01. den an syrische Flüchtlinge in der Türkei im und den 23.01.2018. Aufgrund der Sicherheits- bestimmungen in dem Prozess war die Mit- Grenzgebiet verteilen wollen, sich dann aber nahme von Schreibwerkzeug nicht möglich. aus Neugier doch spontan in das damals von Milizen der Freien Syrischen Armee gehaltene 13 Dschihadisten-Prozess in Düsseldorf. Mutmaß- Gebiet begeben. Den IS bzw. dessen Vorgänge- licher IS-Terrorist kann auf Bewährungsstrafe hoffen, in: Spiegel Online, 24.04.2017, URL: http:// rorganisation habe er damals noch abgelehnt, www.spiegel.de/politik/deutschland/islami- da er ein Video von einer Massenexekution scher-staat-mutmasslicher-terrorist-gesteht-vor-ge- gesehen habe, bei dem Muslime wegen ihrer richt-a-1144636.html. [eingesehen am 31.01.2018]. vermeintlich fehlerhaften Gebetspraxis getötet Bild: L. Klevesath Bild: 67 Demokratie-Dialog 2-2018

worden seien. Doch nach der Ausrufung des Mindestens einmal sei auch ein Hinrichtungs- Kalifats im Juni 2014 durch den IS habe er sich video des IS vorgeführt worden. zum Unterstützer der Organisation gewan- delt, da er und seine ehemaligen Mitstreiter Schließlich habe ihm Hasan C. eröffnet, dass stets auf die Wiedererrichtung der islamischen er ihn als „Delegierten“17 des Ruhrgebiet-Netz- Institution gehofft hätten. Dennoch studierte werkes zu einer zehntägigen Zusammenkunft er im Herbst 2014 zunächst erst ein Semester mit Abu Walaa in der Hildesheimer DIK-Mo- Medizin in Aachen, anstatt sich dem IS anzu- schee entsenden wolle. Dabei handelte es sich schließen. um einen I‘tikaf (arab. für ‚Absonderung‘ oder ‚Verweilen‘), bei dem fromme Muslime geloben, Durch Schulfreunde sei er 2015 schließlich auch das Ende des Ramadan gemeinschaftlich in mit den Angeklagten Boban S. und Hasan C. in der Moschee zu verbringen und die Zeit für Kontakt gekommen. Während des Ramadan14 Gebete und die Koran-Rezitation zu nutzen. hätten sie eigene Islamkurse angeboten, die Kurz vor seiner Abreise nach Hildesheim habe auch Anil O. besucht habe. Insgesamt sei er ihm die Polizei in Wuppertal ein Ausreisever- etwa ein Dutzend Mal dort gewesen. Sowohl bot ausgehändigt; O. verletzte sich bei dem an der Veranstaltung von Boban S.15 in der SEK-Einsatz – so heftig, dass er die Polizei bis Dortmunder Medresse als auch an Hasan C.s heute der Folter bezichtigt. Seminar im Hinterzimmer seines Duisburger Reisebüros habe man nur auf Empfehlung teil- Als er schließlich verspätet doch noch in nehmen können, da dort in deutscher Sprache Hildesheim eingetroffen sei, habe er dort offen nach dem „IS-Curriculum“ unterrichtet eine unglaubliche Atmosphäre vorgefunden. worden sei und dabei auch heikle Themen wie Menschen aus ganz Europa und verschie- der Dschihad oder der Takfir (das „Für-Ungläu- dener Ethnizitäten hätten sich dort versam- big-Erklären“ von vermeintlich irregeleiteten melt – gemäß dem proklamierten Ideal des Muslimen)16 zur Sprache gekommen seien. Die IS, Grenzen von Sprache und Abstammung Illegalität der Inhalte sei allen bewusst gewe- zu überwinden. Schon kurz nach seiner An- sen; so hätten die Teilnehmer aus Angst vor kunft habe ihn Mahmoud O. zu einem Terro- den Sicherheitsbehörden allenfalls ausgeschal- ranschlag in Deutschland „eingeladen“ – er tete Handys zum Unterricht mitbringen dürfen. könne mit einem Fahrzeug in eine Gruppe von Polizisten hineinfahren, ohne selbst dabei sterben zu müssen. Anil O. erklärt allerdings, 14 Der Ramadan dauerte im Jahr 2015 die Idee umgehend abgelehnt zu haben, da vom 17. Juni bis zum 16. Juli. er schnellstmöglich in das Gebiet des IS habe 15 Nach Auskunft von Anil O. war Boban S. noch ausreisen wollen. Bei mehreren persönlichen radikaler als Hasan C. und beurteilte bspw. das Unterredungen mit Abu Walaa, bei dem er die Aufstehen vor Beginn einer Gerichtsverhandlung Grüße seiner Lehrer überbracht habe, habe als ‚Kufr‘ (Unglaube). Auf der Webseite der von dieser ihm zugesichert, seine Ausreisepläne ihm geleiteten Medresse findet sich bis heute ein zu unterstützen. Nach Abschluss des I‘tikaf sei Schaubild, welches IS und Saudi-Arabien vergleicht er mindestens noch einmal nach Hildesheim und dabei trotz zahlreicher Ähnlichkeiten feststellt, dass Ersterer nicht mit den USA verbündet sei, gefahren und habe dort von Ahmed F. Y. die kein „Zins-Bankensystem“ habe und auch außer- halb der UNO stehe. Offenkundig soll das Schau- bild zum Ausdruck bringen, dass dem IS anders 17 Den Ausführungen von O. zufolge handelte es als Saudi-Arabien islamische Legitimität zukom- sich dabei um eine symbolische Delegation, me. Siehe URL: https://madrasatun.wordpress.com/ um die Verbundenheit des Ruhrgebiet-Netz- category/analysen/ [eingesehen am 31.01.2018. werks mit Abu Walaa zum Ausdruck zu bringen. 16 Siehe Fußnote 10. Konkrete Aufgaben hatte er demnach nicht.

68 Lino Klevesath | IS vor Gericht

Telefonnummern von Kontaktmännern erhalten, dienstler18, gestoßen sei, der ihm mitgeteilt die ihm bei der Einreise ins IS-Gebiet von der habe, dass sich Abu Walaa für ihn eingesetzt Türkei aus helfen würden. Auf Anraten der An- habe, sodass er freikommen könne – bei geklagten habe er zudem zahlreiche Mobiltele- einem erneuten Fluchtversuch müsse er aber fone und Tablets auf Rechnung gekauft, jedoch mit seiner Hinrichtung rechnen. Nach seiner ohne sie zu bezahlen. Diese Geräte habe er Freilassung aus der Haft und weiteren Flucht- den Angeklagten übergeben und im Gegenzug versuchen sei der Familie im Januar 2016 Geld für seine Ausreise erhalten – hier decken schließlich die Rückkehr in die Türkei gelun- sich seine Aussagen weitestgehend mit den gen. Dort wurde O. verhaftet, kam nach eini- protokollierten Ergebnissen der verdeckten gen Wochen zwar frei, musste jedoch aufgrund Observation der Übergabe. eines schwebenden Strafverfahrens im Land verbleiben, sodass seine Familie zunächst ohne Über seine Ausreise zusammen mit Frau und ihn nach Deutschland zurückkehrte. Bereits aus Kind und die Zeit in Syrien berichtet Anil O. der Türkei habe er den Kontakt zu deutschen ausführlich. Nach einem Aufenthalt in einem Journalisten und Behörden gesucht, um den IS, ‚Safe House‘ in der Türkei sei er von einem den er mittlerweile verabscheue, zu bekämp- Schleuser an die Grenze gefahren worden fen und andere junge Menschen von einer – die letzten Meter hätten er und seine Familie Ausreise abzuhalten. Nachdem die Türkei die durch einen Olivenhain und über NATO-Sta- Ausreisesperre aufgehoben hatte, kehrte er im cheldraht zurücklegen müssen. Von Anfang an September 2016 umgehend nach Deutschland habe er deutlich gemacht, dass er als medi- zurück, wo er in Untersuchungshaft genom- zinischer Helfer und nicht als Kämpfer tätig men wurde. werden wolle, was auch akzeptiert worden sei. Gegenüber IS-Verantwortlichen habe er er- klärt, dass er von Abu Walaa geschickt worden sei – sein Name sei beim IS in Syrien bekannt Wie glaubwürdig ist Anil O.? gewesen und habe bewirkt, dass man ihm Vertrauen entgegengebrachte. Doch schon im Trotz der wochenlangen Vernehmung verwickelt Aufnahmezentrum hinter der Grenze sei ihm sich O. vor Gericht in keine substanziellen die Grausamkeit des IS aufgestoßen, der selbst Widersprüche bei seinen die Angeklagten be- Bedürftigen medizinische Hilfe verweigert treffenden Aussagen. Allerdings beruft er sich habe. Nur wenige Wochen habe er mit seiner bei Nachfragen zu Details immer wieder auf Familie in einer vom IS gestellten Wohnung Erinnerungslücken und gelegentlich auch auf in Rakka gelebt und medizinische Tätigkeiten sein Zeugnisverweigerungsrecht. Die Fronten ausgeübt. Doch als ihm eine etwa zehnjährige im Gerichtssaal muten auf den ersten Blick Jesidin als Sex-Sklavin angeboten worden sei, paradox an: Die Bundesanwaltschaft, die früher habe ihn dies angewidert, er habe mit dem selbst gegen Anil O. ermittelte, stützt ihre IS gebrochen und mit seiner Familie fliehen Anklage gegen Abu Walaa und sein mutmaß- wollen. liches Netzwerk maßgeblich auf O.s Aussagen und erklärt wiederholt, dass sie seine Schilde- Doch die erste Flucht scheiterte, woraufhin er etwa siebzig Tage zunächst in einem Gefäng- nis, dann in einer Art psychiatrischen Anstalt 18 Fuchs, Christian; Musharbash, Yassin und Stark, des IS zugebracht habe, weil man ihm Spiona- Holger: ‚Islamischer Staat‘. Vom Schweißer zum ge vorgeworfen habe. Zunächst sei er gefoltert Schlächter, in: Die Zeit, 18.12.2017, URL: http:// worden, später habe man ihm zwangsweise www.zeit.de/2017/52/islamischer-staat-sach- Psychopharmaka verabreicht, bis er auf Martin sen-anhalt-konvertierung-radikalisierung/kom- Lemke, den sachsen-anhaltischen IS-Geheim- plettansicht. [eingesehen am 31.01.2018].

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rungen insgesamt für sehr glaubwürdig erachte. dächtnisprotokoll eines Polizeibeamten erzählte Die Verteidiger der Angeklagten wiederum ver- O. auch von einem Aufenthalt in Mossul – vor suchen, seine Glaubwürdigkeit zu diskreditieren Gericht erklärt O., er könne sich nicht vorstel- und so ihre Mandaten zu entlasten: Akribisch len, Derartiges behauptet zu haben. Die Vertei- versuchen sie, Belastendes gegen O. zusam- digung hält O. außerdem Dokumente vor, wo- menzutragen, sodass ein unbedarfter Zuschau- nach er gegenüber Dritten über Gespräche mit er sie für Staatsanwälte halten könnte. Wäh- seinem Anwalt über eine „Menükarte“ berichtet rend der wochenlangen Vernehmung gelingt habe. In dieser soll er aufgelistet haben, wel- der Verteidigung schließlich auch, das Bild, das che Aussagen er den deutschen Sicherheits- O. von seiner Biografie zeichnet, zu korrigieren, behörden anbieten könne. O. lehnt allerdings indem sie ihn mit Aufnahmen von abgehörten ab, seinen Anwalt von der Schweigepflicht zu Telefonaten konfrontiert. Diese belegen, dass entbinden, sodass das Gericht die Inhalte des er sich auch nach seiner Rückkehr aus Syrien Dokuments nicht in Erfahrung bringen kann. beleidigend über Behördenvertreter äußerte Gegen Ende der Vernehmung wird O. sogar mit (so nannte er den Leiter des Bundesamtes für dem Nachweis konfrontiert, in der Türkei 2017 Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen einen wegen Terrorismus in Abwesenheit zu mehr als „Hurensohn“) und erneut versuchte, ein Tablet sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden zu zu erwerben, ohne es zu bezahlen. Das Bild sein. Die Behauptung O.s, trotz des Kontaktes des reuigen Ex-Kriminellen bekommt dadurch mit seinem türkischen Anwalt von Deutschland Risse – es erscheint plausibel, dass O. in erster aus nichts von der Verurteilung gewusst zu Linie mit den Behörden kooperiert, um einer haben, erscheint äußerst unglaubwürdig. Haftstrafe zu entgehen.

