Internationaler Orgelsommer 2013 Stiftskirche Internationaler Orgelsommer 2013 Stiftskirche Stuttgart Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Stiftskantors Kay Johannsen … 5

Konzert 1: 5.7. Ludger Lohmann (Stuttgart) … 7 Konzert 2: 12.7. Isabelle Demers (Montréal) … 17 Konzert 3: 19.7. Kay Johannsen (Stuttgart) … 25 Konzert 4: 26.7. Hans Fagius (Kopenhagen) … 29 Konzert 5: 2.8. Fanxiu Shen (Beijing) … 37 Konzert 6: 9.8. Michel Bouvard (Toulouse/Paris) … 45 Konzert 7: 16.8. Benjamin Saunders (Leeds) … 55 Konzert 8: 23.8. Nathan Laube (Rochester/USA) … 63 Konzert 9: 30.8. Luca Scandali (Perugia) … 69

Biografien der Interpreten …79 Daten zur Geschichte der Stiftsorgeln … 89 Disposition der Mühleisen-Orgel … 90 Die Organistinnen und Organisten der letzten 10 Jahre … 92 Die schönsten Zitate aus dem Orgel-Gästebuch … 94 Diskographie Kay Johannsen … 96

Internationaler Orgelsommer im Rahmen der Stunde der Kirchenmusik

Eine Konzertreihe der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde Stuttgart, gefördert von der Stadt Stuttgart, dem Regierungspräsidium Stuttgart und dem Verein »Freunde der Stiftsmusik Stuttgart e.V.«

Künstlerische Leitung: Stiftskantor KMD Kay Johannsen Geschäftsführung: Gabriele Zerweck Redaktion des Programmheftes, Einführungstexte: Elsie Pfitzer Werbung, Öffentlichkeitsarbeit: Dagmar Hahn, Corinna Reimold

Fotos und Abbildungen: Archiv Stiftsmusik

Stiftsmusik Stuttgart Altes Schloss, Schillerplatz 6, 70173 Stuttgart Telefon 0711–226 55 81, Fax 0711–226 26 31 [email protected], www.stiftsmusik-stuttgart.de

Eintrittspreise 8 Euro (Schüler, Studenten, Schwerbehinderte 4 Euro) 10er Karte: 64 Euro (Schüler, Studenten, Schwerbehinderte 32 Euro) Vorverkauf dieser nicht nummerierten Karten am Infostand in der Stiftskirche: Mo–Do 10–19 Uhr, Fr & Sa 10–16 Uhr. Abendkasse jeweils am Freitag ab 18.30 Uhr. 10er Karte für »Freunde der Stiftsmusik e.V.« 56 Euro (nur an der Abendkasse). Die Eintrittskarten gelten zeitlich unbegrenzt auch für die regulären Konzerte der »Stunde der Kirchenmusik«. Vorwort

Wer den Sommer in Stuttgart verbringt, trifft eine gute Entscheidung. Internationales Flair und kulturellen Hochgenuss haben wir vor Ort: beim Internationalen Orgelsommer in der Stiftskirche! Vom ersten Freitag im Juli bis zum letzten Freitag im August bieten wir Ihnen neun Konzerte mit höchst versierten Interpreten aus acht Ländern, nämlich Kanada, den USA, Großbritannien, Frankreich, Italien, Dänemark, China – und natür- lich auch aus Deutschland.

Schon beinahe weltbekannt ist unsere klangprächtige Mühleisen-Orgel mit ihren 81 enorm mischfähigen Registern und einer Farbigkeit, die ihresgleichen sucht und den Organistinnen und Organisten sehr individuelle Darstellungen ihrer momentanen Lieblingswerke ermöglicht.

Erstmals bei uns zu Gast sind die Virtuosin Isabelle Demers, die in Montréal lebt und an der texanischen Baylor University unterrichtet, Fanxiu Shen aus Beijing, die bei wei- tem bekannteste chinesische Organistin, der viel umworbene französische Interpret und Orgellehrer Michel Bouvard sowie der äußerst vielseitige britische Kathedralorga- nist Benjamin Saunders. Den brillanten schwedischen Tastenkünstler Hans Fagius konnten wir schon beim Stiftsmusikfest 2008 erleben, und der junge amerikanische Professor Nathan Laube hat die Mühleisen-Orgel bereits einmal zur außerordentlichen Freude der Zuhörer bei einer Orgelmusik zum Weihnachtsmarkt ausprobiert. Aus Stutt- gart selbst kommt Orgelprofessor Ludger Lohmann, der erfolgreich konzertierend wohl die meisten Länder dieser Erde bereist hat – und natürlich Stiftskantor Kay Johannsen, der seinen Widor-Zyklus mit der VII. Symphonie fortsetzt und neue Ergebnisse aus seiner Kreativwerkstatt präsentiert.

Gerne haben wir für Sie alle neun Programme samt Einführungen in diesem Pro- grammbuch zusammengefasst, das auch mit vielen zusätzlichen Informationen rund um unsere Mühleisen-Orgel bis hin zu lesenswerten und oft sehr persönlichen Gäste- buch-Einträgen bisheriger Interpreten aufwartet.

Herzlich laden wir Sie nach den Konzerten zu einer vergnüglichen Viertelstunde auf die Orgelempore ein. Bei einem kleinen Interview im Rahmen unseres beliebten KünstlerTreffs lernen Sie die Interpreten näher kennen, ihre Ansichten über die Musik, aber auch Details aus ihrem oft so unterschiedlichen Alltag als Musiker.

In Erwartung spannender musikalischer Erlebnisse beim Internationalen Orgelsommer 2013 und mit besten musikalischen Grüßen,

Ihr Stiftskantor

4 5 Konzert 1 – Programm

Eröffnungskonzert Paul Hindemith (1895–1963) Sonate III über alte deutsche Volkslieder (1940) »Ach Gott, wem soll ich’s klagen« Ludger Lohmann (Stuttgart) »Wach auf, mein Hort« Freitag, 5. Juli, 19 Uhr »So wünsch ich ihr« Die jeweils ersten Liedstrophen lauten:

Ach Gott, wem soll ich’s klagen, Das heimlich Leiden mein! Mein Buhl ist mir verjaget, Bringt meinem Herzen Pein. Soll ich mich von ihr scheiden, Tut meinem Herzen weh; So schwing ich mich über die Heiden, Du siehst mich nimmer meh’. Volkslied (15. Jahrhundert)

Wach auf, mein hort! es leucht dort her von orient der liechte tag. plick durch die praw, vernim den glanz, wie gar vein plaw des himels kranz sich mengt durch graw von rechter schanz! ich fürcht ain kurzlich tagen! Oswald von Wolkenstein, Tagelied (vor 1408)

So wünsch ich ihr ein gute Nacht, bei der ich war alleine. Ein traurig Wort sie zu mir sprach: Wir zwei müssen uns scheiden. Ich scheide weit, Gott weiß die Zeit, Wied’rkommen das bringt Freud. Volkslied (1556)

6 7 (1685–1750) Paul Hindemith aus den 18 Leipziger Chorälen Geboren am 16. November 1895 in Hanau, konnte Paul Hindemith mithilfe eines Stipen- »An Wasserflüssen Babylon«BWV 653 diums seit 1909 Violine studieren (bei A. Rebner), seit 1912 Komposition bei Arnold Men- delssohn und Bernhard Sekles am Hochschen Konservatorium in /M., wo er von Der zugehörige Choraltext lautet: 1915 an dann als Konzertmeister am Opernhaus tätig war. In den Jahren nach 1917 entstan- den seine ersten Kompositionen, die er seit 1919 publizierte und die auf großes Interesse An Wasserflüssen Babylon, trafen, weil sie in ihrer klaren, transparenten – wenn auch immer polyphon orientierten! da saßen wir mit Schmerzen; – Struktur und spielerisch wirkenden Leichtigkeit gegenüber den spätromantischen Wer- als wir gedachten an Zion, ken der damaligen Zeit erfrischend neu wirkten. Hindemith wurde rasch Inbegriff der da weinten wir von Herzen. musikalischen Avantgarde in Deutschland, war aber darüber hinaus – was heute häufig Wir hingen auf mit schwerem Mut gegenüber seiner Bedeutung als Komponist in den Hintergrund tritt – auch als solistisch die Harfen und die Orgeln gut wie im Streichquartett, dem »Amar-Quartett«, konzertierender Bratschist international an ihre Bäum der Weiden, höchst erfolgreich. Seit 1927 lehrte er Komposition in Berlin, geriet aber dann nach 1933 die drinnen sind in ihrem Land, zunehmend in Schwierigkeiten, da die Nationalsozialisten seine Kunst als »entartet« da mussten wir viel Schmach und Schand diffamierten und ihm Aufführungsverbot erteilten. 1938 emigrierte Hindemith in die täglich von ihnen leiden. Schweiz, 1940 in die USA, wo er an der renommierten Yale University Komposition lehrte Wolfgang Dachstein (1525) und außerdem als Dirigent tätig war; seit 1946 war er amerikanischer Staatsbürger. Nach Kriegsende kehrte er verschiedentlich auf Reisen nach Europa zurück und ließ sich Karl Michael Komma (1913–2012) 1953 endgültig in der Schweiz nieder. Bis 1957 lehrte er in Zürich Komposition, war häu- Sebaldus-Legenden (1979) fig als Dirigent auf Konzertreisen unterwegs und komponierte weiter, ungeachtet der 1. Wie Sebaldus die frierenden Leute Eiszapfen vom Dach brechen heißt Ablehnung, die ihm die damalige Avantgarde entgegenbrachte, weil er sich seit 1950 und damit ein Feuer entfacht wieder mehr der Tonalität zugewandt hatte. Sein Schaffen ist jedoch von bleibender 2. Wie Sebaldus den Blinden heilt, der um seinetwillen geblendet wurde Bedeutung durch seine handwerkliche und technische Souveränität in allen Gattungen. 3. Wie Sebaldus den Weinlägel, den sein Schüler Dionysius heimlich ausgetrunken hatte, Paul Hindemith starb am 28. Dezember 1963 in Frankfurt am Main. sich wieder füllen lässt Zur Orgelmusik steuerte er nicht nur 3 Sonaten, sondern auch ein Konzert für Orgel und Orchester bei. Der Impuls hierfür ging von seinem Kontakt mit der Orgelbewegung aus, (1811–1886) die er interessiert verfolgte, jedoch nicht in allen Aspekten gutheißen konnte. 1927 Franziskus-Legende schrieb er zur Einweihung der neuen Weigle-Orgel »Die Vogelpredigt des heiligen Franziskus von Assisi« im Sendesaal zu Frankfurt die Kammermusik Nr. 7 für (Orgelfassung: Ludger Lohmann) Bläser, Celli, Kontrabässe und Orgel, im Grunde ein erstes kleines Orgelkonzert. Nach dem Besuch der Richard Wagner (1813–1883) Freiburger Orgeltagung von 1928 bezeichnete er die Pilgerchor (aus dem Tannhäuser) Praetorius-Orgel zwar als »tot, trotz aller Mühen«, Orgelfassung von Franz Liszt zeigte sich jedoch den Idealen der Orgelbewegung gegenüber wieder aufgeschlossener, nachdem ihm Meistersinger-Vorspiel Hugo Distler 1932 in Lübeck die Stellwagen-Orgel an Orgelfassung von Edwin Lemare (1865–1934) / Ludger Lohmann St. Jacobi vorgeführt hatte. Sein Versprechen, sich wieder der Orgel zu widmen, löste er mit den 3 Sona- anschließend KünstlerTreff auf der Orgelempore ten (I und II 1937; III 1940) und dem Concerto for Organ and Orchestra ein, das er 1962 für die neue Orgel im Lincoln Center New York schrieb und das mit Anton Heiller an der Orgel uraufgeführt wurde.

8 9 Die unter Hindemiths drei Orgelsonaten vielleicht am seltensten gespielte Sonate III ent- zu lesen: »[…] Der alte an dieser Kirche, Johann Adam Reinken, der damals bey stand 1940 nach drei alten Volksliedern, ist also sozusagen eine Folge von weltlichen Cho- nahe hundert Jahre alt war, hörete ihm mit besondern Vergnügen zu, und machte ihm, ralbearbeitungen. Satz I »Ach Gott, wem soll ich’s klagen« hebt wie ein Pastorale im sanft absonderlich über den Choral: An Wasserflüssen Babylon, welchen unser Bach, auf Ver- wiegenden, »mäßig bewegten« 12/8-Takt und im p an; für die »Langsam« überschriebene langen der Anwesenden, aus dem Stegreife, sehr weitläufig, fast eine halbe Stunde lang, und verhaltene (pp) Durchführung der Melodie im Sopran geht Hindemith in den 4/4-Takt auf verschiedene Art, so wie es ehedem die braven unter den Hamburgischen Organisten über. Mit zunehmender Stimmenzahl und Lautstärke tritt eine große und wirkungsvolle in den Sonnabends Vespern gewohnt gewesen waren, ausführete, folgendes Compli- Steigerung ein, die nach dem Gis-Dur-Akkord mit Fermate im dreifachen Forte hernach ment: Ich dachte, diese Kunst wäre gestorben, ich sehe aber, dass sie in Ihnen noch lebet. ebenso wirkungsvoll vom p ins pp zurückkehrt, wenn die letzte Zeile in kanonischer Es war dieser Ausspruch von Reinken desto unerwarteter, weil er vor langen Jahren die- Durchführung anhebt und zum Schlussakord hinführt. Der erste Satz verklingt im pp. sen Choral selbst, auf die obengemeldete Weise gesetzet hatte […]« (was auch von Matthe- Satz II »Wach auf, mein Hort« ist ein »sehr langsamer« Tenor-Cantus firmus-Satz (8/8- son rühmend erwähnt wird). Takt) nach alter Art; die dicht fließenden (»sempre legato«), melismatischen und expres- Ob sich dieser Bericht auf BWV 653 oder 653 b (mit Doppelpedal) bezieht – die Fassung siven Begleitstimmen über einem dezent in Synkopen stützenden Pedal sind wie Schleier des heutigen Programms (BWV 653) »a 2 Clav. et Pedal« jedenfalls ist eine äußerst kunst- darübergelegt. Die Dynamik steigert sich vom anfänglichen zarten Klang (pp) im Verlauf voll angelegte Choralmotette in Ritornellform: Der Cantus firmus erklingt, den Liedzeilen der Liedzeilen mehrfach bis zum mf, im Mittelteil bis zum f und kehrt zum Schluss, ver- entsprechend, in Perioden von zweimal acht und sodann je vier Takten, leicht melisma- bunden mit einer großen Verzögerung (»molto ritardando«), wieder zum pp zurück. tisch ausgeziert im Tenor, die beiden Oberstimmen leiten seine Phrasen jeweils ein und Im kontrastierenden mf-Klang folgt als Schluss-Satz III »ruhig bewegt« das Lied »So begleiten sie in stets thematischer Motivik, darunter liegt der Continuobass im Pedal, wünsch ich ihr«, dessen Melodie im Pedal erklingt, jedoch als Cantus firmus in der Mittel- ebenfalls vom Cantus abgeleitet, sodass dieser ständig in allen Stimmen gegenwärtig ist stimme, denn die linke Hand umspielt die Melodie mit einer teils tieferliegenden Bass- und das »tägliche Leiden« im Exil beklagt. Der Charakter einer feierlich schreitenden und einer häufig pausierenden Tenor-Stimme, die rhythmisch manchmal mit einer Ober- Passacaglia unterstreicht diesen sanft klagenden Aspekt des Textes: »An Wasserflüssen stimme, manchmal mit dem Cantus firmus zusammen geführt sind. Die Oberstimmen Babylon …«. Auch der zweite zu dieser Choralweise gehörende Text »Ein Lämmlein geht setzen deutliche Kontrapunkte in teils nach alter Praxis aus dem Cantus abgeleiteter The- und trägt die Schuld« von Paul Gerhardt wäre denkbar, aber als Klagegesang über das matik; ihre Auftakt-Floskeln, Punktierungen und Melismen geben straffe Impulse. Chro- Leiden Christi ist Bachs Vertonung hierzu ebenso passend. matisch gegeneinander versetzte Quint-/Oktavklänge in beiden Händen leiten wirkungs- voll zwei Liedzeilen und zuletzt, nunmehr mit kadenzierenden Intervallen in der linken Hand, den Schlussakkord ein. Die dynamischen Klangbereiche wechseln ausdrucksstark Karl Michael Komma vom p bis zum f, das insbesondere auch die Schlusstakte markant unterstreicht. Karl Michael Komma, geboren am 24. Dezember 1913 im böhmischen Asch, studierte nach frühzeitigem Unterricht im Klavier-, Violin- und Orgelspiel zunächst Komposition, Dirigieren (bei Georg Szell), Musikwissenschaft und Anglistik an der Deutschen Akade- Johann Sebastian Bach mie für Musik und an der Deutschen Universität in Prag, bevor er 1934 zum Studium der Die Choralbearbeitung An Wasserflüssen Babylon »à 2 claviers et pédale« ist einer der Musikwissenschaft bei Heinrich Besseler nach Heidelberg ging. Dort promovierte er Achtzehn Choräle der Leipziger Originalhandschrift; dieser Titel stammt nicht von Bach, 1936 mit einer Dissertation über seinen Landsmann Jan Zach (1699–1773) und betrieb denn er verstarb über der Arbeit an den Stücken, die er in seinen letzten Lebensmonaten, weitere Kompositionsstudien bei Wolfgang meist nach älteren Vorlagen, zur Publikation vorbereitete. Da diese älteren Varianten zum Fortner, der sich wiederum als Dirigent für großen Teil erhalten sind, bieten die Stücke einen hochinteressanten Einblick in die die Uraufführung seiner Werke einsetzte, Werkstatt des Komponisten. Die Zusammenstellung sollte ganz offenkundig eine enzyk- u. a. der Deutschen Tänze für Streichorches- lopädische Darstellung der Vielfalt der möglichen Arten der Choralbearbeitung sein, ter in Donaueschingen 1938. Bis 1939 blieb nicht etwa eine liturgische Sammlung. Es finden sich dort vom Trio über die Choralfuge, Komma als Assistent Besselers in Heidel- den Plenumsatz mit unterschiedlicher Lage der Cantus-firmus-Stimme bis zur großan- berg. In den Kriegsjahren 1940–45 leitete er gelegten Fantasie vielfältig abwechselnde Formen, und die Choräle der Leipziger Origi- sodann die Musikschule im böhmischen nalhandschrift zählten bald zu den bekanntesten und beliebtesten des Bachschen Reichenberg. Von einer Einberufung zur Gesamtwerkes – und sind es bis heute geblieben. Wehrmacht blieb er wegen gesundheitlicher Unbestritten höchst kunstvoll ist An Wasserflüssen BabylonBWV 653 gestaltet. Im Nekro- Probleme verschont. Nach Vertreibung und log Bachs ist anlässlich seines Besuchs bei Jan Adam Reincken in Hamburg im Jahr 1720 Kriegsende lebte er eine Zeitlang als Vor-

10 11 tragsredner und praktizierender Künstler sowie als Lehrer für Musik am Progymnasium Franz Liszt in Bopfingen, bevor er 1954 als Lehrbeauftragter (1960 Professor) für Musikgeschichte, Franz Liszt hinterließ neben seinen zahlreichen Orchester-, Vokal- und Instrumental- Tonsatz und Komposition an die Musikhochschule Stuttgart berufen wurde – in seine kompositionen auch eine stattliche Anzahl von Orgelwerken. Nicht alle sind jedoch Origi- Lebensstellung, denn er hatte sie bis zur Emeritierung 1978 inne, danach war er noch bis nalkompositionen. Liszt hielt die Orgel auch für die Wiedergabe anderer, nicht ursprüng- 1988 Lehrbeauftragter für Kirchenmusikgeschichte. Daneben konzertierte, komponierte lich für dieses Instrument bestimmter Werke für geeignet. Nur wenige seiner Orgelwerke und publizierte er musiktheoretische Abhandlungen bis ins hohe Alter. In Reutlingen haben sich einen festen Platz im Repertoire der Organisten erobert; dies mag zum Teil an gründete er die heute noch bestehende Konzertreihe »musica nova«. Als Professor war er den unvollständigen Publikationen, zum Teil aber auch an der Schwierigkeit liegen, allseits als stets fair und kompetent geschätzt. Karl Michael Komma starb am 23. Septem- Liszts Werke auf den heutigen Orgeln – die wieder mehr am barocken Ideal orientiert ber 2012 in Memmingen. sind – zu spielen und seinen Vortragsangaben entsprechend zu registrieren. Als kleiner Stilistisch vielseitig zeigen sich seine Werke; früh wurde er durch die Begegnung mit Paul Hinweis auf die Situation der Orgel zu seiner Zeit kann die Disposition des Instrumentes Hindemiths neuer Klangwelt (z. B. Nachtstück) geprägt und bezeichnete sich später als gelten, das Liszt in seiner Pester Wohnung stehen hatte. Diese Hausorgel war auf seine »gemäßigt modern«, in der Art Hindemiths und Bartóks. In freier, gänzlich undogmati- Bestellung hin und nach seinen Wünschen gebaut worden; das Instrument war eigentlich scher Weise erprobte er auch die Dodekaphonie, blieb aber zeitlos gültigen Elementen der eher ein »Orgelpiano« oder ein »Pianoforte-Harmonium«. Tonalität, des Kontrapunkts, der Harmonie, Melodie und des Rhythmus treu, in seinen Die obere Klaviatur ist eine regelrechte Pianoforte-Klaviatur von 7 Oktaven mit normaler Werken der Nachkriegszeit mit Vorliebe kreativ in den intimeren Formen des Liedes, der Klaviermechanik, das untere Manual ist eine geteilte Harmonium-Klaviatur (5 Oktaven) Klavier- und der Kammermusik, ein Lyriker mit dramatischen Zügen, dem durch die mit folgenden Registerzügen: Kriegserfahrungen der expressionistische Ansatz ebenso entglitten war, wie ihm alles Linke Seite Rechte Seite Monumentale suspekt geworden war. Expression Percussion ou Flûte In Stuttgart vertrat er das Ethos einer »klassischen Moderne«, gemeinsam mit den Kolle- Sourdine générale Clarinette gen Hermann Reutter, Karl Marx und Johann Nepomuk David. Prolongement basson Prolongement doux In seinen Werken finden sich jedoch auch Einflüsse seiner frühen Begeisterung für den Bourdon Prolongement Hautbois Jazz als Bandleader in Schulzeiten, ebenso auch globale wie solche der japanischen Koto- Percussion ou Cor anglais musik in Der Tanz des großen Friedens für das japanische Kaiserhaus 1994. (Knieregister: Register-Crescendo bzw. Jalousieschweller) Die geteilte Manualuntergliederung ermöglichte auch solche Hervorhebungen der Mit- Der Heilige Sebaldus, Schutzpatron der Stadt Nürnberg, war der Legende nach ein däni- telstimmen, die auf unseren heutigen Instrumenten nur schwer auszuführen sind. Auch scher oder französischer Prinz, der einer fürstlichen Vermählung das Leben eines Eremiten die häufig extremen dynamischen Vortragsbezeichnungen sind auf den Einfluss derarti- vorzog, 16 Jahre später nach Rom pilgerte und als Missionar zu den Deutschen, speziell den ger Instrumente zurückzuführen (Percussion!). Diese Hinweise mögen die Probleme ein Franken, gesandt wurde. Nach einer Legende wurde sein Leichnam von einem Ochsenge- wenig illustrieren. spann ohne Lenker nach Nürnberg überführt, wo er beigesetzt und seit dem 11. Jahrhundert Der Weg Liszts zur Orgel führte über das Erlebnis des Bachschen Werkes. Zweifach setzte verehrt wurde. Die Sebalduskirche wurde im 13. Jahrhundert über seiner Grabstätte errich- er ihm ein Denkmal: mit Präludium und Fuge über den Namen B-A-C-H (1. Fassung 1855) tet, und am 26. März 1425 wurde Sebaldus von Papst Martin V. heiliggesprochen. und durch die Gründung der Deutschen Bachgesellschaft, an der er maßgeblich beteiligt Die von Karl Michael Komma vertonten Legenden betreffen einen Vorfall, als der Heilige war. Auch die Variationen über »Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen« haben ja ein Bachsches in seiner städtischen Unterkunft im Hause eines Wagners wegen einer Erkrankung ein Thema zur Grundlage. Liszt deutete den Bachstil romantisch um und überhöhte ihn Feuer erbat, das ihm von der Ehefrau aus Angst vor dem Geiz ihres Mannes verweigert klanglich. Die »Prophetenphantasie« über Meyerbeers Thema »Ad nos, ad salutarem wurde. Daraufhin wies Sebaldus die Wirtin an, Eiszapfen zu sammeln und anzuzünden. undam« (aus der Oper Der Prophet) war hier richtungsweisend (s. Konzert 8). Als das wärmende Feuer aufloderte, war der geizige Wagner zum Glauben bekehrt. Die Legenden entstanden 1863 im großen Zusammenhang der zunehmenden Hinwen- Im zweiten Fall wurde durch die grausame politische Herrschaft ein Fischer durch Blen- dung Liszts zur religiösen Musik. Er schrieb sie – wie er über den damals ebenfalls ent- dung bestraft, weil er entgegen den Vorschriften zunächst Sebaldus einen Fisch gegeben standenen 13. Psalm berichtet –, »mit blutigen Tränen«, hoffend, der Retter der katholi- hatte, dann erst dem Oberen. Sebaldus verhalf dem Geblendeten wieder zum Augenlicht. schen Kirchenmusik werden zu können; er war jedoch damit lange erfolglos sowohl beim Die wundersame Wieder-Auffüllung des Weinfasses diente auf seiner Rom-Reise mit Vatikan als auch bei den Verlegern. seinem Schüler Dionysius dazu, die beiden geretteten Heiligen Willibald und Wunibald Die erste der beiden Legenden von Franz Liszt trägt den Titel Die Vogelpredigt des Hl. Fran- nicht nur mit dem von einem Engel dargebotenen Brot zu nähren, sondern auch mit ziskus von Assisi. Hier verwendete der Komponist ein Motiv aus seinem Cantico del Sol di Wein ihren Durst zu stillen. San Francesco d’ Assisi (also aus dem »Sonnengesang des Hl. Franz von Assisi«), 1862. Das

12 13 Stück ist hauptsächlich durch die stetigen Tremoli geprägt. Die zweite Legende dagegen, Richard Wagner Der Heilige Franziskus von Paula auf den Wogen schreitend, besticht durch die unaufhaltsam Richard Wagner, neben Verdi einer der wichtigsten Jubilare des Jahres 2013, wurde vor wirkende beständige Klangsteigerung. Der Hl. Franziskus stand Franz Liszt nicht nur 200 Jahren, am 22. Mai 1813 in Leipzig geboren († 13.2.1883 in Venedig). Sein Leben war wegen seines Taufnamens besonders nahe, sondern weil dieser auch wie er ein engagier- von Anfang an durch häufige Orts- und damit Schulwechsel geprägt; seine musikalische ter Sachwalter der Armen war, im Sinne des Simonismus. Ausbildung wurde nach autodidaktischen Anfängen durch Kontrapunktunterricht bei Beide Legenden sind ursprünglich für Klavier komponiert und Cosima von Bülow gewid- Theodor Weinlig und das Studium von Werken Beethovens und Webers gefestigt. Nach met; sie erschienen 1866 im Druck. ersten Instrumentalkompositionen wandte sein Interesse sich rasch der Bühnenmusik Transkriptionen – wie sie ja im Internationalen Orgelsommer 2013 häufig in den Program- zu. Nicht nur durch sein Leben und seine Werke, sondern auch durch seine zahlreichen men vertreten sind – sind Einrichtungen eines Musikstücks für eine andere Besetzung. Schriften erweist sich Wagner als eine der facettenreichsten Gestalten der Musikge- War das Verfahren auch schon lange bekannt, so wurde die Bezeichnung vor allem durch schichte; als Stichwort sei nur seine Haltung zum »Judentum in der Musik« erwähnt. Franz Liszt um 1830 fest etabliert, der sie für Klavierübertragungen, meist von Liedern, Seine Opern sind jedoch allzeit unumstrittene Meisterwerke, die neue Impulse brachten, verwendete, »die zwischen einer mehr oder minder strengen Bearbeitung und einer die mit den Bezeichnungen »Gesamtkunstwerk«, »Musikdrama«, »Leitmotiv-Technik« freien ›Fantasie‹ stehen«. Bei Liszt bilden die Transkriptionen (Fantasien, Paraphrasen, oder »unendliche Melodie« nur kurz angedeutet werden können. Reminiszenzen etc.) einen bedeutenden Anteil seines Schaffens. Die romantische Oper in 3 Akten Tannhäuser (und der Sängerkrieg auf der Wartburg) wurde Allgemein bezeichnet Transkription jede Bearbeitung eines Werkes, die darauf abzielt, am 19. Oktober 1845 in Dresden uraufgeführt. Wagner versuchte im Textbuch von 1842, ein Originalwerk einem bestimmten Zweck anzupassen. Diese Bearbeitung reicht von das Volkslied vom Tannhäuser und die Sage vom Sängerkrieg auf der Wartburg um Hein- der Transposition in eine andere Tonart bis zur freien Fantasie über die Vorlage (im Sinne rich von Ofterdingen zu verschmelzen. Die nach eigenem Zeugnis 1844 »in verzehrend Liszts). Das Komponieren und das Bearbeiten standen in früherer Zeit mit ähnlicher üppiger Erregung« geschaffene Vertonung bearbeitete Wagner nach der Dresdner Urauf- Gültigkeit nebeneinander, erst unter den Vorstellungen des schöpferischen Individualis- führung mehrmals, vor allem für die Aufführung in Paris 1860/61. mus oder gar Geniebegriffs in der frühen Neuzeit wurde das Bearbeiten eines »Originals« Der zentrale thematische Gehalt der Oper ist der Konflikt zwischen irdischer und himm- eher als eine Art Randerscheinung abgewertet. lischer Liebe, wie er in Tannhäusers Seele ausgetragen wird, der zwischen Venus und Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die Bearbeitung bis in die Anfänge aller Instrumen- Elisabeth von Thüringen hin- und hergerissen ist. talmusik zurückreicht, denn die frühen Instrumentalstücke waren Umsetzungen litur­ Das Leitmotiv des Pilgerchors wird in der diesen thematischen Inhalt symphonisch gischer Gesänge, sogenannte »Intavolierungen«. Später, mit zunehmendem Rang der umreißenden Ouvertüre zart angedeutet von Holzbläsern und Hörnern und erklingt im In­strumentalmusik, schrieben die Komponisten Bearbeitungen eigener oder fremder großen Schlusschor als Zeichen der Erlösung des Sünders Tannhäuser. Werke für andere Besetzungen, große Fantasien über eigene oder fremde Themen wie Der Tragik seiner berühmten Oper Tristan und Isolde (UA 1865) stellte Wagner in Die Meis- etwa Mendelssohns Klavierbegleitung zu Bachs Chaconne d-Moll, Brahms’ Haydn-Variatio- tersinger von Nürnberg, uraufgeführt 1868 in München, ein Werk optimistischer Grundhal- nen oder Strawinskys Bearbeitungen der Canonischen Veränderungen Bachs. tung an die Seite. Am Textbuch arbeitete er nach verschiedenen Quellen seit 1845; in Die Orgel ist ja auch vorzüglich dafür geeignet, beispielsweise eine Solostimme oder Gestalt des Nürnberger Schustersängers Hans Sachs und seiner Gemeinschaft setzte Wag- -gruppierung einer orchestralen Begleitung gegenüberzustellen, oder die Klangfülle ner den freien Bürgern einer freien Stadt ein Denkmal; in Walther von Stolzing würdigte eines großbesetzten Orchesters wiederzugeben. Orgelbearbeitungen auszuführen er darüber hinaus das freie Individuum. Inhalt ist neben dem Thema des Meistersanges schließlich ist zweifellos auch durch die Komponisten selbst legitimiert, die nicht nur die Liebe mit Entsagung und Erfüllung. Das die kontrastierenden Themen von geregeltem vielfach eigene Werke als Orgel-Transkriptionen vorlegten, wie z. B. Bach in seinen Meistersang und freier, ungestümer Liebessehnsucht vorbereitende und bereits in sich »Schübler-Chorälen«, sondern auch mit Begeisterung fremde Vorlagen bearbeiteten, wie enthaltende Vorspiel ist ein Gipfelpunkt der kontrapunktischen Kunst Richard Wagners; es etwa Bach und sein Vetter Johann Gottfried Walther italienische Orchesterkonzerte für zitiert alle Themen, führt sie durch und geht nahtlos in die Handlung über. »Sehr mäßig das Klavier und die Orgel (s. Konzert 4). bewegt« (4/4-Takt) hebt es mit dem großen Meistersinger-Thema in strahlendem C-Dur Eine besonders reiche Tradition der Transkriptionen bildete sich im angelsächsischen an; es folgen Walthers Werbemotiv, das fanfarenartige Meistersingerthema, die Themen Raum heraus; für die herausragende Qualität dieser Bearbeitungen stehen Namen von verbinden sich, Umformungen treten hinzu, u. a. das erste Hauptthema in raschem William Thomas Best und Edwin Lemare über A. H. Harris bis zu Nicolas Kynaston – und Tempo, von den Holzbläsern mit spöttischer Wirkung vorgetragen (als Anspielung auf den die Interpretationen eigener Transkriptionen im diesjährigen Orgelsommer belegen »falschen« Meister Beckmesser), bis zuletzt das Anfangsthema geradezu sieghaft auf- erneut, wie hochrangig und quicklebendig diese Gattung der Orgelmusik ist! strahlt, begleitet von den fanfarenartigen Trompeten-Motiven der Festspielwiese, wo Stol- zing zuletzt mit dem von Sachs geschaffenen Preislied über Beckmesser triumphiert, Eva aber dem wahren Meister, nämlich Hans Sachs die ihm gebührende Siegeskrone aufsetzt.

