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FUSSBALL „Alles liegt im Nebel“ Im Trainingslager der deutschen Mannschaft in überrascht Bundestrainer seine Spieler mit einem gewandelten Führungsstil. Viele der Profis läßt er im unklaren über ihre Rolle; in subtilen Machtkämpfen wird die Hierarchie neu geordnet.

ls sich die Türen des Mannschafts- ein griechisch-römischer Würgegriff und wieder herbeischaffen müssen, der sie vor busses öffneten, waren es nur ein damit wie ein Beweis seiner Manneskraft zwei Jahren bei der Europameisterschaft Apaar Meter über den Pier bis zum aussah; Jürgen Klinsmann schrieb freund- zur „stabilsten und stärksten aller Mann- Ausflugsdampfer namens „Finlandia Prin- lich Autogramme für einen Behinderten; schaften“ (Vogts) gemacht hat. cess“ im Hafen von Helsinki. Aber als ein nur Thomas Häßler trottete wieder so trau- Sie wissen auch, wie das theoretisch Häuflein Fotografen die Objektive hob, rig daher, als hätten die anderen ihn zwar geht: Jeder sagt jederzeit, nicht er sei wich- funktionierten die Reflexe der deutschen eingepackt und mitgebracht, aber dann tig, sondern die Truppe; jeder hält die Klap- Nationalspieler zuverlässig. Fußballprofis, doch vergessen, sich um ihn zu kümmern. pe, wenn ihn die Journalisten provozieren sagt Bundestrainer Berti Vogts, seien so Die Nationalmannschaft ist in diesen wollen; denn keiner darf, so Klinsmann, sehr auf Selbstdarstellung trainiert, daß sie Wochen nicht nur jener Männerbund, den „dem anderen auf den Geist gehen, wenn manchmal schon grinsen, „wenn das Rot- Berti Vogts „Schweißgemeinschaft“ nennt. man eine gute Stimmung aufs Feld über- licht einer Verkehrsampel angeht“. Da kämpfen auch 22 Profis um elf Start- tragen will“. Also kniff Andreas Möller die Äuglein plätze für die WM – und eine Handvoll Wenn das aber nur so einfach wäre. zusammen und blickte finster wie ein von ihnen ganz subtil um die Chefrolle. Denn schon nach wenigen Tagen im fin- Gangster; scherzte jovial, Natürlich sind die meisten sehr selbstsi- nischen Frühling spüren sie, daß alles ein die „Neue Revue“ müsse leider draußen cher nach Helsinki geflogen, weil sie schließ- wenig anders geworden ist seit der EM 1996 bleiben; Lothar Matthäus nahm Oliver lich Weltmeister werden wollen; und allen in England. Der einst so gehemmte Trainer Bierhoff in den Arm, was allerdings wie ist bewußt, daß sie dafür jenen „Teamgeist“ hat seinen Führungsstil geändert, er kommt FOTOS: DPA FOTOS: Kapitän Klinsmann (mit Stürmerkollege Kirsten in Helsinki): „Den letzten ganz großen Erfolg anstreben“

222 der spiegel 22/1998 seltsam entspannt daher Europameisterschaft sei dann alles „abso- und zugleich distanziert – lut perfekt“ verlaufen, und da müsse man und das irritiert. nur weitermachen. Das weiß der Bundes- Vogts, früher ein alles trainer aber besser. verzeihender Ersatzvater, Manches, gibt er zu verstehen, sei selbst war zuletzt nämlich sehr in England vorgefallen, was nur keiner er- enttäuscht von „meinen fahren habe. Und als nach dem Turnier die Männern“. Darum hat er Münchner und Thomas einen Spieler wie René Strunz dem Dortmunder Libero Matthias Schneider öffentlich ge- Sammer vorhielten, überschätzt worden schlachtet, der in England und feige zu sein, habe das Team „vor der „420000 Mark fürs Nichts- Spaltung gestanden“. Also traf Vogts die tun