Auch lässt die Verteidigung ein auf O.s Handy sichergestelltes Video von 2014 vorführen, auf Fazit dem sein mit einem Kampfanzug bekleideter Begleiter auf seiner ersten Syrien-Reise Mus- Trotz der Glaubwürdigkeitsdefizite des Kron- lime in Deutschland auffordert, ebenfalls nach zeugen erscheint es durchaus sehr plausibel, Syrien zu reisen, um sich dort für die Scharia dass die Angeklagten die Ausreise in den IS einzusetzen. O. feuert ihn in dem Film aus ideologisch und logistisch unterstützt haben. dem Hintergrund an, sodass die Behauptung, Der Nachweis, dass das Netzwerk um Abu die humanitäre Hilfe habe im Mittelpunkt der Walaa zentral für den IS in Deutschland war, Reise gestanden, unglaubwürdig wirkt. Auch ist aber dadurch noch nicht erbracht worden. konnten die Anwälte Chats präsentieren, in Auch lassen sich aus O.s Aussage nur begrenzt denen sich O. mit einem Mitstreiter schon vor Rückschlüsse auf das Gemeindeleben der mitt- dem Aufenthalt in Hildesheim über betrügeri- lerweile verbotenen Hildesheimer DIK-Moschee sche Handy-Geschäfte austauscht. Angesichts ziehen, da er nach eigenen Angaben selbst seiner seit Jahren bestehenden radikalen nur eine äußerst kurze Zeit dort verbracht Haltung und der relativ kurzen persönlichen habe. Inwieweit die Aussagebereitschaft O.s Bekanntschaft mit den Angeklagten erscheint zu seinem eigenen milden Urteil beigetragen durchaus plausibel, dass O. auch ohne ihre hat, lässt sich nicht feststellen, doch offen- ideologische Indoktrination und logistische Un- bart der Fall die Janusköpfigkeit der Kronzeu- terstützung ins IS-Gebiet ausgereist wäre. genregelung. Auch bleibt unklar, welche Rolle ‚Murat‘ spielte, ein Bekannter Anil O.s, der ihn Auch sind die Angaben, die O. zu seinem Auf- 2015 sogar beim Hildesheimer I‘tikaf besuchte, enthalt beim IS macht, nicht überprüfbar. Kein nach den Ausreiseplänen befragt und selbst für die deutsche Justiz greifbarer Zeuge kann behauptet habe, nach Syrien emigrieren zu seine Gefangenschaft bezeugen. Laut dem Ge- wollen. Wie heute bekannt ist, handelte es sich

70 Lino Klevesath | IS vor Gericht bei dem Mann um die „VP-01“ (Vertrauensper- schauerraum des Gerichtes auf.23 Der Prozess son) des LKA Nordrhein-Westfalen, dem in den soll daher auch in den kommenden Monaten Medien vorgeworfen wird, Anis Amri zu einem weiterhin beobachtet werden, um so weitere Terroranschlag ermuntert zu haben.19 Da das Erkenntnisse über das Milieu des radikalen LKA Nordrhein-Westfalen das Ansinnen des Islam zu gewinnen. Senates, die Person vor Gericht zu verneh- men, aus Sicherheitsgründen abgelehnt hat, wird seine Rolle bei den Geschehnissen um die 23 In einem persönlichen Gespräch des Autoren mit Ausreise O.s wohl vorerst im Dunklen bleiben. Ben Abda am 16. Januar 2018 erklärte dieser, dass sich Muslime um ein Leben nach der Scharia bemühen müssten und sich viele Menschen, die Dennoch ist der Prozess auch jenseits der diesem Gebot nicht nachkämen, zu Unrecht als eigentlichen Gerichtsverhandlung von Erkennt- Muslime bezeichnen würden. Einzig in den Gebie- niswert für die Erforschung des Milieus des ten des IS sei versucht worden, ein Leben nach radikalen Islam. Einer der regelmäßigen Zu- der Scharia zu etablieren. Dazu gehöre auch das schauer des Prozesses ist Bernhard Falk, ein Gebot, Homosexuelle durch einen Sturz von hohen ehemaliger verurteilter Linksterrorist und zum Gebäuden zu töten. Auch die Verbrennung des Islam konvertierter Aktivist20, der auf seinem jordanischen Piloten Moaz Kasasbeh bei lebendi- gem Leib sieht Ben Abda als islamisch gerechtfer- Facebook-Blog „Falk Nachrichten“21 und auf tigt an. Siehe Rößler, Hans-Christian: Terrorismus: YouTube über zahlreiche Prozesse gegen An- IS verbrennt jordanischen Piloten offenbar bei geklagte aus dem dschihadistischen Spektrum lebendigem Leib, in: faz.nez, 03.02.2015, URL: http:// berichtet und diese auch bei der Wahl ihrer www.faz.net/1.3407317 [eingesehen am 31.01.2018]. Anwälte berät – wobei er nach eigenen Anga- ben zu diesem Zweck auch mit mehreren der Celler Angeklagten in Kontakt gestanden habe. Er selbst befürworte nach eigenen Angaben auch einen ‚islamischen Staat‘, lehne aber den IS ab.22 Doch auch offene Sympathisanten des IS wie Sabri Ben Abda tauchen im Zu-

19 Landeskriminalamt. V-Mann soll Islamisten zu Anschlägen angestachelt haben, in: Die Zeit, Lino Klevesath, M. A., 19.10.2017, URL: http://www.zeit.de/gesellschaft/ geb. 1982, ist seit 2017 zeitgeschehen/2017-10/anis-amri-v-mann-weih- wissenschaftlicher Mitar- nachtsmarkt-attentaeter-nordrhein-westfa- beiter der Forschungsstelle len-terror [eingesehen am 31.01.2018]. zur Analyse politischer und religiöser Extremis- 20 Hackensberger, Alfred: Bernhard Falk. Vom Link- men in Niedersachsen sterroristen zum Al-Qaida-Anhänger, in: Die am Göttinger Institut für Welt, 25.05.2015, URL: https://www.welt.de/ Demokratieforschung. politik/ausland/article141454678/Vom-Link- Sein Arbeitsschwerpunkt sterroristen-zum-deutschen-Gesicht-al-Qai- ist der Politische Islam. das.html. [eingesehen am 31.01.2018].

21 URL: https://www.facebook.com/Falk-Nach- richten-1949997798546553/

22 URL: http://falk-site.de/wir-brauchen-einen-is- lamischen-staat-aber-nicht-isis/, Video vom 20.09.2014 [eingesehen am 31.01.2018].

71 Demokratie-Dialog 2-2018

72 Extreme Rechte und ihr Umfeld

73 „Welcome to the show“

Zwei Staatsleugnerinnen vor Gericht – eine Beobachtung

Stefan Eisen / Lars Geiges

olizisten begleiten die junge selbstbewusst vor den Kameras, breitet die Frau in den Gerichtssaal. Sie Arme aus und ruft theatralisch: „Welcome to trägt langes, braunes Haar, the show, alle zusammen. Wird bestimmt ein dazu schwarze Kleidung. toller Tag heute!“ Sie steht mit verschränkten Armen hinter dem Tisch auf Beide bleiben fortan stehen, setzen sich auch der Seite der Angeklagten nicht, als die Richterin die Sitzung eröffnet. und kaut Kaugummi. Sie Stattdessen schreit die Mutter: „Wir sind Men- wirkt sehr selbstbewusst, lässt sich augen- schen! Wir sind Menschen! Sind sie zuständig scheinlich auch nicht von den zwei Fernseh- für Menschen?“, fragt sie und betont dabei Pteams und mehreren Fotografen beeindrucken. Silbe für Silbe. Allein diese ersten Sätze zeigen Eine weitere, ältere Frau wird von Polizisten die Grundproblematik von derlei Prozessen auf, hereingeführt. Sie hat ihre Jacke weit übers denn: Die Angeklagte erkennt die Zuständigkeit Gesicht gezogen, als ein kurzer Blitzlichtschau- des Gerichtes nicht an. Die Tochter moniert er einsetzt. Die beiden Frauen – es handelt lautstark, dass die Vorladungen ohne Unter- sich bei ihnen um Mutter und Tochter – sind schriften an sie gegangen seien. Auf Bitten wegen gefährlicher Körperverletzung und des Gerichtes, ihre Personalien zu bestätigen, Widerstand gegen die Staatsgewalt angeklagt. antwortet die Mutter, die genannte Anschrift Während die Ältere versteckt und eher unru- sei falsch. Man gehöre der „Samtgemeinde Alte hig wirkt, positioniert sich die Jüngere ganz Marck“ an. Eine Anschrift kennt, einen Aus-

74 Stefan Eisen / Lars Geiges | „Welcome to the show“ weis hat sie nicht. Kurzzeitig kommt Unruhe Annäherung an ein heterogenes und schwer im Saal auf, die Richterin wirkt angesichts des zugängliches Feld dar. Schauspiels der Angeklagten zunächst irritiert, führt die Sitzung aber letztlich unbeirrt fort, In der von uns beobachteten Gerichtsverhand- ohne auf die wirren Einwürfe zu reagieren. Ein lung geht es um einen Übergriff auf einen Po- Journalist raunt, solch eine Mandantschaft sei lizisten im Jahr 2015. Zu diesem Zeitpunkt war sicherlich kein Geschenk. Man ahnt es: Es wird in der Verwaltung des Wohnortes der beiden eine zähe Verhandlung an diesem Tag vor Frauen deren Zugehörigkeit zum Selbstverwal- dem Amtsgericht in Herzberg, deren Verlauf termilieu bereits bekannt. Im Schriftverkehr und Ausgang von der Öffentlichkeit gleichsam mit den Behörden hatte die Mutter wiederholt interessiert verfolgt werden: zwei Staatsleugne- deutlich gemacht, dass sie ihr Grundstück rinnen vor einem niedersächsischen Gericht. als ihr „Hoheitsgebiet“ betrachte. Angestellte des Staates seien daher dort nicht erwünscht, Spätestens seit dem Mord an einem Polizisten weswegen bspw. Schornsteinfeger das Gelän- durch einen der sogenannten Reichsbürger, de stets in Begleitung eines Angestellten des die eine Strömung innerhalb der Staatsleugner Landkreises sowie zweier Polizisten betra- sind, im fränkischen Georgensgmünd im Ok- ten – so wie am Tag der Tat, als die Mutter tober 2016, stehen das Milieu und das enorm die Ankommenden bereits vor ihrem Haus in heterogene Bewegungsgeflecht verstärkt unter Empfang nahm. Auch eine Person mit einer öffentlicher Beobachtung und sind auch in den Videokamera – man wollte offenbar, mit einer Fokus der Sicherheitsbehörden gerückt. Was Auseinandersetzung rechnend, den behördlich sind das für Menschen, die den Staat und sei- begleiteten Schornsteinfegerbesuch filmen – ne Institutionen rigoros ablehnen, der Bundes- hatte sich schon vor dem Haus, in dem Mutter republik die Souveränität absprechen, sie für und Tochter gemeinsam leben, in Stellung eine GmbH halten, deren Bürger als unfreies gebracht. Personal derselben fungierten? Was treibt sie an, sich freien Gemeinschaften anzuschließen, Nach einer kurzen Diskussion und der polizei- Staaten und Reiche mit ihren eigenen Regeln lichen Aufforderung, das Filmen zu unterlassen, und Normen zu begründen, darin ihr Leben in ließ die Frau die Gruppe doch noch ins Haus; Opposition zu den bundesrepublikanischen Or- doch bereits im Eingangsbereich wartete ihre ganen zu führen und dieses gegenüber vorpro- Tochter, die den Eintretenden nach einem kur- grammierten Konflikten mit der bestehenden zen Wortwechsel – was genau gesagt wurde, staatlichen Ordnung auch zu verteidigen – bis blieb im Prozess unklar – ein säurehaltiges hin zum Schusswaffengebrauch? Und: Welche Reinigungsmittel entgegenspritzte, wodurch ei- Gefahr geht tatsächlich von ihnen aus? ner der Polizisten Verletzungen am Auge erlitt. So jedenfalls lautete die Anklage der Staats- So lauten nur einige Fragen, die allesamt noch anwaltschaft, und es sei vorweggenommen: So offen sind. Denn in der Tat wissen wir aus sah es letztlich auch das Gericht als erwiesen wissenschaftlicher Perspektive noch nicht allzu an und verurteilte die Tochter zu einer Bewäh- viel über dieses unübersichtliche Milieu.1 Die rungsstrafe. Ihre Mutter wurde indes freigespro- Prozessbeobachtung stellt daher eine mögliche chen. Eine Anstiftung oder sonstige Straftaten konnten ihr nicht nachgewiesen werden.

1 Vgl. z. B. Wilking, Dirk (Hrsg.): „Reichsbür- ger“ – Ein Handbuch, Demos – Brandenbur- gisches Institut für Gemeinwesenberatung, Potsdam 2015, URL: http://www.gemeinwesen- publikationen-eigene/Handbuch%20Reichsbuer- beratung-demos.de/Portals/24/media/UserDocs/ ger.16220426.pdf [eingesehen am 15.02.2018].