14 15 Konzert 2 Programm

Isabelle Demers (Montréal) Ernest Macmillan (1893–1973) Cortège Académique

Freitag, 12. Juli, 19 Uhr Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) Intermezzo und Notturno, aus Ein Sommernachtstraum

Marcel Dupré (1886–1971) Präludium und Fuge H-Dur op. 7 Nr. 1

Josef Rheinberger (1839–1901) Allegro Moderato aus der Sonate Nr. 16 gis-Moll op. 175

Pjotr Iljitsch Tschaikowsky (1840–1893) Auszüge aus »Dornröschen« op. 66 Candide Coulante Fleur de Farine Miettes qui tombent Canari qui chante Violente La féé des lilas Coda

Rachel Laurin (* 1961) Introduktion und Passacaglia über ein Thema von Raymond Daveluy op. 44

anschließend KünstlerTreff auf der Orgelempore

16 17 Ernest Macmillan einige kleinere Stücke wie zum Beispiel das Andante varié D-Dur und weitere Werke vor Der bekannte kanadische Komponist, Dirigent, allem seiner frühen Schaffensjahre. Organist und Musikpädagoge Sir Ernest Alexan- Es stellte daher immer eine sehr willkommene Bereicherung des Repertoires der Konzert- der Campbell MacMillan wurde am 18. August literatur für Orgel dar, wenn Transkriptionen seiner Werke für andere Besetzungen wei- 1893 in Mimico/Ontario geboren. Früh zeigte tere Kompositionen für dieses Instrument erschlossen. sich seine musikalische Begabung, und seit dem Die Musik des erst siebzehnjährigen Komponisten zu Shakespeares Sommernachtstraum, achten Lebensjahr erhielt er Orgelunterricht. der Geniestreich eines jungen Musikers zu einer ebenfalls genialen Vorlage, ist für die Seine Ausbildung (neben anderen, musikalischen farbenreiche Darbietung auf der Orgel hervorragend geeignet. So spontan und frei, wie Fächern auch Studium der modernen Geschichte sie aus der Lektüre der Komödie gemeinsam mit seiner Schwester Fanny hervorgegangen in Toronto, 1911–14!) durchlief er abwechselnd in war, in Form einer vierhändigen, ganz dem romantischen Geist des Komponisten ent- Toronto, London und Oxford sowie in Paris. Spä- sprossenen Ouvertüre für die Hauskonzerte der Familie, wirkt sie nach wie vor auf die ter war der in vielerlei Funktionen (Organist, Hörer. Nach dem Erfolg bei den Hauskonzerten instrumentierte Mendelssohn das Chorleiter, Dozent, Dekan an Universitäten ...) ursprüngliche Klavierstück und brachte es am 20. Februar 1827 in Stettin zur Urauffüh- tätige, 1935 für seine Verdienste um die kanadi- rung. sche Musik geadelte Komponist eine zentrale Durch die ebenso meister- wie zauberhafte Instrumentation entsteht der Zauberwald mit Gestalt im Musikleben seiner Heimat. Seit 1986 seinen Fabelwesen Oberon, Titania und Puck plastisch in der Vorstellung des Hörers. werden durch die von seinen Söhnen gegründete Weitere siebzehn Jahre später schrieb Mendelssohn im Auftrag des preußischen Königs Sir Ernest MacMillan Memorial Foundation junge Friedrich Wilhelm eine komplette Bühnenmusik zum Sommernachtstraum, die am 18. kanadische Musiker gefördert. Die Cortège Académique ist eine festliche Aufzugsmusik im Oktober 1843 im Neuen Hoftheater in Potsdam erklang; eine Konzertfassung folgte in feierlichen Stil englischer Cathedral Music; sie entstand 1953 zum 100-jährigen Bestehen London am 27. Mai 1844 unter Mendelssohns Leitung. Trotz der unterschiedlichen Ent- des University College, Toronto. stehungszeit wirkt das Werk wie aus einem Guss. Von den insgesamt dreizehn Nummern wurden vor allem Scherzo, Notturno und Hochzeitsmarsch weltberühmt. Das Intermezzo ist – zu Unrecht – weniger bekannt; es begleitet in subtilster Art den Felix Mendelssohn Bartholdy Übergang von der Zauberwelt Oberons und Tita- Felix Mendelssohn Bartholdy, der hauptsächlich wegen der 1829 erfolgten Wieder-Auf- nias zu der derben Welt der Handwerker Athens, führung der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach als wesentlicher Förderer der die im verzauberten Wald ihre Komödie proben Wiederentdeckung Bachs und der Auseinandersetzung mit seinen Werken im 19. Jahr- wollen, ohne von dessen Verzauberung etwas zu hundert bekannt ist, hat sich auch auf dem Gebiet der Orgelmusik um Bachs Werke ahnen. So treffen, musikalisch fein gezeichnet, verdient gemacht. Von frühester Jugend an ein begeisterter Orgelspieler, trug er auf sei- Zauber und Realität aufeinander. nen zahlreichen Konzertreisen neben eigenen Werken und Improvisationen stets auch Das den 3. Akt beschließende Notturno (Nocturne) Bachsche Werke vor; u. a. ermöglichte er schließlich mit einem Orgelkonzert in Leipzig, ist ebenfalls ein Beispiel der feinsten Textdeutung bei dem er ein Bach-Programm spielte, die Finanzierung des ersten Leipziger Bach-Denk- durch Musik und Instrumentation. Die beiden mals (1843). Er galt – in einer Zeit des weitgehenden Zerfalls der Orgelkunst – als ein durch den Spuk vollkommen verwirrten Liebes- bedeutender Orgelvirtuose, nach dem Urteil seiner Zeitgenossen von Goethe bis zu paare sind endlich eingeschlafen, als Puck zu Samuel Wesley ebenso im Literaturspiel (vorwiegend Bach) wie in der Improvisation. Auf ihnen tritt, um ihnen den Saft der Erkenntnis einer seiner Konzertreisen (1831) machte er übrigens auch in Stuttgart Station, um die unter die Lider zu träufeln, der ihnen hilft, beim Orgel der Stiftskirche kennenzulernen – damals noch das berühmte Instrument von Erwachen den richtigen Partner zu erkennen. Der Joseph Martin aus Zwiefalten, das königliche Geschenk, das in den Jahren um 1810 nach Zauber der Nacht an sich und ihrer magischen Stuttgart gebracht und dort auf dem Lettner aufgebaut worden war. (Auf die heutige Ereignisse wird von Mendelssohn in vollendete Orgelempore, die Westempore, damals »Singempore« genannt, wurde es erst 1837 durch Musik umgesetzt, beispielsweise durch ein aus- E. F. Walcker versetzt.) drucksvolles Hornsolo. An Orgelwerken hat der allzufrüh verstorbene Mendelssohn dennoch relativ wenig hinter- lassen: neben den Präludien und Fugen op. 37 und den Sechs Sonaten op. 65 nur noch Das Wunderkind Felix Mendelssohn Bartholdy

18 19 Marcel Dupré Während Rheinbergers geistliche Vokalwerke für die katholische Liturgie bestimmt sind, Marcel Dupré war ein legendärer Orgelvirtuose, -pädagoge und -komponist, dessen zählen die Orgelwerke zu den Stücken, die er vor allem für den Gebrauch im Konzert schrieb. Lebenserinnerungen ähnlich anschaulich und bewegend sind wie Louis Viernes Souvenirs. Mit diesen Werken ist er der wichtigste deutsch(sprachig)e Orgelkomponist zwischen Men- Geboren am 1. Mai 1886 in eine Musikerfamilie in Rouen, war Dupré seit der frühesten delssohn und Reger, und dies in seinem ganz individuellen, vornehm-zurückhaltenden Kindheit an Orgelfragen interessiert, gab mit acht Jahren schon öffentliche Konzerte und Personalstil, der auf die großen romantischen Übersteigerungen in Satz, Koloristik und verfolgte nach dem überaus erfolgreichen Studium am Conservatoire (Orgel bei Alex- Dynamik verzichtete – im Gegensatz etwa zu Liszt oder Reger – und barocke Formen wie andre Guilmant, Klavier bei Louis Diémer, Komposition bei Charles-Marie Widor, gleich- Passacaglia, Trio und Fuge einbrachte – der ebenso aber auch das für die Romantik typische zeitig mit Darius Milhaud und Arthur Honegger) und dem Rompreis 1914 eine außerge- Charakterstück liebte. Als ideales Instrument schwebte ihm jedoch auch keine monumen- wöhnliche Karriere als weltweit gefeierter Konzertorganist (2.000 Konzert 1959 …), tale (pneumatische) Orchester-, sondern die mechanische Kegelladen-Orgel vor, wie sie zu bekannt, ja befreundet mit Berühmtheiten und selbst ausgezeichnet mit zahllosen jener Zeit beispielsweise Georg Friedrich Steinmeyer (1819–1901) schuf. Ehrungen. Über seine zahlreichen Schüler (u. a. Olivier Messiaen, Marie-Claire Alain, Auch wenn der Komponist, häufig verächtlich als Vertreter des »Caecilianismus« abgetan, , Jeanne Demessieux und Jean-Jacques Grunenwald) prägte er ebenso wegen der musikalischen Reformbewegungen gegen die Romantik im 20. Jahrhundert wie über seine Editionen und Kompositionen Generationen von Organisten. Nach einer eine Zeitlang weitgehend in Vergessenheit geraten war, so blieben seine 20 Orgelsonaten beispiellosen Laufbahn starb der echte Kosmopolit am 30. Mai 1971 in seinem Haus in immer bekannt und beliebt. Sie weisen ihn als einen exzellenten Kontrapunktiker aus. Meudon, wo er an der von übernommenen Hausorgel von Cavaillé- In seinem Gesamtschaffen fand er im Hinblick auf die Tatsache, dass er von der Orgel Coll zahlreiche Konzerte in der eigenen Musikhalle im Park gespielt hatte … herkam und viele Jahre lang als Organist tätig war, erst relativ spät zur intensiven Kom- Das erste seiner Trois préludes et fugues op. 7, 1 in H-Dur ist ein brillantes Beispiel für position für dieses Instrument: Die 1. Orgelsonate entstand erst 1868, zu einer Zeit also, Duprés eleganten und virtuosen Stil in der freien Komposition. Obwohl es sich bei den da er den Klavierstil schon souverän beherrschte. erst 1920 veröffentlichten Stücken des Opus 7 eigentlich noch um Studienwerke handelt, Das Allegro moderato aus der 16. Sonate ist der Eröffnungssatz, dem im kompletten Zyklus noch sind sie doch Ausdruck seines Talents, für große Klangräume – wie beispielsweise Saint- die weiteren Sätze »Skandinavisch« sowie »Introduktion – Fuge« nachfolgen, sodass sich eine Sulpice, wo er als Vertreter Widors häufig musizierte – zu komponieren. Da die Zeitge- interessante Kombination aus einem eher herben deutschen Ton (allein durch die Tonart gis!) nossen die anspruchsvollen Stücke zunächst für nicht spielbar hielten, wurde Opus 7 erst im ersten und einem nordisch-emotionalen im zweiten (über eine »skandinavische Melodie 1917 in der Salle Gaveau uraufgeführt. Mit der Tendenz, zwischen den beiden Werkteilen von Berggren«) Satz ergibt, die im Finale (Introduktion und Fuge) mit dem Rückgriff auf das Präludium und Fuge eine thematische Verwandtschaft zu schaffen, stellt sich Dupré ganz 3. Thema des 1. Satzes im kraftvollen Maestoso den Kreis wirkungsvoll schließt. in die Nachfolge Johann Sebastian Bachs. Das erste Werkpaar des Opus 7 eröffnet der Gemessen schreitend und klangvoll (4/4-Takt, f) beginnt der Eröffnungs-Satz; das Thema Komponist im Prélude mit einem markanten, fanfarenartigen Thema, das von einer glo- liegt im Sopran. Über Themen-Aufsplitterung und Triolenbegleitung steigert sich die ckenspielartigen Gegenstimme begleitet wird. Das hieraus – auf originelle Weise – abge- Intensität und die Bewegung, bis nach einer Kadenz Takt 49 ff. das zweite, sehr gesang- leitete Thema der Fugue ist sehr lebhaft, in perlender Sechzehntelbewegung dahinströ- liche Thema in der Durparallele H und in verhaltener Lautstärke (p) einsetzt, dessen mend, und verleiht der Fuge den Charakter eines Perpetuum mobile. Die Folge für den Durchführung u. a. auch die Mollvariante h und den kräftigen Klangbereich (f) streift und Interpreten ist, dass er über eine ausgezeichnete Pedaltechnik verfügen muss, denn das ebenfalls durch Aufsplitterung und Triolenbewegung vorangetrieben wird, bis in Takt 103 Thema wird ja auch vom Pedal aufgenommen … ff. kraftvoll (ff) ein drittes, choralartiges Thema in Fis-Dur einsetzt. Die Themen verbin- Die Motorik, die Virtuosität und die außergewöhnliche, strahlend helle Tonart H-Dur den sich, ein verhalten anhebender, dann strahlender Abschnitt in As-Dur weist auf den lassen dieses Werkpaar zu einem ganz besonderen Erlebnis werden! nachfolgenden Satz voraus, bis zuletzt die große Schlusskadenz in verbreiterter Deklama- tion (largamente) zum Schlussakkord in leuchtendem Gis-Dur führt.

Josef Rheinberger Der liechtensteinische Komponist (getauft Gabriel Joseph Rheinberger) kam bereits als Pjotr Iljitsch Tschaikowsky Knabe von zwölf Jahren zur Ausbildung bei Johann Georg Herzog (Orgel) und Julius Das Leben des großen russischen Komponisten ist – nicht zuletzt durch Verfilmungen aller Joseph Maier (Kontrapunkt) sowie privatem Kompositionsunterricht bei Franz Lachner Art – vielen geläufig, seine Werke – vor allem die Ballettmusiken – wohl jedem vertraut. nach München, wo er nach Abschluss seiner Studien vielerlei Tätigkeiten als Organist Weniger häufig jedoch sind seine Werke in Kirchenkonzerten zu hören, allenfalls in eini- und Chorleiter ausübte, vor allem aber von 1859 bis zu seinem Tod 1901 als in aller Welt gen Vertonungen von Hymnen der russisch-orthodoxen Liturgie. Der Orgel widmete er berühmter Professor für Orgel und Komposition an der Musikhochschule (vormals sich nur eine Zeitlang während seines Studiums, das der am 25. April (7. Mai) 1840 in »Hauser’sches Konservatorium«) wirkte. Wotkinsk geborene Sohn eines Hüttendirektors nach anfänglichem Staatsdienst als Justiz­

20 21 angestellter erst 1863 aufnahm, als im Unterricht len werde. Die Fliederfee kann den Fluch abschwächen auf einen hundertjährigen Schlaf, bei Zaremba (seit 1861) sein Talent erkannt und dem das ganze Königreich am 16. Geburtstag der Prinzessin nach dem Spindelstich dann gefördert worden war. Außer Komposition bei auch verfällt. Nach 100 Jahren gelingt es Prinz Désiré, sie mit einem Kuss wieder zum Anton Rubinstein studierte er nun u. a. auch Flöte Leben zu erwecken. Die Schluss-Szene ist das große Hochzeitsfest, bei dem sich auch und Orgel (bei H. Stiehl). 1865 verließ er das Kon- zahlreiche Gäste aus der gesamten Märchenwelt tummeln, u. a. Aschenputtel mit seinem servatorium in St. Petersburg mit einer Vertonung Prinzen, Rotkäppchen und der Wolf und der gestiefelte Kater. Die Musik zu diesem far- von Schillers »Ode an die Freude«. Schon im bigen Geschehen atmet den Geist des Sieges über das Böse und den Tod, sie sprüht vor nächsten Jahr wurde er von Nikolai Rubinstein als Lebensfreude und dem Glanz des Zaubers von guten Feen und edlen Prinzen. Theorielehrer ans Konservatorium in Moskau Die Szenen des heutigen Programms sind als Folge von sechs Variationen mit Coda die berufen und übte diese Tätigkeit zwölf Jahre lang Auftritte 6 bis 12, nach Introduction, Prologue und zwei Pas de six der Einstieg in die aus, während er mit seinen Werken zunehmend Handlung, die nach der Coda mit dem Finale, der Auseinandersetzung zwischen Cara- erfolgreich war. Außerdem als Musikkritiker für bosse und der Fliederfee, endet. Danach folgt der I. Akt mit dem Spindelstich. die »Russischen Nachrichten« tätig, belastete er seine Gesundheit durch zuviel Arbeit und ging 1876 zu einer Kur nach Vichy. In dieser Zeit been- Rachel Laurin dete er das Ballett Schwanensee. Mit Hilfe einer Die kanadische Organistin, Komponistin und Improvisatorin Rachel Laurin, geboren Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, 1888 Gönnerin und ihrer großzügigen jährlichen Pen- 1961 in St-Benoït (Provinz Quebec), war nach dem Studium am Konservatorium Mont- sion konnte er sich seit 1878 ausschließlich der réal (1980–86) dort als Organistin tätig, in den Jahren 2002–06 als Titularorganistin an Komposition widmen sowie häufigen Konzertreisen mit eigenen Werken. Zuletzt dirigierte der Kathedrale Notre Dame in Ottawa. Sie widmet sich heute der Komposition, der Kon- er noch am 28. Oktober 1893 die Uraufführung seiner »Schicksals-Symphonie«, der Sechs- zerttätigkeit und der Lehre in Meisterklassen und Vorträgen. Ihre Konzerttourneen führ- ten in St. Petersburg. Nur neun Tage später starb er an den Folgen einer Cholera-Infektion. ten sie durch die größeren Städte Kanadas und der USA sowie durch Europa; CD-Einspie- Ursprünglich hauptsächlich von der westeuropäischen Tradition, speziell der deutschen lungen liegen vor bei den Labels Motette, Musicus, Analekta, SRC (Radio Canada) u. a. In Romantik (insbesondere Robert Schumann), der italienischen und französischen Musik Montréal (2000) und in Ottawa (2001) spielte sie in drei Konzerten alle sechs Orgelsym- (Bellini, Meyerbeer, Berlioz, Gounod, Bizet etc.), weniger von seinen russischen Lehrern phonien von Louis Vierne. Verschiedene Werke kanadischer Komponisten brachte sie zur geprägt, fand Tschaikowsky zu einem Personalstil, der die russische Musik erstmals in Uraufführung, darunter auch das Orgelkonzert von Raymond Daveluy in Hamilton 1999. aller Welt berühmt machte, ohne dabei nationale Züge zu stark zu betonen (im Gegensatz Ihre zahlreichen Werke für verschiedene Instrumente, Ensembles und Orchester werden zu Rimskij-Korsakow und seinen Gesinnungsgenossen). Der Reichtum seines persönli- vor allem in der angelsächsischen Welt häufig aufgeführt und eingespielt. Sie erscheinen chen Stils umfasst alle Möglichkeiten der traditionellen symphonischen Musik, der Pro- seit 2006 bei Wayne Leupold Editions (USA), wo sie Hauskomponistin ist. Rachel Laurin gramm-Musik sowie der Nationalstile, die er zu einem quasi kosmopolitischen Aus- ist Preisträgerin mehrerer Kompositionswettbewerbe und wird als Organistin wie als drucksstil verschmilzt. Zarte, lyrische Abschnitte stehen dabei unvermittelt neben rohen Komponistin häufig zu Orgelfestivals eingeladen. Die auch als Improvisatorin sehr Ausbrüchen, verhaltene Partien wechseln mit lebhaft-klangsinnlichen. bekannte Komponistin lehrt Orgelimprovisation bei verschiedenen Workshops und Som- Wie seine anderen berühmten Ballette Schwanensee und Der Nussknacker zählt auch die merakademien, u. a. auch 2010 als »Distinguished Guest Artist« an der Yale University Ballettmusik zu Dornröschen op. 66 zu den in aller Welt geschätzten und meistaufgeführ- (New Haven, CT, USA). Eine CD mit ihrem vollständigen Orgelwerk erschien beim Label ten Werken Tschaikowskys. Ja, der Komponist selbst hielt Dornröschen für sein bestes Acis im Juni 2011, eingespielt von Isabelle Demers. Werk. Er schrieb die Musik in enger Zusammenarbeit mit dem Choreographen Marius Ihr wichtigster Lehrer während des Studiums am Konservatorium in Montréal war Ray- Petipa 1888/89, und die Uraufführung erlebte das Werk im Januar 1890 im Mariinsky mond Daveluy (Orgel, Improvisation, Komposition). Rachel Laurin zählt zu den bekann- Theater St. Petersburg. Im berühmten Moskauer Bolschoi-Theater wurde es erst neun testen Schülern des 1926 in Quebec geborenen Organisten, Komponisten (hauptsächlich Jahre später inszeniert. Textgrundlage ist das Märchen von Charles Perrault La belle au von Werken für Orgel solo), Pädagogen und Kunstvermittlers, der von den 1940er Jahren bois dormant (1696), in Deutschland von den Gebrüdern Grimm als »Dornröschen« auf- bis zur Jahrhundertwende eine intensive Konzerttätigkeit verfolgte und daneben ver- gezeichnet. Die Handlung ist hier wie dort dieselbe, nur die nationaltypischen Namen schiedene Organistenstellen und Lehrtätigkeiten innehatte. treten hinzu: König Florestan feiert die lang ersehnte Geburt seiner Tochter Aurora, als Introduction and Passacaglia on a theme of Raymond Daveluy von Rachel Laurin ist eine Hom- die – nicht eingeladene und daher erboste – Hexe Carabosse den Fluch ausspricht, dass mage an ihren Lehrer in Gestalt eines mitreißenden und tiefgründigen Porträts, das seine die Prinzessin noch vor ihrem 16. Geburtstag von einer Spindel gestochen und tot umfal- vielgestaltige Persönlichkeit und sein reiches Künstlerleben nachzeichnet und widerspiegelt.

22 23 Konzert 3 Programm

Kay Johannsen (Stuttgart) Kay Johannsen (* 1961) Fiery Dance (UA) Freitag, 19. Juli, 19 Uhr Freie Improvisation Charles-Marie Widor (1844–1937) Symphonie VII, a-Moll, op. 42, 3 Moderato Choral Andante Allegro ma non troppo Lento Finale

24 25 Charles-Marie Widor Takt) einfügt, der jedoch vom Gehalt und der Stimmung her Francks Kompositionen Der unumstrittene Grandseigneur der Orgelmusik um die vorletzte Jahrhundertwende (z. B. der Fantaisie A-dur oder Pastorale op. 19) erstaunlich nahesteht. Er bildet nach der und Vater der Orgelsymphonie prägte in seinem langen und intensiven Leben (24. Feb- Einleitung (Moderato), einem wirkungsvollen Sonatenhauptsatz mit zwei kontrastieren- ruar 1844 Lyon – März 1937 Paris) Generationen von Organisten und Komponisten. Der den Themen (das erste ist stark chromatisch geprägt), der im Unisono mit arabeskenhaf- aus einer Musikerfamilie mit elsässisch-ungarischen Wurzeln stammende Komponist ten Motiven der vollen Orgel einsetzt, das zentrale Thema, denn die Motive sind aus ihm und Organist erhielt Unterricht bei François-Joseph Fétis und Jacques-Nicolas Lemmens abgeleitet (absteigendes Tetrachord und aufsteigende Dreitonleiter). Besonders interes- in Brüssel, jedoch niemals am Pariser Conservatoire, was ihm von vielen lebenslang nach- sant – auch im Vergleich zu Franck – gestaltet Widor die Verteilung der Stimmen, denn getragen wurde. Von 1869/70 bis 1933 (!) war er Organist an der großen Cavaillé-Coll- die Melodie und der Bass des Chorals werden vom zweistimmigen Pedal ausgeführt, Orgel in St-Sulpice, seit 1890 lehrte er am Conservatoire Orgel, später Kontrapunkt und sodass der Pedalsatz (mit Registrierung von 16’- bis 4’-Labialstimmen) ungeheuer weit, Fuge, seit 1896 Komposition; unter seiner Leitung wurde die Betonung verstärkt auf das über vier Oktaven hinweg ausgreift. Die parallel geführten Manualstimmen (Sopran/ Instrumentalspiel, seine technische Grundlage und als Folge derselben die künstlerische Bass) dienen zur Verstärkung des so ungewöhnlichen Pedalsatzes. Ein durch den Manu- Interpretation gelegt. Nicht nur durch seine Ausstrahlung als Lehrer so bedeutender Schü- aliter-Satz deutlich abgegrenztes Zwischenspiel führt zur Wiederholung des Chorals, mit ler wie Marcel Dupré, Louis Vierne, und Albert Schweitzer war er von um eine Oktav nach oben versetzten Manualstimmen; ein weiteres Zwischenspiel steht ganz entscheidendem Einfluss auf die französische Musik, der er insbesondere die Werke im schwingenden 6/8-Takt (Andantino agitato, a-Moll). Verschiedene Abschnitte variie- Bachs, aber auch Mendelssohns nahebrachte, wie auch auf Deutschland, weil man dort ren sodann die bisher eingeführten Motive, die Takt- und Tonart (a/A, u. a. wird auch wieder Instrumente erbaute, die dem französisch-romantischen Klangideal folgten. Als c-Moll gestreift) sowie den Modus, bis das Choralthema eine große Durchführung erfährt, Konzertorganist war Widor weithin berühmt; seine Virtuosität schlug sich auch in seinen immer umrankt von Arpeggien und Melismen im Manual. Sehr wirkungsvoll steigt es zahlreichen Orgelwerken nieder, in deren Zentrum die insgesamt zehn Orgelsymphonien zuletzt vom Sopran wieder hinab in seine Ausgangslage, den Bass; der A-Dur-Schluss­ stehen – Kompositionen einer Gattung, als deren Schöpfer man ihn zu Recht betrachtet. akkord verklingt verhalten (pp). Widor wollte mit seinen Orgelsymphonien keineswegs den Orchesterklang imitieren, son- Nach einer kurzen Überleitung (wenige Takte im Andante) folgt im dritten Satz ein sicili- dern den symphonischen Klang auf der Orgel darstellen: Die Inspiration zur Komposi- anoartiges Allegretto (A-Dur) vom Typus Solo (der Clarinette) mit Begleitung; verschie- tion dieser neuartigen Werke war für ihn nach seinem eigenen Zeugnis nicht der Wunsch, dene Harmoniewechsel (Fis-Dur, h-Moll) bringen in den einzelnen Abschnitten wir- eine neue Gattung zu begründen, sondern vor allem der Klang der großartigen Cavaillé- kungsvoll changierende Farben. Kontrastierend angelegt, ist der vierte Satz »Allegro ma Coll-Orgeln – besonders »seiner« Orgel in St-Sulpice –, auf denen wegen der Neuerungen non troppo«, wieder herber, er steht in a-Moll, und bringt nach dem Eingangszitat im Pedal Aristide Cavaillé-Colls im Orgelbau der symphonische Klang adäquat dargestellt werden ein aus dem Themenkopf des Chorals entwickeltes Motiv im Sopran, untermalt von leb- konnte: Widor brachte zusätzlich den virtuosen Orgelstil ein. haften, virtuosen Unterstimmen. Das Thema wandert durch die Stimmen, vielfach mit So widmete er die ersten vier Symphonien, als op. 13 im Jahr 1872 bei Maho (Paris) publi- chromatischen Durchgängen, und auch harmonische Abwechslung ist gegeben (reiche ziert, seinem Freund und Förderer Aristide Cavaillé-Coll. Die zweite Folge der Sympho- Modulationen, Zwischenabschnitt in fis-Moll). Durch die überwiegend auf drei begrenzte nien op. 42 (mit der V. und ihrer bekannten Toccata sowie der monumentalen VIII.) zeigt Stimmenzahl bleibt die Transparenz des Satzes dennoch stets erhalten. Wiederum mit ihn auf dem Höhepunkt seiner kompositorischen Meisterschaft. Die beiden nachfolgen- kontrastierender Wirkung folgt als Ruhepunkt ein meditatives, vielstimmig-dichtes Lento den Symphonien, mit gregorianischen Themen, die Widor einzeln publizierte, sind dann in der Dominanttonart E (mit der Mollparallele cis im 2. Teil), in dem in einem fünfstim- spiritueller und meditativer, von gedämpfterem Klang, und die gregorianischen Themen migen Satz ein dicht kontrapunktisch gestaltetes Thema von acht Takten durchgeführt sind wie Leitmotive verwendet, die einzelne Sätze und bei der Symphonie Romane sogar wird. Das stürmisch wogende, klangprächtige Finale (fff) ist wieder, wie im Choral, vom den ganzen Zyklus zusammenfassen. Die beiden Zyklen weisen bereits deutlich auf sei- Pedal her bestimmt, wo das Thema zunächst vorgestellt wird, zu teils leeren (und somit nen Schüler Charles Tournemire voraus. Die Gregorianik begleitete Widor auch noch bis durchsichtigen) Quintklängen im Manual. Nach kräftiger Eröffnung bis zum Halbschluss zu der 27 Jahre nach der Symphonie Romane erschienenen Suite latine op. 86 – mit ihren auf der Dominante folgt ein manualiter auszuführender, verhaltener Abschnitt (p), der sechs Sätzen hätte sie durchaus auch »Symphonie« genannt werden können, aber offen- stark chromatisch geprägt ist. Das Thema wird mit steter Motorik durchgeführt, weiter- bar wollte Widor zum Dekalog seiner Symphonien keine weitere mehr hinzufügen. entwickelt, es tritt in Variationen und Kombinationen aller Art auf. Bei der Wiederkehr Die VII. Symphonie a-Moll op. 42, 3 (1887), die von Albert Schweitzer wie die VIII. als des 1. Themas im fff erklingt es im Pedal und in parallel geführten Manualstimmen. Tri- »Übergangswerk« charakterisiert wurde, markiert eine stilistische Wendung Widors zum olen treiben die Bewegung immer wieder voran, Zwischenabschnitte in Des/des, Es/es herberen Ausdrucksgehalt, einer zunehmenden orchestralen Behandlung der Orgel und setzen farbige Akzente, bis zuletzt rasante Läufe und das Themenzitat in der Dominante dem zyklischen Prinzip, was bedeutet, dass letztlich alle Sätze thematisch eng verbunden im fff glanzvoll zum A-Dur-Schlussakkord führen. sind. Neu an der VII. ist auch, dass Widor (drei Jahre vor dem Erscheinen der Trois Chorals von César Franck!) als 2. Satz einen selbsterfundenen Choral in der Durparallele A (4/4- 26 27 Konzert 4 Programm