gekriegt“ und noch im- Bayern im Münchner Hilton und die Riva- mer gemeckert habe. Dar- Deutsche Nationalspieler*: Blödeln und beobachten len bei einem Italiener in , er um hat er Matthäus zurück- kam sich dabei vor „wie auf Friedensgip- geholt, die Hackordnung feln“ und zugleich wie im Kindergarten. durchgeschüttelt und die Deshalb hat er Scholl, der auch noch alten Klarheiten beseitigt: verkündet hatte, nicht als Nummer drei Wer spielt, wer hat etwas zu hinter Häßler und Möller mitfahren zu melden, wen mag der stren- wollen, zu Hause gelassen: „Daran muß ge Papa noch? „Alles liegt sich ein Trainer auch mal erinnern.“ Und im Nebel“, sagt Klinsmann. auf den faulen hat er ebenso Das macht das zehntägige verzichtet, der „soviel verschenkt hat, das Trainingslager in Helsinki ist unglaublich“. Fitneß, das weiß einer wie beinahe so interessant wie Vogts seit 40 Jahren, „ist der Schlüssel“. den Wahlkampf der SPD. Daß durchaus schon ein WM-Achtel- Schon die Frage, wie der finale gegen Holland das Ausscheiden be- alte Vorsitzende Klinsmann deuten kann, fürchtet Vogts, und ein und Matthäus, der Kandidat bißchen erwartet er es sogar. Er arbeitet des Volkes, nun ihren Zwist deshalb daran, daß dann nicht wieder er im Dienst dieser Aufgabe für das Opfer einer Nation wird, „die Nieder- den „gesamten deutschen lagen nicht akzeptieren“ könne. Also darf Fußball“ (Matthäus) zügeln, er vorher nicht wieder als alleiniger großer wird ja womöglich in drei Tölpel beschrieben werden, sondern, wenn Wochen mit einem Kollaps es denn schon schiefgehen sollte, doch lie- gegen die USA beantwortet ber als großer Chef vieler kleiner Tölpel. werden, vielleicht allerdings Natürlich versucht er in Helsinki trotz- auch erst in sieben Wochen dem eine Mannschaft zu formen, die wie- mit einem Finalsieg gegen der „deutsch spielt“ und „mit Kampf und

Brasilien. M. ROSE / BONGARTS Willenskraft jedes Tempo gehen kann“. Was aber wird in Frank- Trainer Vogts: „Eine Mannschaft, die deutsch spielt“ Der Dortmunder soll ihm reich aus , der mit dabei helfen, der „mit seiner Dynamik und Matthäus konkurriert und darauf hinweist, sagt Vogts gern. Und er meint es ja nicht Begeisterung etwas wachrütteln“ kann – daß er „die letzten sechs Länderspiele von böse, denn natürlich liebt er seine Zieh- und ganz besonders Matthäus und Klins- Anfang an“ bestritten habe? Was wird aus kinder weiterhin – es bleibt ihm nur keine mann. Jürgen Kohler, der sich nur noch selbst für Wahl, denn er mußte um des Erfolgs wil- Der Münchner, der einst Vogts als Lüg- „den Stärksten von allen“ hält, was aus len „in der Mannschaftsführung dominan- ner und Klinsmann als Intriganten be- Bierhoff, den alle Blätter verehren, weil er ter auftreten“. zeichnet und daher im Nationalteam „eine in Italien Torschützenkönig wurde, nur Zu müde sind seine Spieler nach dieser Auszeit“ (Vogts) genommen hatte, gibt sich eben Vogts nicht, weil Bierhoff „seit No- Saison in der Geldmaschine , inzwischen gewendet. Selbst seinen Freund vember in der Nationalmannschaft kein die kaum Zeit für Trainingslager des DFB- von „Bild“ begrüßt er mit den Worten: Tor geschossen hat, was keiner schreibt“? Teams gestattet. Zu viele Gegentore fingen „Abstand, mein Lieber, mindestens fünf Fragen und Nebel allüberall. sich die Europameister deshalb in der WM- Meter.