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Während der Verhandlung zeigten sich die erwachsen Verschwörungsdogmen und Recht- Angeklagten äußerst uneinsichtig. Insbeson- fertigungsüberzeugungen von Gewalt gegen dere die Tochter verhöhnte ihre Opfer, indem staatliche Ordnungs- und Sicherheitskräfte? sie abschätzige Kommentare und Geräusche machte. Immer wieder wurde sie vom Gericht Zunächst: Selbst die Gruppe der Staatsleugner zur Ordnung gerufen. Im Laufe des Prozesses ist keine einheitliche Bewegung. Es gibt keine wurde auch deutlich, dass sich die Frau selbst festen Regeln und vielfach kommt es zu Auf- als das eigentliche Opfer sieht. Laut ihrer spaltungen der ohnehin schon kleinen Grup- Darstellung habe sie plötzlich wildfremden pierungen in noch kleinere Zirkel, nicht selten Männern gegenübergestanden, die sie nicht als handelt es sich um Einzelpersonen. Daher ist Polizisten erkannt habe. Obwohl die Richte- es nicht überraschend, dass unterschiedliche rin ein Foto präsentierte, das den Verletzten Traditions- und Argumentationslinien zu er- kurz nach dem Säureangriff zeigt und auf kennen sind. Dennoch kann die Ablehnung des dem die blaue Uniform des Beamten deutlich bestehenden demokratischen Systems, seiner zu erkennen ist, behauptete die Frau jedoch, Normen und Institutionen, als ihr kleinster ge- der Polizist im Hausflur habe gänzlich anders meinsamer Nenner betrachtet werden. ausgesehen, dieses Foto sei extra angefertigt worden: ein Komplott. Dieses Beispiel bestätigt Was diese Ordnung ersetzen soll, darüber be- den Eindruck, den auch der Gutachter, der vor steht indes Uneinigkeit. Geschichtsrevisionis- Gericht gehört wurde, von den Angeklagten ten sehen sich in nationalsozialistischer Tradi- skizzierte: Beide fühlen sich als Opfer einer tion und treten für eine Wiederherstellung des weitreichenden Verschwörung. „Dritten Reiches“ ein.3 Die Reichsbürger wollen bisweilen ein noch älteres Deutsches Reich mit In der extremen Übersteigerung dieser Wahr- sich selbst an dessen Spitze wieder aufer- nehmung, die zusammengeht mit dem Gefühl stehen lassen.4 Selbstverwalter sehen ihr Ziel des Verfolgt-Werdens, liegt anscheinend ein bereits in dem Moment erreicht, in dem sie Erklärungsansatz dafür, dass „Querulanten ihr eigenes Grundstück oder auch „Gemein- und unterschätzte Radikale“, so der Titel einer den“ für unabhängig erklären können.5 Auch ZDF-Dokumentation über Reichsbürger, zu Gewalttätern werden. Einsätze von Polizei und Gerichtsvollziehern werden von Staatsleugnern 3 Vgl. Stöss, Richard: Rechtsextremismus als ungerechtfertigt, ja als Überfälle angese- im Wandel, Friedrich-Ebert-Stiftung, 2010, hen. Man sieht sich zur Notwehr gezwungen.2 S. 31–34, URL: http://library.fes.de/pdf-files/ Gewalt gegen Ordnungskräfte ist folglich ein do/08223.pdf [eingesehen am 13.02.2018]. legitimes Mittel der (Selbst-)Verteidigung 4 Vgl. Rathje, Jan: „Reichsbürger“: Verschwörungs- gegen einen übergriffigen Staat. Es ist gerade ideologie mit deutscher Spezifik, in: Institut für dieses Verständnis von Staatsleugnern, sich im Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) (Hrsg.): Wissen Recht zu befinden, das Fragen aufwirft. Woraus schafft Demokratie: Schriftenreihe des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft, Bd. 1, Berlin 2017, S. 238–249, hier S. 241, URL: http://www.idz-jena. de/fileadmin/user_upload/16_Rathje_Reichs- 2 Hierzu existieren überaus wenige Quellen mit b%C3%BCrger.pdf [eingesehen am 18.02.2018]. Datenangaben; vgl. daher Bundesamt für Ver- fassungsschutz: Straf- und Gewalttaten von 5 Vgl. Keil, Jan-Gerrit: Zwischen Wahn und Rollenspiel „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“, URL: – das Phänomen der „Reichsbürger“ aus psycho- https://www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfel- logischer Sicht, in: Wilking, Dirk (Hrsg.):„Reichsbür- der/af-reichsbuerger-und-selbstverwalter/zah- ger“ – Ein Handbuch, Demos – Brandenburgisches len-und-fakten-reichsbuerger-und-selbstverwalter/ Institut für Gemeinwesenberatung, Potsdam 2015, reichsbuerger-und-selbstverwalter-straf-und-ge- S. 39–90, hier S. 39, URL: http://www.gemeinwesen- walttaten-2016 [eingesehen am 14.02.2018]. beratung-demos.de/Portals/24/media/UserDocs/

76 Stefan Eisen / Lars Geiges | „Welcome to the show“ das Gewaltpotenzial ist höchst unterschiedlich Gebühren zu zahlen, was jeweils in kurzer Zeit einzuschätzen – von harmlos bis sehr aggres- zunächst behördliche und anschließend juristi- siv. Die meist unverbundenen Szenen und sche Auseinandersetzungen mit sich bringt. Zirkel scheinen jedoch, orientiert man sich an Angaben des Verfassungsschutzes, zu wach- Eine solche Statusänderung kann der Selbst- sen. Im Dezember 2017 sollen deutschlandweit verwalterideologie zufolge auf unterschiedli- 16.500 Personen zu der „Reichsbürger-“ und chen Wegen erreicht werden: Eine Möglichkeit „Selbstverwalter“-Szene gehört haben.6 besteht darin, dass man eine sogenannte „Lebenderklärung“ abgibt. Dabei handelt es Die Angeklagten im Verfahren, Mutter und sich um ein fiktives Dokument, das von den Tochter, gehörten der Gruppe der Selbstver- Selbstverwaltern selbst ausgestellt wird. Die walter an. Dass sie sich zu Prozessbeginn „Lebenderklärung“ sieht, je nach Gruppe, lautstark als „Menschen“ ausgaben, ist bereits unterschiedlich aus. Während auf derjenigen ein erster Hinweis auf ihre Zugehörigkeit. Denn der Angeklagten ein großes Siegel prangt, sind diese Zuschreibung hat im Kreise der Staats- wiederum andere mit zahlreichen Unterschrif- leugner ihren festen Platz. Dort herrscht die ten und Fingerabdrücken versehen. Häufig Vorstellung, dass aufgrund einer Verschwörung wird für diese fiktiven Urkunden Geld verlangt Personen in Unfreiheit leben müssten. Ihnen – eine Möglichkeit für einzelne Personen, sich werde von im Hintergrund agierenden Mächten zu bereichern, ein lukratives Geschäftsmodell. heimlich ein bestimmter Status aufgezwungen. Eine Funktion außerhalb des ideologischen Rahmens erfüllen diese Fantasieurkunden Die Selbstverwalter sind zutiefst davon über- nicht. Nach innen jedoch sind sie Bekenntnis zeugt, dies durchschaut, das Spiel hinter den und Versprechen zugleich. Ihre Inhaber erwar- Kulissen verstanden zu haben. Sie glauben ten nun von der Außenwelt eine Anerkennung überdies, einen Weg zu kennen, sich aus die- ihres imaginierten Sonderstatus. Auch die An- ser Lage befreien zu können; denn innerhalb geklagten im hier beschriebenen Fall verfügen ihres Denkens besteht die Möglichkeit, den über eine sogenannte Lebenderklärung, die zu eigenen Status durch eine Art Initiationsritus ihrem Unmut jedoch auch vom Gericht nicht zu ändern. So könne aus einer vermeintlich beachtet wird. Bleibt die Anerkennung aus, rechtlosen „Person“ ein „Mensch“ werden, der folgt oftmals unweigerlich die Auseinanderset- weitreichende Freiheiten genieße, für den an- zung mit Behörden und Amtsträgern, in der dere Rechte gelten und das vorherige Rechts- sich Staatsleugner auch radikalisieren können. system seine Verbindlichkeit verlieren würde. Richter, Polizisten oder auch Gerichtsvollzieher Eher männlich, das fünfzigste Lebensjahr haben also keine Befugnisse mehr über sie. vollendet und zutiefst misstrauisch: So etwa Die Loslösung ist total. Entsprechend sehen sie lassen sich die wenigen, bislang unsyste- sich nicht mehr dazu verpflichtet, Steuern oder matisch von Wissenschaft und Journalismus zusammengetragenen Hinweise auf die sozio- strukturelle Zusammensetzung des Reichsbür- ger-Spektrums bündeln.7 Die beiden Frauen publikationen-eigene/Handbuch%20Reichsbuer- ger.16220426.pdf [eingesehen am 15.02.2018]. auf der Anklagebank fallen also eigentlich ein wenig aus dem Raster. Die Tochter gilt, obwohl 6 Siehe Bundesamt für Verfassungsschutz: Personen- sie deutlich aggressiver als ihre Mutter auftritt, potenzial von „Reichsbürgern“ und „Selbstverwal- dem Gericht als eine in ihren Überzeugungen tern“, URL: https://www.verfassungsschutz.de/de/ arbeitsfelder/af-reichsbuerger-und-selbstverwalter/ weniger gefestigte Staatsleugnerin als die Mut- zahlen-und-fakten-reichsbuerger-und-selbstver- walter/reichsbuerger-und-selbstverwalter-perso- nenpotenzial-2017 [eingesehen am 15.02.2018]. 7 Vgl. Keil, S. 44.

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ter, die ihre Tochter ideologisch stark beein- festzustellen gewesen. Folglich attestierte er flusst habe. Die Weltanschauung der Mutter ihr eine „schwere seelische Abartigkeit i.S.d. zeigte sich am zweiten Prozesstag, als diese Gesetzes“8, wobei weder ein initiales Ereignis ihr Statement mit diversen Unterlagen unter- noch der Zeitpunkt des Beginns dieser Ent- mauerte und forderte, dass zunächst ihre „Ver- wicklung identifizierbar sei. fassungsbeschwerde“ zu berücksichtigen sei. Eine Suada setzte ein, in der sie stichwortartig Die Mutter wirke zudem immens auf ihre und nicht nachvollziehbar vom „Völkerstrafge- Tochter ein, die sich dem Gutachter gegenüber richt“ sprach und davon, dass „Gebiete durch im Gespräch gänzlich anders als vor Gericht die USA bis zur Schließung eines Friedensver- präsentiert habe, nämlich angemessen, höf- trages beschlagnahmt“ seien. Es fielen Wörter lich und ausgeglichen. Ihre Eltern hatten sich wie „Hochverrat“, „Völkermord“ und „BRD-Ge- getrennt, als sie selbst noch im Vorschulalter walt“, womit sie wohl auch das Gericht meinte. war. Es habe „unschöne Szenen“ gegeben, Bezüge verwischten, Argumente fanden sich auch Gewalt des Vaters gegenüber der Mutter. nicht, was paradoxerweise eine gewisse Logik Seitdem lebt sie bei ihrer Mutter. Der Gutachter in sich birgt: Wo alles mit allem zusammen- beschreibt eine (zu) enge Mutter-Tochter-Bin- hängt, die Verschwörungen derart umfassend dung, von der sich die Tochter, die nach ihrem sind, sind Start- und Endpunkte inexistent. Realschulabschluss eine Ausbildung zur Indus- triekauffrau absolvierte und nach der Pleite Der Versuch, durch eine externe Instanz Ord- ihres jüngsten Arbeitgebers nun bei einer Zeit- nung in dieses wirre Gedankengebäude zu arbeitsfirma angestellt ist, nicht lösen könne. bringen, scheiterte: Der vom Gericht bestellte Ihr Leben beschrieb die Tochter als überaus Psychiater wies zunächst darauf hin, dass „eine anstrengend: Sie verlasse früh das Haus, kom- klassische Untersuchung“ der Mutter wegen me spät wieder, sei sozial isoliert, habe nur Verweigerung nicht möglich gewesen sei. Ein- Kontakt zur Mutter. Einen Umzug könne sie schätzen könne er sie dennoch, da er sie seit sich nicht leisten, schließlich habe sie sich um mehr als fünf Jahren kenne, sie bereits 2012 ihre Mutter zu kümmern. auf Prozessfähigkeit prüfen sollte. Allerdings zeige sich die Tochter dennoch Sie sei schon damals wegen ihrer skurrilen ambivalent gegenüber den Einstellungen ihrer politischen und juristischen Vorstellungen Mutter: Einigen Ansichten könne sie zustim- aufgefallen. Der Gutachter hatte ihr seinerzeit men, andere sehe sie eher kritisch, berichtete einen Brief geschrieben; als Antwort erhielt er der begutachtende Psychiater. Den Reichsbür- die Aufforderung einer „Schuldenzahlung“ in gern jedenfalls rechne sie sich selbst nicht zu. Höhe von 500.000 Euro, verbunden mit dem Als der Gutachter dies erwähnte, protestierte Vorwurf der Amtsanmaßung. Seiner Einschät- die Mutter lautstark und rief dazwischen: „Das zung nach handele es sich um „eine extrem verbitte ich mir!“ Die Tochter schwieg und misstrauische“ Frau, auch neutralen Personen schaute zu Boden. und Positionen gegenüber. Es sei auffällig, dass sie „nicht in der Lage“ sei, andere An- So stehen am Ende der Beobachtungen aus sichten nachzuvollziehen, geschweige denn, für dem Gerichtssaal einige starke Eindrücke, sie fremde Sichtweisen einzunehmen. Deshalb spekulierte der Gutachter vor Gericht auch über eine mögliche paranoide Persönlich- 8 Bei der Formulierung „schwere seelische keitsstörung. Zu einem flexiblen Denken und Abartigkeit“ handelt es sich um eine ge- Handeln sei sie nicht (mehr) in der Lage. In setzliche Formulierung; diese findet sich in den letzten fünf Jahren sei eine Verfestigung, § 20 StgB, URL: https://dejure.org/gesetze/ ja eine Erstarrung ihres Gedankengebäudes StGB/20.html [eingesehen am 15.02.2018].