Hans Fagius (Kopenhagen) Harald Fryklöf (1882–1919) Sinfonisches Stück (1916)

Freitag, 26. Juli, 19 Uhr Einar Englund (1916–1999) Passacaglia (1971)

Johann Sebastian Bach (1685–1750) Concerto a-Moll BWV 593 (nach Antonio Vivaldis Concerto a-Moll op. 3 Nr. 8 für zwei Violinen, Streicher und Continuo) Allegro Adagio Allegro

Charles-Marie Widor (1844–1937) Symphonie V, f-Moll, op. 42, 1 (1879) Allegro vivace Allegro cantabile Andantino quasi allegretto Adagio Toccata. Allegro

anschließend KünstlerTreff auf der Orgelempore

28 29 Harald Fryklöf Einar Englund Der am 14. September 1882 in Uppsala geborene Wie sein berühmter Landsmann gehörte der finnisch-schwedische Kompo- schwedische Komponist und Organist erlag bereits nist der schwedischsprachigen Minderheit Finnlands an, geboren am 17. Juni 1916 in am 11. März 1919 der schweren Epidemie der Spa- Ljugarn auf Gotland. Bis 1941 studierte er an der Sibelius-Akademie in Helsinki Kompo- nischen Grippe, die in den Nachkriegsjahren sition bei Bengt Carlson, Klavier bei Martti Paavola und Dirigieren (sowie Orchestration) wütete. In seinem allzu kurzen Leben studierte er bei Leo Funtek, dessen fundierten Unterricht in der Instrumentation Englund stets als an der Musikhochschule in Stockholm Orgel (Dip- Quelle seines eigenen großen handwerklichen Könnens rühmte. Nach dem Fronteinsatz lom 1903), Komposition bei Johann Lindegren in im Zweiten Weltkrieg (s. seine vielbeachtete 1. Symphonie 1946 mit dem Beinamen den Jahren 1902–1905 sowie Orchestration bei »Kriegs-Sinfonie«) gewann Englund bei einem für das Sport- und Kulturfest der »Finnish Philipp Scharwenka in Berlin 1905. Games« ausgeschriebenen Wettbewerb mit seiner Orchesterkomposition Epinikia den Außerdem absolvierte er von 1904 bis 1910 ein Kla- 1. Preis und ging danach von 1948 bis 1949 in die USA zum Studium bei Aaron Copland vierstudium bei Richard Andersson, in dessen in Tanglewood, nachdrücklich von Jean Sibelius darin unterstützt, dem er verschiedene Musikschule er seit 1904 auch selbst unterrichtete. seiner Werke vorgelegt hatte. Um die Jahrhundertmitte als einer der führenden finni- Von 1908 an war er Organist an der »Großen« schen Musiker der Moderne anerkannt, geriet er bereits ein Jahrzehnt später nahezu ganz Kathedrale St. Nikolai von Stockholm und Lehrbe- in Vergessenheit: mit zunehmendem Einfluss der Dodekaphonie und des Serialismus in auftragter am Konservatorium (mit ständigem Lehr- seiner Heimat galt er nun eher als rückständig, und auf diesem Gebiet machte ihm auftrag seit 1914). In den Jahren 1905–07 hatte er ein Staatliches Kompositionsstipendium zudem den führenden Rang streitig. Hinzu traten starke persönliche inne, und 1915 wurde der junge Musiker in die Königliche Musikakademie aufgenommen. Belastungen durch den frühen Tod seiner Frau (1946). Englund verdiente seinen Lebens- Seine vielversprechende Laufbahn als Komponist von Kammermusik, Werken für Chor, unterhalt eine Zeitlang mit Film- und Bühnenmusiken, bis er 1971 mit seiner 3. Sympho- Orchester, Orgel sowie Sologesang, überwiegend geistlicher Bestimmung, wurde durch nie wieder in das Rampenlicht der finnischen Musik trat; er selbst betrachtete dieseSym - seinen vorzeitigen Tod jäh abgerissen. Seine Kompositionen weisen eine große Kunst des phonie als sein Hauptwerk. In demselben Jahr entstand auch seine Passacaglia für Orgel. Kontrapunkts, geistige Tiefe und dazu Originalität auf, die Anlass zu großen Hoffnungen In seinen späteren Jahren komponierte er vor allem Auftragswerke für besondere Anlässe, boten. Beispiele sind Psalm 98 für Chor ebenso wie die Klavierlieder. Sein kontrapunkti- neben der langjährigen Tätigkeit als Lehrer für Komposition und Musiktheorie an der sches Können rückt ihn für viele nicht nur in die Nähe Bachs (etwa in seiner Passacaglia Sibelius-Akademie (1957–1981; 1976 Titel »Honorarprofessor«), bis er aufgrund gesund- für Orgel), sondern auch neben Max Reger. Zusätzlich zur »deutschen« Kontrapunktik heitlicher Probleme nicht mehr komponieren konnte. Außerdem war er in den 40er und verlieh Fryklöf seinen Werken auch französische Emotionalität, so vor allem in seinen 50er Jahren als Jazzpianist tätig sowie als Konzertpianist, der häufig als Interpret seiner Sololiedern zu beobachten. Die Klavierstücke (mit Vorliebe vom Typus der Miniatur; die eigenen Klavierkonzerte auftrat; besonders häufig wurde sein1. Klavierkonzert aufgeführt, Fuge cis-Moll 1909 wurde beim Wettbewerb der Gesellschaft für Musikalische Künste das zu den meistgespielten finnischen Werken dieser Gattung zählt. In seinem Œuvre 1909 begeistert aufgenommen) wiederum atmen eher schwedischen Geist nach Art Emil herrschen die Werke für Orchester (7 Symphonien, verschiedene Instrumentalkonzerte) vor, Sjögrens. Ein besonders expressives Werk ist seine Sonata alla Leggenda für Violine und später traten die Kammermusik und einige wenige Chorwerke hinzu. Klavier aus dem Jahr 1918; sie steht auch deshalb einzig da, weil Fryklöf keine weiteren In Englunds Schaffen flossen Impulse aus verschiedenen Traditionen ein, ähnlich wie großen Instrumentalkompositionen mehr schaffen konnte. dies bei Igor Strawinsky der Fall war, der wiederum zu den wichtigsten Impulsgebern für Auch die Zahl seiner Orgelwerke ist klein; unter ihnen ragen die kontrapunktisch hervor- Englund zählt, nicht nur als Vertreter des Neoklassizismus, sondern auch durch seine ragend gearbeitete Passacaglia und das Sinfonische Stück hervor, die beide erst posthum Neigung zum Jazz. Englund löste sich vom damals in Finnland vorherrschenden, von veröffentlicht wurden (Musikaliska Kunstföreningen, 1926). spätromantischen bis impressionistischen Vorbildern geprägten Stil und entwickelte Das Sinfonische Stück (1916) ist ein wirkungsvoller Satz in einer abgewandelten Form des seine eigene Tonsprache, die neben Impulsen von Strawinsky auch solche von Bartók Sonatenhauptsatzes, da Fryklöf dem rhythmisch prononcierten Hauptthema nicht nur und der modalen Volksmusik oder von Dmitrij Schostakowitsch und dessen fließender, ein lyrisches Seitenthema kontrastiert, sondern sogar deren zwei, sodass diese drei musi- beredter, häufig ironisch gefärbter Musik aufweist. In seinen klanglich oft herben, aber kalischen Persönlichkeiten in ihrer Präsentation, Kombination und Auseinandersetzung auch elegischen Kompositionen wählt Englund mit Vorliebe alte Formen wie Sonate oder miteinander die Gestaltung des Satzes prägen, der wahrhaft symphonisch ist, durch seine Passacaglia, liebt den Kontrapunkt und wahrt bei aller Neigung zu teils auch schroffen Ausdruckskraft ebenso wie durch seine kraftvolle Klangsprache, die bei der Interpretation Dissonanzen immer die – wenn auch erweiterte – Tonalität. auf einem so vielfarbigen Instrument wie der Stiftsorgel hervorragend zur Geltung Einar Englund, der im Jahr 1997 noch seine Memoiren unter dem Titel »I skuggan av kommt. Sibelius« veröffentlicht hatte, starb am 27. Juni 1999 in Visby.

30 31 Die Passacaglia für Orgel aus dem Jahr 1971 wurde mit einem Kompositionspreis ausge- Sturm; auch ein Mitglied der Familie am Hof des Fürsten zu Sachsen-Weimar, der junge, zeichnet. mit Bach befreundete Herzog Johann Ernst, ein Neffe des regierenden Fürsten, zählte zu Die alte Form der Variationen über einem gleichbleibenden Bass, mit der Schwesterform den Begeisterten. Er komponierte sogar eigene Konzerte im italienischen Stil und veran- der Chaconne verwandt, fand in der Musikgeschichte zweifellos ihren – späten – Höhe- lasste möglicherweise die Bachschen Bearbeitungen für ihre Aufführung in freien, punkt in Bachs Passacaglia und Fuge c-Moll BWV 582, in der Bach die eigentlich längst außergottesdienstlichen Orgelkonzerten. Solche gab es in den Niederlanden bereits, wie veraltete Form mittels eines auf die doppelte Länge (8 Takte) erweiterten ostinaten The- der Prinz bei einem Aufenthalt dort erfahren hatte. Ein weiterer Ansporn für Bach – mas von zwingender melodischer und harmonischer Gestaltung und der Krönung durch sofern er, allem Neuen gegenüber ohnehin aufgeschlossen, einen solchen überhaupt eine abschließende Fuge auf den Gipfel ihrer Aussagekraft führte. Das Thema wandert in nötig hatte! – war sicherlich das kollegiale Interesse seines Freundes und Vetters Johann den 20 Variationen auch in die Oberstimmen. Die von Bach so vollendet gestaltete Form Gottfried Walther, der als Organist an der Stadtkirche Weimar wirkte, außerdem neben der Passacaglia mit ostinatem Bassthema wurde damit zum Vorbild. anderen auch den Prinzen Johann Ernst unterrichtete. Die beiden Musiker übertrugen in In der Orgelmusik griffen nicht nur Josef Rheinberger und Max Reger im späten 19. den Jahren um 1713 in einem Prozess, der fast wie ein musikalischer Wettstreit wirkt, Jahrhundert diese traditionsreiche Form wieder auf, sondern im 20. Jahrhundert auch zahlreiche Konzerte für Klavier und Orgel: Von Walther sind 16 Orgeltranskriptionen Komponisten wie Frank Martin (Passacaille für Orgel) und in Skandinavien neben Einar erhalten, von Bach ebenso viele für Klavier (Cembalo), dazu fünf für die Orgel. Im Ver- Englund beispielsweise auch Harald Fryklöf (wie oben erwähnt); in anderer Besetzung gleich erweist sich Walther als der sorgfältigere, Bach als der genialere Bearbeiter. Bei erlebte die Gattung eine Wiederbelebung zum Beispiel bei Anton von Webern (op. 1), beiden Komponisten schließlich sind die Vivaldi-Transkriptionen die gehaltvollsten (zum Maurice Ravel (Klaviertrio a-Moll), Paul Hindemith (4. Streichquartett, Marienleben Nr. 2), Beispiel jene in h-Moll bei J. G. Walther, noch »Meck« zugeschrieben, mittlerweile aber Igor Strawinsky (Septett) oder Hans Werner Henze (Die Bassariden). als Transkription eines Concerto grosso von Vivaldi identifiziert!). Das Concerto a-Moll BWV 593 zählt zu diesen Transkriptionen nach ; es geht auf dessen Concerto a-Moll für zwei Violinen, Streichorchester und Basso continuo Johann Sebastian Bach op. 3 Nr. 8 zurück. Die Anlage in drei Sätzen, die Ritornellform in den Rahmenteilen, die Concerto a-Moll BWV 593 einfallsreiche Umsetzung von Violinfiguren und die Manualverteilung entsprechen weit- Transkriptionen, also Bearbeitungen unvergänglicher Melodien sind unsere steten gehend dem Vorgehen, das Bach auch bei der Umsetzung des Concerto G-Dur BWV 592 Begleiter im Leben, und dies vor allem, seitdem sich die Werbeindustrie ihrer bemächtigt nach einer Vorlage des Prinzen Johann Ernst angewandt hatte, mit organisch eingeglie- hat. Zu weniger kommerziellen Zwecken gab es sie allerdings zu allen Zeiten, insbeson- derten – und sorgfältig bezeichneten! – Manual- dere für Tasteninstrumente, die zur Wiedergabe mehrstimmiger Werke ja geradezu prä- wechseln zur Unterscheidung von Solo- und destiniert sind. Nicht umsonst entwickelte sich die Musik für Tasteninstrumente als Tutti-Abschnitten etc. Neu hinzu tritt hier aber eigenständige Gattung ja aus solchen Bearbeitungen heraus, »Intavolierungen« genannt. noch eine zusätzliche Unterscheidung von Solo In späteren Zeiten und bis heute schließlich sind Klavierauszüge unersetzliche Hilfsmit- I und Solo II im Schluss-Satz. Von ihrem großen tel zum Studium von Kantaten, Symphonien, Opern und vielen anderen größer besetzten Spannungsbogen her betrachtet, ist diese Kon- Kompositionen. zertbearbeitung neben jener in d-Moll nach So verwundert es nicht, dass auch Johann Sebastian Bach zahlreiche Bearbeitungen Antonio Vivaldi (BWV 596, lange Wilhelm Frie- schrieb, einerseits wohl, um sich mit bestimmten neuen Stilrichtungen vertraut zu demann Bach zugeschrieben) sicherlich die machen, andererseits, um die von ihm als wertvoll erkannten Werke anderer durch die bedeutendste in Bachs Orgelschaffen. konzertante Darstellung auf dem Tasteninstrument einem größeren Kreis von Interpre- Im ersten Satz (ohne Bezeichnung – jedoch sti- ten und Hörern zu erschließen. In späterer Lebenszeit trat durchaus kommerzielles listisch zweifellos ein schneller Rahmensatz: Inter­esse hinzu, wenn er zum Beispiel eigene Kantatensätze für die Orgel umschrieb in Allegro) ist der Tutti-Solo-Wechsel dadurch den sogenannten Schübler-Chorälen (BWV 645–650). besonders lebendig, dass nicht nur das gesamte Während seiner Dienstzeit als Hofkapellmeister, Kammermusiker und Hoforganist in Hauptthema wiederkehrt, sondern auch ein- Weimar in den Jahren 1708 bis 1717 konnte er sich besonders intensiv der Orgel widmen; zelne Abschnitte desselben, sodass reiche Ab- der Nekrolog vermeldet, dass er hier »die meisten seiner Orgelstücke gesetzet« habe. wechslung vorherrscht. Diese ist jedoch anderer- Neben diesen »Orgelstücken«, freien und choralgebundenen eigenen Werken, entstan- seits durch Motivverwandtschaften zwischen den in Weimar auch die Bearbeitungen italienischer Orchestermusik im Stil Antonio Thema und Episode auch unter einen Aspekt Vivaldis und seiner Zeitgenossen. Sie eroberte damals die deutschen Residenzen im Schlosskirche Weimar, Bachs Wirkungsstätte der Einheit und zunehmenden Verschmelzung

32 33 gestellt, den Bach im Vergleich zum Original eindeutig verstärkt hat. Farbige Kontraste (scherzando), das mit reichen Modulationen und Figurationen der Gegenstimmen das ergeben sich auch zwischen den filigran-zweistimmigen Solo-Episoden und dem vollen Hauptthema verarbeitet. Der akkordisch gesetzte Schluss des Satzes greift geradezu – vom Bearbeiter auch vollgriffig gesetzten! – Tutti-Klang. Wenn man Original und Tran- triumphal den Beginn wieder auf, denn er erklingt im fff mit zunehmend ausdrucksin- skription vergleicht, erkennt man, wie einfühlsam Bach wichtige Spannungselemente tensiver Deklamation (poco allarg., Con brio, sf, rit. …) und mündend in der Durvariante F. beibehält, wo es möglich ist, und vorsichtig Änderungen vornimmt, wo nötig, ja hier- Ein dreiteiliges Allegro cantabile bringt eine gegensätzliche Stimmung; die Solostimmen durch sogar zusätzliche Bewegungsimpulse einbringt, sodass die Musik ungeheuer leb- der Oboe und der Flöte, begleitet von Staccato-Arpeggien, alternieren miteinander und haft und schwungvoll wirkt. treten zuletzt zum Duett zusammen, sodass die rechte Hand beide Solo-Manuale zu Als zweiter Satz folgt ein Adagio, »senza Pedale a due Clav.« überschrieben, also »ohne bedienen hat. Pedal auf zwei Manualen« zu spielen. Wieder sind viele Details außergewöhnlich: Die Im dritten Satz, Andantino quasi Allegretto, kontrastiert Widor ein solistisches Thema des beiden Manualstimmen erklingen im Duett ohne Bassfundament, und sie tauschen ihre Pedals mit charakteristischem Oktavsprung mit einem vierstimmigen, choralartigen, das Funktionen als Solo- und Begleitstimme im Verlauf des Satzes mehrmals, hierin ganz der von der Linie des ab- und aufsteigenden Tetrachords bestimmt ist. Aus dem Pedalthema Praxis italienischer Duette folgend. Auch die klangschönen Terzparallelen entstammen ergeben sich im Mittelteil des Satzes virtuose Figurationen und Artikulationen zu Halte- dieser Tradition. Die Umrahmung des Duetts durch ein in Oktaven vorgetragenes Thema tönen und -akkorden der übrigen Stimmen. wandte Bach später in eigenen Konzerten wieder an. Wiederum eine Oase der Ruhe ist der – auffallend kurze – vierte Satz, ein liedhaft-lyri- Der dritte Satz: Allegro folgt wieder der Ritornellform, jedoch mit einer von Anfang an sches Adagio in der Dominanttonart C-Dur in dichter kontrapunktischer Satzstruktur. wichtigeren Funktion der Solo-Episoden. Die Tutti-Abschnitte bestehen nämlich überwie- Der Finalsatz Toccata. Allegro F-Dur ist von einem rhythmischen Ostinato geprägt, das auf gend aus Skalen und Oktavklängen, die kaum Gelegenheit zur Entwicklung bieten. Wie die zweite Variation des ersten Satzes zurückgreift und damit den Zyklus abrundet. Über bereits erwähnt, schafft Bach hier durch die Kontrastierung zweier Soli zusätzliche den in diesem, aus Auftakt-Achtel (bzw. 2 Sechzehnteln) – zwei Achteln – Achtelpause Abwechslung. Die recht zahlreichen Änderungen am originalen Streichersatz dienen bestehenden Ostinato erklingen im fff die entsprechenden Harmonien in Form von Stac- dem Erhalt der Spannung, so vor allem das Füllen von Pausen, die rhythmische Belebung cato-Arpeggien der rechten Hand in Oktavversetzungen. Das Pedal tritt mit dem rhyth- von Basslinien und die differenziertere Figuration in den Solo-Episoden. Dynamische mischen Ostinato nach der ersten kadenzierenden Gegensätze, die Vivaldi durch »forte« und »piano« kennzeichnet, sind in der Transkrip- Manualphase hinzu; der Oktavsprung wiederum tion durch Manualwechsel erzielt. Durch die intensive Ausgestaltung eines bei Vivaldi greift auf den 3. Satz zurück. eher zweitrangigen Motivs schließlich erzielt Bach eine Tendenz zur motivischen Einheit, Da Widor neben anderen eigenen Werken auch die ja seine eigenen Werke zunehmend prägt, bei Vivaldi jedoch eher untypisch ist. Der diesen fulminanten Satz in die Auswahl der Stücke recht anspruchsvolle Pedalpart bis hin zum Doppelpedal belegt auf sehr anschauliche für seine erste Schallplatteneinspielung 1932 auf- Weise das Können Bachs als Orgelvirtuose in Weimar. nahm, ist herauszuhören, dass ihm die Klarheit wichtiger war als die allzu große Geschwindigkeit, denn er setzte nicht nur im Laufe der verschie­ Charles-Marie Widor denen Ausgaben die ursprünglich vorgesehene Die Orgelsymphonie V, f-Moll op. 42, 1 von 1879 ist vor allem durch ihr Finale (Toccata) Metronomangabe = 132 herunter bis auf 100, bekannt, ja berühmt, denn neben Bachs »notorischer« Toccata d-Moll BWV 565 zählt sondern fügte auchq Artikulationshinweise wie dieser Satz zu den meistgespielten Virtuosenstücken des gesamten Repertoires der Orgel- Staccato-Punkte u. ä. hinzu. musik. Die Symphonie wird mit einem Allegro vivace eröffnet, in dem ein stürmisch bewegtes, rhythmisch und artikulatorisch markantes Thema im akkordischen, marsch­ artigen Satz vielfältig variiert wird. Diese Veränderungen erfolgen – neben der dyna­ mischen Unterscheidung – in Form von fließender Achtelbewegung zum punktierten 1. Thema (1. Variation), rhythmischer Zergliederung des Themas in mit Pausen durch- setzten Achteln über einem in Vierteln (bzw. Achteln mit Pausen) dahinschreitenden Bass (2. Variation), der Kontrastierung von Staccato-Akkorden (auf dem unbetonten Takt- teil!) und rascher trillerartiger Sechzehntelbewegung in zarter, apart schwebender Regist­ rierung (3. Variation) und schließlich nach einem getragenen, choralartigen Zwischen- spiel (in F-Dur, Più Lento) einem spukartig-zart dahinhuschenden (pp) Scherzo

34 35 Konzert 5 Programm

Fanxiu Shen (Beijing) An-Lun Huang (* 1949) Präludium und Fuge g-Moll op. 43 (1987)

Freitag, 2. August, 19 Uhr Johann Sebastian Bach (1685–1750) Präludium und Fuge a-Moll BWV 543

César Franck (1822–1890) Choral Nr. 3 a-Moll

Anton Bruckner (1824–1896) Scherzo aus der »Nullten« Symphonie Adagio aus dem Streichquintett Scherzo aus der 2. Symphonie Transkription: Erwin Horn

anschließend KünstlerTreff auf der Orgelempore

36 37 An-Lun Huang schen Bezüge sind sehr eng, denn das Thema der Fuge lässt sich aus dem Beginn des Der chinesisch-kanadische Komponist wurde 1949 in China geboren, erhielt mit 5 Jahren Praeludiums herleiten. In BWV 543 wird das Praeludium außerdem im Toccatenschluss seinen ersten Klavierunterricht und legte bereits zwei Jahre später sein erstes eigenes der Fuge noch einmal aufgegriffen, sodass aus der Zweiteiligkeit im Grunde eine Dreitei- Klavieralbum vor. Er nahm das Klavierstudium am Zentralkonservatorium für Musik in ligkeit entsteht. In derselben wiederum ist die Fuge für sich genommen ebenfalls dreitei- Beijing auf, wurde jedoch durch die Chinesische Kulturrevolution der 1960er Jahre – als lig, denn die Stimmenzahl nimmt in schöner Symmetrie ab und dann wieder zu. Die Mitglied einer »ideologisch vergifteten«, verwestlichten Familie – gezwungen, das offizi- unablässige Bewegung verleiht beiden Teilen, vor allem jedoch der Fuge, den Charakter elle Studium aufzugeben. Er bildete sich eigenständig weiter und wurde 1976 zum Kom- eines Perpetuum mobile. Es liegt eine wohl ältere Variante vor, und in seiner Figuration ponisten und stellvertretenden Dirigenten an der Chinesischen Zentraloper in Beijing ist das Werkpaar auch mit ähnlich gestalteten Stücken von Buxtehude, Pachelbel oder ernannt und in den Musikerverband Chinas aufgenommen. Aus dieser Zeit stammen Corelli vergleichbar – dass aber Bach sowohl in seiner Klavierfuge a-Moll als auch im vor- mehrere Opern, Ballette, Film-, Kammer- und Chormusik aller Art sowie bereits ein Dut- liegenden Werkpaar diesen Typus in eine vollkommen abgerundete und ausgewogene zend symphonische Werke. 1980 ging An-lun Huang nach Kanada, um an der Universität Gestalt gebracht hat, ist unumstritten. von Toronto Komposition zu studieren, danach mit einem Kompositionsstipendium Das Praeludium hebt nach Art der norddeutschen Orgeltoccata mit einem Manualsolo an, (1983) am Trinity College, London, bis er 1986 sein Masterdiplom an der Yale University das in chromatisch absteigenden Arpeggien mit intensiver Spannung, gesteigert durch ablegte, wo er mit dem Preis der Gesellschaft der Ehemaligen ausgezeichnet wurde. An Triolenbewegung ab Takt 4, zum Pedaleinsatz auf dem Orgelpunkt der tiefen Tonika der Yale University hatte einst auch sein Vater, der Dirigent Huang Fei-li bei Paul Hinde- führt, über dem weitere Figurationen mit Steigerung bis zum Dominanttriller in Zwei- mith studiert. Seit 1986 lebt der Komponist in Ontario, wo er 1987 die Chinesisch-Kana- unddreißigsteln zur Kadenz auf der Dominante weiterleiten. Von hier aus führt ein zwei- dische Musikgesellschaft gründete und bis 1996 leitete, und wurde 2004 mit dem Preis ter Anlauf mit dem Anfangsthema im Pedal mit Kadenz zur Tonikaparallele C, von der »Canadian New Pioneer Arts Award« geehrt, da er mit seinen Werken so viel zur Vermitt- aus sequenzierendes Spiel mit dem Arpeggienmotiv zurück zur Tonika und über ein lung chinesischer Kompositionen in Kanada beigetragen habe. Neben zahlreichen weite- hartnäckig drängendes Pedalmotiv, gebildet aus drei auftaktigen Sechzehnteln und zwei ren Preisen, Auszeichnungen, Gastdozenturen und Kompositionsaufträgen wurde er in Achteln, zum Schlussakkord in der Durvariante A führt. den 90er Jahren auch zur Mitgliedschaft im Kanadischen Musikerverband eingeladen, Das Thema der Fuge im schwingenden 6/8-Takt umspielt den Grunddreiklang und die und seine zahlreichen Werke aller Gattungen werden weltweit mit großem Erfolg aufge- Dominante und führt in seinem ausgedehnten, sequenzierten zweiten Teil zum zweiten führt und sind anerkannt als Ausdruck einer besonders gelungenen Verschmelzung chi- Stimmeneinsatz in der (Moll-) Dominante. In seinen Randlinien ist es ebenso wie im nesischer und westlicher Musiktradition. Lang Lang, der Sieger des Internationalen Spiel mit Arpeggien eindeutig mit dem Praeludium verwandt. Tschaikowsky-Klavierwettbewerbs für junge Pianisten im Jahr 1995, spielte An-lun Es wird in einer ganz regelmäßigen vierstimmigen Exposition mit festem Kontrasubjekt Huangs Chinesische Rhapsodie Nr. 2, und häufig ist der Komponist auch in den Listen vorgestellt. Nach einem Zwischenspiel, das wie eine Fortsetzung der Exposition wirkt, anderer Wettbewerbe vertreten. Sein Ballett Dream of Dunhuang wurde aufgenommen kombiniert mit neuen Motiven, setzt das Thema in Engführung zwischen Sopran und unter die »Meisterwerke Chinesischer Kompositionen im 20. Jahrhundert«. Bass auf der Tonika ein, nach der Kadenz zur (Moll-) Dominante führt ein weiteres, har- Seine Oratorien Easter Cantata, Psalm 22 und Revelation gelten als seine größten und monisch an Quintenzirkel-Fortschreitungen orientiertes Zwischenspiel zum Themen- bekanntesten Werke in Kanada. einsatz in der Durparallele (versteckt im Alt), der nach einem weiteren Zwischenspiel in Präludium und Fuge g-Moll op. 43 (1987) ist die Orgelfassung der Sinfonie aus seinem der Dominante der Tonikaparallele beantwortet wird. Ein ausgedehntes, mit dem aufstei- zweiten Oratorium Psalm Davids … Psalm 22. Das Oratorium wurde 1987 unter der Lei- genden Tetrachord spielendes, modulierendes Zwischenspiel führt zum Themeneinsatz tung seines Vaters Hung Fei-li in Toronto uraufgeführt. im Pedal mit Engführungen der Oberstimmen in Tonika, Dominante und Tonika, jeweils Die Werkgruppe Präludium und Fuge ist mit dem Zusatz »im barocken Stil« versehen; mit modulierend-sequenzierenden Zwischenspielen, bis zuletzt der Orgelpunkt auf der und ganz nach Art dieses vom Kontrapunkt geprägten Zeitalters folgt auf das Präludium Dominante mit nachfolgendem Pedalsolo erreicht ist. Über ihm stauen sich die Ober- eine kraftvolle Doppelfuge, also eine Fuge mit zwei Themen. stimmen bis zum Dominantseptnonakkord, und die Fuge löst sich abschließend, zum Praeludium zurückgreifend, in Zweiunddreißigstel-Figurationen auf, bis über Doppeldo- minante und Dominante der Schlussakkord (in Moll verbleibend, wie beim großen Johann Sebastian Bach Schwesterwerk Fantasie und Fuge g-Moll BWV 542!) erreicht ist. Die beiden Werkpaare Praeludium und Fuge in a BWV 543 und in A BWV 536, entstanden Ein äußerst kraft- und ausdrucksvolles Werk Bachs, das viel zu selten zu hören ist! wie so viele andere große Orgelwerke Bachs in seiner Weimarer Zeit, nehmen eine Son- derstellung unter den großen Werken dieses Typs ein durch die enge Zusammengehörig- keit der beiden Teile. Das Praeludium leitet jeweils direkt zur Fuge hin, und die themati-