“ Denn was der Vergangenheit an- Gerade wegen dieser Situation saß Vogts Qualifikation. Zu ruhig und zu alt sind gehöre, gehöre der Vergangenheit an, er- am Donnerstag mittag zufrieden im Hotel wohl manche Spieler, auch wenn Vogts sie läutert er. Und in Zukunft, das sagt er mal, vor einem Panoramafenster, schaute über lieber „reif“ nennt. Und zu kaputt war die obwohl er eigentlich nichts mehr hinzufü- den See und lauschte einem Piano. In der vermeintlich heile Europameister-Truppe gen wolle, werde er sich einordnen. Bundesliga haben, so klagen die Trainer, im schon Wochen nach dem Sieg in Wembley. Das hört sich Klinsmann interessiert an. letzten Jahr die Spieler die Macht über- Allgemeine Sprachregelung in der Aber auch wenn er vorgibt, zufrieden zu nommen – wie niedlich. Im Nationalteam, Mannschaft ist, daß 1994 bei der Weltmei- sein, weil Matthäus sich entschuldigt habe, das sagt Vogts genußvoll, ist er der Chef. sterschaft in Amerika „alles Scheiße“ war, spricht er vorerst noch von „uns“ und In Wahrheit hat natürlich auch Vogts ge- weil da Spieler wie und „ihm“ – „uns“ sind die 21 vom Teamgeist gen die Millionäre nur noch zwei Mittel: Er morgens um sechs zum Beseelten, und „ihm“ ist Matthäus. kann sie aufstellen oder eben nicht, und er Golfen gingen, 18 Loch spielten und mit- Vogts weiß selbst, daß es riskant ist, auf kann „das Instrument der Medien benut- tags beim Training mit Sonnenbrand er- beide zugleich zu bauen, aber wenn es gut- zen“, um einen bloßzustellen. Aber weil er schienen; zwei Jahre später jedoch bei der geht, hat er wenigstens eine Achse. Mat- neuerdings beide Möglichkeiten ausreizt, thäus dürfe kein Duckmäuser sein, meint ist er in diesen Tagen ein stärkerer Boß als * Jürgen Klinsmann, Lothar Matthäus, er daher, sondern sei ein spielbestimmen- jeder Bundesligatrainer. „Das ist Fakt“, auf dem Ausflugsschiff „Finlandia Princess“ in Helsinki. der Mann; dessen Kollegen rechnen daher

der spiegel 22/1998 223 längst mit dem WM-Libero Matthäus. Und auch den bei Medien und Mannschaft an- gezweifelten Klinsmann hat Vogts wieder fest eingeplant, weil der im Training „mit Abstand der beste Stürmer“ sei. Der saß am Mittwoch auf einem Gar- tenstuhl am See und hatte noch nicht mal einen Verein für die nächste Saison, da er sich von Verhandlungen und Umzugsplä- nen von der WM nicht ablenken mag. Nur den „letzten ganz großen Erfolg“ strebt er noch an, und einen zweiten Weltmeister- titel kann seinetwegen dann auch Matthäus haben; „er kann uns schließlich helfen“, so professionell ist Klinsmann allemal. Was aber bleibt für die anderen, um sich der Stammelf zu nähern? Neben der tägli- chen Pressekonferenz vor allem das Trai- ning: Da läßt Jürgen Kohler einen Fehlpaß von demonstrativ mit weit gespreizten Beinen vorbeikullern – hat es jemand nicht gesehen? Und selbst Ersatz- tormann fragt den Torwart- trainer , ob er sich „immer hin- werfen“ müsse – einer wie er könnte den Ball auch stehend fangen. Vor den Reportern preisen zwar alle die Mannschaft, aber anschließend sich selbst. Oliver Bierhoff zum Beispiel erzählt lieb und leise von seinen 27 Toren, einem „Nachkriegsrekord in Italien“, und davon, daß der weltbeste Stürmer Ronaldo noch so jung sei, daß er auch im nächsten Jahr um die Torjägerkanone ringen könne. Und Pariser Vorort Saint-Denis, Stade de France: Spitzenplätze in Sachen Diebstahl, illegale Olaf Thon merkt mal an, daß viele Men- schen Libero spielen könnten; „die Frage ist nur: wie?