78 Stefan Eisen / Lars Geiges | „Welcome to the show“ manche Einblicke, aber vor allem doch viele offene Fragen. Wie genau Radikalisierungspro- zesse durch Verschwörungsglauben befeuert werden, wie sich Staatsleugnerschaften for- mieren und verfestigen und – größer gefragt – auf welchem (veränderten?) gesellschaftlichen Nährboden sie gedeihen können, bleibt bspw. völlig unklar. Die Analyse von und der Umgang mit Staatsleugnern strapaziert Kommunen und Polizei und stellt die Wissenschaft vor noch so manches Problem. Hier gibt es wahrlich noch einiges zu tun.

Stefan Eisen studiert an Dr. Lars Geiges, geb. 1981, der Universität Göttingen ist wissenschaftlicher Politikwissenschaft und Mitarbeiter am Göttinger Soziologie im Master. Seit Institut für Demokratiefor- April 2017 arbeitet er als schung. Seit 2016 arbeitet studentische Hilfskraft er für die Forschungsstelle am Göttinger Institut für zur Analyse politischer Demokratieforschung. und religiöser Extremis- Sein Schwerpunkt liegt men in Niedersachsen hier auf dem Phänomen (FoDEx) insbesondere der Staatsleugner im über die extreme Rech- Raum Niedersachsen. te und ihr Umfeld.

79 Mächtiges Überraschen

Die Crux des AfD-Erfolges am Beispiel der Landtagswahl in Niedersachsen 2017

Florian Finkbeiner

eit den 1950er Jahren ist zeichnet von Ambivalenzen, wie das Beispiel erstmals wieder eine Par- der niedersächsischen Landtagswahl 2017 tei deutlich rechts der Mitte zeigt. Einerseits schienen die Voraussetzun- im Bundestag vertreten. Die gen für die AfD vor der Wahl äußerst günstig. AfD sitzt nun im Reichs- Fast die Hälfte der Niedersachsen (47 Prozent) tag und dazu noch in fast war der Ansicht, die AfD nähme ein gesunke- allen Landesparlamenten nes Sicherheitsgefühl vieler Menschen ernster (14 von 16). Ihre Etablierungs- als andere Parteien. Und es fand jeder „dritte chancen stehen damit so gut wie bei keiner niedersächsische Wahlberechtigte gut, dass anderen neuen Partei seit den Grünen in den die AfD den Einfluss des Islam in Deutschland S1980er Jahren. Doch anders als bei der Partei verringern und den Zuzug von Ausländern der Friedens- und Umweltaktivisten, Hippies und Flüchtlingen stärker begrenzen will als und Sexualreformer bleiben die Fragen nach andere“2. Andererseits machte die AfD gerade den tieferliegenden Ursachen und den Motiven zwischen Nordsee und Harz kaum Wahlkampf für die Wahl der AfD bislang weitgehend unbe- antwortet.1 Ihr aktueller Erfolgslauf ist gekenn-

2 Infratest Dimap: Wahlreport Landtagswahl Nie- 1 Vgl. Kassel, Dieter: Die Wissenschaft hinkt der AfD dersachsen 2017. Eine Analyse der Wahl hinterher, in: Deutschlandfunk Kultur, 26.09.2017. vom 15. Oktober 2017, Berlin 2017, S. 23.

80 Florian Finkbeiner | Mächtiges Überraschen und blockierte sich durch innerparteiliche Zumindest sollten es sich Beobachter, Kom- Streitereien selbst. mentatoren und Politiker vordergründig nicht zu einfach machen, indem sie dieses Phäno- Auf den ersten Blick folgte daraus die schein- men vorschnell abtun. bar logische Konsequenz, dass die Partei mit 6,2 Prozent der abgegebenen Stimmen weniger Denn man kann das Wahlergebnis auch gegen Zuspruch erhielt als noch kurz zuvor bei der den Strich lesen und dann zeigt sich rasch Bundestagswahl (bundesweit 12,6; in Nieder- die Crux des AfD-Erfolges: Folgt man etwa den sachsen 9,1 Prozent). Politische Beobachter und Einsichten der Parteien- und Wahlforschung4, Kommentatoren des Feuilletons gaben ange- tut die AfD eigentlich alles, um möglichst sichts des mäßigen AfD-Erfolges relativ schnell nicht gewählt zu werden. Wie in kaum einem Entwarnung.3 Denn schließlich blieb die Partei anderen Landesverband (neben dem saar- mit diesem Ergebnis hinter den eigenen Er- ländischen) blockiert sich die Partei selbst, wartungen und vor allem noch deutlicher hin- intrigiert und sabotiert sich gegenseitig, und ter den Befürchtungen zurück. In den letzten die Konfliktlinien, nicht nur zwischen Basis Jahren scheint sich offenbar in der Bundesre- und Führung, sondern auch innerhalb des publik einiges verändert zu haben, war doch Landesvorstands, überlagern sich. Die Partei dieses System jahrelang geradezu stolz darauf, präsentierte sich im Vorfeld der Wahl auch als eines der wenigen demokratischen Länder nicht als Einheit, worauf gerade in Deutschland überhaupt immun gegen den Aufstieg rechter traditionsgemäß viel Wert gelegt wird, und sie Parteien zu sein. machte im Prinzip kaum einen wahrnehmba- ren Wahlkampf. Doch nun hat sich mit der AfD wohl auch hier einiges „normalisiert“, wenn der Einzug Anders als etwa in den Landtagswahlkämp- einer rechten Partei in Parlamente medial mit fen 2016 in Sachsen-Anhalt veranstaltete die teils beschwichtigenden und relativierenden AfD Niedersachsen keine Mobilisierungsveran- Tönen abgetan wird. Doch diese 6,2 Prozent staltungen, anders als in Baden-Württemberg (235.000 Stimmen) bleiben in jedem Fall ein organisierte sie kaum Bürger- und Infoabende Achtungserfolg. Das Wahlergebnis deutet dar- und anders als in Rheinland-Pfalz konnte sie auf hin, dass sich hier trotz starker kultureller auch kein moderat-bürgerliches und professi- Beharrungskräfte und konsolidierter Volkspar- onelles Image pflegen.5 Aber vor allem hatte teien bei gleichzeitig kaum positiv wahrnehm- die Partei nicht einmal ein brennendes, pola- barer AfD-Parteiarbeit ein rechtsnationales Po- risierendes Wahlkampfthema, denn die Rele- tenzial weiter verfestigen könnte. Eine solche vanz der Flüchtlingsthematik hat seit 2015 / 16 Diskrepanz mag an und für sich im politischen spürbar abgenommen. Doch selbst ohne dieses Betrieb nicht ungewöhnlich sein – schließlich gerade für neue und junge Parteien so wich- verlaufen politische Kämpfe selten planmäßig. tige Elixier eines politischen Alleinstellungs- Aber der Wahlerfolg der AfD in ganz ver- merkmals schaffte es die AfD in den nieder- schiedenen Wählersegmenten, in bestimmten gesellschaftlichen Schichten und in so unter- schiedlichen gesellschaftspolitischen Kontexten 4 Vgl. Niedermayer, Oskar: Eine neue Konkurrentin im wirkt in seinen Widersprüchen doch beachtlich. Parteiensystem? Die Alternative für Deutschland, in: ders. (Hrsg.): Die Parteien nach der Bundes- tagswahl 2013, Wiesbaden 2015, S. 175–207.

3 Vgl. bspw. Fiedler, Maria: Warum die AfD in Nie- 5 Vgl. zu diesen Landesverbandsprofilen, Hensel, dersachsen strauchelt, in: Tagesspiegel, 13.10.2017; Alexander / Finkbeiner, Florian u. a.: Die AfD vor Willner, Tanja: Warum die AfD in Niedersachsen der Bundestagswahl 2017. Vom Protest zur par- kaum eine Rolle spielt, in: Focus, 09.10.2017. lamentarischen Opposition, Frankfurt a. M. 2017.

81 Demokratie-Dialog 2-2018

sächsischen Landtag. Vor einigen Jahren wäre dikalismus“9, konnten Parteien wie die neo- dies noch undenkbar gewesen. nazistische SRP Anfang der 1950er Jahre oder auch die deutschnationale NPD unter Adolf Wie schon bei vorherigen Wahlen reüssierte von Thadden Ende der 1960er Jahre gerade im die AfD bei der niedersächsischen Landtags- protestantischen Milieu erfolgreich sein. Doch wahl vor allem in drei Gruppen6: Sie bekam am der konfessionelle Kitt als wahlentscheidendes meisten Stimmen von den vormaligen Wählern Moment hat in der fragmentiert-individua- sonstiger Kleinparteien (79.000), den bisheri- lisierten Gesellschaft freilich an Bedeutung gen Nichtwählern (63.000) und den Christde- verloren. Heutzutage scheinen andere Motive mokraten (45.000). Von den anderen Parteien für die Wahlunterstützung wirkmächtig zu sein, – SPD (15.000), Linke (10.000), FDP (6.000) nur dass sich die Wahlforschung auf dieses und Grüne (2.000) – erhielt sie verhältnismä- neue AfD-Phänomen noch gar keinen Reim ßig weniger Stimmengewinne. Die AfD erzielte machen kann. ihre besten Ergebnisse in den Wahlkreisen Salzgitter (13,7 Prozent), Delmenhorst (10,5) und Soziostrukturell betrachtet wird die AfD deut- Wilhelmshaven (8,3).7 Im Vergleich fallen vor lich öfter von Männern als von Frauen ge- allem drei Regionen auf: Braunschweig (7,5), wählt.10 Tendenziell am meisten Zuspruch er- Lüneburg / Celle (7,0) und Hameln / Hildesheim hält sie in den Altersgruppen zwischen 25–34 (6,7). Lediglich in fünf Wahlkreisen blieb die und 35–44 Jahren. Zwar sammeln sich hinter AfD unter vier Prozent: Einmal in der Stadt der AfD auch relativ viele Menschen aus eher Göttingen, die übrigen Wahlkreise liegen alle im bildungsfernen Milieus; aber der ebenso große katholisch geprägten Raum Osnabrück / Emsland. Anteil an Wählern mit mittlerer Bildung ver- weist darauf, dass der prototypische AfD-Wäh- Nach der Landtagswahl erklärte Jörg Meuthen ler nicht zwangsläufig ungebildet sein muss.11 auf der kleinen Feier des AfD-Bundesvorstands Außerdem erhält die Partei quer durch alle in Berlin das relativ schwache Abschneiden Berufsgruppen Zustimmung. Sie wird sowohl seiner Partei in Niedersachsen u. a. damit, von Angestellten, Beamten, Selbstständigen dass die Region im Gegensatz zum katholisch als auch von Rentnern gewählt – in all die- geprägten Süden und zum „atheistischen“ sen Gruppen liegt sie über fünf Prozent. Auch Osten protestantisch sei und daher „tenden- wenn prozentual in Niedersachsen am meisten ziell linker“ wähle.8 Doch betrachtet man nun Arbeiter und Arbeitslose die Partei gewählt die Wahlanalysen, trügt diese Einschätzung haben, deckt sich dies dennoch mit neueren – unabhängig von der Validität dieser Aussage Wahlanalysen, die darauf hindeuten, dass die angesichts genötigter politischer Relativierung. Denn historisch betrachtet war schließlich die protestantische Konfession immer schon ein 9 Grebing, Helga: Niedersachsen vor 40 Jahren. Ge- entscheidendes Moment für den Antrieb rech- sellschaftliche Traditionen und politische Neuord- ter Parteien. Vor allem in Niedersachsen, dem nung, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landes- einstigen „Stammland des Nachkriegsrechtsra- geschichte, Bd. 60 / 1988, S. 213–227, hier S. 224.