38 39 César Franck Stückes die Entwicklung zu seiner wahren Gestalt durchlaufe. Die Entstehung seiner drei 1822 in Lüttich geboren, studierte César Franck zunächst am dortigen Konservatorium, Gipfelwerke verdankt die Orgelwelt seinem Verleger Auguste Durand; binnen einiger später in Paris bei Antonín Reicha und am Conservatoire bei Zimmermann (Klavier), Wochen schrieb Franck sie im Spätsommer im Urlaub in Nemours und in Paris nieder Benoist (Orgel) und Leborne (Kontrapunkt). Nach dem mit Ersten Preisen in allen wich- und brachte sie mit seinen Schülern Anfang Oktober noch in einer vierhändigen Auf­ tigen Fächern erfolgreich absolvierten Studium war er in Lüttich und in Paris als Organist führung am Klavier zum Erklingen. Kurz darauf wurde er schwer krank und starb am und Klavierlehrer tätig, bis er 1853 (als Kapellmeister) und 1859 (als Organist) dort seine 8. November 1890. Lebensstellung an der neu erbauten Kirche Sainte-Clotilde mit »seiner« am 19. Dezember Da der Tod ihm damit vor der Veröffentlichung (am 29. Januar 1892) und Uraufführung 1859 eingeweihten Cavaillé-Coll-Orgel antrat. Seit 1872 wirkte er als Nachfolger Benoists (Nr. 2 und 3 durch Armand Vivet ebenfalls 1892) die Feder aus der Hand genommen und als Professor am Conservatoire, mit großer Nachwirkung als Lehrer von bedeutenden er selbst jeweils zwei Manuskripte angefertigt hatte, entstanden um die Registrierungsan- Schülern wie zum Beispiel Vincent d’Indy, Claude Debussy, Charles Tournemire und gaben in der Erstausgabe (die vermutlich von seinem Kollegen Samuel Rousseau stammen) Louis Vierne. Er weckte das Interesse der französischen Musikwelt für den reinen Instru- und die Widmungsträger (die nach zeitgenössischen Quellen ja seine Kollegen Gigout, mentalstil und begründete das zyklische Prinzip im Sonaten- und Symphoniegedanken, Guilmant und Dubois sein sollten, dem Erstdruck nach hingegen Gigout, Auguste Durand indem er alle Sätze aus einem einzigen Grundthema heraus entwickelte. Sein weicher und seine Schülerin Augusta Holmès …) unter den Wissenschaftlern heftige Diskussionen, und fließender Stil ist voll kühner Chromatik und häufiger Modulationen, kontrapunkti- die mangels autographer Angaben wohl nie endgültig zu klären sind. sche Impulse sind gegeben, aber sie treten hinter romantisch-harmonischen zurück. Choral III a-Moll – Francks Opus ultimum, sein »Schwanengesang«, und damit sein spezi- Die Orgelmusik ist sein ureigenes Gebiet; dieses Instrument bedeutete für ihn alles. elles Vermächtnis an die Nachwelt – ist besonders stark vom Kontrast zwischen dem Cho- In den Drei Chorälen gipfelt sein Orgelschaffen; als »Choral« bezeichnet er hier eine ralthema und seinen Gegenstimmen geprägt. Das einleitende Arpeggienthema lässt Remi- selbsterfundene, choralähnliche Weise, die jeweils als Thema behandelt ist. niszenzen an das im heutigen Programm vorausgehende Werk von Johann Sebastian Bach Er überarbeitete die Stücke zur endgültigen Fassung in seinen letzten Lebensmonaten im anklingen. In seiner lebhaften Bewegung bildet es das Fundament für die vorwärtsdrän- August und September 1890 in Nemours, wo er bei Freunden wohnte und Erholung von gende Entwicklung in den Mittelabschnitten. Fast überirdische Ruhe strahlt dagegen das einem Unfall suchte. Auch in Paris arbeitete er noch an dem Manuskript, bis zu seinem Choralthema aus, das in einer nach Art des Sonatenhauptsatzes angelegten dreiteiligen Tod am 8. November 1890. Form immer wieder im Wechsel mit dem Choral auf der Tonika, der Dominante und wieder Eine Schülerin Francks, Augusta Holmès, schrieb später (nach ihrer Aussage auf Wunsch der Tonika erklingt. Ein Mittelteil: Adagio, in der Durvariante A und dolce espress. zu spielen, César Francks) als Widmungsträger die großen französischen Orgelvirtuosen und -kompo- ist ein lyrischer Cantus firmus-Satz, der wirkungsvoll immer wieder die Mollvariante(n) nisten Alexandre Guilmant, Théodore Dubois und Eugène Gigout auf die Partituren. Mit einbezieht und mit intensivem Einsatz der Chromatik bis an die Grenzen der Diatonik geht. diesen Widmungen stellte sich Franck in die große Tradition der französischen Orgelmu- Nach der ersten Präsentation des lyrischen Themas erklingt wieder der Choral, der nun zur sik, ebenso wie mit der Bezeichnung der Werke als »Choral«; so begründete Albert Schweit- Begleitung des Adagio-Themas im Tenor wird. Anschließend werden beide Themen mit zer die Wahl dieser Werktitel durch Franck mit den Worten: »… le choral, dans la moderne intensiven Modulationen durchgeführt, sodass sie in vielerlei harmonischen Farben schil- littérature française pour orgue, désigne une fantaisie sur un thème noble mais librement lern, bis sie zuletzt im vollen Plenum mit Zungenstimmen kombiniert werden und über conçu.« (»In der modernen französischen Orgelliteratur bezeichnet der »Choral« eine Fan- stete Verbreiterung der strahlende A-Dur-Schlussakkord im fff erreicht wird. tasie über ein edles Thema, das aber frei erfunden ist.«). Hier verbindet sich der Geist Bachscher Choralvariationen mit den Idealen der großen Vorbilder Beethovens. Da das protestantische Verständnis des »Chorals« im katholischen Frankreich fremd war Anton Bruckner und unter »Choral« der Gregorianische Choral verstanden wurde, gab es lange Zeit fast Anton Bruckner, geboren am 4. September 1824 im oberösterreichischen Dorf Ansfel- keine Choralbearbeitungen für Orgel; die protestantischen Choräle wurden als trocken den, stammte aus einer Lehrerfamilie und konnte bereits im Alter von 10 Jahren seinen und steif empfunden. Seit sich Louis Niedermeyer jedoch in Frankreich von der Jahrhun- Vater an der Orgel vertreten. Der Tradition folgend, wurde auch er später zunächst Schul- dertmitte an verstärkt für die Harmonisierung des Gregorianischen Chorals einsetzte, (ja sogar nur »Hilfs«-) lehrer im Dorf Windhaag, später in der Schule von St. Florian, nahmen immer mehr französische Komponisten selbst erfundene, choralartige Melodien bevor er sich allmählich ganz seiner wahren Berufung, der Musik zuwandte, sein kunst- in ihre Kompositionen auf, teils als ruhige Mittelabschnitte in ihren Symphonien (s. o. volles Orgelspiel weiter entfaltete und seit 1855 Domorganist in Linz wurde, von wo aus Widor), teils als Themen für größer angelegte Werkzyklen nach Art der Choralfantasie er regelmäßig nach Wien fuhr, um bei Simon Sechter Kontrapunkt zu studieren. Dieser bzw. -paraphrase, ja sogar der Symphonischen Dichtungen Franz Liszts. Ein Beispiel hierfür berühmte Lehrer erkannte früh die außergewöhnliche Begabung des »geborenen Meis- sind die Drei Choräle César Francks, denn nach Aussage seiner Schüler bezeichnete er als ters«. 1861 legte Bruckner in Wien eine Prüfung zum »Lehrer der Musik« ab, ließ aber das wichtigste Charakteristikum seiner drei Zyklen, dass der Choral erst im Laufe des dennoch in seiner steten Suche nach Vervollkommnung seiner Kunst nicht nach; u. a.

40 41 studierte er bei Otto Kitzler in Linz Formenlehre und Instrumentation, anhand der Werke Durchführung bislang nicht erlebte Dimensionen annimmt, die deutlich auf Mahler vor- von Beethoven, Mendelssohn, Berlioz und Liszt, und wandte sich nach dem Studium des ausweisen. Besonders ergreifend sind die langsamen Sätze, deren Ausdruckskraft das Tristan 1863 Richard Wagner zu, was ihm in Wien die Feindschaft der »Neudeutschen« berühmte Adagio aus der 7. Symphonie in besonderer Weise belegt, das eine Trauermusik um Brahms und Hanslick einbrachte. Seit den Wiener Jahren (als Nachfolger Sechters auf den Tod Richard Wagners ist. seit 1868 am Konservatorium im Professorenamt für Harmonielehre, Kontrapunkt und In der »Nullten« Symphonie wollte er ursprünglich jedenfalls nach Überwindung einer Orgel) galt sein Hauptinteresse bis zu seinem Tod am 11. Oktober 1896 der Arbeit an den gesundheitlichen und nervlichen Krise wegen seiner Überarbeitung und mit der neuen Symphonien, bis zur 9., die unvollendet blieb. Sicherheit durch die feste Anstellung in Wien ganz deutlich Neues erproben – und die Bruckner, dessen ebenso häufig mystische wie bombastische Werke für viele Menschen Erfahrungen sind bis zur 9. deutlich zu spüren, mit welcher sie nicht nur die Tonart im deutschsprachigen Raum geradezu Kult sind, u. a. auch als Vorläufer jener von Gustav d-Moll gemein hat! Mahler, galt im Ausland lange Zeit eher als eine Art Anhängsel Richard Wagners. Doch Das Scherzo ist nach dem gewaltigen Eingangssatz Allegro und einem ruhigen Andante dass er ein ganz eigenständiger Schöpfer bedeutender, tief empfundener Werke war, ist ein kompakter, ausgelassener Satz in der Haupttonart d und im 3/4-Takt. Es fängt ff an, heute allgemein anerkannt, auch wenn er, der tief gläubige, ganz vom Augustinerstift St. das chromatische Thema schießt geradezu nach oben, an die »Raketenthemen« der Florian geprägte und äußerst selbstkritische »Musikant Gottes«, keine Schule bilden Mannheimer Schule erinnernd, um anschließend einer ruhigeren Thematik zu weichen. konnte. Beide Elemente werden in einem relativ knappen Sonatensatz durchgeführt, bevor das Da der große Orgelvirtuose Bruckner seine in der damaligen Musikwelt (u. a. in England ländlerartige Trio in G-Dur einen Ruhepunkt vor der Wiederkehr des Scherzos im Da und Frankreich) gefeierte Kunst überwiegend als Improvisator zeigte, liegen fast keine capo bildet. Mit einer wiederum recht knappen Coda in D-Dur endet der Satz. Originalwerke für Orgel vor, insbesondere keine größeren; um Bruckners Klangwelt auf Das Adagio aus dem Streichquintett von 1878/79 steht in Ges-Dur und steht dem o. e. Ada- der Orgel zu erfahren, sind daher Transkriptionen der gegebene Weg. gio aus der 7. Symphonie (1883) nahe als einer der schönsten lyrischen Einfälle Anton Die »Nullte Symphonie« (WAB 100) steht in d-Moll und wurde, gemeinsam mit einer in Bruckners schlechthin. Die beiden einerseits kontrastierenden Themen sind andererseits f-Moll, von Bruckner nicht unter seine durch Zählung anerkannten Werke aufgenom- eng miteinander verwandt, hierin zum 1. Satz zurückbindend, in dem das 1. und 3. Thema men. Während er jedoch in seinen späten Lebensjahren beim Ordnen seiner Manuskripte so miteinander verbunden waren. die in Linz entstandene Symphonie f-Moll als »Schulwerk« charakterisierte, nahm er die Diese Themen und ihre Begleitmotive, Varianten und Ableitungen erfüllen in meist trans­ Symphonie d-Moll als »Nullte« immerhin in die Zählung auf, schrieb aber doch »ungiltig« zendentaler Schönheit des Klangs den gesamten Satz, indem sie in steter Abwechslung und »annulirt« auf das Titelblatt, sodass das Werk zu Bruckners Lebzeiten nie zur Auf- den Instrumenten zugewiesen sind. Mit sehr eindrücklicher Wirkung durchbricht Bruck- führung gelangte und erst am 12. Oktober 1924 anlässlich der Feiern zu seinem 100. ner jedoch den entrückten Gesang der Stimmen immer wieder durch leidenschaftliche Geburtstag in Klosterneuburg unter der Leitung von Franz Moißl uraufgeführt sowie im Eruptionen, die sich in der Durchführung zu einem großen Höhepunkt aufstauen. selben Jahr auch erstmals gedruckt wurde. Bruckner arbeitete offenbar in der ersten Wie- Zuletzt aber verklingt der expressive Satz im ppp. ner Zeit an der Symphonie d-Moll, die er zwischen Januar und September 1869 nieder- Das Scherzo ist der 3. Satz der 2. Symphonie c-Moll, die Bruckner 1871 auf einer Konzert- schrieb – und wohl ursprünglich unter die gezählten Symphonien aufnehmen wollte. reise nach London in Angriff nahm und im darauffolgenden Jahr in Wien beendete, wo Wegen kritischer Bemerkungen stets verunsichert, zog er sie 1871 jedoch zurück, da der er am 26. Oktober 1873 auch die Wiener Hofopernkapellmeister Felix Otto Dessoff gefragt hatte, wo das Werk denn eigent- Uraufführung dirigierte. lich beginne … Dass sie ursprünglich hierzu nicht bestimmt war, zeigt sich an einem ganz Wie üblich nahm er später ver- wichtigen Wesenszug, in welchem sie seinen späteren Symphonien entspricht: dem schiedene Revisionen vor, die u. a. eigentlichen Beginn der schnellen Sätze stellt Bruckner häufig eine nicht-thematische auch die Satzbezeichnungen betra- Einleitung voran, die ihn wirkungsvoll hinausschiebt. Auch die Revisionen, die Bruckner fen; so ist das Scherzo in einer an dem Zyklus vornahm, sind charakteristisch für alle seine Symphonien. Da jedoch nur anderen Fassung »Schnell« über- die Zweitfassung von 1869 erhalten ist, kann die Urform nicht rekonstruiert werden. schrieben. Ähnlich wie in der In seinen Symphonien orientierte Bruckner sich deutlich am Vorbild Beethovens; sie sind 1. Symphonie c-Moll ist es ein bäuer- ausnahmslos viersätzig mit der Folge schnell – langsam – Scherzo – schnell, wobei die licher Tanz, eine Art »Kirtag« sei- lebhaften Sätze manchmal, wie erwähnt, langsame Einleitungen aufweisen und die Eck- ner oberösterreichischen Heimat, sätze der Sonatenhauptsatzform folgen. Die thematische Arbeit mit zwei kontrastieren- in den ein kontrastierendes Trio den Themen gestaltet Bruckner intensiv aus, außerdem führt er oft drei oder noch mehr eingeschoben ist, das ein ländli- Themen ein, die zudem viel größeren Umfang als bei Beethoven erreichen, sodass ihre Anton Bruckner ches Idyll nachzuzeichnen scheint.

42 43 Konzert 6 Programm

Michel Bouvard César Franck (1822–1890) Grande Pièce Symphonique op. 17 (Toulouse/Paris) Nr. 2 aus Six Pièces pour Grand Orgue (1878) Louis Vierne (1870–1937) Freitag, 9. August, 19 Uhr Stèle pour un enfant défunt aus Triptyque op. 58

Jean Bouvard (1905–1996) Variations sur un Noël basque »Jahon handiak« aus Noëls traditionnels

Marcel Dupré (1886–1971) Cortège et Litanie op. 19, 2

Maurice Duruflé (1902–1986) Präludium es-Moll aus der Suite op. 5 (1933), Paul Dukas gewidmet

Jehan Alain (1911–1940) Litanies (JA 119)

Jehan Alain zu seinem Orgelwerk »Litanies«: »Quand l’âme chrétienne ne trouve plus de mots nouveaux dans la détresse pour implorer la miséricorde de Dieu, elle répète sans cesse la même invocation avec une fois véhémente. La raison atteint sa limite. Seule la foi poursuit son ascension.«

»Wenn die christliche Seele in ihrer Verzweiflung keine neuen Worte mehr findet, die Barmherzigkeit Gottes zu erflehen, so wiederholt sie in ungestümem Glauben unaufhörlich das gleiche Bittgebet. Die Vernunft erreicht ihre Grenze. Der Glaube allein setzt seinen Aufstieg fort.«

anschließend KünstlerTreff auf der Orgelempore

44 45 César Franck Louis Vierne Die Grande Pièce Symphonique op. 17 entstand Louis Vierne, einer der ganz großen Meister des symphonischen französischen Orgel- 1863 für die neue Cavaillé-Coll-Orgel von Sainte- stils, musste sich in seinem Leben mit viel Leid auseinandersetzen, war er doch von Clotilde in Paris, als eine der ersten Früchte von Geburt an fast blind und verlor später seine geringe Sehkraft vollständig; hinzu traten Francks dortigem Wirken als Organist, an »sei- viele weitere persönliche Schicksalsschläge. Nach der gründlichen Ausbildung am Natio- nem« geliebten Instrument. nalen Blindeninstitut, im Privatunterricht und am Conservatoire bei César Franck und Das Werk ist – wie der Name ja sagt – von wahr- bei Charles-Marie Widor, der ihn zu seinem Stellvertreter ernannte, wurde er 1900 aus haft »symphonischer« Anlage, deutlich voraus- einer großen Anzahl von Mitbewerbern zum Titularorganisten an Notre Dame gewählt weisend auf die Drei Choräle; deren Geschlossen- und versah diese renommierte Tätigkeit an einer bedeutenden Cavaillé-Coll-Orgel bis zu heit erreicht es allerdings nicht ganz. Es ist jedoch seinem Tod – auf der Orgelbank, während eines Konzerts – am 2. Juni 1937. Er war nicht in seiner Gliederung in mehrere (ineinander nur ein berühmter Pädagoge – die bekanntesten Organisten jener Zeit waren unter sei- übergehende) Sätze einfalls- und abwechslungs- nen Schülern, Dupré, Duruflé, Albert Schweitzer, Nadia Boulanger, André Marchal, Gas- reich gestaltet und wirkt ganz organisch geschaf- ton Litaize, sein jüngerer Bruder René (* 1878) u. v. a. mehr –, sondern ein in aller Welt, fen. Der große Symphoniker kündigt sich zweifel- speziell in den USA gefeierter Orgelvirtuose. los hier schon an: Auffallend ist die Ähnlichkeit Stilistisch zeigt sich Vierne stark von seinen Lehrern, von Charles-Marie Widor und vor des Hauptthemas mit jenem von Francks – später (1888) entstandener – Symphonie allem dem von ihm verehrten César Franck (der in einem Konzert seine Berufswahl d-Moll. Vincent d’Indy sprach davon, dass es hier »vorbereitet« werde. Dieses als »großes durch eine von ihm als »Erleuchtung« bezeichnete Erfahrung bewirkt hatte) beeinflusst Monument des Gesangs« bezeichnete Großwerk Francks beeinflusste zahlreiche Kompo- im intensiven Gebrauch der chromatischen Skalen, den er jedoch noch steigert, so dass nisten, die dann ähnliche (symphonische) Werke schufen: Charles-Marie Widor, Félix man von »Chromatismus« sprechen kann. Durch die exzessive Chromatik wie durch den Alexandre Guilmant, Louis Vierne … Einsatz der Ganztonleiter und nicht funktionsgebundener Sept- und Nonenakkorde wie Der Beginn, Andante serioso, ist vom markanten Wechsel zwischen tiefer und hoher Lage bei Claude Debussy verschleiert Vierne das tonale Zentrum immer mehr. Durakkorde geprägt. Zusätzliche Akzente setzen die synkopischen Begleitakkorde zum ersten Motiv, ergänzt er häufig durch Molldezimen etc. Dennoch ist er kein Impressionist, sondern ein das in Achtelbewegung verläuft. Spätromantiker, der den harmonischen Farbenreichtum dieser Epoche mit einer klaren Eine charakteristische Melodiewendung leitet zu einem verminderten Akkord über, als formalen Anlage zu verbinden weiß. Dazu zeichnen sich seine Werke durch Eleganz wie Vorbereitung des zweiten Satzes, Allegro non troppo e maestoso. Dessen Hauptthema, und Sicherheit der Stimmführung, der Harmonik und Chromatik aus. Wichtig ist stets der hier vor allem die Intervalle des Themenkopfes (Sekundschritte und ein Sextsprung) wer- symphonische Klang des Instruments, auf dem seine Werke interpretiert werden; der den anschließend auf vielfältigste Weise verarbeitet. Hinzu tritt ein fließendes Komponist gibt in seinen ausführlichen Vorbemerkungen genaue Hinweise zur Regist- Gegenthema, und auch das synkopische Anfangsmotiv erscheint wieder. rierung. Das nachfolgende Andante ist ein getragener Satz vom Typ Solo(lied) mit akkordischer Neben seinen 6 Symphonien zählen die Pièces de fantaisie in vier Bänden (Suiten op. 51, 53, Begleitung; es mündet in eine Überleitung zum Allegro, das zunächst von kleingliedrigen 54, 55, 1926/27) zu Viernes wichtigsten Orgelwerken. Motiven und lebhaften Begleitfiguren bestimmt ist, bis ein »cantando« (also »singend«) Das Orgelstück Stèle pour un enfant défunt aus dem Triptyque op. 58 (veröffentlicht 1936) auszuführendes Thema zunächst im Bass, dann im Sopran erklingt und sich immer mehr ist nicht nur aufgrund des Anlasses seiner Entstehung mit besonderen Emotionen ver- durchsetzt. Nach einer kürzeren Durchführung dieses Themas kehrt das Andante wieder. bunden, sondern auch deshalb, weil es das letzte Orgelstück war, das Vierne vor seinem Im abschließenden Teil werden alle Motive und Themen nochmals aufgegriffen und mit- Tod wegen eines Hirnschlags auf der Orgelbank am 2. Juni 1937 noch spielen konnte. einander verbunden, vor allem jene des Eingangsteiles, des Allegro non troppo und des Louis Vierne, der wegen gesundheitlicher Probleme in der letzten Lebenszeit auf die Andante, bis das Hauptthema des Werkes in akkordischem Satz mit großartiger Wirkung Orgelempore getragen werden musste, weil man fürchtete, er könne sonst unter der in den Oberstimmen erklingt, zu Tonleiterfiguren des Basses. Nach dieser grandiosen Anstrengung des Treppensteigens zusammenbrechen, spielte in seinem 1750. Orgelkon- Steigerung wirkt das nachfolgende Fugato allerdings vergleichsweise inspirationsärmer zert anlässlich einer Zusammenkunft der bekannten Institution »Les Amis de l’Orgue« und zeigt auch einige Längen, sodass es im Effekt etwas zurückfällt. Derartige kleine sein letztes Orgelwerk, den dreiteiligen Zyklus Triptyque über drei Abschnitte des Lebens: Kritikpunkte, wie manche Längen in Zwischenspielen etc., ändern jedoch nichts an der Matine – Communion – Stèle pour un enfant défunt. Sein Freund und Lieblingsschüler majestätischen Wirkung dieses großartigen Stückes und an seiner Bedeutung als erste Maurice Duruflé war an seiner Seite, um ihm zu assistieren. Nach dem beziehungsrei- »Orgelsymphonie« überhaupt, war es auch noch suitenartig gegliedert und trug diesen chen Totengedenken in diesem 3. Stück sollte Vierne über ein Thema aus dem »Salve Titel noch nicht. Regina« (dem Lobgesang für die Patronin der Kathedrale Notre Dame) improvisieren

46 47 (auch diese Thematik von der Erlösung der Seele war sehr beziehungsreich und symbol- einer weit zurückreichenden, sehr beliebten Tradition von – u. v. a. – Louis Daquin, haltig …). Vorausgegangen war – tragischerweise – ein erregter Disput mit dem Curé der Claude Balbastre über die Komponisten der Romantik wie Alexandre Guilmant, César Kirche, der ihm schon seit längerer Zeit die Aufgabe des Titulaire hatte entziehen wollen Franck, später Marcel Dupré bis in die Gegenwart. und nun ankündigte, er werde dafür sorgen, dass dieses Konzert sein letztes sein werde. Maurice Duruflé (der eigentlich im zweiten Teil dieses Konzertes Viernes 6. Symphonie von 1930 hätte spielen sollen) beschrieb die tragischen Ereignisse: Marcel Dupré »Vierne hatte gerade mit großem Ausdruck sein letztes Opus, das Triptyque, gespielt. Ich Cortège et Litanie op. 19 Nr. 2 entstand in der ursprünglichen Fassung 1921, im Jahr von stand neben ihm und registrierte. Nachdem er den letzten Satz des Triptyque (›Stèle pour Marcel Duprés Amerika-Debüt. Für einen seiner Freunde schrieb er aus Gefälligkeit eine un enfant défunt‹) begonnen hatte, wurde er ganz weiß im Gesicht, seine Finger klebten Bühnenmusik in fünf Sätzen für ein Streicherensemble von elf Spielern. Somit sind die buchstäblich an den Tasten, und als er die Hände nach dem Schlussakkord aufhob, kol- Wurzeln des Werkes weltlicher Art, und Cortège et Litanie, der zweite der fünf Sätze, als labierte er auf der Orgelbank: Ein Hirnschlag hatte ihn ereilt. An dieser Stelle sollte er Aufzugsmusik konzipiert. Im darauffolgenden Jahr war der Komponist abermals auf eigentlich über das gregorianische Salve Regina improvisieren. Anstatt dieser Hommage Konzertreise in den USA, und er spielte das Stück eines Tages einer kleinen Gruppe von an die Patronin von Notre Dame ließ sich nur ein einziger langer Pedalton vernehmen. New Yorker Freunden auf dem Klavier vor. Unter ihnen befand sich auch Alexander Rus- Sein Fuß war auf diese Taste [das tiefe E] geglitten und hob sich nicht mehr …«. sell, ein ehemaliger Schüler Widors und selbst Organist. Er hatte als Agent für Wanama- Bei seinem Requiem blieb nach seinem Wunsch (wegen seiner Enttäuschung über die ker (also die Kaufhauskette mit den gigantischen Orgeln …) bereits die erste Amerika- Intrigen gegen ihn) seine geliebte Notre Dame-Orgel stumm, durch schwarze Tücher Tournee Duprés organisiert und war von Cortège et Litanie in der Klavierfasssung derart verhüllt, und es ertönte ausschließlich gregorianischer Gesang. begeistert, dass er das Stück kurzerhand in das Konzertprogramm für die laufende USA- Über den traurigen Entstehungsanlass dieses Stücks, das auf diese Art zu seinem eigenen Tournee aufnahm und Dupré schrieb: »Stellen Sie die Transkription im Zug her – dort Abgesang wurde, schrieb er selbst: »›Stèle pour un enfant défunt‹ wurde komponiert in werden Sie die Zeit dazu haben. Sie wird großartig sein!« Erinnerung an ein armes Kerlchen, das im Alter von 10 Jahren starb, unter schrecklichen Da der Komponist bereitwillig dieser Aufforderung folgte, kam es – sozusagen zwangs- Umständen. Er hieß Jean de Brancion und war ein frühreifes kleines Wesen, einfühlsam läufig, nicht ganz freiwillig – zur Orgelfassung. Wiederum ein Jahr später überredete weit über seine Lebensjahre hinaus. Als alter Freund der Familie war ich von tiefem Russell den Komponisten noch zur Fassung für Orgel und Orchester, die er sich für ein Schmerz erfüllt über seinen Tod. Konzert an der größten Wanamaker-Orgel in Philadelphia (mit 450 Registern!!) und unter Um mich seinem Gedenken zu widmen, nahm ich Abstand von aller herkömmlichen der Leitung des berühmten Dirigenten Leopold Stokowski wünschte – wie hätte Dupré Unterwürfigkeit. Es gab nichts Adäquates, um meinen Kummer auszudrücken; ich wollte da Nein sagen können?! nur eine Andeutung von Traurigkeit durch ein bildhaft-dichterisches Gemälde erreichen.« Die Orgelfassung op. 19 Nr. 2 trat seit 1922 ihren Siegeszug um die ganze Welt an und ist Das Grabmal eines verstorbenen Kindes erinnert nicht nur in dieser Bestimmung und in der heute eines der beliebtesten Orgelwerke Duprés überhaupt (wenn auch die Orgel-/ Funktion, die es in Viernes Leben und Sterben hatte, sondern auch in seiner sanft schwe- Orchester-Fassung ihren besonderen Reiz hat, der sich dadurch ergibt, dass die Kombi- benden, entrückten Registrierung und Bewegung, in seiner gesamten Stimmung an nation der beiden Themen von Takt 103 an aufgrund der Aufteilung auf die beiden Part- Schluss-Sätze aus Vertonungen der Totenmesse, des Requiems, mit der Überschrift »In ner eine unvergleichliche Wirkung hat: Die Orgel vertritt das Cortège-Thema, das Orches- Paradisum«, wie zum Beispiel bei Gabriel Fauré: »Zum Paradiese mögen Engel dich ter jenes der Litanie.) begleiten …«. Das Thema der Cortège ist ganz individuell erfunden; jenes der Litanie wirkt inspiriert von der rus- Jean Bouvard sischen Tradition – speziell für Der französische Komponist und Organist, geboren 1905 in Lyon und verstorben 1996, Abbé Delestre, der 1952 eine Mono- war der Großvater Michel Bouvards. Er hatte bei Louis Vierne, Florent Schmitt, Vincent graphie über Duprés Orgelwerke d’Indy und Paul Dukas studiert und begeisterte seinen Enkelsohn schon früh für die vorlegte. Musik. Jean Bouvard schrieb verschiedene Orgelwerke; eine Sammlung von Noëls traditi- Nach dem »Cortège«-(Geleit-) onnels enthält neben anderen Variationszyklen zu bekannten französischen Weihnachts- Thema, das in 36 Takten entwickelt liedern auch jene über ein baskisches Noël, das im heutigen Programm erklingt. Mit wird, schließt sich das »Litanie«- dieser Gattung der Bearbeitungen zu der reichen Zahl traditioneller französischer Weih- (»Litanei«-) Thema in einer Dar- nachtslieder wie auch solcher aus anderen (europäischen) Ländern steht Jean Bouvard in stellung von 66 Takten an, bis die

48 49 beiden Themen im dritten Teil während 40 Takten übereinander geschichtet werden. Maurice Duruflé Zunächst schreiten im Fest-/Trauerzug (= cortège) getragene Viertel- und Achtelgruppen Wie Charles-Marie Widor, Louis Vierne und Marcel Dupré zählte auch der am 11. Januar einher (in der Orgelfassung lautet die Bezeichnung »Très modéré«, also noch getragener 1902 in Louviers geborene und am 16. Juni 1986 nach langer Krankheit in Paris gestor- als in der Fassung für Orgel und Orchester: »Moderato«). Die Registrierungshinweise bene Maurice Duruflé zum großen Pariser Freundeskreis bedeutender Organisten im schreiben schwebende Klänge von Voix céleste, Quintatoen und Dulciana im Schweller frühen 20. Jahrhundert. Er war ein Schüler von Eugène Gigout, Paul Dukas, Louis Vierne zum Gambenchor auf 16’-Basis im Hauptwerk vor. Nach fünf Eröffnungstakten tritt die und Charles Tournemire, der ihn den genialsten Improvisator seiner Generation nannte. Pedalstimme hinzu, und der Tonumfang greift immer weiter aus. Außerdem verdichten Seit 1930 Organist an St-Etienne-du-Mont in Paris, wurde Duruflé 1944 Professor für sich die Akkorde immer mehr. Glockenartige Motive sind hier und da zu vernehmen. Der Harmonielehre am Conservatoire. Mit seinen wenigen publizierten, kostbaren und häufige Einsatz der 2. Stufe der Tonleiter verleiht dem Zug einen sanft vorwärtsdrängen- kunstvollen Kompositionen legte er wichtige Beiträge zur neueren geistlichen Musik den Impuls. Nach einer Prozession von 36 Takten hält der Zug an, um einem lebhaften Frankreichs vor. Sein farbiger, harmonisch sehr reizvoller Stil ist von der Gregorianik und Sechzehntelmotiv Platz zu machen, das von Repetition, Sekund- und Quartsprung nach Modalität beeinflusst, integriert aber auch moderne Elemente wie Polytonalität. Von unten geprägt ist. Dieses Motiv wird zum viertaktigen Thema, mit Flötenstimmen höchster Expressivität und darin ein bewegendes Zeugnis für seinen Stil ist sein Requiem gespielt, das in der Folge 23mal nacheinander erklingt, mit verschiedenen melodischen op. 9 von 1947. Veränderungen: als hierin typisch monoton wirkende »Litanei«. Dieser Eindruck scheint Der sehr selbstkritische Komponist veröffentlichte, wie erwähnt, nur wenige Werke, verstärkt zu sein durch die Ähnlichkeit der einzelnen Takte, von denen sich nur der dritte hierin seinem Lehrer Paul Dukas verwandt. Dafür sind diese makellos gearbeitet und als ganz individuell abhebt; er wird auch immer stärker verändert als die übrigen. Denn bleibende Beiträge zur französischen Chor- und Orgelmusik. Dupré weitet den Raum immer weiter aus, mehr und mehr Stimmen treten hinzu, mit Die Suite op. 5, die mit dem Präludium es-Moll eröffnet wird, entstand 1934; Duruflé wid- deutlichen Klangfarbenwechseln (z. B. Oboe/Klarinette beim 4. Themeneinsatz), Cre- mete sie seinem verehrten Lehrer Paul Dukas. Die drei Sätze der Suite sind: Prélude – scendo/Decrescendo (z. B. T. 70 ff.) und Accelerando sowie mit dem Einsatz kanonischer Sicilienne – Toccata. Das Präludium in der dunkel gefärbten Tonart es-Moll ist im Grunde Stimmführung (z. B. T. 81 ff.), bis eine große Schar die Litanei »singt«, immer intensiver ein einziges großes Crescendo und Decrescendo über ein Thema, das an Duruflés Verto- und drängender. Das Pedal bereitet von Takt 85 an mit großen Sprüngen und einem nung des »Pie Jesu, Domine« in seinem Requiem erinnert. Es baut sich langsam, aber Aufstieg bis zum Spitzenton g’ die Schluss-Steigerung nach der Kombination der beiden unaufhaltsam auf und kehrt auch erst allmählich wieder zum verhaltenen Beginn zurück. Themen vor. Die Spannung wird unterstützt durch immer intensivere harmonische Ent- Kontrastierend folgen in der Suite hernach noch ein schwingendes Sicilienne im Klang wicklungen in den Manualstimmen, bis sich schließlich (ab Takt 103) das Thema des der Solozungen (Oboe, Clarinette, Voix humaine) und eine brillante Toccata, die zu den Beginns hinzugesellt und der Prozessionszug erneut startet, dieses Mal aufgrund der Bravourstücken ihrer Art zählt. kontrapunktischen Verknüpfung der beiden Themen mit ekstatischer Wirkung. Auch das Stimmengeflecht wird immer komplexer (falls überhaupt noch möglich), z. B. führt Dupré ab T. 121 noch einen Kanon der Mittelstimmen auf der Unterquinte ein, mit Remi- Jehan Alain niszenzen an den Beginn (T. 127–129/vgl. T. 32–34), und hält den durchgehenden Sech- Das genial begabte Mitglied der Musikerfamilie Alain, geboren am 3.Februar 1911 in Saint- zehntelfluss der Stimmen – als Charakteristikum der Litanei – bis zur Schluss-Steigerung Germain-en-Laye bei Paris, fiel tragischerweise am 20. Juni 1940 während der Schlacht von durch: 14 Takte vor Schluss rauschen glockenartige Akkord- und Arpeggienfolgen (im Saumur. Wie viele kostbare, abwechslungsreiche und tiefgründige Orgelwerke hätte er Sechzehntelabstand zwischen beiden Händen versetzt) im vollen Werk (fff) über einem sonst noch schaffen können! Sein für die kurze Zeit, die ihm vergönnt war, erstaunlich oktavierten Orgelpunkt im (Doppel-) Pedal herab. umfangreiches Œuvre entstand hauptsächlich während seiner Studienjahre am Conserva- Das Litaneithema bleibt (ähnlich wie Alains Litanies) immer gegenwärtig, bis die drän- toire (1929–1939, u. a. bei Paul Dukas und Jean-Roger Ducasse/Komposition, Marcel gende Stimmung sich in einem dreifachen E-Dur-Akkord löst. Die Wirkung dieses Dupré/Orgel und Georges Caussade/Kontrapunkt und Fuge), wo er aufgrund seines außer- Schlusses ist überwältigend! gewöhnlichen Talents zahlreiche Erste Preise errang, obwohl man seinem ungestümen und Die orchestrale Wirkung des Werkes mag zum einen von seiner Entstehungsgeschichte kühnen Interpretations- und Kompositionsstil dort zum Teil eher skeptisch gegenüber- herrühren, zum andern aber ist das Konzept der beschwörend wirkenden litaneiartigen stand. 1936 wurde seine Suite mit dem Kompositionspreis der »Amis de l’Orgue« ausge- Gestaltung in jener Zeit weit verbreitet: Duprés Freund und Förderer Maurice Ravel sollte zeichnet, sodass er stolz auf den Abschluss der Kompositionsklasse verzichtete. es dann in noch weiter ausgreifender Form wenige Jahre später vorlegen in seinem Litanies entstand 1937 (eines der Manuskripte ist auf den 15. August 1937 datiert) und berühmten Boléro von 1928, Jehan Alains Beitrag hierzu wurde bereits erwähnt: Litanies wurde in der Trinité-Kirche am 17. Februar 1938 vollendet, mit einer Widmung an Virgi- von 1937, und weitere Beispiele aus späteren Zeiten sind Rolande Falcinelli, Litanie, Ron- nie Schildge-Bianchini – eine Mäzenin, die es nach dem Manuskript 1937/38 mehrmals del et Fugue, 1941, bis hin zu Jean Langlais, Incantation pour un Jour Saint, 1949. aufführte, u. a. auch in den USA –, und 1939 bei Alphonse Leduc (dem Verleger aller