“ WELTMEISTERSCHAFT So ist zwar alles Teamgeist in Helsinki, aber unterschwellig ist alles Hahnenkampf. Und so ist die Stimmung auch, als der Rad- Der Geruch des Geldes dampfer, mit dem DFB-Troß auf dem Oberdeck, vergangenen Donnerstag an zahllosen Inselchen vorbeischippert. Der Sieger der Fußball-WM 1998 wird im neuen Stade de France Die meisten Spieler blödeln fröhlich, gekürt. Gleich hinter den Eisengittern der dreiviertel trinken ein Gläschen und beobachten sich. Milliarden Mark teuren Arena im Pariser Vorort Saint-Denis Am lautesten ist Matthäus: Der erklärt Bierhoff sein dolles Handy und kommen- aber liegt das Revier der Verlierer. Von Walter Mayr tiert die Kleidung der wenigen an Bord befindlichen Damen. Nur Häßler, der in icht auszudenken, wenn bei den 1996 „gefährdete städtische Zone“ – ein die zweite Liga abgestiegen ist, läßt seine Deutschen wieder einmal alles gut- soziales Sprengstofflager erster Güte ge- linke und seine rechte Hand mit zwei Holz- Nginge bis zum Finale, und dann, wissermaßen. spießen gegeneinander fechten, bis end- ausgerechnet, der letzte Schritt schief: die Francs-Moisins, wie das gesamte kom- lich einer mit ihm redet. Busfahrt zum entscheidenden Spiel der munistisch regierte Hinterland des schön- Wie denn so ein Teamgeist eigentlich XVI. Fußball-Weltmeisterschaft. sten Stadions der Welt, steht für Superlati- aussehe, hat sich Thon, von den anderen Zwar liegt es verkehrsgünstig, „das ve anderer Art: in Sachen Diebstahl, ille- wegen seiner feinen Rhetorik „Professor“ schönste Stadion der Welt“, wie es der Fifa- gale Einwanderung, Rauschgifthandel und genannt, schon immer gefragt; vielleicht Präsident João Havelange nennt – das na- Aidserkrankungen belegt der Stadtteil sei der ja ein richtig schreckliches Ge- gelneue Stade de France, in dem der Titel- nationale Spitzenplätze. Komplette Sied- spenst. Ach nein, sagt er dann und klopft kampf am 10. Juni eröffnet und am 12. Juli lungen hier gelten für Fremde als tabu – für sich auf die Brust, „der sitzt hier drinne“. entschieden wird. Mit Donnerhall kreuzen schwarzrotgold getünchte Busse voller fuß- Das sieht Lothar Matthäus allerdings an- sich hier in Saint-Denis, fünf Kilometer ballspielender Millionäre ohnehin. ders. In so einem Trainingslager, sagt der, nördlich der Pariser Stadtgrenze, die Au- Höchstens „Köpkö“, jedem Kleindealer müsse man den Geist immer erst suchen, tobahnen A 1 und A 86. hier als Torwart-As von Olympique Mar- und niemand kenne ihn vorher. Doch Eine einzige Sekunde Unachtsamkeit al- seille vertraut, könnte vermitteln; Klins- Teamgeist hin oder her, klar sei ja, daß der lerdings, nur eine Autobahn-Ausfahrt zu mann, ehemals AS Monaco, wäre immer- eine in dieser Truppe „unterschiedlicher spät, schon wäre Bertis Truppe im Schla- hin noch imstande, dem Ost-Kameraden Charakterien“ stärker dirigiere als der an- massel: Saint-Denis, Stadtteil Francs-Moi- Kirsten altvertraute Losungen an den Pla- dere, und „damit habe ich keine Probleme, sins, Luftlinie 400 Meter vom Stadion, ist katwänden zu verdeutschen: „Steht auf ge- das war schon immer mein Ding“. ™ laut Dekret des französischen Premiers von gen Arbeitslosigkeit und Elend.“ Und der

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