10 Angaben der AfD-Wahlunterstützung nach ARD und Infratest dimap-Untersuchung, vgl. Infratest dimap: Wahlreport Landtagswahl Niedersachsen 2017, S. 61 f. 6 Vgl. im Folgenden Infratest Dimap: Wahlre- port Landtagswahl Niedersachsen 2017, S. 60. 11 Nach Lengfeld haben die meisten AfD-Wähler eher einen mittleren oder höheren Bildungsabschluss, 7 Ebd. Lengfeld, Holger: Die „Alternative für Deutsch- 8 Zit. nach Steffen, Tilmann / Greven, Lud- land“: eine Partei für Modernisierungsverlierer?, in: wig: AfD Niedersachsen. „Die Nerven lie- Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycho- gen blank“, in: Die Zeit, 16.10.2017. logie, Jg. 69 (2017), H. 2, S. 209–232, hier S. 222.

82 Florian Finkbeiner | Mächtiges Überraschen sogenannte Modernisierungsverlierer-The- AfD-Anhängern nur 26 Prozent an.16 Bereits se – also die Vorstellung, sozioökonomisch vor der Landtagswahl gab in einer Umfra- Abgehängte (oder sich zumindest so Fühlende) ge mehr als jeder dritte Niedersachse an, zu würden eher rechte Parteien wählen – für die befürchten, dass durch die Flüchtlingsmigration AfD-Wählerschaft zu kurz greift.12 Denn weder die deutsche Kultur und Sprache verloren gehe. ein geringer Bildungsgrad, ein Arbeiterstatus Fast alle AfD-Anhänger (99 Prozent) haben noch eine untere Einkommensschicht gehen dieser Aussage zugestimmt.17 Zwar beurteilen statistisch betrachtet mit einer häufigeren AfD-Wähler die aktuelle wirtschaftliche Lage AfD-Unterstützung einher.13 in Niedersachsen zu 59 Prozent als gut und zu 35 Prozent als schlecht, womit sich die Werte In jedem Fall wirkt die sogenannte Flücht- etwas von den Parteianhängern von SPD wie lingsfrage als Katalysator eines tieferliegenden CDU unterscheiden (beide 89 zu neun bzw. elf Unbehagens. Die AfD errang ihre besten Ergeb- Prozent). Aber dennoch ist dies kein spezifi- nisse in Salzgitter, Delmenhorst und Wilhelm- sches AfD-Charakteristikum, denn auch die shaven, also in solchen Städten, in denen im Linkspartei-Anhänger beurteilen die aktuelle niedersächsischen Vergleich der Anteil an seit wirtschaftliche Lage und die soziale Ungerech- 2015 zugezogenen Flüchtlingen am höchs- tigkeit ähnlich.18 ten ist.14 Dies deutet darauf hin, dass gerade in mittelgroßen Städten die Sichtbarkeit der Das wohl beliebteste und geläufigste Erklä- Veränderung durch Zugezogene einen wahlent- rungsmuster, warum jemand die AfD wählt, scheidenden Einfluss ausübt, ohne dass damit ist zweifelsohne das Protestmotiv.19 Demnach allerdings etwas über die intrinsische Motivati- wähle ein Großteil der sogenannten Protest- on ausgesagt werden kann. Denn gerade diese wähler lediglich eine solche Partei, um den bleibt weiterhin eher im Dunkeln. Lediglich in anderen Parteien einen „Denkzettel“ zu verpas- Umrissen deuten sich unterscheidbare Kriteri- sen.20 Und in der Tat mag auf den ersten Blick en an.15 diese Einschätzung auch für die AfD zutreffen, denn immerhin geben fast alle AfD-Wähler an AfD-Wähler votieren mit 68 Prozent stärker (97 Prozent), die Partei auch aus „Protestgrün- als andere Parteianhänger für die Stärkung den“ gewählt zu haben. nationaler Grenzen. Während bei allen anderen Parteien jeweils über achtzig Prozent für ein Doch bei genauerem Hinsehen kommen Zweifel „weltoffenes Land“ plädieren, geben dies unter an dieser Aussage auf, denn gegen sie spricht nicht nur die zeitliche Dimension: Dieses Erklärungsmuster wurde der AfD-Wahl bereits 2013 aufgedrückt. Zwar haben sich die in- haltlichen Dimensionen diesbezüglich fraglos 12 Schmitt-Beck, Rüdiger / Deth, Jan W. van / Staudt, Alexander: Die AfD nach der rechtspopulisti- schen Wende. Wählerunterstützung am Beispiel 16 Ebd., S. 27. Baden-Württembergs, in: Zeitschrift für Politik- wissenschaft, Jg. 27 (2017), H. 3, S. 273–303. 17 Ebd., S. 28.

13 Vgl. Lengfeld, Holger: Die „Alternati- 18 Vgl. ebd., S. 24 f. ve für Deutschland“: eine Partei für Mo- 19 Vgl. Billerbeck, Liane von: „Die Protestwahl ist ent- dernisierungsverlierer?, S. 223. tabuisiert“, in: Deutschlandfunk Kultur, 09.02.2015. 14 Vgl. Hendrich, Cornelia Karin: „Der soziale Frie- 20 Vgl. Schumann, Siegfried: Formen und Determinan- den droht zu kippen“, in: Die Welt, 16.10.2017. ten der Protestwahl, in: Gabriel, Oscar W. (Hrsg.): 15 Vgl. Infratest Dimap: Wahlreport Land- Politische Orientierungen und Verhaltensweisen im tagswahl Niedersachsen 2017, S. 23. vereinigten Deutschland, Wiesbaden 1997, S. 401–421.

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verschoben, der „Protest“ richtet sich nicht verdeckt. Denn obwohl fast alle AfD-Wähler mehr gegen die als „alternativlos“ ausgerufe- das Protestmotiv angeben, sagen gleichzeitig ne Sachpolitik der Eurogruppenländer (wobei immerhin vierzig Prozent „von der AfD über- auch dieser „Protest“ schon nicht altruistisch zeugt zu sein“24. Das Bild der Protestwahl mag motiviert war), sondern die diffuse Empörung einen wahren Kern haben, weil schließlich ge- richtet sich nunmehr abstrakt gegen einen als sellschaftliches Unbehagen kommuniziert wird, nicht mehr kollektivistisch wahrgenommenen das zumindest oberflächlich auch unter dem Gesellschafts- und Staatskörper. Das Bild des inflationär verwendeten Wort „Protest“ subsu- „Protestes“ suggeriert hingegen ein temporä- miert werden kann. Aber als Erklärungsfolie res und auf Einzeldimensionen beschränktes reicht es bei Weitem nicht aus. Wahlmotiv. Es beschreibt eine kurzfristige oder kurzlebige Enttäuschung gegenüber der eigent- Was AfD-Anhänger allerdings auszeichnet, ist lich präferierten Partei.21 eine grundlegende Ablehnung des demokra- tischen Systems, insofern, als die AfD-Wähler Doch das Mantra der Protestwahl muss auch mit deutlicher Mehrheit (71 Prozent) unzufrie- aus einem anderen Grund angezweifelt wer- den mit der Demokratie sind, so wie sie aktu- den, denn die empirische Validität dieser ell funktioniert. Dies ist der größte Unterschied Aussage, auf die sich gerne berufen wird, im Vergleich zu den anderen Parteianhängern. steht methodisch auf tönernen Füßen. Denn: Und in dieser Klarheit deutet diese Aussage Das Protestmotiv wird methodisch in Umfra- daraufhin, dass die AfD vor allem tieferliegen- gen mit folgender Frage ermittelt: „Die AfD ist de Einstellungsmuster aggregiert und artiku- die einzige Partei, mit der ich meinen Protest liert, die sich in Teilen der Gesellschaft wohl gegenüber der vorherrschenden Politik ausdrü- schon länger aufgestaut haben. Ihr „Protest“ cken kann“22. Doch diese Frage ist suggestiv, richtet sich nicht nur gegen bestimmte politi- unabhängig davon, aus welch unterschiedli- sche Entscheidungen. chen Gründen sich jemand für die Wahl der AfD entscheidet, eine solche Frage kann die Die Ursache ihrer Ablehnungshaltung liegt entsprechende Person folglich nur bejahen. wohl in einem geänderten kulturellen wie informationellen Klima und in einer anderen Entsprechende Zweifel werden noch zusätzlich Erwartungshaltung an Politik. Die Frustration dadurch genährt, zieht man ein anderes Item über den politischen Betrieb muss sich an- aus der gleichen Umfrage heran. Auf die Frage: scheinend in Teilen der Gesellschaft dermaßen „Haben Sie ihre Partei gewählt, weil Sie von tief festgesetzt haben, dass die aktuelle Per- ihr überzeugt sind / von anderen enttäuscht formanz der AfD ausreicht, um vordergründig sind?“, gaben vierzig Prozent der AfD-Wähler Befriedigung zu verschaffen. Nur so ist auch an, diese aus Überzeugung, und 56 Prozent, zu erklären, wieso die Selbstzerfleischung der die AfD aus Enttäuschung gewählt zu haben.23 Partei ihr gerade nicht schadet, während früher Dieses zusätzliche Item verrät, dass die ers- genau dies doch rechte Parteien zuverlässig in te Protestfrage tiefergehende Entwicklungen die Bedeutungslosigkeit führte.

Es gehört wohl zur Ironie des bundesdeutschen Parlamentarismus, dass Wählerschaften selten 21 Zur Debatte um die sogenannte „Protestwahl“, ihre Wahlentscheidungen nach ihren eigenen vgl. Arzheimer, Kai: Die Wähler der extremen Interessen und nach dem politischen Zustand Rechten 1980-2002, Wiesbaden 2008, S. 104 f. der präferierten Partei ausrichten. Wenn es so 22 Infratest Dimap: Wahlreport Landtags- wahl Niedersachsen 2017, S. 37.

23 Ebd., S. 91. 24 Ebd., S. 62.

84 Florian Finkbeiner | Mächtiges Überraschen wäre, hätten wir sicher ganz andere Zustände amtung des Protests“ (Franz Walter) gehören in diesem Land. Insofern haben diese Behar- diese Parteien nunmehr zu den staatstragen- rungskräfte und Resilienz sicherlich auch ihr den Agenten per se. Ob ein solcher Prozess Gutes. Der relative Erfolg der AfD in Nieder- bei der AfD einsetzt, wird sich erst noch zei- sachsen deutet zugleich aber auf ein rechts- gen. In einer Partei, die im Deutschen Bundes- nationales Potenzial hin, das sich inzwischen tag sitzt und sich weiterhin hinter Björn Höcke anders als noch vor zehn Jahren offen artiku- stellt, erscheint dies aktuell zumindest fraglich lieren will und auch verfestigen könnte.25 Frei- – auch wenn es nicht ausgeschlossen ist. lich speist sich die AfD-Wählerschaft zu einem Teil aus dem Spektrum der extremen Rechten. Jedenfalls: Wer über die AfD-Wählerschaft lediglich in den Kategorien von Rechtsradikalen Aus demokratietheoretischer Sicht erweist die und Protestwählern denkt, macht es sich zu AfD der Demokratie damit einen Bärendienst. einfach. Zugegeben: In Niedersachsen zeichnet Denn ein gewisser Bodensatz an rechten Ein- sich das gesellschaftliche Unbehagen dank stellungen ist nun einmal in modernen Gesell- oder gerade trotz Trägheitsmomenten weniger schaften eine „normale Pathologie“ (Scheuch / stark ab als bei anderen Wahlen der letzten Klingemann). Bis zu einem gewissen Grad führt Jahre. Dennoch kann im Umkehrschluss keines- die AfD diese Stimmen und vor allem vorma- wegs von Zufriedenheit und Vertrauen in die lige Nichtwähler wieder an die Wahlurnen. Das Politik die Rede sein. Seit Jahren mehren sich hatten sich manche Auguren der vergangenen die Anzeichen, dass es in der sogenannten Jahre sicherlich anders vorgestellt, als man bürgerlichen Mitte gewaltig rumort: Das Miss- sich noch süffisant über sinkende Wahlbetei- trauen in der Gesellschaft nimmt immer mehr ligung als größte „Gefahr für die Demokratie“ zu, soziale Fragen werden lediglich in Phan- echauffieren konnte.26 Denn zweifelsohne endet tomdebatten angegangen (ob nun 8,84 oder der demokratietheoretisch förderliche Beitrag 9,00 Euro Mindestlohn) und die politisch-lei- der AfD spätestens an dem Punkt, an dem die denschaftliche Partizipation erlahmt gerade zivilisierenden Kräfte des Parlamentarismus in dieser so wichtigen „bürgerlichen Mitte“ in versagen. Institutionen wie Parteien (bei allen immanen- ten Problemlagen, die dazu geführt haben).28 Wir kennen diesen Effekt etwa von der Sozial- demokratie, die bis in die 1950er Jahre hin- Der Erfolg der AfD resultiert schließlich nicht ein die Gesellschaft noch wirklich tiefgehend nur daraus, dass diese Partei die subalternen verändern wollte, oder von den Grünen, die bis Gruppen mobilisiert hat – für diesen Teil der in die 1980er Jahre hinein noch Revoluzzer in Gesellschaft interessiert sich schon seit Lan- ihren Reihen hatten. Kraft der Institutionali- gem kaum jemand mehr. Die aktuelle Hyste- sierung dieser politischen Kräfte in die staat- rie über die AfD kommt vielmehr daher, dass lichen Verwaltungsapparate27 und der „Verbe- Teile dieser bürgerlichen Mitte, die so lange als Bastion und Bollwerk der gesellschaft- lichen Stabilität galten, nervös werden und 25 Vgl. Schwarzbözl, Tobias / Fatke, Matthias: Au- ihre Wahlentscheidungen zugunsten der AfD ßer Protesten nichts gewesen? Das politische zumindest nicht mehr kategorisch und absolut Potenzial der AfD, in: Politische Vierteljah- resschrift, Jg. 57 (2016), H. 2, S. 276–299.