50 51 Werke Alains) herausgegeben. Ähnlich wie auch Marie-Claire Alain kommentiert dieses Stück wie folgt: Olivier Messiaen stellte Alain diesem Orgelwerk »Die Widmung war bestimmt veranlasst durch den Tod unserer Schwester Marie-Odile – das eines seiner intensivsten und wohl sein bei einem Unfall in den Bergen (3. September 1937). Aber ich bin sicher, dass ich Bruch- bekanntestes überhaupt ist – ein Motto voran; es stücke der ›Litanies‹ schon vor diesem Tag gehört habe. In dem nicht veröffentlichten ist im Programm wiedergegeben. Dieses Motto Orgelstück mit dem Titel ›Fantasmagorie‹ (eine Art humorvoller und manchmal grotes- bestimmt Melodik und Rhythmik; letztere ist – ker Improvisation, die mit dem Bild einer seltsamen Kuh beim Tanz auf dem Felde endet) charakteristisch für Alain – das prägende Ele- finden wir schon den Rhythmus der Takte 19, 24 und 39.« ment, mit der ständigen Wiederholung desselben Dieser Rhythmus könnte sehr wohl die Erinnerung an eine Eisenbahnreise sein, wobei Schemas, das regelmäßig zwischen einer Achtel- die Akkorde der linken Hand den unregelmäßigen Rhythmus der Räder markieren. Auf Unterteilung in Gruppen von 3 + 5 / 2 + 4 + 2 dem Manuskript der ›Fantasmagorie‹ (1936) stellt eine Anmerkung in der Handschrift wechselt. Das litaneiartige Thema ist unablässig des Komponisten fest: »Die besten Teile dieses Stückes sind im Orgelstück ›Supplica- zu vernehmen; durch die immerwährende Wie- tions‹ wieder verwendet worden.« derholung, Steigerung durch Akkordwechsel und Aus einer erst 1987 von Helga Schauerte-Maubouet entdeckten Urschrift des Werkes lässt das Erklingen des Themas im Pedal im Accele- sich seine komplizierte Entstehungsgeschichte herauslesen. Auf der ersten Seite dieses rando entsteht die Wirkung einer Ekstase, ja gar Manuskriptes notierte Alain: »Geschichte eines Mannes, der einen kleinen dreirädrigen eines ekstatischen, fast besessenen Tanzes, in Wagen vor sich her schiebt. Hinter ihm stehen zwanzig Polizisten, die ihn mit Backstei- dem Tempo und Metrum ständig schwanken, nen bewerfen.« Weitere Anmerkungen wie zum Beispiel »les femmes et les petits ganz der natürlichen Stimmung entsprechend, enfants« (die Frauen und die kleinen Kinder) sind neben den fortlaufenden Noten zu wie Marie-Claire Alain, die jüngere Schwester lesen. Nach Aussagen von Pierre Segond, einem Freund der Familie, der die Alains im und kongeniale Interpretin (die vor wenigen Juli 1937 im Urlaubsort Argentières besucht hatte, war Jehan in jener Zeit, bedingt durch Monaten, am 26. Februar 2013 verstarb) betont: eine bedrohliche Situation seiner Ehefrau und den Verlust eines Sohnes vor dessen Jehan Alain, 1930 »La musique est rythme et danse. Elle accélère Geburt, von schweren Alpträumen heimgesucht, und dieses Trauma wurde noch ver- dans la motion et ralentit dans la méditation. Elle stärkt, als seine Schwester Marie-Odile kurz darauf den tödlichen Bergunfall erlitt. respire au rythme des battements du cœur, qui, faut-il le rappeler, ne sont pas toujours Aus diesen Zusammenhängen wird verständlich, dass schließlich der Titel »Litanies« réguliers comme ceux d’un métronome.« (Die Musik ist Rhythmus und Tanz. Sie hinzukam, nachdem das Stück Gestalt angenommen und durch die traumatischen Ereig- beschleunigt in der Emotion und wird langsamer in der Meditation. Sie atmet im Rhyth- nisse eine ganz neue Intensität erhalten hatte. Marie-Claire Alain schreibt: »Dem Kom- mus der Herzschläge, die, wie man sich erinnern muss, nicht immer regelmäßig wie die ponisten war die Ähnlichkeit seines Ostinatos mit den endlosen Gebetsanrufungen einer Schläge eines Metronoms sind.) In Litanies tritt außerdem, wie in zahlreichen anderen Menschenmenge aufgegangen. Es erübrigt sich eine Analyse von »Litanies«. Es genügt Stücken von Jehan Alain, zur Beschleunigung häufig ein Crescendo hinzu, et vice versa völlig, sich hinwegtragen zu lassen vom hypnotisierenden Effekt des Rhythmus dieser – was die Wirkung verstärkt. Formal entsteht das Stück ganz aus der Idee, in jedem traumatischen Phrase. …« [In ihren nachfolgenden Anmerkungen erörtert sie noch die Moment neu; die Entwicklung ist für Alain das »Labor des leeren Raums« (wie Dukas Unterschiede in den drei vorliegenden Manuskripten, Jehans Vorliebe für »Zauberei«, die über Debussy schrieb: »L’idée engendre la forme.« – »Die Idee erzeugt die Form.«) Alains Wirkung des Tempos etc.] Um Bernard Gavoty und Marie-Claire Alain zu folgen und auf Freund Bernard Gavoty erinnert sich an Jehans Interpretationshinweise: eine formale Analyse des faszinierenden Stückes zu verzichten, sei nur hingewiesen auf »… Wenn du dieses Stück spielst, musst du den Eindruck einer glühenden Beschwörung die intensiv religiöse Atmosphäre desselben, wo Alain seinen sonst eher diskret gewahr- hervorrufen. Das Gebet ist keine Klage, sondern ein übermächtiger Sturm, der alle Hin- ten Glauben mit größter (wenn auch – oder gerade weil – verzweifelter, desto eindringli- dernisse hinwegfegt. Es ist auch eine Zwangsvorstellung: Du musst den Menschen die cherer) Inbrunst erkennen lässt; auf seine enge Beziehung zum Gregorianischen Gesang Ohren damit erfüllen – und auch die Gottes! Wenn du dich am Schluss nicht total ausge- (in Melos, Modus, dem Prinzip von Vorsänger und Chor …), die ungeheure Energie und laugt fühlst, so bedeutet das, dass du das Stück weder verstanden noch so gespielt hast, Farbigkeit der Rhythmen: Dieses Stück lässt den Hörer nicht wieder los, es versucht »das wie ich es mir wünsche. Halte ein Tempo ein, das so schnell ist, wie die Klarheit es zulässt. Unsagbare zu sagen«, ohne liebliche und sanfte Passagen der Tröstung. Wird die unab- Mach dir keine Sorgen wegen der schnellen Akkorde in der linken Hand gegen Ende des lässig flehende Seele jemals befreit werden? Stücks. Im richtigen Tempo ist diese Passage nicht spielbar. Aber rubato ist nicht unmög- Besondere Tragik und Inbrunst bei den heutigen Hörern verleiht den Litanies die Kennt- lich, und es ist besser, etwas nachzugeben, als in einem Tempo zu spielen, das meine nis des bald danach erfolgten, sinnlosen Kriegs-Todes von Jehan Alain. ›Litanies‹ zerstören würde.«

52 53 Konzert 7 Programm

Benjamin Saunders (Leeds) Billy Strayhorn (1915–1967) Lotus Blossom

Freitag, 16. August, 19 Uhr Georgi Muschel (1909–1989) Samarkand Suite

Thomas Tallis (1505–1585) Felix namque

Hendrik Andriessen (1892–1981) Sonata da Chiesa

Pietro Yon (1886–1943) Humoresque – L’organo primitivo

anschließend KünstlerTreff auf der Orgelempore

54 55 Billy Strayhorn in Moskau und wirkte nach dem Studium am Konservatorium in Taschkent. Neben zahl- Der amerikanische Jazzmusiker, geboren am 29. reichen Bühnenwerken schrieb er 3 Symphonien, verschiedene Instrumentalkonzerte, November 1915 in Dayton, Ohio, und verstorben Kammermusik, Werke für Klavierensemble, Chorwerke, Filmmusiken und Unterhaltungsmu- am 31. Mai 1967 in New York, zählt zu den Jazz- sik. Muschel war in seiner Heimat nicht nur als Komponist, sondern auch als Maler Legenden. bekannt. So existieren zu seiner Samarkand(er) Suite auch Bilder zu den einzelnen Szenen Von 1939 bis zu seinem Tod wirkte der als klassi- – die jedoch schon beim Erklingen der Musik plastisch vor dem inneren Auge entstehen. scher Pianist ausgebildete Musiker im Orchester Leider sind seine insgesamt sieben ungemein farbigen Orgelsuiten im Westen nach wie des ebenfalls legendären Duke Ellington mit, vor fast unbekannt – wie schön, dass man heute den Komponisten kennenlernen kann! nicht nur aktiv musizierend, sondern auch als Die Samarkand(er) Suite entstand 1963 und enthält Sätze wie: In Dämmerung der Scha- Arrangeur und Komponist. Seine Instrumentalar- chi-Sinda-Gruft – Samarkand in Strahlen der aufgehenden Sonne – Blühendes Seraw- rangements zählen zu den vollkommensten über- schan-Tal – und Frühlingstanz (Toccata). Es ist also eine Szenenfolge vom abwechslungs- haupt und prägten den vielgerühmten Sound des reichen Leben einer Stadt – man fühlt sich an Mussorgskys Bilder einer Ausstellung mit Ellington-Orchesters maßgeblich. Szenen wie »Das Große Tor von Kiew« erinnert. Mit seinem Freund Ellington trat er auch als Kla- vierduo auf; ein bis heute beliebtes Beispiel für dieses gemeinsame Musizieren ist »Tonk«. Thomas Tallis Lotus Blossom wurde 1959 im Album »In a Quiet Der große englische Komponist des 16. Jahrhunderts, der gemeinsam mit dem viel jün- Cathedral« veröffentlicht, hatte aber zu dem Zeit- geren William Byrd (1543–1623) zu den einflussreichsten Musikern seiner Zeit gehörte, punkt bereits eine recht komplizierte Entste- wurde um 1505 geboren; er verstarb am 23. November 1585 in Greenwich. 1532 ist er als hungsgeschichte hinter sich, denn es war unter einer Vielzahl von Namen wie »Hominy«, Organist (»joculator organorum«) an der Dover Priory, 1537/38 dann bereits in London, »All Roads Lead Back to You« und »Charlotte Russe« (1947, vermutlich nach der damals als Organist an der Kirche St Mary-at-the-Hill, Billingsgate, nachgewiesen. In den Jahren beliebten Nachspeise …) bekannt. Zwar spielte Duke Ellington die bekannteste Fassung bis 1540 war er Organist an der Augustinerabtei Holy Cross in Waltham (Essex), bis 1542 des Titels ein, aber nach Aussage des Jazzmusikers Don Shirley blieb ihm gerade dieser wirkte er an der Kathedrale von Canterbury, um dann wieder nach London zurückzukeh- eine Titel seines Freundes Strayhorn dennoch stets ein Rätsel … ren, wo er Mitglied der Chapel Royal wurde. Außerdem war er als Organist und Kompo- Inspiriert wurde Lotus Blossom möglicherweise – wie verschiedene andere »Blumen«-Titel nist tätig, seit 1570 in enger Zusammenarbeit mit William Byrd; gemeinsam erhielten die Strayhorns – durch den Garten seiner Großmutter, in dem er häufig vor dem Alkoholis- beiden 1575 für die Dauer von 21 Jahren das königliche Privileg, Noten zu drucken. Ebenso mus seines Vater Zuflucht suchte und fand. Die stimmungsvolle Musik fand auch Ein- wie Byrd komponierte auch Tallis, beide als Katholiken, für die anglikanische Kirche Eng- gang in mehrere Filme, vom Baseball-Film »Field of Dreams« bis »Unbreakable« noch lands unter Heinrich VIII. und Edward VI., sodann nach der Restauration unter Maria im Jahr 2000. der Katholischen (1553–58) für den katholischen Ritus, um hernach unter Elisabeth I. Ungeachtet der Tatsache, dass der Song Duke Ellington ein Rätsel blieb (oder vielleicht (1558–1603) wieder zur anglikanischen Liturgie zurückzukehren. Während dieser späten gerade deshalb?), schloss er ihn so sehr ins Herz, dass er ihn schließlich als Abschluss Jahre des Hauses Tudor war Tallis mit Byrd zweifellos der bedeutendste englische Kom- jedes Auftritts seiner Band spielte. Strayhorn liebte auch vor allem diesen Titel in der ponist geistlicher Werke. Der Rang der beiden zeigt sich allein schon daran, daß sie als Interpretation seines Freundes. Nach seinem Tod an Speiseröhrenkrebs am 31. Mai 1967 Katholiken zu solchem Ansehen gelangen und ihrer Konfession auch am anglikanischen entstand noch eine anrührende Gedächtnis-Einspielung des Titels im Nachklang zum Hof treu bleiben konnten. Gedenkalbum »And His Mother Called Him Bill«. Diese Einspielung galt als letzte Ver- In seinen frühen Kompositionen (Antiphonen, Parodiemesse) folgt Tallis noch der alten neigung vor seinem Freund, und nach Ellingtons Tod 1974 wiederum spielte Alec Wyton englischen Mehrstimmigkeit, die auf Imitationen fast ganz verzichtet. Eine andere Prä- bei seiner Beerdigung eine Orgelfassung in der Kirche St. John the Divine, New York. gung brachte die Phase der katholischen Restauration, wie beispielsweise die Maria der Katholischen gewidmete Messe »Puer natus est nobis« belegt, die von blühender niederlän- discher Kontrapunktik erfüllt ist. Die lateinische Kirchenmusik der Tudor-Restauration Georgi Muschel unter Elisabeth behält die Kontrapunktik dann ebenfalls bei; aus dieser Spätzeit ragt die Georgi Alexandrowitsch Muschel, ein georgischer Komponist, geboren am 16./29. Juli berühmte 40-stimmige Motette »Spem in alium« heraus, die wahrscheinlich 1573 zum 40. 1909 in Tambow und 1989 in Taschkent verstorben, ist in den westlichen Ländern leider Geburtstag der Monarchin geschrieben wurde und daher die außergewöhnliche Stim- bis heute kaum bekannt. Muschel studierte in den Jahren 1930–36 am Konservatorium menzahl (: fünf achtstimmige Chöre) aufweist. Ein besonders charakteristisches Werk für

56 57 Tallis’ Spätstil sind jedoch die fünf- kann. Und diese Art gestattet alle Freiheiten, die in anderer Musik erlaubt sind, ausge- stimmigen Lamentationes, die auch nommen den Wechsel des Tones (Kirchentones, air) und das Verlassen der Tonart (key), als ein Gesinnungswerk gelten was in der Fantasie nicht geduldet werden darf. Andere Dinge kannst du nach Gefallen dürfen, beziehen sich die Klagen verwenden, z. B. Vorhalte mit Dissonanzen, schnelle Bewegung, langsame Bewegung, doch gewiss auch auf die Situation Proportionen und was du magst. Diese Musik wird am meisten von denen gebraucht, der wegen ihrer Konfession ver- die Instrumente in Stimmen (parts) spielen, aber nur selten für menschliche Stimmen folgten Katholiken. Tallis zählte (voices).« – wobei der Singular des Gedankens (point) für eine Fülle von Einfällen steht, jedoch außerdem auch zu den ers- die dann jeweils in der beschriebenen, vollkommen freien Art durchgeführt werden. ten Komponisten, die für den ang- Beispiele für diese kunstvolle Art der Fantasie legte vor allem sein großer Zeitgenosse likanischen Gottesdienst Werke in und Freund William Byrd vor. Thomas Tallis englischer Sprache schrieben: Ser- vices, Psalmen, Anthems. Zu Recht beklagte William Byrd den Tod seines Freundes und Kollegen mit den Worten: Hendrik Andriessen »Tallis ys dead, and Musick dyes.« – »Tallis ist tot, und es stirbt die Musik.« Geboren am 17. September 1892 in Haarlem, erhielt der niederländische Komponist und An Instrumentalwerken hinterließ Tallis leider nur vergleichsweise wenig; es sind jeden- Organist zunächst Orgelunterricht bei seinem Vater und studierte später in Amsterdam falls nicht viele Kompositionen erhalten neben einigen kunstvoll vierstimmig gesetzten Komposition und Orgel; seine Lehrer waren Bernard Zweers und Jean-Baptiste de Pauw. Vertonungen von lateinischen Hymnen und Antiphonen, die im »Mulliner Book« über- 1913 trat er die Nachfolge seines Vaters als Organist an der St. Josephkerk Haarlem an. liefert sind. Zwei erhaltene Beispiele für sein großes kompositorisches Können und Sein Wirken dort war einerseits durch strenge liturgische Vorschriften eingeengt (nur seinen Einfallsreichtum sind jedoch die beiden Variationszyklen über »Felix namque« für Improvisation war in den Gottesdiensten erlaubt), andererseits durch den Ruhm der St. Tasteninstrument (Virginal) von 1562–64, deren Figurationsbildung (z. B. in der Ver- Bavo-Kirche in den Schatten gestellt. Andriessen jedoch gelang es, durch sein Wirken wendung von Arpeggien), Stimmführung (etwa in akkordischer Vertonung des Cantus dort – vor allem durch seine großartige, weithin berühmte Improvisationskunst – die in der rechten Hand) und harmonische Gestaltung (z. B. in der häufigen Ausweichung niederländische Orgelmusik wieder international bekannt zu machen, vor allem mittels in die jeweiligen Parallel-Harmonien) vorausweisend sind und deren Virtuosität in ihrer der Öffnung für Einflüsse aus der großen französischen Tradition und der behutsamen, Zeit einzigartig dasteht (auch wenn sie von ihrer immensen Ausdehnung von mehr als aber effizienten Aufnahme neuer Impulse, auch wenn er stilistisch der Postromantik 200 bzw. gar 270 Takten her manchmal an die Grenzen der Konzentration des Hörers verpflichtet blieb. gehen …). Sie zählen zu den frühen Beispielen liturgischer Orgelmusik; die thematische 1934 erhielt er den Ruf an die St. Katharina-Kathe- Vorlage ist das Offertorium »Felix namque«, das in den beiden Bearbeitungen einmal in drale in Utrecht, wo er seit 1930 auch Komposition der Oberquarte, das andere Mal in der Oberquinte transponiert erklingt und im größten und Musiktheorie am Institut für Katholische Kir- Teil durchgeführt wird. In den Schlussvariationen allerdings greift Tallis eine weit aus- chenmusik lehrte und von 1937 bis 1949 das Kon- greifende Melodie auf, die vermutlich zum Text »Beata et venerabilis« gehört und in der servatorium leitete. In den Jahren 1926 bis 1954 damaligen liturgischen Praxis auf das Offertorium folgte. unterrichtete er außerdem Komposition und Die Fantasie bildete sich aufgrund derartiger Werke (u. a. von William Byrd, Giles Musiktheorie am Konservatorium in Amsterdam. Farnaby, Peter Philips, John Munday, John Bull, ) im ausgehenden 16. Von 1949 bis 1957 war er Direktor des Konservato- Jahrhundert insbesondere in England – wo die streng kontrapunktischen Formen riums in Den Haag und erhielt 1952 einen Ruf als damals nicht heimisch geworden waren – als eigenständige Form heraus, ja sie wurde außerordentlicher Professor an die Katholische sogar die Hauptform der Instrumentalmusik, wie bei dem Byrd-Schüler und Komponis- Universität Nimwegen; dieses Amt versah er bis ten in seiner »Plaine and Easie Introduction to Practicall Musicke« von 1962. In der Kirchenmusik der Niederlande, vor 1597 nachzulesen ist: »Die hauptsächlichste und wichtigste Art von Musik ohne Worte allem der katholischen, war er sehr angesehen. ist die Fantasie (Fantasy), das ist, wenn ein Musiker einen Gedanken (point) nach Gefal- Hendrik Andriessen starb am 12. April 1981 in len aufgreift und ihn wendet und dreht, wie er will, indem er viel oder wenig daraus Haarlem. macht, ganz wie es ihm in seiner Meinung am besten erscheint. Hierin mag sich mehr Auch sein Bruder Willem und seine Söhne Louis Kunstfertigkeit erweisen als in irgend einer anderen Musik, da der Komponist an nichts und Jurriaan (* 1925) folgten seinen Pfaden und gebunden ist, sondern ganz nach Gefallen hinzufügen, wegnehmen oder verändern legten verschiedene Kompositionen vor.

58 59 Hendrik Andriessen schuf Werke für Orchester (u. a. 4 Symphonien) und Orgel, Kammer- for Flute« und enthalten in der Sammlung der 12 Divertimenti for Organ (1918). Pietro Yon, musik, Opern, Chormusik, symphonische Musik für Bläser und Lieder; außerdem schrieb er der seit 1921 die amerikanische Staatsbürgerschaft innehatte, ging 1927 nach New York, Bücher und Abhandlungen zur Musik, z. B. eine Monographie über César Franck (1941) wo er bis zu seinem Tod am 22. November 1943 in Huntington das Organistenamt an der und eine Abhandlung zu »Musik und Musikalität« (1952). St. Patrick’s Cathedral versah. Seit 1921 war er auch Ehrenorganist am Petersdom. In all seinen Orgelwerken – die häufig wie improvisiert wirken – kommt neben seinem Neben seiner Tätigkeit, die ihn zu einem der wichtigsten katholischen Kirchenmusiker eigenen großen Improvisationstalent und Einflüssen der französischen Orgelmusik in den USA werden ließ, war er auch ein bekannter Konzertorganist und Pädagoge. jedoch immer auch das große Vorbild seines Landsmannes Jan Pieterszoon Sweelinck Die Humoresque – L’organo primitivo ist neben dem Weihnachtsstück Gesù Bambino das zum Tragen, sodass eine interessante Mischung aus barocker Tradition und tonalem Sys- wohl bekannteste Orgelwerk Pietro Yons. Es ist, wie der Untertitel »Toccatina for Flute« tem mit fast unmerklichen Abweichungen in Tonalitäten, Rhythmen und Harmonien aussagt, eine bezaubernde kleine Studie für den zarten Klang der 8’-Flöte im Manual und entsteht, die manchmal fast an Messiaen oder Schostakowitsch denken lässt, aufgrund der 16’-Flöte im Pedal, das stützende, mit Pausen durchsetzte Töne zur steten Bewegung seines Verzichts auf Ornamentik wiederum auch an Minimal Music. der Manualstimmen beisteuert. Die Dynamik verweilt das ganze Stück hindurch im Neben vier – deutlich im Geiste César Francks gehaltenen – großangelegten Chorals Flötenklang, das Tempo wird beibehalten, sodass (1913–1921) komponierte er an Orgelwerken im ausgehenden Ersten Weltkrieg eine sehr der Eindruck eines zarten, heiteren (: »Humo- persönlich gehaltene Fronleichnamsmusik (Fête-Dieu), eine Passacaglia (1929), eine Sin- resque«!) und leichtfüßigen Perpetuum mobile fonia (1939), einen Variationszyklus Thema met Variaties (1949) sowie neben weiteren entsteht. Kenner der italienischen Orgelmusik Sammlungen von Intermezzi (1934–39, 1942) und Studien (Quattro Studi, 1952) die werden sich an Flöten-Stücke etwa bei Domenico Sonata da Chiesa, die im heutigen Konzert erklingt. Sie entstand 1927, ist also ein Werk Zipoli u. a. erinnert fühlen. der frühen mittleren Schaffenszeit. Der Untertitel »Tema con Variazioni e Finale« nennt die formale Gestaltung. Das Thema steht in d-Moll, ist jedoch mit verschiedenen Altera- tionen deutlich harmonisch gefärbt – César Franck steht nahe … Es ist in vier mal vier Takte gegliedert und wandert in den Variationen zunächst durch die Stimmen, in Varia- tion 1 in den Bass, in der zweiten in den Sopran. Die dritte Variation bringt eine ganz andere Farbe, denn sie steht in fis-Moll. In Nr. 4 spielt Andriessen raffiniert mit harmo- nischen Einfärbungen in Form alterierter Töne in der Achtelbegleitung des Themas, und Variation 5 ist ein abschließender Ruhepol (Lento), bevor das Finale in Form einer glän- zenden Toccata einsetzt. Das akkordisch gesetzte Thema erklingt hier immer wieder ein- mal in Einschüben, bevor es zuletzt in hymnischer Überhöhung (Maestoso) im mehr- stimmigen Satz den grandiosen Schluss des Werkes bildet. Gewidmet dem Stadtorganisten Jacobus Menzen (Düsseldorf), wurde die Sonata da Chiesa als eines der ersten Werke Andriessens in Deutschland bekannt und ist bis heute eines der bekanntesten und beliebtesten derselben geblieben.