26 Vgl. Bell, Arvid: Demokratie in Ge- 28 Ausdrücklich zu empfehlen ist hierzu die aktuel- fahr, in: Die Zeit, 23.09.2009. le Debatte im Merkur, vgl. Möllers, Christoph: Wir, 27 Vgl. Flechtheim, Ossip K.: Die Institutionalisierung die Bürger(lichen), in: Merkur, Jg. 71 (2017), Nr. 818, der Parteien in der Bundesrepublik, in: Zeit- S. 5–16; Fach, Wolfgang: Ab durch die bürgerliche schrift für Politik, Jg. 9 (1962), H. 2, S. 97–110. Mitte?, in: Merkur, Jg. 72 (2018), Nr. 824, S. 79–86.

85 Demokratie-Dialog 2-2018

ausgeschlossen werden können.29 Vieles deutet derzeit auf neue grundlegende kulturelle Kon- fl iktlinien hin, die aber eben auch sozioöko- nomisch produziert und projiziert werden.30 Da helfen rhetorische Leitfäden zum Umgang mit „Rechten“31 der sich selbst vergewissernden linksliberalen Intelligenz nur wenig.

29 Vgl. Nachtwey, Oliver: Die Abstiegsgesell- schaft. Über das Aufbegehren in der re- gressiven Moderne, Berlin 2016.

30 Vgl. Inglehart, Ronald / Norris, Pippa: Trump, Bre- xit, and the rise of populism: Economic have-nots and cultural backlash. HKS Working paper 2016.

31 Leo, Per / Steinbeis, Maximilian / Zorn, Daniel-Pascal: Mit Rechten reden. Ein Leitfaden, Stuttgart 2017.

Florian Finkbeiner, geb. 1988, studierte Politik- wissenschaft und Soziologie. Er arbeitet als wissen- schaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. In sei- ner Dissertation beschäftigt er sich mit dem Wandel des Konservatismus nach der deutschen Vereinigung.

86 Die sogenannten Germanen

Fragen zum Umgang mit einem Faszinosum

Niels Penke / Heike Sahm

ikinger begegnen und ‚Germanen‘2 erscheint die Frage, ob das uns auf Netflix, Mittelalter überhaupt jemals aufgehört hat, ge- nordische Götter radezu sekundär – denn primäres Faktum ist, in Comics und dass es niemals mehr Repräsentationen von Fantasyromanen, Wikingern und Schildmaiden – sowie Men- bei Pagan und schen, die sich als ihre modernen Nachfahren Viking Metal-Bands fühlen und sich auf Instagram als solche in- auf YouTube und auf T-Shirts in der Fußgängerzone. Angesichts dieser medialen Allgegenwart von ‚Wikingern‘1 performative Bestimmung auch für Personen und W Gruppierungen aus anderen Regionen verwendet worden. Vgl. Krüger, Jana: „Wikinger“ im Mittelal- 1 Um der Annahme eines homogenen Volks oder ter. Die Rezeption von ‚víkingr‘ m. und ‚víking‘ f. einer primär kriegerischen Kulturgemeinschaft in der altnordischen Literatur, Berlin 2008. zu widersprechen, verwenden wir den Terminus aufgrund seiner performativen Beschaffenheit hier 2 Zur Problematik – nicht nur, aber auch, des in Anführungszeichen. Wikinger ist nach altis- Kollektivsingulars – der Germanen vgl. An- ländsich víkingr nur derjenige, der als Seeräuber dersson, Thorsten et al.: Germanen, Germania, aktiv ist. Das betrifft weder alle Angehörigen eines Germanische Altertumskunde, in: Beck, Hein- Volkes, Stammes oder einer Sippe im frühmittelal- rich (Hrsg.): Reallexikon der germanischen Al- terlichen Nordeuropa, sondern ist eben durch die tertumskunde, Bd. 11, Berlin 1998, S. 181–438.

87 Demokratie-Dialog 2-2018 : https://commons.wikimedia.org/wiki/File:02015_ URL / CC BY-SA 4.0 BY-SA CC Bild: Silar / Silar Bild: Wikinger_Reenactment-Gruppen_des_10.Jahrhunderts_-Trzcinica_012.jpg Wikinger Reenactment-Gruppen des 10. Jahrhunderts - Trzcinica, 22. August 2015

szenieren – gegeben hat als heute; nie haben chen – Kulturgemeinschaften dient, um die mehr Menschen Odin und Thor in ihren Köpfen eigene Überlegenheit nachzuweisen und sich oder als Schmuckstücke mit sich herumge- über hypertrophe und kriegerische (vor allem tragen. Diese Situation ist das Produkt einer Männlichkeits-)Ideale der eigenen Stärke zu Popularisierungsleistung, die sich weit weniger versichern.3 historischer Forschung und der Verbreitung entsprechender Wissensbestände verdankt als Rudolf Simek hat über das vielen dieser Dar- unterhaltungsmedialer Vermittlung. stellungen zugrundeliegende Wissen bemerkt, dass man Doch neben einer Industrie, die mit ih- „mit Recht behaupten [kann], dass der Stand ren Filmen, Romanen, Computerspielen und der Kenntnisse der germanischen Religion und Mittelalter-Märkten lediglich unterhalten und Mythologie in der rechten Szene bestenfalls dem möglichst gute Umsätze generieren will, gibt der populären Handbücher vom Ende des 19. es auch eine Vielzahl politisch interessierter und Beginn des 20. Jahrhunderts entspricht und Bezugnahmen auf ‚Germanen‘ und ‚Wikinger‘ eine Weiterentwicklung oder weitere Information mit eindeutig völkischer Emphase: Rechtsrock- nicht stattgefunden hat, wobei überraschender- weise nicht einmal die deutschsprachige Lite- wie NS-Black-Metal-Bands, extrem rechte Liedermacher wie ‚identitäre‘ Kulturkämpfer, die sich ganz ähnlicher nostalgischer Entwürfe einer Vergangenheit bedienen, die es so nie gegeben hat, diese aber dennoch zur Erklä- 3 Vgl. Penke, Niels / Teichert, Matthias: Die Geburt der rung politischer Konstellationen des 21. Jahr- Germanomanie aus dem (Un-)Geist des Anti- hunderts heranziehen. Dieser Art vergewissern semitismus. Eine Art Einleitung, in: dies. (Hrsg.): sie sich ihrer selbst und ihrer ‚eigenen‘ Kultur, Zwischen Germanomanie und Antisemitismus. die stets essentialistisch zur Unterscheidung Transformationen altnordischer Mythologie in den von anderen – anders-‚artigen‘ oder feindli- Metal-Subkulturen, Baden-Baden 2016, S. 9–37.

88 Niels Penke / Heike Sahm | Die sogenannten Germanen

ratur der 30er- und 40er-Jahre vorausgesetzt Google Books und andere, noch weniger insti- werden kann.“4 tutionell gehegte, Online-Archive bereitstellen.

Simeks Einschätzung ist für die Buchgelehrten Symptomatisch scheinen an diesen Textbe- in den (durchaus heterogenen) extrem rechten ständen Schattenseiten der Digitalisierung auf; Szeneverbünden gewiss zutreffend. Ein solcher als das, was Hans Ulrich Gumbrecht „brei- Rückfall in die überholt geglaubten Vorstel- te Gegenwart“ genannt hat, in der es „nicht lungswelten des germanisch-germanistischen mehr gelingt, irgendeine Vergangenheit hinter Unwesens ist ohne die Digitalisierung nicht uns zu lassen“. Denn „statt ihre Verbindung zu denken, deren ‚dunkle Seiten‘ einen immer mit der Gegenwart als Orientierungswert zu stärkeren Beitrag leisten. Denn es sind eben verlieren, überschwemmen Vergangenheiten nicht nur big data, redliche wissenschaftliche unsere Gegenwart, wobei die Perfektion elek- Editionen und Open-Access-Publikationen, die tronischer Gedächtnisleistungen eine zentrale mit dem Erlöschen von Urheberrechten zuneh- Rolle spielt“6. Ob wir wollen oder nicht: Nahezu mend zugänglich werden, sondern auch und alle historischen Bestände sind zugleich und zwar überwiegend ‚ungerahmte‘, nicht einge- überall verfügbar (und alle den gleichen Maus- leitete und nicht kommentierte Texte über- klick weit entfernt) – und das ist vor allem holter Wissensstände. Viele der eher mäßigen dort problematisch, wo es um die Expertise bis unterdurchschnittlichen Seminar- und schlecht bestellt ist, wo das Wissen um Histo- Bachelorarbeiten bedienen sich bei dem, was rie, Theorien und Methoden zumeist fehlt oder Google auf Seite eins anbietet, oder was Dank nur selektiv ausgebildet ist, und wo im Zwei- dominanter Versandanbieter günstig erworben felsfall (welcher der Normalfall zu sein scheint) werden kann. Hier kehren viele emphatisch ge- Fakten zugunsten von Wunschbefriedigung zeichnete Germanen-Bilder scheinbar egalitär aufgegeben werden. wieder, die sich aus dem speisen, was billige Reprints5 sowie die gigantischen Bestände, die Ein anderer, in seiner Breitenwirkung schwer zu fassender Einfluss ist die populäre Ver- mittlung von Bildern durch Filme, Serien und Romane, die zwar auf gesicherte Wissensbe- stände rekurrieren, in ihren Aneignungsprak- 4 Simek, Rudolf: Germanische Mythologie. Forschungs- tiken aber selektiv verfahren. Zudem spielen stand und aktuelle Rezeption am Beispiel der Internetforen, Facebook-Seiten und -gruppen rechten Szene, in: Gallé, Volker (Hrsg.): Germanische Mythologie und Rechtsextremismus – Missbrauch eine zunehmend große Rolle in der ,Wissens-‘ einer anderen Welt. Tagung der Nibelungenlied-Ge- bzw. Vorstellungsvermittlung. Viele dieser sellschaft Worms, Worms 2015, S. 33–44, hier S. 43. Onlineangebote stellen ihre bricolage-artig zusammengebastelten Inhalte z. T. offen aus7, 5 Vgl. die folgenden Nachdrucke: Das Erbe der Ahnen. Germanische Feste und Bräuche im Jahresring, die – wie Likes und Kommentare bestätigen – hrsg. v. Arbeitskreis Deutsche Mythologie, angeblich nicht nur eine (gegenüber wissenschaftlichen zuerst 1941, Nachdruck Kiel 2011. Schulz, Walther: Germanische Vorzeit. Familie – Staat – Gesellschaft, zuerst 1925, Neuauflage Kiel 2012; Blachet- 6 Gumbrecht, Hans Ulrich: Unsere breite Ge- ta, Walter: Lerne Runen kennen! Kleine Runenfibel genwart, Frankfurt a. M. 2010, S.16. mit 65 Zeichen und Zeichnungen. Überarbeite- te Neuaufl. nach dem Original 1941, Oberhausen 7 „Germanen – Krieger des Nordens“ ist nach 2014; Blachetta, Walter: Das Buch der deutschen Eigenbeschreibung eine Seite, auf der es um Sinnzeichen, zuerst 1941, Nachdruck Kiel 2010; „Mittelalter, Fantasy, Ritter, Wikinger, Kelten, Ger- Kossina, Gustaf: Altgermanische Kulturhöhe. Eine manen, Elben, Zwerge usw.“ geht. Vgl. https://www. Einführung in die Deutsche Vor- und Frühge- facebook.com/kriegerdesnordens/about/?ref=pa- schichte, zuerst Jena 1919, Neuauflage Kiel 2011. ge_internal [eingesehen am 01.03.2018].

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Veröffentlichungen) vergleichsweise hohe art‘ bestimmt waren.8 In dieser Lückenlosigkeit Resonanz erfahren, sondern auch bei vielen kommen sie einem Bedürfnis nach historischer Besucher- bzw. NutzerInnen unterschiedslos Rückversicherung weit mehr entgegen als in die Vorstellungen von der Vergangenheit das, was Wissenschaft (unabhängig von ihrem der ‚eigenen‘ Kultur eingehen. Der Schauspieler disziplinären Zuschnitt) zu bieten hat, weil

Bild: Heusler, Andreas / Koch, Max: Urväterhort. Die Heldensagen der Germanen, Berlin 1904, hier S. 19: Illustration zur ‚Kudrun‘

Travis Fimmel („Vikings“) beglaubigt die Exis- auf die immer wieder kontrovers diskutierten tenz Ragnar Loðbróks in der gleichen Weise, Fragen, wer ‚die‘ Germanen und was Wikinger wie die von Maisie Williams dargestellte Arya seien, keine leicht adaptierbaren Defi nitionen Stark („Game of Thrones“) eine glaubwürdige und Bilder folgen können. Kindheit im ‚Mittelalter‘ verkörpert. Daraus ließe sich ein Dilemma folgern: Weil Die Interessen, ‚Wikinger‘ und ‚Germanen‘ auf die Wissenschaft zu wenig Bilder produziert, Social-Media-Plattformen zu zeigen – und sie tun es andere. Dieses Auseinanderfallen von überhaupt erst als Kollektivsubjekte zu konst- exklusiver wissenschaftlicher Community und ruieren –, mögen divers sein; wissenschaftlich Öffentlichkeit ist bereits in Johann Gottfried haltbaren Darstellungen haben sie indes immer Herders Auseinandersetzung mit dem Philolo- etwas voraus. Sie sind bunter und sinnlicher; gen Friedrich David Gräter Ende des 18. Jahr- und weil sie sich nur bedingt für Faktentreue hunderts festzustellen. Herder resümiert, dass interessieren, auch lückenlos. Nahezu alle Sei- tenbetreiberInnen und KommentatorInnen ‚wis- sen‘, wer ihre germanischen Vorfahren waren 8 Vgl. die Facebook-Seiten „Germanen-Magazin“, und wie deren Kultur, Gebräuche und ‚Geistes- „Heiden-Kelten-Druiden-Wikinger-Germanen-He- xen-Wicca-Paganismus-Mittelalter“, „Runen & Germanen / Nordmänner“, „Odins Raben“, „Mid- gards Wölfe“ u. a. [eingesehen am 01.03.2018].

90 Niels Penke / Heike Sahm | Die sogenannten Germanen dieser sich für seine Editionen skandinavischer zum Vergleich heranziehen.“12 Das hier gene- Dichtungen des Mittelalters und „ihre Bekannt- rierte ‚Bilderwissen‘ des 19. Jahrhunderts ist im machung eine unsägliche, bisher unbelohnte populären Diskurs immer noch überraschend Muhe“ gebe. Und er fragt weiter: „[…] wäre aktuell. es eine Entweihung der Kunst, wenn er eine kleine nordische Mythologie mit Kupferstichen Dass im populären Diskurs fachwissenschaftli- schriebe?“9 Die reine textförmige Wissensver- che Zusammenhänge verallgemeinert werden, mittlung taugte demnach in der Einschätzung ist selbstverständlich. Im Blick auf das Ger- Herders (wie heute) nur für wenige – hingegen manen-Thema ist dies aber nicht trivial, weil ermöglicht die Popularisierung durch ‚Versinn- sich seit den 2000er Jahren beobachten lässt, lichung‘ in Form bildlicher Darstellungen die dass die extreme Rechte den Schwerpunkt Adressierung größerer Publika (und bereits ihrer Erinnerungskultur aus der Zeitgeschich- Herder erhoffte sich deren Inklusion). Die zu- te ins frühe Mittelalter verlagert und dabei grundeliegenden eklektizistischen Adaptions- dem Germanen-Narrativ mitsamt unterleg- formen sind bei Herder ebenso („wir nehmen tem „Nordismus“ neue Geltung verschafft. Das das, was für uns dient, wo wir’s finden“10) mag einerseits damit zu tun haben, dass die antizipiert wie die „Wirkung auf das Leben“, Leugnung des Holocaust als zentrale ‚Gegener- mit der Herder seinen Iduna-Essay beschließt. zählung‘ nach der intensiven Aufarbeitung seit Andere Fachwissenschaftler sind diesem Prin- den 1980er Jahren selbst am rechten Rand zip gefolgt: Andreas Heusler hat seinen ‚Urvä- an Überzeugungskraft verloren hat.13 Es wird terhort‘, eine Sammlung von Heldensagen, mit Illustrationen von Max Koch herausgegeben, von denen er sich eine spezifische Wirkung er- hoffte: „Beim Durchwandern dieser Bilderreihe 12 Lankheit, Klaus: Nibelungen-Illustration möge der Sagenfreund einen frischen Hauch der Romantik. Zur Säkularisierung christlicher Bildformen im 19. Jahrhundert, in: Heinzle, Jo- aus der Heldenjugend unseres Volkes verspü- achim / Waldschmidt, Anneliese (Hrsg.): Die Ni- ren.“11 Die seit Hegel geforderte Integration der belungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher germanischen Heldensage in ein nationales Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezep- Bildungsprogramm führt im 19. Jahrhundert tion des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahr- zur bildlichen Präsenz des Nibelungenliedes in hundert, Frankfurt a. M. 1991, S. 193–218. Schul- und Jugendbüchern, Denkmälern usw.: 13 Botsch, Gideon: Fiktionen gegen Fakten. Zum „[K]eine andere Dichtung der Weltliteratur ist Umgang der extremen Rechten mit Ge- in diesen Jahrzehnten nach 1800 so oft zum schichte, in: Killguss, Hans-Peter / Langebach, Gegenstand bildlicher Darstellungen geworden, Martin (Hrsg.): „Opa war in Ordnung!“ Erin- auch Ossian nicht. Nur die Bibel lässt sich

9 Herder, Johann Gottfried: Iduna oder der Ap- fel der Verjüngung, in: ders: Schriften zu Li- teratur und Philosophie: 1792–1800. (= Wer- ke, Bd. 8), hrsg. von Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt a. M. 1998, S. 155–172, hier S. 161.

10 Ebd., S. 164.

11 Heusler, Andreas / Koch, Max: Urväterhort. Die Heldensagen der Germanen, Berlin 1904, S. 8.

Bild: Heusler, Andreas / Koch, Max: Urväterhort. Die Heldensagen der Germanen, Berlin 1904, hier S. 54, Illustration zum Nibelungenlied 91 Demokratie-Dialog 2-2018

ferner damit zusammenhängen, dass das frühe behauptet wird, die entstehende germanische Mittelalter – wie gesagt – als Projektionsflä- Kultur gründe auf „Riten ihrer Vorfahren“.16 Die- che relativ flexibel ist: Auf der Suche nach se Aussage ist wenig spezifisch, und sie un- den sogenannten Ursprüngen gehen Interes- terstellt eine eben doch eigene und geradezu sengemeinschaften wie die Lüneburger Art- urtümliche Kontinuität, die sich nicht beweisen gemeinschaft auf die Suche nach Symbolen lässt und die Einflüsse gleichzeitiger Kultu- und Traditionen, die fortan als Bestandteil der ren, etwa der Römer oder Kelten, ausblendet. eigenen, pseudo-germanischen Kultur gelten Im selben Kapitel wird der – angesichts des sollen.14 Weiterhin ist die germanische Basi- Hefttitels wohl notwendige – Brückenschlag serzählung für die extreme Rechte so attraktiv, zu den Wikingern hergestellt, indem diese nun gerade weil sie in der öffentlichen Diskussi- wiederum als „Nachfolger der Germanen im on nach wie vor als im Großen und Ganzen Norden“17 ausgegeben werden. Hier werden in bekannt und akzeptiert gelten kann. Indem sie aller Kürze Kontinuitätslinien angedeutet, die diese Herkunftserzählung aufgreift, bleibt sie ihre Entsprechung im Germanenmythos des nahe am gesellschaftlichen Konsens – anders 19. Jahrhunderts finden, der seinerseits von der als mit der Zeitgeschichte. Forschung längst dekonstruiert worden ist.18

Dies lässt sich an einem populärwissenschaft- Denn die Forschung zum frühen Mittelalter hat lichen Beispiel verdeutlichen. Das Heft „Germa- in einer Reihe von Arbeiten zur Ethnogene- nen und Wikinger“ in der Reihe „Geo Epoche se nachgewiesen, dass die vielen Ethnien in Kollektion“ enthält in den einzelnen Kapiteln Nord- und Mitteleuropa sich selbst nicht als und noch in der abschließenden Zeitleiste „Da- Germanen bezeichnet oder als Einheit wahr- ten und Fakten“ eine Vielzahl differenzierender, genommen haben, dass sich archäologische die aktuelle Forschung aufgreifender Erklä- Befunde nicht zuverlässig ethnisch deuten rungen.15 Das erste Kapitel aber mit dem Titel lassen, ja dass von den Römern als ‚Germa- „Magie einer fernen Zeit“ arbeitet in seinen nen‘ bezeichnete Ethnien nicht notwendig Abbildungen, die allesamt unnatürlich be- eine germanische Sprache gesprochen haben leuchtete Räume und Relikte „der Germanen“ müssen. Ferner darf der Einfluss der römischen zeigen, mit suggestiven Mitteln. Die erläutern- Kultur auf Sprache, Sachkultur, Institutionen den Texte sind teilweise plakativ, wenn zum und Namen auf das Gebiet auch jenseits des Untertitel „Erben einer uralten Zivilisation“ Limes nicht unterschätzt werden. Was die rö- mischen Geschichtsschreiber über ihre nördli-

nerungspolitik der extremen Rechten. Beiträ- ge und Materialien, Köln 2016, S. 52–65. 16 Ebd., S. 15.

14 Banghard, Karl / Raabe, Jan: Die Germanen als ge- 17 Ebd., S. 18. schichtspolitisches Konstrukt der extremen Rech- 18 Seeba, Hinrich C.: Nationalbücher. Zur Kanoni- ten, in: Killguss, Hans-Peter und Langebach, Martin sierung nationaler Bildungsmuster in der frühen (Hrsg.): „Opa war in Ordnung!“ Erinnerungspolitik Germanistik, in: Fohrmann, Jürgen / Voßkamp, der extremen Rechten, Köln 2016, S. 130–143, hier Wilhelm (Hrsg.): Wissenschaft und Nation. Stu- S. 131: „Während sich auf zeithistorischen ge- dien zur Entstehungsgeschichte der deutschen schichtspolitischen Feldern – etwa bei der Leug- Literaturwissenschaft, München 1991, S. 57–71; nung des Holocaust – schnell massive Widerstände See, Klaus v.: „Blond und blauäugig“. Der Ger- gegenüber extrem rechten Deutungsversuchen mane als literarische und ideologische Fiktion, einstellen, öffnen sich beim Thema Vorgeschichte in: Bönnen, Gerold / Gallé, Volker (Hrsg.): Ein Lied strategisch bedeutsame Bewegungsspielräume.“ von gestern? Wormser Symposium zur Rezep- 15 Geo Epoche Kollektion, Nr. 6: Ger- tionsgeschichte des Nibelungenliedes, Worms manen und Wikinger 2017. 1999 (= Der Wormsgau, Beiheft 35), S. 105–139.

92 Niels Penke / Heike Sahm | Die sogenannten Germanen chen Nachbarn äußern, sind vielfach Stereoty- telalters.21 Doch Komplexitätsreduktion ist nicht pe, die auch zur Beschreibung anderer Ethnien die einzige Begründung für die Hartnäckigkeit; zur Anwendung kommen, und verdankt sich oft ist die Reaktivierung des Germanenmythos gerade in der Akzentuierung positiver Eigen- mit politischen Interessen verknüpft. So erklärt schaften vielfach dem Versuch, der eigenen der Klappentext zum vorgeblichen Nachdruck römischen Gesellschaft einen Spiegel vorzuhal- „Das Erbe der Ahnen. Germanische Feste und ten.19 Das heißt: Die Forschung hat die Leitidee Bräuche im Jahresring“ aus dem Jahr 2011, von ‚den Germanen‘ längst verabschiedet – im dass man mit der erneuten Auflage eines Sinne einer in Mittel- und Nordeuropa im erstmals 1941 erschienenen Textes einem im frühen Mittelalter traditionell ansässigen, in öffentlichen Diskurs nach 1945 als „nicht mehr sprachlicher, ethnischer, politischer und kultu- opportun“22 angesehenen Interesse an der reller Hinsicht als homogen anzusprechenden eigenen Geschichte und Kultur nachkomme. Gemeinschaft, in deren Kontinuität sich die Nation ausgebildet habe.20

21 Goetz, Hans-Werner: Gentes et linguae. Völker und Aus dem Blickwinkel der Forschung ist die Sprachen im ostfränkisch-deutschen Reich in der Zählebigkeit des Germanen-Mythos daher Wahrnehmung der Zeitgenossen, in: Haubrichs, Wolf- erstaunlich und erfordert immer neu die Suche gang (Hrsg.): Theodisca. Beiträge zur althochdeut- nach Begründungen. Sicherlich ist die Be- schen Sprache und Literatur in der Kultur des frü- hauptung, nun einmal irgendwie auch von den hen Mittelalters, Berlin / New York 2000 (RGA-E 22), sogenannten Germanen abzustammen, eine S. 290–312; vgl. auch ders.: Die ‚deutschen Stämme‘ ‚simple story‘ im Vergleich zur Darstellung der als Forschungsproblem, in: Beck, Heinrich / Geuenich, – nach Hans-Werner Goetz – ‚Vielfalt gleichzei- Dieter / Steuer, Heiko / Hakelberg, Dietrich (Hrsg.): Zur Geschichte der Gleichung ‚germanisch – deutsch‘. tiger Ethnogenesen‘ im Europa des frühen Mit- Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, Berlin / New York 2004 (RGA-E 34), S. 229–253.