Pietro Yon Der italienisch-amerikanische Komponist und Organist Pietro Alessandro Yon wurde am 8. August 1886 in Settimo Vittone geboren. Nach dem Studium in Mailand und Turin schloss er seine Ausbildung in Rom bei Remigio Renzi (Orgel) und Giovanni Sgambati (Klavier) an der Accademia di Santa Cecilia ab und wirkte seit 1905 als Organist im Vati- kan, ging jedoch zwei Jahre später gemeinsam mit seinem älteren Bruder Constantino nach New York, wo letzterer das Organistenamt an der St. Vincent Ferrer Church, Pietro jenes an der St. Francis Xavier Church versah (bis 1926). Während dieser Jahre kompo- nierte er die bekannten Orgelwerke Natalie in Sicilia (1912), Gesù Bambino (Baby Jesus, 1917) und die vorliegende Humoresque – L’organo primitivo mit dem Untertitel »Toccatina

60 61 Konzert 8 Programm

Nathan Laube Joseph Jongen (1873–1953) Sonata Eroïca pour Grand Orgue op. 94

(Rochester/USA) Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) Variations Sérieuses op. 54 Freitag, 23. August, 19 Uhr Transkription: Nathan Laube

Franz Liszt (1811–1886) Fantasie und Fuge über den Choral »Ad nos, ad salutarem undam«

anschließend KünstlerTreff auf der Orgelempore

62 63 Joseph Jongen ations« auf und arbeitete offenbar fast Tag und Nacht daran weiter. Das Autograph Marie-Alphonse-Nicolas-Joseph Jongen – so lautet der volle Namen des belgischen Kom- gewährt aufschlussreiche Einblicke in seine Werkstatt; so scheint die Introduktion bin- ponisten – wurde am 14. Dezember 1873 in Lüttich (Liège) geboren. Dort studierte er nen eines Tages niedergeschrieben worden zu sein, das ursprüngliche, völlig anders aufgrund seines offenkundigen musikalischen Talents schon seit dem zarten Alter von 7 gestaltete Thema der Variationen jedoch stand in Dur und wurde von Jongen durch das Jahren am Conservatoire, wo er als außergewöhnlich begabt auffiel und Erste Preise für jetzige Moll-Thema ersetzt. Nach den zahlreichen Änderungen und Streichungen dieses Harmonielehre, Kontrapunkt, Fuge (1891), Klavier (Ehrendiplom 1892) und Orgel (dto. ersten Abschnittes der Arbeit bewegte er offenbar viele Einfälle zunächst in seinen 1896) errang. Schon 1889 wurde er daher dort selbst als Dozent für Harmonielehre und Gedanken, denn die Variationen wurden ohne größere Korrekturen niedergeschrieben, Kontrapunkt angestellt und 1898 zum außerordentlichen, 1911 zum ordentlichen Profes- und bereits am 25. September (also nur eine Woche später!) war die Sonata fertig, obwohl sor ernannt. Auch als Organist war er rasch anerkannt und wurde 1891 Organist des er mit der Fuge erst am Abend des 23. begonnen hatte! Die Reinschrift fertigte er im Priesterseminars Lüttich, 1894 Titularorganist der dortigen Jakobskirche. In diesem Amt Oktober an, und nach der Uraufführung am 6. November erschien das Werk im folgen- blieb er bis 1919. Vier Jahre eines Studien-Stipendiums verbrachte er in Deutschland den Jahr bei Alphonse Leduc im Druck. Eine Bearbeitung Arthur Prévosts für Bläseren- (u. a. studierte er 1898 bei Richard Strauss in Berlin) und Frankreich (mit Studium bei semble lehnte Jongen ab, als »un arrangement patapouf« – also als eine sehr schwerfäl- Vincent d’Indy und Gabriel Fauré). 1902 wurde er zum Professor für Harmonielehre in lige Angelegenheit [patapouf = Plumpsack …]. Lüttich ernannt und hatte außerdem eine Stellung als Dozent an einer Musikakademie Die Sonata Eroïca »dédiée à Joseph Bonnet«, Untertitel »Variations pour Orgue seul«, in Brüssel inne. Während des Ersten Weltkriegs lebte er in England als Pianist und Kon- hebt an im gemäßigten Tempo (Modéré), es folgt ein rezitativischer Abschnitt (un peu zertorganist und wurde nach der Rückkehr in die Heimat 1920 Professor für Kontra- recite), eine Beschleunigungsphase (pressez un peu … pressez Tempo un poco …), eine Fuge punkt am Königlichen Conservatoire in Brüssel, das er von 1925 bis 1939 auch leitete. Als (Fugue) etc. … – alle Abschnitte gehen ineinander über. Dirigent wurde er ebenfalls bekannt, vor allem als Leiter der »Concerts Spirituels«, in Die – bei Jongen sehr seltene – Grundtonart cis-Moll verleiht der Sonata Eroïca ebenfalls denen er auch viele neuere Werke wie z. B. Arthur Honeggers Roi David und Psaume von eine herausragende Stellung in seinem gesamten Orgelschaffen. F. Schmitt zur Aufführung brachte. Mit der Einsätzigkeit der Sonata Eroïca stellte sich Jongen in die Nachfolge Reubkes, die In den späteren Lebensjahren zog er sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück und Tonsprache ist jedoch eindeutig an Louis Vierne orientiert, wie sich sogleich an der Uni- komponierte bis zu seinem Tod in Sart-lez-Spa am 13. Juli 1953 nur noch wenig. sono-Eröffnung mit anschließenden Akkorden zeigt, die an Viernes 3. Symphonie erin- Ursprünglich von Impulsen durch die Schola Cantorum, Paris, durch den großen belgisch- nert. Der Ausdrucksgehalt der Sonata Eroïca ist ausgesprochen stark. Als Kontrast zur flämischen Komponisten César Franck und sein »zyklisches Prinzip« sowie den Impressio- theatralischen Eröffnung folgt ein ruhiger, in zarten Registern (Voix céleste, Dulciana) zu nismus (von Fauré über Debussy bis zu Ravel …) geprägt, bildete er bald seinen ganz indivi- spielender Mittelteil mit einem volksliedhaften Thema. Ein Fugato über den Themenkopf duellen Stil aus, der auch für die Atonalität und andere Züge der neueren Musik offen ist. leitet sodann weiter; das Thema erscheint auch in Umkehrungen und in der Vergröße- Nicht nur als Komponist, sondern auch als ein gefragter Konzertorganist war Joseph rung, bis zuletzt alles in eine Art Schlusstoccata mündet und zum strahlenden fff-Schluss- Jongen berühmt, und er war es, der den großen Charles-Marie Widor anlässlich seines akkord geführt wird. 90. Geburtstags 1935 zu einem bewegenden Konzert einlud, das er als Dirigent wie als Organist gestaltete. In seinem symphonischen Schaffen gilt die Symphonie concertante für Orgel und Orches- Felix Mendelssohn Bartholdy ter (Brüssel 1926) als Gipfelpunkt seines Schaffens, im Bereich der Werke für Orgel allein Da von Felix Mendelssohn Bartholdy nur relativ wenige originale Kompositionen für die die Sonata Eroïca op. 94, die er 1930 als Auftragskomposition des Belgischen Rundfunks Orgel erhalten sind, stellt es immer eine willkommene Bereicherung dar, wenn Tran- für die Einweihung der Orgel im Palais des Beaux-Arts in Brüssel schrieb. Ähnlich wie skriptionen andere seiner Werke für die Orgel erschließen. Natürlich muss eine solche die Sonaten für Klavier und Orgel von Julius Reubke (s. Programm vom 30. August) ist sie Bearbeitung der Originalkomposition ebenso wie der Orgel und ihren Besonderheiten ein zyklisches Werk mit einheitlicher Thematik. Gewidmet ist sie Joseph Bonnet, dem (vor allem den Oktav- und Oberton-Verhältnissen) gerecht werden; dass die adäquate Titular-Organisten an St-Eustache, Paris. Der Originaltitel der Sonata lautete »Varia- Ausführung einer einfühlsamen Bearbeitung mit den reichen Möglichkeiten der Mühlei- tions«; Jongen änderte ihn jedoch kurz vor der Uraufführung. Trotz der Widmung war sen-Orgel gut möglich ist, wird auch das heutige Konzert zeigen. Beispielsweise werden der Interpret bei derselben am 6. November 1930 nicht etwa Bonnet, sondern Jongen in den Transkriptionen die Haupt- und Seitensätze gerne durch die Manualverteilung selbst, denn die Orgel in St-Eustache kam seinen Vorstellungen nicht entgegen, das große unterschieden, da in Instrumenten der mitteldeutschen Tradition das Hauptwerk gewich- Malingreau-Stevens-Instrument für den 1928 vollendeten Neubau im Palais der Schönen tiger, das Nebenwerk schlanker intoniert war. Künste dagegen sehr. Am 18. September nahm er nach Vollendung verschiedener großer Die Variations Sérieuses op. 54 (MWV U 156) sind im Original 1841 für Klavier geschrie- Werke in seiner sommerlichen Komponier-Residenz Sart-lez-Spa die Arbeit an den »Vari- ben, zugunsten eines Beethovendenkmals in Bonn, und wurden 1842 veröffentlicht. Der

64 65 umfangreiche Zyklus ist allgemein als ein Meisterwerk Mendelssohns – vielfach als sein Nach Aussage des Komponisten »in ganz neuer und freier Form geschrieben«, entstand bedeutendstes Klavierwerk überhaupt – anerkannt, obwohl er sein erster großer Variati- dieses Stück – eines der drei großen Orgelwerke von Franz Liszt, die im Zentrum seines onszyklus überhaupt war. Zu dieser Form stieß der Komponist, wenn man sein großes Orgelschaffens stehen – 1850 in Weimar (publiziert bei Breitkopf & Härtel 1852). Der Improvisationstalent bedenkt, erst relativ spät – 1841, dafür aber mit so großem Elan – »Choral« der Wiedertäufer erklingt im 1. Akt der Oper Le Prophète von Giacomo Meyer- »mit wahrer Passion«, wie er am 15. Juli 1841 seinem Freund Klingemann schrieb –, dass beer mit dem vollen Text: »Ad nos, ad salutarem undam, iterum venite, miseri! Ad nos er diesem ersten Zyklus noch im gleichen Jahr zwei weitere folgen ließ (Variationen für venite, populi!« »Zu uns, zur rettenden Woge, kehrt zurück, ihr Elenden! Kommt zu uns, Klavier Es-Dur op. 82 und op. 83). Die im Titel Variations »sérieuses« angesprochene Ernst- ihr Völker!« Das 1840 fertiggestellte Werk konnte wegen diverser Probleme erst 1849 in haftigkeit sollte sie offenkundig von den brillanten Virtuosenzyklen abheben, die damals Paris uraufgeführt werden und wurde geradezu als Sensation gefeiert. In Deutschland im Schwange waren. Mendelssohn wollte vielmehr an Beethovens Variationen c-Moll war es mit Aufführungen in Dresden, Frankfurt am Main und Hamburg ebenfalls äußerst anknüpfen – und bereitete damit zugleich auch die kunstvoll-tiefsinnigen Zyklen von erfolgreich. Liszt hatte von Anfang an Klavier-Paraphrasen zu verschiedenen Themen der Johannes Brahms vor (insbesondere seine Paganini-Variationen). Oper angefertigt, die Dresdner Aufführung im Februar 1850 inspirierte ihn dann zum Die Tonart ist d-Moll; das eigene, liedhafte Thema (Andante sostenuto) umfasst 16 (4 x 4) großen Orgelwerk, das er Meyerbeer widmete. Es wurde am 26. September 1855 von dem Takte; es ist von Seufzerketten mit getragener akkordischer Begleitung mit vielen chro- Liszt-Schüler Alexander Winterberger in einer von Liszt selbst überarbeiteten Fassung matischen Durchgängen geprägt. Die einzelnen, ineinander übergehenden insgesamt 17 zur Einweihung der berühmten neuen Ladegast-Orgel des Doms zu Merseburg gespielt (vollständigen) Variationen bearbeiten dieses Thema in der aus der großen Tradition der (weil das ursprünglich vorgesehene Einweihungswerk, Präludium und Fuge über B-A-C-H Gattung bekannten Weise: Auflösung der Bewegung zu rascheren Werten (V. 1 Zweier-, nicht rechtzeitig vollendet werden konnte …). Die Merseburger Orgel zählte zu den V. 2 Dreier-Unterteilung), Änderung der Artikulation (z. B. Staccato-Variationen 3, 4, 6 In­strumenten, die Franz Liszt ganz besonders interessierten und inspirierten. u. a.), Aufsplitterung durch Pausen und Arpeggien bzw. Akkorde (V. 7, 12, 16), Wechsel Die »Choral«weise der Wiedertäufer steht in Meyerbeers Oper im Zentrum als Freiheits- der Dynamik, Rhythmik und Metrik (z. B. Synkopen), der Stimmung (z. B. in der träume- appell an die Bevölkerung gegen die Unterdrückung. Meyerbeer setzt die Weise im 6/4- rischen 11. V.), des Tongeschlechts (die 14. V. steht als einzige in Dur und ist eine geradezu Takt, sodass sie dort fließender wirkt als bei Liszt, der den strengeren 4/4-Takt wählt. beseligte Oase der Ruhe: Adagio) oder der Satztechnik (so ist zum Beispiel die 4. V. ein Andererseits verzichtet er auf archaisierend-modale Wendungen, fügt Leittöne ein und Kanon, die 10. ein Fugato), Verlagerung des Themas in andere Stimmen (z. B. in der 13. verwandelt Intervalle wie z. B. eine Quinte in einen Tritonus und lässt das Ende des Cho- V. in den Tenor zu lebhaft-virtuosen Figurationen im Sopran) etc. Von V. 16 an (Allegro ralthemas im Gegensatz zu Meyerbeer offen. Über den solcherart modifizierten Choral vivace) wird der fulminante Schluss eingeleitet und vorbereitet, mit Arpeggien, Akkorden schreibt er eine großangelegte, ca. halbstündige, in der großen Anlage dreiteilige Fantasie und Oktavsprüngen über die gesamte Klaviatur hinweg. Doch von diesen Kaskaden führt in mehreren Unter-Abschnitten: I. Fantasie: Einleitung in c-Moll (73 Takte) – 1. Satz (Takt ein dim. zum verhaltenen Schluss im p – mit großer Ausdruckskraft. 74–212) – II. langsamer Satz »Adagio« (T. 243–445) in einer weit entfernten Tonalität (Fis) Der große, mit Mendelssohn befreundete Pianist Ignaz Moscheles bekannte: »Ich spiele – III. Schluss-Satz mit zwei Fugen: 1. Fuge T. 493–581, 2. Fuge T. 615–689 – Coda in die Variations sérieuses immer wieder, jedes Mal genieße ich die Schönheiten aufs neue.« H-Dur (ebenfalls weit entfernt von der Ausgangstonart!) ab T. 689. In den Zwischenab- Auch seine Nachfolger in späteren Zeiten bis zur Gegenwart, von Ferruccio Busoni bis schnitten T. 446 ff. und 582 ff. meditiert Liszt über das Vergangene oder führt improvi- Vladimir Horowitz und Swjatoslaw Richter, würdigen den Zyklus als das vielleicht bedeu- satorisch zum Neuen hin. tendste Klavierwerk Mendelssohns, von dem seinem Rang entsprechend zahlreiche Ein- Innerhalb dieser grob umrissenen dreisätzigen Sonatenform (mit ineinander übergehen- spielungen auf Tonträger vorliegen. den Sätzen) arbeitet der Komponist mit dem Prinzip der Variation bzw. sogar Transfor- mation des Themas, das einmal fanfarenartig (T. 141 ff.), einmal gebetsartig (T. 243 ff.), wieder ein andermal wie ein Chorgesang (T. 263 ff., 436 ff.) wirkt. Ähnlich wie bei Wagner Franz Liszt ist das Thema hierbei wie ein Leitmotiv behandelt, das zu verschiedenen Charakteren Der Weg Liszts zur Orgel führte über das Erlebnis des Bachschen Werkes. Zweimal setzte mutiert; dieser Prozess erfolgt jedoch nicht etwa willkürlich, dem Zufallsprinzip folgend, er ihm ein Denkmal: mit Präludium und Fuge über den Namen B-A-C-H (1. Fassung 1855) sondern ist genau determiniert. So dient zum Beispiel die Polyphonie der 1. Fuge als ein und durch die Gründung der Deutschen Bachgesellschaft, an der er maßgeblich beteiligt Mittel zur Steigerung der Energie, die sich anschließend ganz konsequent auch wieder war. Auch seine Variationen über … Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen haben ja ein Bachsches entlädt (T. 582 ff.). Die 2. Fuge ist demgegenüber geringstimmiger und soll damit wieder Thema zur Grundlage. Liszt deutete den Bachstil romantisch um und überhöhte ihn zurückführen zum Thema in seiner Anfangsgestalt. Dieses erklingt noch ein vorletztes klanglich. Die »Prophetenfantasie« über Meyerbeers Choral »Ad nos, ad salutarem undam« Mal im trügerischen H-Dur (T. 689 ff.), bevor es sich in der Durvariante der Ausgangs- (aus der Oper »Der Prophet«) hatte die Richtung vorgegeben. tonart, im strahlend hellen C-Dur durchsetzt als Signal dafür, dass das Ziel, die »heilsame Woge« (salutaris unda) erreicht ist.

66 67 Konzert 9 Programm

Luca Scandali (Perugia) Johann Sebastian Bach (1685–1750) Toccata und Fuge d-Moll (»dorisch«) BWV 538

Freitag, 30. August, 19 Uhr Sonate IV e-Moll BWV 528 Adagio, Vivace – Andante – Un poco Allegro

Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) Trio F-Dur

Alexander Wilhelm Gottschalg (1827–1908) Concertstück in A (nach Franz Liszt, S. 172 Nr. 3) Lento placido

Julius Reubke (1834–1858) Sonate c-Moll »Der 94. Psalm« Grave – Larghetto – Allegro con fuoco – Grave – Adagio – Lento – Allegro – Più mosso – Allegro assai

Die vorangestellten Psalmverse lauten:

(Grave. Larghetto) Herr, des die Rache ist, erscheine. Erhebe Dich, Du Richter der Welt: vergilt den Hoffärtigen, was sie verdienen.

(Allegro con fuoco) Herr, wie lange sollen die Gottlosen prahlen? Witwen und Fremdlinge erwürgen sie und töten die Waisen und sagen: Der Herr sieht es nicht, und der Gott Jacobs achtet es nicht.

(Adagio) Wo der Herr mir nicht hülfe, so läge meine Seele schier in der Stille. Ich hatte viel Bekümmernis in meinem Herzen, aber deine Tröstungen ergötzen meine Seele.

(Allegro) Aber der Herr ist mein Hort und meine Zuversicht. Er wird ihnen Unrecht vergelten und sie um ihre Bosheit vertilgen.

anschließend KünstlerTreff auf der Orgelempore

68 69 Johann Sebastian Bach Satztechnik Gipfelpunkte des instrumentalen Triospiels schlechthin, nicht nur des Orgel- Wenn von Johann Sebastian Bachs Toccata und Fuge d-Moll die Rede ist, bezieht sich dies trios. Schließlich nimmt man zu Recht an, dass Bach ähnlich wie in anderen Zyklen (so in den meisten Fällen auf das Schwesterwerk BWV 565, das bekannteste Orgelwerk vor allem den Sonaten, Partiten und Suiten für Violine bzw. Violoncello solo) mit der vollen- Bachs, obwohl seine Echtheit umstritten ist … deten Sechserzahl der Sonaten eine Art Kompendium aller Möglichkeiten der Gattung Die viel seltener gespielte, (sogenannte) »dorische« Toccata und Fuge d-Moll BWV 538 tritt vorlegen wollte. Aufbauend auf der Tradition der barocken Triosonate nach Arcangelo – im Grunde zu Unrecht – ihm gegenüber in den Hintergrund. Dabei wohnt diesem Corellis Vorbild, schuf Bach als einziger Komponist des Barockzeitalters (Trio-)Sonaten Werk die Kraft der Ostertonart schlechthin inne, des Dorischen, der Osterchoräle, die von für ein Soloinstrument (Violine, Flöte, Gambe) und obligates Cembalo, mit einer Melo- der Auferstehung künden, allen voran des »Christ ist erstanden«; hinzu tritt eine unauf- diestimme in der rechten und der Bass-Stimme in der linken Hand. Triosonaten für Orgel haltsam vorwärtsdrängende Bewegung. Der »dorische« Kirchenton ist von der kleinen sind diesen Stücken stilistisch am nächsten verwandt, aber Bach wäre nicht Bach, würde Septim und der großen Sext geprägt, und da diese Intervalle besonders das Thema der er nicht auch in diesem Zyklus ganz Neues und Individuelles schaffen und so die Ent- Fuge bestimmen, erhielt das Werkpaar den Beinamen »dorisch«. Der Enkelschüler Bachs wicklung von der »klassischen« Triosonate über die Solosonate mit obligatem Cembalo Michael Gotthard Fischer bezeugte, dass Bach das Stück 1732 »bey der Probe der großen noch hinausführen: In den 18 Sätzen der Triosonaten ist die Vielfalt unerreicht: Neben der Orgel in Cassel« gespielt habe; dies belegt, dass Bach die großen Orgelwerke der Weima- barocken Triosonate ist die Konzertform stets gegenwärtig, aber auch Tanz-, Lied- und rer Zeit auch in den Leipziger Jahren noch schätzte und musizierte, als er aufgrund seiner Arienformen, Sätze im Stil der französischen Orgelmessen u. a. mehr sind zu verzeich- Verpflichtung zur Kantatenkomposition nur noch ganz wenige, dafür äußerst bedeu- nen. Für den Organisten sind die Stücke die Hohe Schule der Technik, des unabhängi- tende Orgelwerke schaffen konnte. In Kassel war Bach als Sachverständiger zur Abnahme gen, gleichmäßigen Spiels der Hände und Füße, für den Hörer sind sie ein reiner Kunst- der am 28. September 1732 eingeweihten Orgel von St. Martini berufen worden, und er genuss, voll Abwechslung, Charme und Expressivität. wählte hierfür offenkundig ein Stück aus, das die klanglichen Möglichkeiten des neuen Ähnlich wie die Motetten zählen sie zu den Werken Bachs, die zu allen Zeiten hochange- Instruments besonders gut darstellen konnte, zum Beispiel die Differenzierung der sehen und beliebt waren, selbst als der Meister der Barockmusik vielen als »verzopft« galt; Manualklänge durch Wechsel von »Oberwerk« und »Positiv«, die er selbst eintrug (was dieses Ansehen zeigt sich u. a. an zahlreichen späteren Bearbeitungen, beispielsweise bekanntlich selten der Fall ist!). Das Thema ist virtuos, ebenso das Pedalsolo: charakteris- von Mozart oder Samuel Sebastian Wesley. tische Stilelemente der Toccata. Durch die ständigen Wechsel zwischen den Manualen Dass man sie schon früh als »galant« pries, ist ein Zeichen für ihren individuellen, neuen, mit der entsprechenden Stufendynamik ist die Form aber auch die eines Concerto grosso, zukunftsweisenden, ja »modernen« Stil. Dass sie tatsächlich für die Orgel bestimmt sind, und die italienische Konzertform mit ihren Tutti-Ritornellen und Solo-Episoden, die Bach beweisen die häufig lang gehaltenen Noten in einer Stimme zu Figurationen der anderen; ja so intensiv erprobte (s. Konzert 4), steht hier noch ganz nahe. Da er dennoch nie nach auf dem Pedalcembalo wären diese Töne allzu rasch verklungen. Als Inbegriff der Gat- Toccatenmanier frei mit dem Material spielt, sondern immer die Einheit wahrt, erhielt die tung gilt die letzte Sonate in G (BWV 530), da sie als einzige komplett für diesen Zyklus Toccata in zahlreichen Abschriften andererseits auch den Titel »Praeludium«. Ebenso ist neu komponiert wurde. Die übrigen Sonaten die Fuge monothematisch, alles aus dem Thema entwickelnd, das den Beginn der Toccata, gehen in Teilen auf frühere Kompositionen, die aufsteigenden Sechzehntel-Sequenzen (1. Themenhälfte) und die akkordische Beglei- zum Beispiel aus dem Wohltemperierten Klavier tung der Themenfortführung (2. Hälfte) aufgreift und nachzeichnet. Die Gegenstimme oder aus Kantate 76 (BWV 528, 1. Satz) zurück. ist obligat; gemäß seiner Erhabenheit ist das Thema zunächst mit den beiden Gegenthe- Marcel Dupré, der große französische Organist, men in gleicher Art (als Unterstimme) kombiniert. Markant sind auch Ketten von Vor- würdigte die Sechs Sonaten mit den Worten: haltsbildungen und Synkopen sowie freie, sehr reizvolle Zwischenspiele, die Bach aus »Diese 6 Sonaten besitzen vom Blickpunkt der einem unauffälligen Sequenzmotiv heraus in kunstvoller Kombination entwickelt. Die Komposition eine wesentliche Bedeutung für Fuge endet mit abschließender Engführung als Krönung, wie später auch in der Kunst der die Musikgeschichte. Die 18 Sätze, die sie ent- Fuge üblich. halten, sind zugleich von überraschender Origi- nalität wie von unfehlbarer formaler Logik; sie Die Sechs Sonaten à 2 Clav: et Pedal (Triosonaten) BWV 525–530 wurden zwar ursprünglich sind eine wahrhafte Synthese aller symphoni- »nur« aus pädagogischem Interesse komponiert, damit sich der älteste Sohn Wilhelm scher Formen, wie sie auch gegenwärtig noch Friedemann »damit zu dem großen Orgelmeister vorbereiten musste, der er nachher verwendet werden.« Und Forkel? »… Man kann geworden ist«, wie der Bach-Biograph Johann Nikolaus Forkel berichtet, und so entstan- von ihrer Schönheit nicht genug sagen. Sie sind den die Stücke wohl um 1727 bis 1730. Diese »Studienwerke« sind aber mit ihrer ganz in dem reifsten Alter des Verfassers gemacht, spezifischen Tonsprache, der umfassenden Vielfalt der Satztypen und ihrer meisterhaften und können als das Hauptwerk desselben in

70 71 dieser Art angesehen werden. Mehrere einzelne [… Triosätze Bachs], die noch hier und da August Gottfried Ritter genannt werden, können ebenfalls schön genannt werden, ob sie gleich [: …] nicht […] an Das große musikalische Talent des deutschen Organisten, Komponisten und Musikwis- die erstgenannten reichen.« Dem bleibt nichts hinzuzufügen. senschaftlers, geboren am 25. August 1811 in Erfurt, zeigte sich schon sehr früh; bereits Sonate IV e-Moll ist durch die Aufteilung des Eingangssatzes in eine langsame Einleitung mit elf Jahren konnte er Klavierkonzerte von Mozart vortragen. Nach der Gymnasialzeit (Adagio) und ein unmittelbar sich anschließendes Vivace diejenige, die dem Typus der besuchte er seit 1828 das Lehrerseminar in seiner Vaterstadt, wo Michael Gotthard Fischer Sonata da chiesa mit der Satzfolge langsam – schnell – langsam – schnell am nächsten (der oben erwähnte Enkelschüler Bachs) sein Lehrer war, seinerseits ein Schüler Johann kommt. Wie bereits erwähnt, geht das Adagio des 1. Satzes auf die zweiteilige Kantate Christian Kittels, sodass Ritter in der direkten Bach-Tradition stand. Zusätzlicher Privat- BWV 76 »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes« aus dem ersten Amtsjahr in Leipzig 1723 unterricht im Klavierspiel und in der Improvisation bei dem Klaviervirtuosen Johann zurück, und dort auf den Eröffnungssatz des 2. Teiles: Sinfonia. Adagio, für Oboe d’amore, Nepomuk Hummel (einem Schüler Mozarts) in Weimar brachten ihm zudem Impulse Viola da gamba und Continuo – also als Triosatz – geschrieben. Das Vivace wiederum der Mozart-Tradition nahe. Als Lehrer war er nur kurze Zeit tätig und ließ sich 1834/35 erinnert an ein Divertimento, denn der Hauptsatz erklingt mehrmals, gleich zweimal zu beurlauben, um am Königlichen Institut für Kirchenmusik in Berlin bei Mendelssohns Beginn, sodann nach einem aus dem Kopfmotiv gebildeten Zwischenspiel und einem Klavierlehrer Ludwig Berger zu studieren und intensive Musikforschungen u. a. bei Carl neuen Divertimento-Abschnitt jeweils ein weiteres Mal. Nach einem weiteren Zwischen- von Winterfeld zu betreiben. Zu seinen vielen Tätigkeiten zählten Organistenämter in spiel führt Bach den Satz jedoch nicht zur Reprise des gesamten Hauptsatzes, sondern Erfurt, seit 1844 in Merseburg, von 1847 an in Magdeburg, außerdem Lehrämter an Gym- lässt ihn recht knapp in einer homophonen Coda münden, die nur noch an den Haupt- nasien, musikwissenschaftliche Abhandlungen und eine intensive Konzerttätigkeit. Rit- satz anklingt. So führt der Satz direkt zum nachfolgenden Andante hin, das der gewich- ter galt als der vollendete Organist schlechthin und war als Improvisator weithin berühmt. tigste Satz des gesamten Zyklus ist, nicht allein durch seine Dimensionen, sondern auch Als Domorganist in Magdeburg war er bis kurz vor seinem Tod am 26. August 1885 tätig. durch die Spannung der weiten Melodiebögen, die in häufigen Kadenzbildungen und Neben zahlreichen Ehrungen und Auszeichnungen, u. a. den Titeln eines Königlichen Neuansätzen lebendig zu atmen scheinen und mit Motiv-Erweiterungen und Oktavierun- Musikdirektors (1845) und eines Königlichen Professors (1879/80), ist auch das »Ritter- gen einzelner Spitzentöne sowie Melismenfigurationen die Bewegung ebenso wie den Album für Orgel« zu erwähnen, das ihm 1881 anlässlich seines 50-jährigen Amtsjubilä- Affekt steigern. Markante Quartfolgen und eine neapolitanische Wendung in den ersten ums gewidmet wurde. beiden Takten geben die Richtung vor; später aber gewinnt zunehmend das Kontrasub- Für die Orgel legte er neben 4 Sonaten op. 11, 19, 23 und 31 auch Choralvorspiele, Variatio- jekt in immer neuen einfallsreichen Abwandlungen die Oberhand. Kunstvolle Passagen nen und Fugen sowie Choralbücher vor. Der vielseitige Komponist schrieb aber auch im doppelten Kontrapunkt wechseln ab mit einem Quintschritt-Motiv, bis ab Takt 40 ein Orchesterwerke, Konzerte, Kammermusik, Sonaten und Lieder und veröffentlichte die Oberstimmen-Kanon die beiden Themenbereiche verbindet. Eine Frühfassung in d-Moll bis heute bekannte Monographie Zur Geschichte des Orgelspieles, 1884, Neuauflage durch bietet anhand dieses Satzes interessante Einblicke in Bachs Komponierwerkstatt! G. Frotscher als »Geschichte des Orgelspiels«, 21959 und eine Praktische Orgelschule – Als Schluss-Satz folgt ein Un poco allegro, ein Satz nach Art des damals so beliebten Menu- Kunst des Orgelspiels, in letzter Auflage noch 1954 in Leipzig erschienen. etts. Das Pedal ist hier im Hauptsatz mit seinem Fugenthema in Achtelbewegung ebenso Für die Orgelmusik trug August Gottfried Ritter ganz wesentlich dazu bei, dass sie sich thematisch eingesetzt wie in der Durchführung mit konzertant wirkenden Triolen; allmählich wieder den ihr zustehenden Rang zurückerobern konnte. Seine Kunst des manchmal allerdings zieht Bach aus Gründen harmonischer Klarheit die Achtelbewe- Orgelspiels (insbesondere in den frühen, noch nicht »verwässerten« Fassungen) war lange gung vor. Alle Elemente ergeben einen fesselnden Konzertsatz im Da capo mit fugierter Zeit das führende Lehrwerk. Auch um die Bach-Renaissance erwarb sich Ritter große Gestaltung. Verdienste. Seine Kompositionen bleiben diesem Vorbild treu, ergänzt durch Einflüsse Ebenso wie der Mittelsatz der Sonate V C-Dur von Bach in einer Zwischenphase seiner der nachfolgenden Epochen. Zwar streift er dieses Gewand nur relativ selten zu individu- Planung dazu ausersehen war, zwischen Praeludium und Fuge C-Dur BWV 545 gestellt das eller, ganz eigenständiger Aussage ab; seine Orgelsonaten jedoch zählen gerade in dieser Werkpaar zu einem dreiteiligen Konzert zu ergänzen, sollte dieser Schluss-Satz dieselbe Hinsicht zu seinen besten und originellsten Schöpfungen. In den größeren Orgelwerken, Aufgabe mit Praeludium und Fuge G-Dur BWV 541 erfüllen. Später verwarf Bach jedoch insbesondere den Sonaten, merkten die Forscher einen »virtuosischen« Zug an, und offenbar diese Planung wieder. »namentlich die vier Sonaten sind treffliche Werke, und die dritte derselben ist eine der bedeutendsten Orgelsonaten, die bis jetzt in Deutschland ans Licht getreten sind.« (S. Kümmerle in: Encyclopädie der evang. Kirchenmusik). Gotthold Frotscher wiederum schrieb in seiner bereits genannten Geschichte des Orgel- spiels (wie erwähnt, aufbauend auf Ritters Forschungen) … 1936 über Ritter: »… Seine Sonaten zeigen eine große Spannkraft, eine den Niederländern verwandte freie phantas- tische Richtung. … Die Spannung entsteht durch die Ausprägung verschiedener thema-