22 Vgl. den vollständigen Klappentext: Arbeitskreis Deutsche Mythologie (Hrsg.): Das Erbe der Ahnen. Germanische Feste und Bräuche im Jahresring. Kiel 19 Vgl. Wolfram, Herwig: Wie schreibt man heute ein 2011: „Wer kennt sie noch? Nach 1945 scheint es in Germanenbuch?, in: Becher, Matthias / Dick, Stefa- Deutschland nicht mehr opportun, die Deutschen nie (Hrsg.): Völker, Reiche und Namen im frühen mit dem Erbe ihrer Ahnen bekanntzumachen. Mittelalter, München 2010 (= MittelalterStudien 22), Doch ein Volk ohne Wissen über seine Herkunft S. 15–43; vgl. auch Andersson et al.; Haubrichs, Wolf- ist orientierungslos. Der Arbeitskreis Deutsche gang: Theodiscus, Deutsch und Germanisch – drei Mythologie hat es sich zur Aufgabe gemacht, Ethnonyme, drei Forschungsbegriffe. Zur Frage der alte Weisheit dem vergessen zu entreißen. Diese Instrumentalisierung und Wertbesetzung deutscher Schrift, 1941 erstmals erschienen, führt weit und Sprach- und Volksbezeichnungen, in: Beck, Hein- tief zurück in das Bewußtsein unserer nordeuro- rich / Geuenich, Dieter / Steuer, Heiko / Hakelberg, päischen Vorfahren. Woran glaubten sie? Welche Dietrich (Hrsg.): Zur Geschichte der Gleichung ‚ger- Botschaft haben sie uns hinterlassen? Hinter dieser manisch-deutsch‘: Sprache und Namen, Geschichte Schrift steht wissenschaftliche Erkenntnis über die und Institutionen. Internationale Tagung Freiburg Wurzeln eines Brauchtums, das in erheblichem 1.–3.12.2000, Berlin 2004 (RGA-E 34), S. 199–228. Umfang immer noch fortwirkt.“ Vgl. zum Vorwurf 20 Vgl. Ehlers, Joachim: Erfundene Traditionen? Zum rechtsextremer Gruppierungen, durch Anforde- Verhältnis von Nationsbildung und Ethnogenese im rungen an die political correctness seien national deutschen und französischen Mittelalter, in: Beck, verstandene Inhalte unterdrückt worden, auch Heinrich / Geuenich, Dieter / Steuer, Heiko / Hakelberg, Sturm, Michael: Schicksal – Heldentum – Opfer- Dietrich (Hrsg.): Zur Geschichte der Gleichung ‚ger- gang. Der Gebrauch von Geschichte durch die manisch-deutsch‘: Sprache und Namen, Geschichte extreme Rechte, in: Langebach, Martin / Sturm, und Institutionen. Internationale Tagung Freiburg Michael (Hrsg.): Erinnerungsorte der extremen 1.–3.12.2000. Berlin 2004 (RGA-E 34), S. 131–162. Rechten, Wiesbaden 2015, S. 17–60, hier S. 27.

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Die jahrzehntelangen fachwissenschaftlichen als ‚historisch‘ ausgeben.25 Weil solche Veran- Diskussionen über Zuständigkeiten, Inhalte und staltungen insgesamt als ‚unpolitisch‘ gelten, Stellenwert einer Erforschung des europäischen wird diesen Inszenierungen nicht konsequent Frühmittelalters, wie sie in den Bänden des widersprochen,26 und Soziologen begründen „Reallexikons für Germanische Altertumskunde“ dies auch mit fehlenden Analysen der aktuel- dokumentiert sind,23 ignorierend, wird die Ger- len Germanenrezeption und daher mangeln- manenfiktion erneut als ‚eigentliche‘ Geschich- der Ausbildung:27 In Präventionseinrichtungen te ausgegeben, mit der man sich aufgrund von könne man mit der Geschichte des National- Diskurserwartungen nicht mehr habe beschäf- sozialismus argumentieren – wenn aber die tigen dürfen. sogenannten Germanen von extrem rechten Gruppierungen als Urahnen beansprucht wür- In der extremen Rechten ist die Herkunfts- den, sei man argumentativ weitgehend hilflos. erzählung von den ‚Germanen‘ mitsamt der Vereinnahmung altnordischer Mythologie Auch wenn Politikwissenschaft, Soziologie und integraler Bestandteil der dort propagierten Soziolinguistik die Erfassung und Deutung Erinnerungskultur und also eminent politisch dieser Phänomene eines ‚neuen Nationalismus‘ motiviert. Um zu erkennen, dass dieses Basis- intensiv diskutieren,28 stellt sich die Frage, ob narrativ nicht etwa aus Gründen der Unterhal- tung oder basalen Information, sondern zum Zweck der ideologischen Sinnstiftung erzählt 25 Vgl. Archäologisches Freilichtmuseum Oer- und um nationalchauvinistische Gesichtspunk- linghausen (Hrsg.): Germanen und der rech- te wie bspw. Rassedenken und Antisemitismus te Rand. Nazis im Wolfspelz, Bielefeld 2017. ergänzt wird, muss man ganz genau lesen; und 26 Vgl. die Diskussion im Anschluss an die Wik- diese Camouflage ist mitunter Teil der von der ingertage in Schleswig, auf denen ein Darstel- Rechten verfolgten Strategie, wie sie auch in ler mit einem achtspeichigen Hakenkreuzmotiv der Verwendung von Symbolen und Runen zu auf seinem Schild kämpfte, u. a. auf der Tagung beobachten ist. Auch deren Botschaften sind „Odin mit uns!“. Fachtagung zu Wikingerkult und Rechtsextremismus vom 9.–10. Oktober 2017 in oft nicht auf Anhieb zu durchschauen, wenn der Akademie Sankelmark. Vgl. auch die Websi- sie in einem ‚Versteckspiel‘ zunehmend dyna- te: www.Wikingerkult-und-Rechtsextremismus.de. misiert werden.24 27 Vgl. Banghard / Raabe, S. 133.

Neben diesen eher verdeckten Botschaften 28 Vgl. hier vor allem die Beiträge von Schuppener, sind aber auch zunehmend offen zur Schau Georg: Rechtsextreme Aneignung und Instrumenta- getragene faschistische Zeichen zu sehen: Im lisierung germanischer Mythologie, in: Gallé, Volker Schutz der ‚simplen Geschichte‘ und einer um (Hrsg.): Germanische Mythologie und Rechtsextre- mismus – Missbrauch einer anderen Welt. Tagung Authentizität bemühten Living History kön- der Nibelungenlied-Gesellschaft Worms, Worms nen einzelne TeilnehmerInnen von Mittelalter- 2015, S. 21–31; ders.: Spuren germanischer Mythologie märkten oder Wikingertagen solche Zeichen in der deutschen Sprache. Namen, Phraseologis- men und aktueller Rechtsextremismus, Berlin 2007; ders.: Sprache des Rechtsextremismus. Spezifika der Sprache rechtsextremistischer Publikationen 23 Jankuhn, Herbert / Beck, Heinrich et al. (Hrsg.): und rechter Musik, Leipzig 2010; vgl. auch Dücker, Reallexikon für Germanische Altertums- Burckhard: Zum Traditionsrahmen aktueller Sym- kunde, 35 Bde., Berlin [u.a] 1968–2007. bole und Rituale rechtsextremer Formationen, in: 24 Vgl. den Titel der gleichnamigen Broschü- Gallé, Volker (Hrsg.): Germanische Mythologie und re der Agentur für soziale Perspektiven: Agen- Rechtsextremismus – Missbrauch einer ande- tur für soziale Perspektiven: Versteckspiel ren Welt. Tagung der Nibelungenlied-Gesellschaft – Lifestyle, Symbole & Codes von Neonazis Worms, Worms 2015, S. 45–65; Vogel Campanello, und extrem Rechten, 14. Aufl., Berlin 2017. Margot: Männlichkeit und Nationalismus. Deu-

94 Niels Penke / Heike Sahm | Die sogenannten Germanen die Popularität der sogenannten Germanen methodisch fundierte und zugleich zeitgemäße auch damit zusammenhängt, dass das frühe Geschichte von Völkern [zu] erzählen, die sich Mittelalter in der Bildungspolitik der letzten zwar selbst nie Germanen nannten, aber den- Jahrzehnte vernachlässigt worden ist. In den noch bloß als solche das Interesse unserer Zeit schulischen Curricula hat es keinen sicheren erwecken“31. Ort29 und die Folgefächer der Germanischen Altertumskunde stehen nicht im Zentrum aktueller universitärer Planungen.30 Wenn aber kein Lehrstuhl mehr z. B. die Runologie mit abdeckt, erwächst aus der Preisgabe des wis- 31 Wolfram, S. 43. senschaftlich fundierten Zugriffs auf die frühe symbolische Schriftform ein kulturelles Risiko.

Angesichts des gegenwärtigen Germanen-Hypes Niels Penke, geb. 1981, wird man sich in den Fachdisziplinen nicht da- ist wissenschaftlicher rauf zurückziehen können, dass in Sachen Ger- Mitarbeiter am Germa- manenmythos längst alles gesagt sei, sondern nistischen Seminar der Universität Siegen. Seine Strategien überdenken und erproben müssen, Forschungsschwerpunk- wie man in Zeiten des digitalen Wandels auf te sind neuere deutsche die breite und vielgestaltige Beanspruchung und skandinavische des eigenen Zuständigkeitsbereichs in den Literaturen, Antisemitis- populären Medien reagiert. Jedenfalls aber mus sowie die Rezeption wäre vonseiten der Wissenschaft der Forderung nordischer Mythen. Herwig Wolframs immer wieder neu nachzu- kommen, „eine glaubwürdige, weil Heike Sahm, geb. 1966, ist Professorin für Ältere deutsche Sprache und Literatur an der Uni- versität Göttingen. Ihre Forschungsschwerpunk- te sind die europäische Heldenepik und die städtische Literatur des tungen der Selbstdarstellung rechtsorientierter späten Mittelalters. junger Erwachsener, Zürich 2015; Salzborn, Samuel: Extremismus und Geschichtspolitik, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte, Bd. 2 (2011), S. 13–25.

29 Zur fehlenden Verankerung des Frühmittelal- ters und seiner Deutungstradition im schuli- schen Curriculum vgl. auch Müller, Fabian: Den Missbrauch der Mythologie bekämpfen – Erste Ansätze für eine wirksame Präventionsarbeit, in: Gallé, Volker (Hrsg.): Germanische Mythologie und Rechtsextremismus – Missbrauch einer ande- ren Welt. Tagung der Nibelungenlied-Gesellschaft Worms, Worms 2015, S. 139–144, hier S. 139 f.

30 Vgl. Sahm, Heike: ‚Die ich rief, die Geister …‘. Kurzes Plädoyer für eine interdisziplinär integrierte Früh- mittelaltergermanistik, in: Zeitschrift für Literaturwis- senschaft und Linguistik, Bd. 47 (2017), S. 155–165.

95 Demokratie-Dialog 2-2018 Impressum

Verantw. i. S. d. nieders. Pressegesetzes: Bildquelle Inhalt: Katharina Trittel Rasande Tyskar / rave for *koze* -smoke / Göttinger Institut für Demokratieforschung URL: https://farm9.staticflickr.com/8763/ 18127438171_52f0c820eb_o_d.jpg / CC BY-NC 2 . 0 Weender Landstraße 14

37073 Göttingen Bild-Lizenzen: CC BY-NC 2.0, URL: Tel.: +49 551 39 1701 - 00 https://creativecommons.org/licenses/ Fax: +49 551 39 1701 - 01 by-nc/2.0/legalcode CC BY-SA 4.0, URL: https://creativecommons.org/licenses/ Gestaltung, Satz: by-sa/4.0/legalcode Dr. Robert Lorenz Schrift: Kanit Font, Cadson Demak [http://cadsondemak.com/], 2015, SIL Open Font License v1.10 [http://scripts.sil.org/ cms/scripts/page.php?item_id=OFL_web]

Die „Dokumentations- und Forschungsstelle zur Analyse und Bewertung von Demokratie- feindlichkeit und politisch motivierter Gewalt in Niedersachsen“ wird gefördert vom Nieder- sächsischen Ministerium für Inneres und Sport. ISSN 2568 - 0641 Demokratie-Dialog 2-2018

FoDExForschungs- und Dokumentationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersachsen www . fodex - online. de www . demokratie - goettingen. de 98