72 73 tischer und motivischer Formen; … diese Formeln und Teile werden aber nicht bunt gen, vielmehr geht das Rezitativ in einen ruhigen Mittelteil in h-Moll über (»Ruhige Bewe- durcheinandergewürfelt, wie es der Typus der Konzertfantasie tut, sondern organisch in gung«). Hier steht einerseits Mendelssohn nahe, aber Ritter entfernt sich wieder von ihm die Gesamtform eingegliedert. Überraschend ist der plötzliche Entwurf neuer Gedanken, in Form eines Crescendos bis zum ff. Sechzehntelfigurationen (»In freier Bewegung«) die Rückbeziehung früherer und Vorwegnahme späterer. Dabei übertreibt Ritter nicht wecken den Eindruck einer »Fantasie-Sonate«. den Gegensatz der verschiedenen Teile; er bringt es fertig, dass seine lyrischen Themen- Das Fehlen eines ausgestalteten ersten Sonatensatzes wird kompensiert durch den komplexe aus der Melodieseligkeit befreit werden, sei es durch figurative Belebung oder Schluss-Satz ab T. 155, wo lebhafte Motorik nach Art der barocken Toccata, verschiedene etwa durch ein beigegebenes Ostinato. Überhaupt verlegt Ritter auch in der Sonate das sonatenähnliche Gestaltungsansätze und Elemente der virtuosen Konzertetüde sich zu Gewicht aus der Melodie in den Satz, in die Stimmigkeit. – Vor allem haben seine Sona- einem wirkungsvollen »Finale« verbinden. ten eine wirkliche Verarbeitung. Er hat erkannt, dass mit den Mitteln der Orgel eine Sonatenkunst nach romantischem Ideal nicht möglich ist, dass bei der Orgel höchstens ein Nacheinander der Themengruppen eintreten könnte. So baut er den Komplex seiner Alexander Wilhelm Gottschalg Allegri-Themen derart auf, dass er motivisch zerlöst und kontrapunktisch verarbeitet wer- Der Kantor, Organist und Komponist Alexander Wilhelm Gottschalg, geboren am 12. den kann, und findet damit von selbst die Einheit von Sonate und Imitation, die viele der Februar 1827 in Mechelroda/Thüringen, studierte am Lehrerseminar in Weimar bei Zeit erstrebten, aber nur äußerlich erreichen und zitatenmäßig vorgehen.« A. G. Ritter Johann Gottlob Töpfer und erhielt später Unterricht beim dortigen Hofkapellmeister wählte für seine Orgelsonaten ganz bewusst nicht die Viersätzigkeit – wie in seinen Kla- André Hippolyte Chélard sowie von Franz Liszt, der ihn außerordentlich schätzte. Nach viersonaten –, da er der Überzeugung war, dass »scharf gegliederte Ein- und Abschnitte« einem längeren Wirken als Kantor in Tiefenfurt (1847–70) ging er zurück nach Weimar, der Orgelmusik widersprächen. Daher folgen die Stücke nicht der Viersätzigkeit und der wo er die Tätigkeiten des Hoforganisten, Seminarlehrers und Großherzoglichen Orgelre- Sonatenhauptsatzform, sondern sind eher dem Typus der – freieren – »Sonata quasi una visors übernahm und zusätzlich von 1874 bis 1903 an der dortigen Hochschule für Musik fantasia« verhaftet (den ja auch Beethoven in seinen Klaviersonaten kannte!). unterrichtete, die später (bis heute) als Namenszusatz »Franz Liszt« annahm. Eindeutig sind die vier Orgelsonaten von A. G. Ritter für das Kirchenkonzert in großen Er machte sich zwar Hoffnungen auf die Nachfolge Johann Gottlob Töpfers als Organist Räumen bestimmt – so, wie er einen solchen im Merseburger Dom zur Verfügung hatte der Stadtkirche, diese erfüllten sich jedoch nicht. Gottschalg starb am 31. Mai 1908. und später dann in Magdeburg bis zu seinem Lebensende haben sollte. Auf die Akustik Gemäß der Prophezeiung Franz Liszts ist er heute hauptsächlich durch ihn als »legenda- dieser Räume mit den zu jener Zeit noch nach klassischen Prinzipien erbauten Instru- rischer Kantor« bekannt: »Wenn ich einmal selbst zur Legende geworden bin, wird Gott- menten (im Falle Merseburgs einer Orgel von 1717, also noch nicht der 1855 erbauten, schalg mit mir fortleben.« Seit er ihn einmal bei einem Spaziergang in Tiefurt beim berühmten Ladegast-Orgel, die Franz Liszt so liebte …, in Magdeburg seit 1861 mit der Orgelüben gehört hatte, war eine lebenslange enge Freundschaft und Zusammenarbeit neuen viermanualigen Orgel der Firma Reubke) sind die zahlreichen Artikulationsanwei- entstanden; Liszt ließ sich in Fragen seiner Orgelkompositionen immer von ihm beraten, sungen Ritters ausgerichtet, damit die Überakustik die Konturen nicht verschwimmen besuchte gemeinsam mit ihm interessante Instrumente der Region (wie in Denstedt), lasse. So sind viele Staccato-Bezeichnungen zu finden, die durch Punkte und Keile noch veranstaltete gemeinsam mit ihm »Orgelconfe- weiter präzisiert sind. Dass er selbst durch sehr differenzierte Artikulation »dem Orgel- renzen« in Denstedt und ernannte ihn scherzhaft ton Leben zu geben« vermochte, bezeugen zahlreiche Quellen, u. a. sein rühmender zu »seinem Fahnen- und Fackelträger«. Nicht nur Nachruf. »Das Crescendo muss im Gedanken liegen« war einer seiner Leitsätze, und die Franz Liszt widmete ihm drei seiner Werke, son- Virtuosität war für ihn Nebensache, manche Neuerungen lehnte er ab, da sie zum »eitlen dern auch Gustav Flügel, Joseph Gabriel Rhein- Klangspiel verleiten« könnten … berger und Max Reger wählten ihn als Widmungs- Die 2. Sonate e-Moll op. 19 entstand ca. 1850, also in den ersten Jahren seiner Magdeburger träger. Tätigkeit, und ist seinem Vorgänger Johannes Mühling gewidmet. Eine Akkordfolge leitet Neben Gottschalg ließ sich Franz Liszt auch von in das Werk ein – und scheint es doch eher abzuschließen, und in der Tat kehrt sie in Johann Gottlob Töpfer und dem Orgelbauer Vergrößerung am Schluss wieder. Dennoch erfolgt aus dem Beginn heraus eine toccaten- Johann Friedrich Schulze aus Paulinzella auf sei- artige Entwicklung, in der sich Themen herausbilden, die aber in Takt 30 wieder durch nem Weg als virtuoser Konzertpianist zur Kompo- das Anfangsmotiv abgeschlossen werden. Nach diesem einleitenden Abschnitt erwartet sition seiner Orgelwerke inspirieren, und über man den Beginn des Sonatenhauptsatzes, doch es folgt nicht ein solcher, sondern ein Töpfer entstand auch der Kontakt zu dessen Schü- eher rhapsodisch wirkendes »Rezitativ«, mit Chromatik durchsetzt. Mehrmals erklingen lern, vor allem zu Alexander Winterberger, der einstimmige Linien, die auf den Schlussteil vorausweisen, wo sie »Rasch und feurig« 1855 die neue Ladegast-Orgel im Dom zu Merse- wiederkehren werden (Takt 155 ff.). Der erwartete Sonatenhauptsatz wird weiter umgan- burg mit Liszts »Propheten-Fantasie ›Ad nos, ad

74 75 salutarem undam‹« einweihte – da ja das ursprünglich vorgesehene Werk Präludium und Die ineinander übergehenden drei Sätze (in der Sonatenhauptsatzform gehalten) sind Fuge über den Namen B-A-C-H nicht rechtzeitig fertiggeworden war … aus demselben thematischen Material geschaffen; der letzte Satz ist eine großangelegte Neben Liszts Originalkompositionen für die Orgel sind zahlreiche seiner Werke in Tran- romantische Steigerungsfuge. Einsam überragt dieses Werk die meisten übrigen des skriptionen überliefert; viele derselben stammen von Alexander Wilhelm Gottschalg. damaligen Orgelschaffens. Eine davon erklingt im heutigen Programm; es ist das dritte der 1850 veröffentlichten, Die drei bestimmenden Elemente des thematischen Materials sind der intensiv chroma- berühmten Klavierstücke mit dem Titel Consolations, also »Tröstungen«. Gottschalg tisch geprägte Beginn mit einem absteigenden Thema im Bass, das von aufsteigenden nahm relativ wenige Änderungen am Original vor, einem elegischen Gesang im getrage- Manualakkorden beantwortet wird. Es hebt Grave, pp, »duster« an und wird mit dem nen Tempo (Lento placido) – abgesehen von der sehr einschneidenden Veränderung der Manualeinsatz zunehmend heller und lauter. Dieser erste »Sonatensatz« umfasst die Tonalität: vom weichen, verhangenen Des-Dur des Originals in die helle Kreuztonart A! Takte 1–107; das Seitenthema setzt in T. 53 ein (Larghetto), durchführungsartige Elemente Auch die Begleitfiguren der linken Hand sind in der Orgelfassung klarer zu verfolgen als sind – nach dem Vorbild Beethovens – jedoch bereits in der Exposition und demzufolge in den Klangverschmelzungen des Klaviers durch den Einsatz des Pedals. noch in der Reprise zu erkennen. Das Stück in der Art des Solos mit Begleitung wird von einer Pedal-Einleitung des Cellos Das zweite Element: der zweite »Satz«, Adagio, ist eine ebenfalls pp anhebende, chroma- in 8’-Lage eröffnet, bevor das Pedal in 16’-Lage den Orgelpunkt auf der tiefen Tonika tisch geprägte Akkordfolge, die dem Text »Wo der Herr mir nicht hülfe …« entspricht einnimmt, als Fundament zu Triolenbegleitung der linken Hand und der Solostimme der (T. 233 ff.); ein zweites Thema erklingt in T. 243. rechten mit dem Thema der Consolation Nr. 3. Das Thema wird variiert, durch melisma- Die Zuversicht der Aussage »Aber der Herr ist mein Hort« ist in der lebhaften Fuga, Alle- tische Wendungen und zusätzliche Stimmen (teils in Terzparallelen geführt) erweitert gro, f ausgedrückt (T. 317 ff.), die in sich mehrteilig ist, mit einem Durchführungszwi- und ergänzt. Die Klangfarbe wechselt von den Streichern zur Clarinette solo und zuletzt schenspiel, einem zweiten Teil ab T. 430 (Più mosso) zur zarten Flöte 8’ (Flauto dolce), die mit einer aufsteigenden, stark chromatisch einge- und einer Stretta ab Takt 504 (Allegro assai). Das färbten Sechzehntel-Linie und im rallentando zum Schluss hinführt, wo über die Verbrei- Fugenthema ist eng verwandt mit den Themen der terung bis zu halben Noten die Bewegung allmählich zum Stocken kommt, bis der beiden vorausgehenden Sätze, aber eine zur frohen Schlussakkord im ppp verklingt. Die schöne Orgeltranskription war Gottschalgs Beitrag Zuversicht gewendete Version derselben. zum oben erwähnten »Ritter-Album für die Orgel« (1881). Was sich jedoch beim spontanen Hören am deutlichs- ten und überzeugendsten mitteilt, ist die ungeheure Aussagekraft zum Text des 94. Psalms, auch wenn Julius Reubke eine 1 : 1-Beziehung zwischen Wort und musikali- Nur ein sehr kurzes Leben war dem hochbegabten Sohn eines Orgelbauers aus Magde- schem Motiv kaum zu belegen ist – der Gesamtein- burg vergönnt: dort geboren am 23. März 1834, starb er bereits am 3. Juni 1858. 1851 kam druck ist mitreißend und zutiefst bewegend. er nach Berlin, wo er am Konservatorium Klavier studierte und als Lehrer tätig war. Seine außergewöhnliche Begabung erregte schon früh Aufsehen: Hans von Bülow sah in ihm den besten Schüler des Instituts. Im Herbst 1856 wurde er in den Liszt-Kreis in Weimar aufgenommen und Schüler des großen Meisters. Hier komponierte er seine beiden Gro- ßen Sonaten, jene in b-Moll »für das Pianoforte« (1856/57) und die Große Sonate c-Moll »Der 94. Psalm« für die Orgel (1857). Die Uraufführung im Merseburger Dom am 17. Juni 1857 spielte der junge Komponist noch selbst, musste aber noch im selben Jahr aus finan- ziellen Gründen Weimar verlassen und nach einem kurzen Aufenthalt in Dresden aus gesundheitlichen Gründen nach Pillnitz übersiedeln, wo er am 3. Juni 1858 starb. Beson- dere Freundschaft hatte ihn mit Peter Cornelius verbunden. Julius Reubke war der begabteste Vertreter seiner Familie; unter Liszts Einfluss gelangte sein genialisches Talent voll zum Durchbruch. Die einsätzig-mehrsätzige Anlage und Technik seiner Orgelsonate lassen Lisztsche Einflüsse erkennen, aber dabei ist sie doch ein ganz eigenständiges und individuell geprägtes Werk. Durch die Anlehnung an den Psalmtext übertrug Reubke das Prinzip der Symphonischen Dichtung auf die Gattung der Orgelsonate.

76 77 Biografien der Interpreten

Ludger Lohmann Ludger Lohmann wurde 1954 in Herne/Westfalen geboren. Er studierte an Musikhoch- schule und Universität Köln Schul- und Kirchenmusik, Musikwissenschaft, Philosophie und Geographie. Seine Lehrer waren Wolfgang Stockmeier (Orgel) und Hugo Ruf (Cem- balo). Weitere Orgelstudien führten ihn zu Anton Heiller nach Wien und Marie-Claire Alain nach Paris. Bei mehreren internationalen Orgelwettbewerben erhielt er Preise, u. a. ARD-Wettbe- werb München 1979 und Grand Prix de Chartres 1982. 1981 erschien seine vielbeachtete musikwissenschaftliche Dissertation »Artikulation auf den Tasteninstrumenten im 16.–18. Jahrhundert«, inzwischen ein Standardwerk für Interpreten. Seit einigen Jahren liegt sein Forschungsinteresse im Bereich der romantischen Orgel- musik. Von 1979 bis 1984 unterrichtete Ludger Lohmann Orgel an der Musikhochschule Köln, seit 1983 lebt und arbeitet er in Stuttgart als Professor an der Musikhochschule. Daneben war er 25 Jahre lang als Organist an der Domkirche St. Eberhard tätig. Er konzertiert weltweit; Rundfunk-, Fernseh- und CD-Produktionen dokumentieren seine Repertoirevielfalt mit den Schwerpunkten alte und romantische Orgelmusik. Ludger Lohmann ist ein gefragtes Jurymitglied vieler internationaler Orgelwettbewerbe. Ein zentrales Anliegen ist ihm das Unterrichten in seiner Stuttgarter Orgelklasse, die begabte Studenten aus der ganzen Welt anzieht. Gastprofessuren und Masterclasses führen ihn an zahlreiche Musikhochschulen und Universitäten vieler Länder und zu internationalen Orgelakademien; er gehört zum fes- ten Dozententeam der beiden bedeutendsten Akademien in Haarlem (Niederlande) und Göteborg (Schweden), wo er auch als senior researcher im Orgelforschungsprojekt der Universität (GOArt) mitwirkt.

Isabelle Demers Isabelle Demers ist Professorin für Orgel und Leiterin des Orgelprogramms an der Baylor University in Texas, wo sie Orgel unterrichtet und Kurse im Lehrplan für Orgel gibt. Gebürtig aus Quebec, erwirbt sie sich derzeit rasch die Anerkennung als eine der virtuo- sesten OrganistInnen Nordamerikas. Ihr Konzert bei der Zusammenkunft des Amerika- nischen Organistenverbands in Washington D. C. im Jahr 2010 fand große Anerkennung nicht nur bei den Kritikern, die es als »eines der herausragendsten Ereignisse des Kon- gresses« priesen (The American Organist), sondern auch von der Zuhörerschar in den Steh-Rängen, die sie fünfmal zurückrief. Eine Besprechung ihres Konzerts für die gemeinsame Konferenz von ISO-AIO 2010 sprach davon, dass sie »das gesamte Publi- kum mit ihrer virtuosen Darbietung verzaubert« und den ganzen Kongress in einer Atmosphäre des »Demers-Fiebers« zurückgelassen habe. Im Alter von elf Jahren begann sie das Klavier- und Orgelstudium am Konservatorium in Montréal. Nach dem Diplom 2003 schloss sie als Stipendiatin in Paris ein Studienjahr an

78 79 der École Normale de Paris-Alfred Cortot an. Sie erwarb ihr Master-Diplom und ihre Kay Johannsen beschäftigt sich intensiv mit der Orgelmusik von Johann Sebastian Bach Promotion an der Juilliard School in New York City, wo sie bei Paul Jacobs studierte. Ihre und spielte 1997 und 2007 Aufführungen des Gesamtwerkes, wobei der Zyklus 2007 auf Dissertation – eine Analyse von Bachs Johannes-Passion – wurde mit dem Richard French 17 CDs (Produktion der Stiftsmusik) dokumentiert ist. Für die edition bach-akademie bei Preis für die beste Dissertation bei der Graduierung ausgezeichnet. hänssler nahm er fünf CDs auf, die mit Preisen wie dem Diaposon d’or sowie dem Goldenen Isabelle Demers war eine renommierte Künstlerin beim Nationalen Kongress des Ame- Bobby des Verbands deutscher Tonmeister ausgezeichnet wurden. Als Cembalist und rikanischen Organistenverbands in Minneapolis 2008, und ihr Konzertauftritt wurde Kammermusiker hat er weitere Gattungen der Bachschen Musik umfassend gepflegt, von später für eine nationale Hörerschaft im Rundfunk ausgestrahlt. Ebenso war sie die den Goldbergvariationen über das Musikalische Opfer bis zu den Brandenburgischen Konzerten. Haupt-Interpretin beim Nationalen Kongress des Königlich-Kanadischen Organistenkol- Ausgehend von einer profunden Auseinandersetzung mit der Alten Musik spielt Kay legs in Toronto 2009, bei der nationalen Zusammenkunft des Amerikanischen Organis- Johannsen heute in seinen Orgelkonzerten neben Bach und Improvisationen vor allem tenverbands in Washington, DC, 2010 und bei der gemeinsamen Tagung des Amerikani- Werke der deutschen und französischen Romantik, was sich auf 12 Solo-CDs mit Werken von schen Instituts der Orgelbauer und der Internationalen Gesellschaft der Orgelbauer in Bach, Mendelssohn, Brahms, Franck, Reger, Widor und Vierne (24 Pièces de Fantaisie in Montréal 2010. Sie war Preisträgerin und Finalistin bei mehreren internationalen Inter- der Frauenkirche Dresden bei Carus) niederschlägt. pretationswettbewerben und verfolgt eine rege Konzerttätigkeit in den USA, Kanada und Kay Johannsen ist ein leidenschaftlicher Improvisator, wobei sein Stil in der Harmonik Europa. Höhepunkte ihrer Saison 2012 waren u. a. ihre Debüts in der Davies Hall und zurzeit an Tournemire, Alain und Duruflé erinnert, formal vielfältig ist und rhythmisch der Disney Hall im März 2012 sowie im Sommer eine Konzerttournee durch England Einflüsse des Jazz erkennen lässt. Choralgebundene Improvisationen zu Advent/Weih- und Deutschland mit 14 Auftritten. nachten und Passion/Ostern sind auf drei weiteren Solo-CDs bei Carus dokumentiert, die Ihre Debüt-Einspielung beim britischen Label Acis traf auf die Anerkennung der Kritiker. in kürzester Zeit große Verbreitung fanden. Während einer kürzlich ausgestrahlten Sendung von Pipedreams charakterisierte der Als Solist und Begleiter spielte Kay Johannsen mit vielen bekannten Ensembles. Er ist auf Moderator Michael Barone die Fuge aus Regers op. 73 als »eine meisterliche Partitur, hier CDs zu hören mit den Berliner Philharmonikern unter Claudio Abbado (Bach, Mozart), meisterhaft interpretiert« und Isabelle Demers als »ganz gewiss ein Talent, das man beob- den Stuttgarter Philharmonikern unter Gabriel Feltz (Strauss, Scriabin) und (in den Psal- achten und dem man lauschen muss«. Die Zeitschrift Church Music Quarterly der RSCM men von Charles Ives) mit dem SWR Vokalensemble unter Marcus Creed, zuletzt auch mit verlieh der »aufregenden, ausdrucksstarken und erfolgreichen« Einspielung ihre höchste den Stuttgarter Hymnus-Chorknaben. Beste Besprechungen erhielt die CD mit den Sechs Empfehlung für ihre »tiefgründigen und investigativen Interpretationen«. Das Fanfare Sonaten für Violine und Cembalo von J.S. Bach, die er mit der Geigerin Christine Busch für Magazine rühmte die »hervorragend produzierte sowie klar und genau präzisierte Auf- Carus eingespielt hat. 2010 ist bei Carus ferner die CD Ave Maria mit Geistlichen Gesän- nahme« mit ihrem »brillant gespielten Programm«. Ihre 2. CD, eine Werkschau der gen von Joseph Gabriel Rheinberger mit Kay Johannsen an der Orgel erschienen. 2012 Orgelkompositionen von Rachel Laurin, kam im Juni 2011 heraus und ihre Einspielung der folgten drei CDs mit alten Kirchenliedern unter dem Titel Aus meines Herzens Grunde sieben Choralfantasien von Max Reger im vergangenen November. sowie eine CD mit Weihnachtsliedern zusammen mit Christine Busch bei Carus/Reclam. Kay Johannsen gewann den Deutschen Musikwettbewerb als Organist und mit seiner Stutt- garter Kantorei 2006 den Deutschen Chorwettbewerb. Als Juror ist er heute regelmäßig Kay Johannsen beim Deutschen Musikwettbewerb, beim Bundeswettbewerb Jugend musiziert oder bei inter- Das musikalische Zentrum für Kay Johannsen ist die Stiftskirche Stuttgart, Hauptkirche nationalen Wettbewerben in Lausanne und Alkmaar gefragt. der Stadt und der Region. Hier leitet der Stiftskantor und Kirchenmusikdirektor die Wie an der Orgel hat sich Kay Johannsen als Dirigent zunächst ausführlich mit der Alten Ensembles Stuttgarter Kantorei, solistenensemble stimmkunst, Stiftsphilharmonie Stuttgart Musik und der Musik Johann Sebastian Bachs beschäftigt. Daneben hat sich ein Schwer- sowie Stiftsbarock Stuttgart und verantwortet als künstlerischer Leiter der Stiftsmusik Stutt- punkt bei Werken des 19. bis 21. Jahrhunderts gebildet, von Beethoven und Brahms über gart unter anderem die wöchentliche Stunde der Kirchenmusik mit jährlich 20.000 Zuhö- Elgar und Mahler bis zu Schönberg, Berg und Rihm. Eine außerordentlich positive inter- rern. Eine nicht versiegende Inspirationsquelle ist für ihn die Mühleisen-Orgel der Stifts- nationale Resonanz erhielt er für seine beiden CDs Göttlichs Kind mit Weihnachtsmusik kirche mit 81 Registern auf vier Manualen aus dem Jahr 2004. von Telemann sowie Noël mit Werken von Charpentier, die er mit dem solistenensemble Im Jahr 2013 führt Johannsen weitere 22 Bach-Kantaten im Rahmen des Zyklus’ stimmkunst und dem Ensemble 94 für Carus und den SWR eingespielt hat. 2009 erschie- »Bach ¦ vokal« auf. An Karfreitag dirigiert er das Stabat mater von Dvorák und im Novem- nen ist die Aufnahme der Messe As-Dur von Franz Schubert mit der Stuttgarter Kantorei ber das Requiem von Brahms. Im April leitet er ein Projekt mit den Brandenburgischen und der Stiftsphilharmonie Stuttgart. Als Gast leitete er einen Orfeo-Abend mit Christine Konzerten von Bach an der Musikhochschule in Beijing. Als Organist tritt er in der Jesui- Schäfer und Mitgliedern der Berliner Philharmoniker in Berlin, die Aufführung von Bachs tenkirche Luzern, beim Jubiläum 850 Jahre Kloster Loccum, in der Hamburger Hauptkirche Messe h-Moll mit dem Barockchor Seoul oder Konzerte mit dem Orchestre Philharmonique St. Petri, im Trierer Dom und bei der Bachwoche Ansbach auf. de Strasbourg in der Stuttgarter Liederhalle. Mehrfach dirigierte er die Gächinger Kantorei,

80 81 das Bach-Collegium Stuttgart und das Stuttgarter Kammerorchester. 2009 leitete er als Gast Fanxiu Shen die Bachwoche der Internationalen Bachakademie Stuttgart. 2010 dirigierte er mit gro- Fanxiu Shen ist Organistin, Cembalistin, Professorin an der zentralen Musikhochschule ßem Erfolg Orffs Carmina burana in Shanghai und Beijing, 2011 erstmals Mahlers Zweite (CCOM) Chinas, Gründerin und künstlerische Leiterin des Internationalen Festivals der Symphonie. Kay Johannsen ist künstlerischer Leiter des Zyklus’ »Bach ¦ vokal«, in dessen Barockmusik Beijing und Direktorin der Chinesischen Kammermusiker-Vereinigung. Rahmen er von 2011 bis 2021 die gesamte Vokalmusik Bachs in Stuttgart aufführt. Sie wurde in eine Musikerfamilie hineingeboren. Ihr Vater Wujun Shen war in China ein Neben dem Interpretieren an der Orgel und als Dirigent ist für ihn wichtig, der eigenen berühmter Dirigent und ihre Mutter Dade Li eine Sopranistin an der Oper. Kreativität Raum zu geben. In den letzten Jahren entstanden vermehrt Kompositionen für Den B. A. legte sie an der Zentraluniversität Beijing ab, Klavierstudium bei Prof. Meiying Ensembles in verschiedenen Besetzungen, die auch im Rundfunk und Fernsehen übertra- Huang und Prof. Pingguo Zhao, Prof. Qifang Li sowie Prof. Guangren Zhou. gen wurden. Sein bisher größtes Werk ist die szenisch-musikalische Fantasie Nachtbus, die Das Diplom des M. A. erwarb sie an der Universität für Musik und Ausübende Künste in beim Musikfest Stuttgart 2010 uraufgeführt wurde. 2012 wurden sein Schlagzeugkonzert Wien, wo sie Cembalo bei Prof. Gordon Murray und Orgel bei Prof. Dr. Rudolf Scholz und die Vertonung Abend (nach Gryphius) für Sopran, Chor und Klavier uraufgeführt. studierte. Sie leitete die Kurse »Orgelinterpretation« und »Cembalointerpretation« sowie »Cembalo und Orchester« in barocker Kammermusik unter Leitung des CCOM und in China das Hans Fagius erste Mal überhaupt. Hans Fagius (1951 in Norrköping, Schweden, geboren) steht seit vielen Jahren in der Als erste Orgelvirtuosin im Nationalen Zentrum der Ausübenden Künste (NCPA) hat sie ersten Reihe der schwedischen Konzertorganisten. Als Lehrer hatte er Bengt Berg, und dort mehr als vierzig Orgelkonzerte gespielt. Sie gab auch Orgel- sowie Cembalo-Solo- an der Musikhochschule in Stockholm Professor Alf Linder. 1974–75 folgten weitere Stu- abende und -Konzerte in Großstädten ihrer Heimat wie Beijing, Shanghai, Hangzhou, dien bei Maurice Duruflé in Paris. Seine Konzertkarriere begann er nach zwei Preisen bei Shenzhen, Xi’an, Wuhan, Hefei, Tsingdao, Erdos und Hong Kong, und in Übersee wie in Internationalen Orgelwettbewerben in Leipzig und Stockholm. Er gibt regelmäßig Kon- St. Petersburg, Moskau, Paris, Nagasaki und Seoul. zerte in ganz Europa und hat auch Australien, Nordamerika, Japan und Süd-Korea mehr- Eine Zusammenarbeit verbindet sie mit Valery Giegiev, Seiji Ozawa, Vladimir Ashkenazy, mals besucht. Michael Plasson, sie spielte die Orgel in Konzerten mit dem Russischen Marinsky Theater Sein Interesse ist grundsätzlich auf die Alte Musik und Musik aus der romantischen Orchester, dem Philharmonischen Orchester Helsinki, Finnland, dem Jugendorchester Epoche konzentriert, aber das Repertoire enthält Werke aus allen Epochen. Eine Spezia- der Europäischen Union, dem Chinesischen Nationalen Symphonie-Orchester etcetera. lität sind Konzertreihen mit sämtlichen Werken verschiedener Komponisten gewesen. Sie veröffentlichte die CD der Sonaten von Teodoricus Pedrini (1671–1746) beim Label Beispiele sind Konzertreihen mit den Orgelwerken von Johann Sebastian Bach (dreimal Kangxi Emperor. – das letzte Mal 2007), Buxtehude, Franck, Mendelssohn, Brahms, Alain und Duruflé oder sämtliche Symphonien von Vierne. Hans Fagius ist für zahlreiche erfolgreiche Aufnahmen wohlbekannt, vor allem beim Michel Bouvard schwedischen Label BIS. In der ersten Reihe steht hier eine Aufnahme sämtlicher Orgel- Als einer der führenden französischen Konzertorganisten der Gegenwart erfreut sich werke von Johann Sebastian Bach, aber man findet auch eine breite Repräsentation Michel Bouvard einer vielgestaltigen Karriere als Konzertorganist und Meisterklassen- romantischer Musik wie Liszt, Widor, Saint-Saëns, Karg-Elert oder Duruflé. Hans Fagius Dozent, die ihn in mehr als 20 Länder geführt hat. ist auch bei den dänischen Firmen DaCapo (Hartmann und Gade) und CDKlassisk.DK Er wurde in Lyon, Frankreich, geboren und wurde früh in seinem Leben mit einer großen (Deutsche romantische Musik) sowie auch bei Musica Redivia (Bach in Leufsta Bruk) und Leidenschaft für die Musik inspiriert durch seinen Großvater Jean Bouvard, ebenfalls Daphne (Mendelssohn) repräsentiert. Die letzte Produktion ist eine CD mit Orgelsym- Organist und Komponist, der bei Louis Vierne, Florent Schmitt und Vincent d’Indy stu- phonien von Widor und Vierne auf der Cavaillé-Coll-inspirierten Paaschen-Orgel in , diert hatte. Im Kindesalter begann er mit dem Klavierunterricht in Rodez, gefolgt vom Finnland. Ein Handbuch über die Orgelwerke Bachs erschien 2010 im schwedischen Bo Orgelunterricht bei Suzanne Chaise-Martin in Paris. Danach wurde er in die Orgelklasse Ejeby Verlag. André Isoirs am Konservatorium in Orsay aufgenommen und in die Klassen Harmonie- Hans Fagius war zwischen 1989 und 2011 Professor am Königlich-Dänischen Musikkon- lehre, Kontrapunkt und Fuge am Conservatoire National Supérieur de Musique in Paris. servatorium in Kopenhagen und früher auch mehrere Jahre Orgellehrer an den Musik- Später vervollkommnete er seine Studien bei Michel Chapuis, Francis Chapelet und Jean hochschulen in Stockholm und Göteborg. Jetzt wirkt er als freischaffender konzertieren- Boyer, während er bereits als stellvertretender Organist an der Kirche St-Séverin tätig war, der Organist und Pädagoge. Er ist ein vielgefragter Leiter verschiedener Meisterkurse und und er übte diese Tätigkeit als Titularorganist dann mehr als 10 Jahre lang aus. fungiert häufig als Jurymitglied bei Internationalen Orgelwettbewerben. 1998 wurde er 1983 wurde Michel Bouvard beim Internationalen Orgelwettbewerb von Toulouse, gewid- zum Mitglied der Königlich-Schwedischen Akademie der Musik gewählt. met der französischen Musik des 17. und 18. Jahrhunderts, der 1. Preis verliehen. 1985

82 83 trat er die Nachfolge von Xavier Darasse als Professor für Orgel am Nationalen Konserva- Saunders hat vor Ihrer Majestät der Königin, Prinzessin Anne und dem US-Präsidenten torium der Region Toulouse an, wo er, gemeinsam mit seinem Musiker-Kollegen Willem Carter gespielt und mit dem Dirigenten Carl Davis sowie dem Jazzvirtuosen Dick Hyman Jansen, Darasses Anstrengungen fortsetzte, die Schutzherrschaft von Stadt und Region gearbeitet. Solo-Tourneen haben ihn zu Orgelkonzerten nach Russland, Frankreich, Ita- zu fördern, durch die Organisation von Konzerten, speziellen Besuchern, Meisterklassen lien, Holland, Deutschland, Österreich, Slowenien und in die USA geführt. Unter den und den Internationalen Wettbewerb. Diese Arbeit kulminierte in der Gründung des bedeutenderen internationalen Konzertstätten waren die Kathedrale von Königsberg renommierten Festivals »Toulouse Les Orgues«, dessen Direktor er derzeit wieder ist (Kaliningrad/Russland), der Kölner Dom, der Dom zu Perugia, der Berliner Dom, die (1996–1999, 2011–2013), und 1994 in der Schaffung einer neuen Orgelklasse am Zent- Basilika San Lorenzo in Florenz und die Incarnationskirche in Dallas. Er hat Einspielun- rum für Höhere Studien in Musik und Tanz in Toulouse (Centre d’Études Supérieures de gen sowohl als Organist wie als Dirigent bei Herald AV vorgelegt und ist jetzt bei Brilliant Musique et de Danse de Toulouse). Classics unter Vertrag für die Einpielungen von drei vollständigen Werkausgaben auf CD, Zusätzlich zu seiner Konzert- und Unterrichtstätigkeit ist Michel Bouvard häufig ein die im laufenden Jahr erscheinen werden. anerkannter Juror bei den berühmtesten Orgelwettbewerben der Welt. Vier Jahre lang wirkte er auch als Mitglied in der Leitenden Kommission Historischer Monumente (Commission Supérieure des Monuments Historique) des französischen Ministeriums für Nathan J. Laube kulturelle Angelegenheiten mit. Ein Star unter jungen Vertretern der klassischen Musik, hat sich der Konzertorganist Derzeit ist Michel Bouvard als Professor für Orgel am Conservatoire Paris tätig (seit Nathan J. Laube schnell einen festen Platz unter der Elite der Orgelvirtuosen in aller Welt 1995), wo er gemeinsam mit seinem Freund und Kollegen lehrt. Seit 1996 erworben. Sein brillantes Spiel und sein freundliches Verhalten haben Zuhörerschaft und ist er tätig als Titularorganist an der historischen Cavaillé-Coll-Orgel der Basilika Saint- Veranstalter allüberall in den Vereinigten Staaten und in Europa fasziniert, und seine Sernin, im Zentrum von Toulouse, wo er lebt und unterrichtet. kreative Planung von Programmen über fünf Jahrhunderte hinweg, einschließlich seiner Außerdem ist er seit 2010 einer der vier Organisten der Königlichen Kapelle im Schloss eigenen virtuosen Transkriptionen von Orchesterwerken, hat hohes Lob von Kritikern von Versailles. und Kollegen gleichermaßen erfahren. Im Frühjahr 2013 war er Gastprofessor an der Eastman School of Music in Rochester/New York. Zusätzlich zu seinem ausgefüllten Konzertkalender widmet sich Nathan Laube mit Hin- gabe der Ausbildung der nächsten Generation junger Organisten, und vom Herbst 2013 an ist er Fakultätsmitglied der Eastman School of Music in Rochester, New York, als Assis- Benjamin Saunders tenz-Professor für Orgel, wo er gemeinsam mit den renommierten Professoren David Benjamin Saunders wurde in Warrington geboren und an der George Heriot’s School in Higgs und Edoardo Bellotti lehren wird. Edinburgh ausgebildet. Seine ersten Orgelstunden erhielt er im Alter von 16 Jahren an Konzertaufführungen in jüngster wie in nächster Zeit schließen größere Auftrittsorte in der Kathedrale der Hauptstadt Edinburgh St Mary’s und gewann zwei Jahre später ein den Vereinigten Staaten und in Europa ein: Walt Disney Concert Hall (Los Angeles), Orgelstipendium am Downing College, Cambridge, wo er bei Peter Hurford studierte. Washington National Cathedral, The Mother Church (Boston), Verizon Hall (Philadel- Zum Zeitpunkt seines Diploms hatte er bereits Organistentätigkeiten an den Kathedralen phia), Overture Hall (Madison, WI), Trinity Cathedral (Portland, OR), First Congregatio- St Giles’ Edinburgh, in Blackburn und Chester inne. nal Church of Los Angeles, The Ballroom in Longwood Gardens (Kennett Square, PA), 2002 wurde Saunders zum Musikdirektor der Diözese Leeds berufen, wo er die Abteilung Irvine Auditorium (Philadelphia), Girard College Chapel (Philadelphia), Jacoby Sym- an der Kathedrale von Leeds leitet. Die Kathedrale ist das Zentrum von Englands größtem phony Hall (Jacksonville, FL), Spivey Hall (Morrow, GA), Stiftskirche (Stuttgart), Notre- Chorprogramm, umfassend etwa sechs Knabenchöre, vier Mädchenchöre, 47 Schul- Dame-du-Taur (Toulouse, Frankreich), Cathédrale Saint-Alain (Lavaur, Frankreich), und chöre, eine Chorschule und einen professionellen Erwachsenenchor. Während dieser Zeit die Kollegskirchen der Universitäten von Stanford (Palo Alto, CA), Harvard (Cambridge, war er privilegiert, als Berater und Gutachter für eine ganze Anzahl der übrigen in der MA) und Chicago. In Europa hat Nathan Laube fünf Konzertreisen in England durch­ Musik herausragenden Kathedralen zu wirken. geführt, die u. a. Konzerte im Münster von York, in den Kathedralen von Canterbury, Als Organist hat er sich zum Ziel gesetzt, ein abwechslungsreiches und verständliches Southwark, Exeter und Truro einschlossen. Er trat beim Internationalen Festival »Orgel- Programm zu präsentieren, um Zuhörer, jung und alt gleichermaßen, zu erfreuen, seien tag« 2004 in Ljubljana (Slowenien) auf, beim Orgelfestival in (Finnland) 2011, und sie Neulinge im Bereich der Orgelmusik oder lebenslange Anhänger des Instruments. beim Eröffnungskonzert des Musikfestivals an der Frauenkirche Dresden 2012 in einer Sein Solo-Repertoire schließt klassische, populäre und jazzige Werke ein, manche ver- Aufführung mit dem Curtis Symphony Orchestra. 2013 wird er beim 18. jährlichen Inter- traut und andere neu oder vor kurzer Zeit wieder neu entdeckt. Er hat auch zahlreiche nationalen Orgelfestival »Au Son des Orgues« in Orléans (Frankreich) an der Cavaillé- Orchesterwerke für die Orgel bearbeitet, und diese Bearbeitungen sind häufig beliebter Coll-Orgel der Kathedrale von Orléans mitwirken, beim Lapua Festival (Finnland) und Bestandteil seiner Konzertprogramme. beim Internationalen Orgelsommer in Stuttgart. Zusätzlich wird er für das Label Naxos

84 85 das Große Orgelkonzert von Stephen Paulus mit dem Nashville Symphony Orchestra und Christoph Eschenbach, The Nashville Symphony unter Giancarlo Guerrero, der Choral einspielen. Arts Society Philadelphia unter Matthew Glandorf, The Chicago Master Singers unter Alan Nathan Laube war der Haupt-Künstler bei den nationalen Zusammenkünften der Histo- Heatherington; außerdem arbeitet er häufig in Chicago mit dem 1. Trompeter des Chicago rischen Orgelgesellschaft (Organ Historical Society) in den Jahren 2009, 2011 und 2012, Symphony Orchestra Chris Martin in umjubelten Kammermusik-Abenden zusammen. bei der nationalen Versammlung des Amerikanischen Organistenverbands (American Nathan wirkt oft bei der Fakultät für Begegnungen mit der Pfeifenorgel in den USA mit Guild of ) in Washington DC 2010, und vor kürzerer Zeit bei dieser Veranstal- – dies sind Praktika, veranstaltet von der Amerikanischen Organistenvereinigung, mit tung 2012 in Nashville, TN, wo er mit dem Nashville Symphony Orchestra musizierte. Er dem Ziel, junge Tasteninstrument-Spieler an die Pfeifenorgel und ihr unermessliches wird 2013 führender Künstler bei drei Regionalkonferenzen des Amerikanischen Orga- Repertoire heranzuführen. Nathan hat auch an der Oberlin-Sommerakademie in Ohio nistenverbands sein. Zahlreiche seiner Live-Auftritte sind auf dem amerikanischen und an der Sommer-Orgelakademie am Kimmel-Center für Ausübende Künste in Phila- öffentlichen Publikationskanal »Pipedreams« aufgezeichnet worden. delphia unterrichtet. Im Juni 2013 wird Nathan Laube an der Musikhochschule Stuttgart sein Masterdiplom Nathans sonstige Interessen sind mittelalterliche und moderne Architektur, Gärtnern, für Künstlerisches Orgelspiel ablegen, wo er seine Studien im Rahmen eines DAAD- internationale Reisen, exotische Küche und Kochen, ebenso wie Zeichnen und Malen. Stipendiums bei Ludger Lohmann fortgesetzt hat. Während seiner Stuttgarter Zeit stu- diert er auch Improvisation bei Jürgen Essl und Cembalo bei Jörg Halubek. Als Stipendiat eines William Fulbright Grant verbrachte Nathan Laube das akademische Luca Scandali Jahr 2010–2011 im Studium bei Michel Bouvard und Jan Willem Jansen am Konservato- Luca Scandali wurde 1965 in Ancona (Italien) geboren. rium von Toulouse (Conservatoire à Rayonnement Régional de Toulouse), wo er den »Prix Er erhielt ein Diplom in Orgel und Orgel-Komposition mit erstklassiger Bewertung im de Spécialité« mit den beiden höchsten Graden, »Très Bien« (Sehr gut) und »Félicitations Studium bei Prof. Patrizia Tarducci und ein erstklassiges Diplom in Cembalo am Konser- du Jury« (Gratulationen der Jury) erwarb, zusätzlich zum Preis »François Vidal« von der vatorium »« in Pesaro, wo er anschließend auch ein Diplom in Kom- Stadt Toulouse. position unter Professor Mauro Ferrante erwarb. Nathan Laube erwarb sein Bachelor-Diplom am Curtis Institut für Musik in Philadelphia, Anschließend setzte er seine Orgelstudien bei Ton Koopman, Andrea Marcon, Luigi Fer- wo er Orgel bei Alan Morrison und Klavier bei Susan Starr studierte. Beim Diplom erhielt dinando Tagliavini und Liuwe Tamminga fort. Darüber hinaus widmet er seine Zeit der er die beiden höchsten Auszeichnungen des Instituts, den Landis Award für herausra- Forschung über Probleme der Aufführungspraxis der Musik der Renaissance, des Barock gende akademische Leistungen und den Aldwell Preis für herausragende Leistungen in und der Romantik, indem er Abhandlungen und Originalinstrumente studiert. Musikstudien. Während seiner Zeit am Curtis Institut wirkte Laube auch als Assistenz- Er gewann 1986 als erster Künstler das Stipendium »F. Barocci« (Ancona, Italien) für Organist an der Großen Wanamaker-Hof-Orgel im Kaufhaus Macy’s in der Innenstadt junge Organisten. 1992 gewann er den 3. Preis beim Ersten Internationalen Orgelwett- Philadelphias, wo er 2004 in einer Sendung »The Wanamaker Organ Hour« im WRTI’s bewerb »Città di Milano« (Italien), 1994 war er Finalist beim 3. Internationalen Orgelwett- Rundfunk vorgestellt wurde, in der er viele seiner eigenen Transkriptionen spielte. bewerb von Carouge-Genf (Schweiz), und er gewann den 4. Preis beim 11. Internationalen In Chicago geboren, erhielt er dort seinen ersten Unterricht an der Akademie der Künste Orgelwettbewerb von Brügge (Belgien). bei Donna Fortney (Klavier), Dr. Elizabeth Naegele (Orgel) und Dr. Louis Playford (Klavier 1998 gewann er den 1. Preis beim 12. Internationalen Orgelwettbewerb »Paul Hofhai- und Musiktheorie). mer« in Innsbruck (Österreich), dessen Jury im Laufe seiner 40-jährigen Geschichte Mr. Laube hat höchste Preise bei mehreren renommierten Wettbewerben gewonnen; diese Auszeichnung nur viermal verlieh. zuletzt wurde er 2012 beim »Felix-Mendelssohn-Preis« in Berlin mit dem Stipendium des Er ist zu Meisterklassen und Kursen eingeladen worden (Accademia Marchigiana di Bundespräsidenten ausgezeichnet, das auch einen Auftritt im Konzerthaus Berlin ein- Musica Antica, Corsi di Musica Antica a Magnano, Konservatorium »Bruno Maderna«, schloss. Zusätzlich gewann Nathan den Ersten Preis beim Nationalen Albert-Schweitzer- Cesena, Konservatorium »Gioachino Rossini«, Pesaro, Universität von Padua, Hoch- Orgelwettbewerb im September 2004. schule für Musik, Johannes Gutenberg-Universität , Fontys-Konservatorium, Til- Als Kirchenmusiker wirkt Nathan derzeit als Artist-in-Residence an der Amerikanischen burg (Holland), Accademia Mexicana de Música Antigua para Órgano, Mexico) und hat Kathedrale der Heiligen Dreifaltigkeit in Paris. Zuvor war er Orgel-Stipendiat an der Bryn konzertiert bei wichtigen Konzertreihen und Festivals in Italien und im Ausland (Öster- Mawr Presbyterian Church, Philadelphia, und an der historischen St. Luke’s Episcopal reich, Belgien, Tschechien, Slowakei, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Holland, Church in Germantown, Philadelphia, sowie beigeordneter Organist an St. Paul’s United Mexiko, Montenegro, Norwegen, Polen, Portugal, Serbien, Spanien, Schweiz, Ukraine), Church of Christ in Chicago. sowohl als Solist als auch in verschiedenen Kammermusikformationen und mit Orches- Nathan ist mit zahlreichen Orchestern, Kammermusik-Ensembles und Chören aufgetre- tern (L’Arte dell’Arco, Padua; Cappella della Pietà dè Turchini, Neapel; Orchestre National ten, insbesondere mit dem Philadelphia Orchestra unter der Leitung von Charles Dutoit du Capitole de Toulouse, Barockorchester Venedig).

86 87 Derzeit unterrichtet er Orgel und Komposition für Orgel am Konservatorium »F. Mor- Daten zur Geschichte der Stiftsorgeln lacchi« in Perugia. Für die Sammlung von Musik für Tasteninstrumente »Il Levante Libreria Editrice« (Tastata 1381 1. Orgel der Stiftskirche (einmanualig) collection) veröffentlichte er die Canzoni de intavolatura d’organo fatte alla francese (1599) 1580/81 Orgelrenovierung durch den »alten Mesner und Orgelmacher« Michel von Vincenzo Pellegrini (um 1562–1630). Schmid. Einspielungen hat er vorgelegt für Symphonia/Lucca (mit dem Ensemble Musica Prat- 1621 kam diese Orgel wohl nach Dürrmenz bei Mühlacker. tica), La Bottega Discantica/Mailand, Tactus/Bologna, ORF Edition-Alte Musik/Österreich, 1668/69 Neue Orgel in der Stiftskirche, von Hoforgelmacher Ehemann auf dem Lett- Dynamic/Genf (mit L’Arte dell’Arco), Arion – Pierre Verany/Paris, Motette/Düsseldorf ner erbaut, von Hoforgelmacher Würth auf 15 Register (I / P) erweitert. Diese (mit Andrea Marcon), Deutsche Grammophon (mit dem Barockorchester Venedig), CPO/ Orgel wird verschiedentlich erweitert und repariert, vor allem wird sie Georgsmarienhütte (Julius Reubke: Sämtliche Orgel- und Klavierwerke, mit Paolo 1791 von Orgelbaumeister Weinmar aus Bondorf auf 21 Register (II !/ P) erweitert. Marzocchi), Elegia/Turin, Antichi organi del canavese, Edizioni Leonardi/Mailand, Brilliant 1802/07 Nach der Erhebung Württembergs zum Königreich durch Napoleon und der Classics/Leeuwarden (mit Ad Corda). Hervorragende Besprechungen bei: Amadeus Säkularisierung »schenkt« König Friedrich I. der Stiftskirche die 1771–1777 (5 Sterne), CD Classics, Classic Voice (4 Sterne), Diapason (5 Diapason), Early Music Review, von Joseph Martin erbaute Orgel des Klosters Zwiefalten mit 64 Registern, da Fono Forum (4 Sterne), Goldberg (4 Sterne), La Tribune de l’Orgue, Le Monde de la Musique, er ein repräsentatives Instrument in seiner Stuttgarter Pfarrkirche braucht. Musica (Eccezionale), Organist’s Review, The American Organist, American Record Guide. 1808–10 Die Orgel wird zunächst im Chor, wieder auf dem Lettner, aufgestellt www.lucascandali.it (s. Zeichnungen von Hofbaumeister N. Thouret). 1837 Die Zwiefaltener Orgel wird von Eberhard Friedrich Walcker auf die »Sing­ empore« (Westempore) versetzt. 1845 Die Orgel erhält Kegelladen und wird auf 70 Register erweitert, weitere kommen später hinzu, sowie vor allem eine zweite Pedalklaviatur. Von der Zwiefaltener Orgel bleiben bis zuletzt 31 Register erhalten. 25.7.1944 Beim Luftangriff mit weitgehender Zerstörung der Stiftskirche wird auch die Orgel völlig zerstört. 1953 Einbau der Chororgel durch die Firma Weigle mit 15 Registern (incl. 3 Oktav­ auszügen) auf zwei Manualen und Pedal 1958 Einbau der Hauptorgel durch die Firma Walcker im wieder aufgebauten Schiff der Stiftskirche mit 84 Registern, elektropneumatischen Schleifladen und fahrbarem Spieltisch. Das Rückpositiv wird aus Platzgründen später in die Seitennische versetzt. 1971 Zur Verbesserung des Klangs (seiner Präsenz) im Kirchenschiff erhält die Orgel zwei horizontale Trompeten im Hauptwerk. 1999 Vor der Renovierung der Stiftskirche wird die Orgel abgebaut und bis auf 352 Pfeifen (insbesondere 32’) nach Oberschlesien (Zory) verkauft. Seit 1994 Planungen zum Bau einer neuen Orgel 2003/04 Nach der Wiedereröffnung der Stiftskirche Einbau der neuen Orgel durch die Firma Mühleisen / Leonberg, die nach zahlreichen Orgelfahrten, Ausschrei- bungen und Angebotsdurchgängen den Auftrag erhalten hatte; Einweihung der Orgel am 29. August 2004.

88 89 Disposition der Mühleisen-Orgel

Werkstätte für Orgelbau Mühleisen (Leonberg) 2004 (81 Register + Glockenspiel, Glocken und Zimbelstern)

Hauptwerk (II) C–a’’’ Rückpositiv (I) C–a’’’ Schwellpositiv (III) C–a’’’ Schwellwerk (IV) C–a’’’ Pedal, C–f’ Principal 16’ Principal 8’ Salicional 16’ Lieblich Gedeckt 16’ Principal 32’ Bordun 16’ Bifara 8’ ab go Principal 8’ Geigenprincipal 8’ Grand Bourdon 32’ Principal 8’ Gedeckt 8’ Concertflöte 8’ Holzflöte 8’ Principal 16’ Flûte harmonique 8’ Quintade 8’ Salicional 8’ Lieblich Gedeckt 8’ Subbass 16’ Gemshorn 8’ Oktave 4’ Unda maris ab co Gamba 8’ Offenbass 16’ Rohrflöte 8’ Rohrflöte 4’ Bourdon 8’ Aeoline 8’ Harmonikabass 16’ Viola da Gamba 8’ Sesquialtera 2f. Principal 4’ Vox coelestis 8’ ab co Octavbass 8’ Oktave 4’ Oktave 2’ Traversflöte 4’ Principal 4’ Bourdon 8’ Tibia 4’ Flöte 2’ Nasard 2 2/3’ Fugara 4’ Violoncell 8’ Quinte 2 2/3’ Quinte 1 1/3’ Waldflöte 2’ Flûte octaviante 4’ Quinte 5 1/3’ Oktave 2’ Scharff 4f. 1 1/3’ Terz 1 3/5’ Flautino 2’ Choralbass 4’ Mixtur maior 4f. 2 2/3’ Fagott 16’ Septime 1 1/7’ Progressio harmonica 3–5f. 2 2/3’ Hintersatz 4f. 2 2/3’ Mixtur minor 5f. 2’ Trompete 8’ Piccolo 1’ Tuba 16’ Kontraposaune 32’ Cornett 5f. ab go Krummhorn 8’ Mixtur 4f. 2’ Trompette harmonique 8’ Posaune 16’ Trompete 16’ Glockenspiel c0–d 3 Trompete 8’ Oboe 8’ Fagott 16’ Trompete 8’ (mit Sordino ein/aus) Clarinette 8’ (mit eigenem Clairon 4’ Trompete 8’ Chamade 8’ Tremulant Windschweller) Tremulant Clarine 4’ Vox humana 8’ Glocken G–g1 Tremulant Zimbelstern (8 Glocken) mechanische Spieltraktur, mechanische und (für IV. Manual) elektrische Koppeln Doppelregistratur mechanisch/elektrisch, elektronisches Speichersystem (30 x 1000 Kombinationen) Koppeln I/II, III/II, IV/II, III/I, IV/I, IV/III, I/P, II/P, III/P, IV/P, IV/IV 4’, IV/IV 16’, IV/III 16’, IV/II 16’, III/III 16’, IV/P 4’ Winddrosseln

Registermechanik

90 91 Die Organistinnen und Organisten in den Orgelsommern der letzten zehn Jahre (= seit der Wiedereröffnung der 1977 gegründeten Reihe nach dem Orgelneubau am 29. August 2004)

Roberto Antonello, Treviso (2008) Peter Planyavsky, Wien (2004) Iveta Apkalna, Reze–kne (2004) Martin Sander, Berlin (2005) Martin Baker, London (2012) Luca Scandali, Pesaro/Italien (2009) Jennifer Bate, London (2010) Liesbeth Schlumberger, Lyon (2011) Frédéric Blanc, Paris (2008 Stiftsmusikfest) Alexej Schmitov, Moskau (2007) Hayo Boerema, Rotterdam (2010) John Scott, New York (2009) Christoph Bossert, Würzburg (2010) Alexey Schmitov, Moskau (2007) David Bridge, Boston/MA (2008) Michael Schöch, Innsbruck (2012) Bine Katrine Bryndorf, Kopenhagen (2005) Christoph Schoener, Hamburg (2008) Maurice Clement, Luxemburg (2009) Wolfgang Seifen, Berlin (2005) Paolo Crivellaro, Berlin (2006) Dong-Ill Shin, Dallas (2009) Andrew Dewar, Stuttgart (2006) Roland Maria Stangier, Essen (2007) Stefan Engels, Leipzig/Charleston (2006, 2011) Bernadetta Sˇunˇavská, Stuttgart/Bratislava (2011) David Enlow, New York (2012) Sergej Tcherepanov, Lübeck (2011) Thierry Escaich, Rosny-sous-Bois (2012) Stephen Tharp, New York (2008, 2011) Jürgen Essl, Stuttgart (2005) Pieter van Dijk, Alkmaar (2007) Hans Fagius, Lund (2008 Stiftsmusikfest) Ben van Oosten, Den Haag (2012) László Fassang, Budapest (2004, 2010) Leo van Doeselaar, Berlin/Amsterdam (2006) Michael Gailit, Wien (2008) Riika Viljakainen, Finnland (2006) Cristina García Banegas, Uruguay (2009) Daniel Zaretsky, St. Petersburg (2004, 2010) Arvid Gast, Lübeck (2012) Elisabeth Zawadke, Luzern (2012) Jean-Christophe Geiser, Lausanne (2005) Wolfgang Zerer, Hamburg/Basel (2005) Bernhard Haas, Stuttgart (2009 Orgelmusik zum Weihnachtsmarkt) Naji Hakim, Chatou (2005, 2009) Yuka Ishimaru, Niigata (2012) Kay Johannsen, Stuttgart (1994–2012) Barry Jordan, Magdeburg (2009) Kalevi Kiviniemi, Lahti (2004, 2008 Stiftsmusikfest) Samuel Kummer, Dresden (2009) Ludger Lohmann, Stuttgart (2006) Christophe Mantoux, Paris/Straßburg (2008) Wayne Marshall, London/Valetta auf Malta (2010) Thierry Mechler, Köln/ Guebwiller (2010) Florian Pagitsch, Wien (2006) Won Sun Park, Seoul (2006, 2011) Jane Parker-Smith, London (2011) Pier Damiano Peretti, Italien/Wien (2010)

92 93 Die schönsten Zitate aus dem Orgel-Gästebuch 6. Juli 2012 – Elisabeth Zawadke der Stiftsmusik (2004–2012) »Es war mir eine ganz große Freude, viele (Nacht-)Stunden an diesem wunderschönen und inspirierenden Instrument zu verbringen! 1. Oktober 2004 (Orgelfestwochen) – Daniel Zaretsky (St. Petersburg) Ganz herzlichen Dank für die Einladung zum Konzert, die mich sehr gefreut hat! »Wunderbares Zusammenspiel von Orgel und Raum…« Danke auch für die perfekte Organisation, den guten Registranten und das schöne Zusammensein! Alles Gute für diese Reihe und für Ihre Arbeit und viele inspirierende 29. Juli 2005 – László Fassang (Budapest) Erlebnisse mit dieser wunderbaren Orgel!« »Für solche Instrumente lohnt’s sich, Orgel zu spielen.« 13. Juli 2012 – Martin Baker 25. August 2006 – Stefan Engels (Leipzig) »Thank you for the opportunity to play this magnificant instrument, and to such a great »Für mich ist diese Orgel eine der besten, die ich in den vergangenen Jahren gespielt audience! I have had such an enjoyable stay in Stuttgart – thanks for the hospitality and habe. Die klanglichen Möglichkeiten sind so vielseitig und ausgewogen, dass man sich all best wishes for the continuation of the concert series. Martin Baker, Westminster stundenlang der Klänge erfreuen kann.« Cathedral.«

3. August 2007 – Vincent Warnier (Paris) 3. August 2012 – Michael Schöch »Es war eine große Ehre, auf dieser herrlichen Orgel spielen zu dürfen…Viele Eindrücke, »Ein großartiges Erlebnis, auf dieser herrlichen Orgel mit ihren vielfältigen Farben und viele Emotionen heute Abend in der Stiftskirche für mich.« Klängen zu spielen! Eine wahre ›Königin der Instrumente‹! Michael Schöch«

10. August 2007 – Alexej Schmitov (Moskau) 10. August 2012 – Ben van Oosten »Das Publikum war voll Wärme und Einfühlungsvermögen. Ich genoss den emotionalen »Vor fast 20 Jahren war ich hier zum letzten Mal, es hat sich aber in der Stiftskirche viel Kontakt mit den Zuhörern während und nach dem Konzert.« geändert! Ein vielseitiges Instrument mit einer reichen Klangpalette strahlt jetzt in dieser Kirche und es war für mich eine große Freude diese Orgel zu spielen! Was sich nicht 4. Juli 2008 – Kalevi Kiviniemi (Lahti) geändert hat, ist das begeisterte Publikum! Vielen Dank, auch für die Gastfreundschaft »Großartiges Publikum und wunderbar, wieder hier zu sein.« und die ausgezeichnete Organisation. Es war schön hier! Ben van Oosten« P.S. »Alles was lekker!« 7. August 2009 – Barry Jordan (Magdeburg) »Vielen Dank für die Einladung, diese wunderbare Orgel kennen zu lernen. Die Liebe 17. August 2012 – Yuka Ishimaru reifte über Nacht … Dazu Deutschlands bestes Publikum!!!« »Vielen Dank für die Einladung!! I really enjoyed this wonderful instrument… she (or he?) has so many beautiful 8-feets! The time you gave me for the practice was very precious, 21. August 2009 – Samuel Kummer (Dresden) and it is my great honour to be able to play in my second hometown Stuttgart!« »Tolles Publikum in der Stiftskirche, tolle Arbeit aller, die an der Stiftskirche tätig sind …« 24. August 2012 – David Enlow 13. August 2010 – Pier Damiano Peretti (Wien) »Vielen Dank! It has been wonderful to be with you in Stuttgart at one of the finest & most »Ein Kompliment zu dieser so vorbildlich organisierten Kirchenmusik, zu diesem groß- congenial organs I know! Everything has been wonderful. Alles wunderbar! Danke schön!« artigen, inspirierenden Instrument, zum tollen ›Teamgeist‹, der hier herrscht.« 31. August 2012 – Arvid Gast 22. Juli 2011 – Jane Parker-Smith (London) »Vielen Dank für die Einladung, hier an dieser wirklich außergewöhnlichen Orgel spielen »What a wonderful experience and great joy it was to give a concert on the Mühleisen zu können. Gerade der Reubke hat ein besonderes Vergnügen bereitet: Kraft, Lyrik, organ in the Stiftskirche, Stuttgart. As an international concert organist, I have performed geheimnisvolle Klänge, leise Stimmen, die (…?) in das ›Nichts‹ führen, haben der Reubke- on some of the finest organs in the world and consider this great organ, with its elegant Sonate optimale Klänge verliehen. Ganz großartig! Alles Gute für diese Konzertreihe and exciting sounds, to be one of the best and ideal for the broadest repertoire. Thank you wünscht Arvid Gast.« so much for inviting me and for the kind hospitality.«

94 95 Diskographie Kay Johannsen Die folgenden und viele weitere CDs können Sie nach den Konzerten oder Mo–Do 10–19 Uhr, Fr+Sa 10–16 Uhr am Infostand in der Stiftskirche oder über den Fachhandel erwerben. Die Preise gelten für den Verkauf in der Stiftskirche.

Christmas (1 CD, 15 Euro) Improvisationen über internationale Weihnachtslieder an der Orgel der Stifts- kirche Stuttgart (Carus 83.368) »Wer noch nicht wusste, wie lebendig, musikalisch und hintersinnig Stuttgarts Stiftskantor Kay Johannsen auf der Mühleisen-Orgel der Stiftskirche improvisieren kann, wird bei dieser CD aus dem Staunen nicht herauskommen« (Stuttgarter Nachrichten)

Lieder zu Advent und Weihnachten (1 CD, 15 Euro) Improvisationen an der Orgel der Stiftskirche Stuttgart (Carus 83.179) »Fünfundzwanzig Titel sind auf dieser … CD versammelt, die man einfach wieder und wieder hören möchte. Denn Johannsen lehnt sich eng an Atmosphäre und Text der Lieder an und übersetzt sie kongenial in Orgelsprache.« (Stuttgarter Zeitung) »Johannsen trifft mit seinen programmmusikalischen, textdeutenden und prägnanten Improvisationen den Nerv auch anspruchsvoller Hörer.« (klassik-heute)

Passion (1 CD, 15 Euro) Improvisationen zu Passion und Ostern an der Orgel der Stiftskirche Stuttgart (Carus 83.174) »Nach exakt 53 Minuten und 49 Sekunden Spielzeit mit Improvisationen über elf Lieder zum Thema »Passion« und zehn zum Thema »Ostern« findet man sich tief berührt wieder, aber auch fasziniert von der Farbenvielfalt, mit der Johannsen jedes Lied entweder als ein schmerzensreiches Miniaturdrama oder als einen Freudenhymnus charakterisiert.« (Stuttgarter Zeitung)

Johann Sebastian Bach: Das gesamte Orgelwerk (17 CDs, 79 Euro) an der Mühleisen-Orgel der Stuttgarter Stiftskirche (Mitschnitt des Zyklus’ 2007) »Die Klangsinnlichkeit, von der so oft die Rede ist bei Bachexegeten, die aber bei vielen hinter der Mühe verschwindet, komplizierte Stimmverläufe abzubilden – sie wurde von Johannsen selbst in den vordergründig spröden Neumeister-Chorälen erlebbar, denn er lauscht den scheinbar kühl wirkenden Konstruktionen ihre sprachbildliche Qualität ab. Das ist die Kunst, von der Bach träumte.« (Stuttgarter Zeitung)

Louis Vierne: Pièces de Fantaisie, Suiten I bis IV (2 CDs, je 15 Euro) an der Kern-Orgel der Frauenkirche Dresden (Carus 83.250 & 83.251) »Kay Johannsen nutzt die klanglichen Möglichkeiten der französischen Kern-Orgel voll aus und verbindet seine feinfühlige­ Interpretation gekonnt mit der außergewöhnlichen Akustik der Frauenkirche Dresden« (Musik in Sachsen)

Felix Mendelssohn Bartholdy: Sechs Sonaten op. 65 (1 CD, 15 Euro) an der Rensch-Orgel in St. Adalbero, Würzburg (Carus 83.167) »Der Organist der Stuttgarter Stiftskirche spielt Mendelssohn sozusagen auf der Kante der Orgelbank sitzend – elektrisiert und hellhörig an jeder Stelle. Da klingt keine Phrase verwa- ckelt, kein Takt verschwommen, nichts wird breit­getreten. Eine ungewöhnlich tiefe Aus- drucksintensität gewinnt Johannsen vielmehr aus seinem kontrollierten und ganz und gar unpathetischen Spiel – mit subtiler Phrasierung und Artikulation, mit stilsicherer Registrie- rung … und mit oftmals überraschend zügigen Tempi, in denen die lyrischen Kantilenen … wunderbar dahinströmen, ohne ins Unendliche auszufransen.« (Musik & Kirche)