Plenarprotokoll 16/39

Deutscher

Stenografischer Bericht

39. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Inhalt:

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Dr. (FDP) ...... 3561 A nung ...... 3533 A Dr. Peter Struck (SPD) ...... 3566 A Absetzung des Tagesordnungspunktes I.13 d . . 3534 B (FDP) ...... 3570 A Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- Dr. Peter Struck (SPD) ...... 3570 B neten ...... 3612 A Dr. (DIE LINKE) ...... 3570 D Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt I: DIE GRÜNEN) ...... 3571 C a) Zweite Beratung des von der Bundesregie- Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) ...... 3572 D rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Feststellung des Bundes- Petra Merkel (Berlin) (SPD) ...... 3574 D haushaltsplans für das Haushaltsjahr Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) 3577 D 2006 (Haushaltsgesetz 2006) (Drucksachen 16/750, 16/1348) ...... 3534 B (SPD) ...... 3579 B b) Beratung der Beschlussempfehlung des Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) ...... 3580 B Haushaltsausschusses zu der Unterrich- Monika Griefahn (SPD) ...... 3580 D tung durch die Bundesregierung: Finanz- plan des Bundes 2005 bis 2009 Jörg Tauss (SPD) ...... 3581 A (Drucksachen 16/751, 16/1348, 16/1327) 3534 B Namentliche Abstimmung ...... 3582 C 6 Einzelplan 04 Ergebnis ...... Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt 3582 D (Drucksachen 16/1304, 16/1324) ...... 3534 C 7 Einzelplan 05 Rainer Brüderle (FDP) ...... 3534 D Auswärtiges Amt Dr. , Bundeskanzlerin ...... 3536 A (Drucksachen 16/1305, 16/1324) ...... 3585 A Dr. (DIE LINKE) ...... 3543 A (SPD) ...... 3548 C in Verbindung mit Dr. Guido Westerwelle (FDP) ...... 3549 C Zusatztagesordnungspunkt 2: Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3552 D Antrag der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: Neubesetzung des Amtes (CDU/CSU) ...... 3557 B des Koordinators für die deutsch-russische (BÜNDNIS 90/ zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit DIE GRÜNEN) ...... 3558 C (Drucksache 16/1885) ...... 3585 A II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Birgit Homburger (FDP) ...... 3585 B 9 Einzelplan 23 Lothar Mark (SPD) ...... 3587 A Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Monika Knoche (DIE LINKE) ...... 3589 C (Drucksachen 16/1319, 16/1324) ...... 3630 A (CDU/CSU) ...... 3591 B Hellmut Königshaus (FDP) ...... 3630 B Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ (Wismar) (SPD) ...... 3631 A DIE GRÜNEN) ...... 3594 A Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 3632 D Dr. Frank-Walter Steinmeier, (CDU/CSU) ...... 3634 C Bundesminister AA ...... 3595 C (BÜNDNIS 90/ Jürgen Koppelin (FDP) ...... 3598 B DIE GRÜNEN) ...... 3636 C (CDU/CSU) ...... 3599 B Dr. (SPD) ...... 3638 A (DIE LINKE) ...... 3600 D Dr. (FDP) ...... 3639 B (Wiesloch) (SPD) ...... 3601 C Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . 3640 A Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ Heidemarie Wieczorek-Zeul, DIE GRÜNEN) ...... 3602 C Bundesministerin BMZ ...... 3641 B

Erika Steinbach (CDU/CSU) ...... 3603 D 10 Einzelplan 15 Michael Link (Heilbronn) (FDP) ...... 3605 A Bundesministerium für Gesundheit Axel Schäfer (Bochum) (SPD) ...... 3605 D (Drucksache 16/1324) ...... 3642 B Dr. Claudia Winterstein (FDP) ...... 3642 C (CDU/CSU) ...... 3606 C (SPD) ...... 3643 D Namentliche Abstimmung ...... 3608 A Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 3646 C (CDU/CSU) ...... 3648 C Ergebnis ...... 3610 A (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3650 B 8 Einzelplan 14 , Bundesministerin BMG . . . . . 3652 D Bundesministerium der Verteidigung (Münster) (FDP) ...... 3655 D (Drucksachen 16/1313, 16/1324) ...... 3608 A Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) ...... 3657 A (FDP) ...... 3608 B (CDU/CSU) ...... 3659 C Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU) ...... 3612 A Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 3612 D 11 Einzelplan 06 Bundesministerium des Innern Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) ...... 3614 B (Drucksachen 16/1306, 16/1324) ...... 3661 B Johannes Kahrs (SPD) ...... 3615 C Jürgen Koppelin (FDP) ...... 3616 A in Verbindung mit Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3618 C Zusatztagesordnungspunkt 3: Dr. , Bundesminister BMVg 3619 D Antrag der Abgeordneten , Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Gisela Jürgen Koppelin (FDP) ...... 3622 A Piltz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ulrike Merten (SPD) ...... 3623 A der FDP: Konsequenzen ziehen aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom Katrin Kunert (DIE LINKE) ...... 3624 A 30. Mai 2006 zur Weitergabe europäischer Fluggastdaten an die Vereinigten Staaten (BÜNDNIS 90/ von Amerika DIE GRÜNEN) ...... 3625 B (Drucksache 16/1876) ...... 3661 C Thomas Kossendey (CDU/CSU) ...... 3626 C Gisela Piltz (FDP) ...... 3661 D Andreas Weigel (SPD) ...... 3629 A Dr. Michael Luther (CDU/CSU) ...... 3663 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 III

Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 3665 C die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2006 (Haushaltsgesetz (SPD) ...... 3667 A 2006); Einzelplan 04 – Geschäftsbereich der Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ Bundeskanzlerin und des Bundeskanzleram- DIE GRÜNEN) ...... 3669 B tes (Tagesordnungspunkt I.6) ...... 3675 C Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMI ...... 3671 A Anlage 3 Gerold Reichenbach (SPD) ...... 3673 A Erklärung des Abgeordneten Dr. Hermann Nächste Sitzung ...... 3674 D Scheer (SPD) zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärti- gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundes- Anlage 1 regierung: Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 3675 A EUFOR RD CONGO zur zeitlich befristeten Unterstützung der Friedensmission MONUC der Vereinten Nationen während des Wahlpro- Anlage 2 zesses in der Demokratischen Republik Erklärung der Abgeordneten Kongo auf Grundlage der Resolution (SPD) zur namentlichen Abstimmung über 1671 (2006) des Sicherheitsrates der Verein- die Beschlussempfehlung des Haushaltsaus- ten Nationen vom 25. April 2006 (37. Sit- schusses zu dem Entwurf eines Gesetzes über zung, Tagesordnungspunkt 3 a) ...... 3675 D

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3533

(A) (C) Redetext

39. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten , Irmingard Schewe-Gerigk, , weiterer Abge- Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die ordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Sitzung ist eröffnet. NEN Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Rechtsextremismus ernst nehmen – Bundesprogramme Civitas und entimon erhalten, Initiativen und Maßnah- Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge- men gegen Fremdenfeindlichkeit langfristig absichern führten Punkte zu erweitern: – Drucksache 16/1498 – ZP 1Beratung des Antrags der Abgeordneten Mechthild Überweisungsvorschlag: Dyckmans, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Jörg van Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Innenausschuss Bürokratie schützt nicht vor Diskriminierung – Allgemei- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe nes Gleichbehandlungsgesetz ist der falsche Weg Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss – Drucksache 16/1861 – (B) ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten , Diana (D) Überweisungsvorschlag: Golze, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Rechtsausschuss (f) LINKEN Innenausschuss Fortführung und Verstetigung der Programme gegen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Rechtsextremismus Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss – Drucksache 16/1542 – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Innenausschuss Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörn Wunderlich, , , weiterer Abgeordneter und der Neubesetzung des Amtes des Koordinators für die Fraktion der LINKEN deutsch-russische zwischengesellschaftliche Zusammenar- beit Elterngeld sozial gestalten – Drucksache 16/1877 – – Drucksache 16/1885 – Überweisungsvorschlag: ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Gisela Piltz, weiterer Ausschuss für Arbeit und Soziales Abgeordneter und der Fraktion der FDP ZP 7 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Er- Konsequenzen ziehen aus dem Urteil des Europäischen gänzung zu Tagesordnungspunkt III) Gerichtshofs vom 30. Mai 2006 zur Weitergabe europäi- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Götz, Dirk scher Fluggastdaten an die Vereinigten Staaten von Fischer (Hamburg), Dr. Klaus W. Lippold, weiterer Ab- Amerika geordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- – Drucksache 16/1876 – geordneten Petra Weis, Sören Bartol, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Überweisungsvorschlag: Stadtentwicklung ist moderne Struktur- und Wirt- Innenausschuss (f) schaftspolitik Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss – Drucksache 16/1890 – Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Tourismus Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Sportausschuss 3534 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Berichterstattung: (C) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- Abgeordnete Otto Fricke cherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Steffen Kampeter Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Erfurt) Ausschuss für Gesundheit Dr. Gesine Lötzsch Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.6 auf: b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Koczy, Jürgen Trittin, Undine Kurth (Quedlinburg), weiterer Ab- Einzelplan 04 geordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt Schaden von der Reputation der Osteuropabank ab- – Drucksachen 16/1304, 16/1324 – wenden – Das Öl- und Gasprojekt Sachalin II als Lackmustest für die Einhaltung internationaler Um- Berichterstattung: welt- und Sozialstandards Abgeordnete Steffen Kampeter – Drucksache 16/1668 – Petra Merkel (Berlin) Überweisungsvorschlag: Jürgen Koppelin Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Alexander Bonde Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Anna Lührmann Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Es liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke vor. ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten , Dr. Thea Dückert, Margareta Wolf (Frankfurt), weiterer Ab- Ich weise darauf hin, dass wir im Anschluss an die geordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Aussprache über den Einzelplan namentlich abstimmen GRÜNEN werden. Deutsche Steinkohle AG muss zügig belastbares Daten- material vorlegen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für – Drucksache 16/1672 – die Aussprache vier Stunden vorgesehen. – Ich höre kei- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Rainer Brüderle, FDP-Fraktion. (B) (D) Haushaltsausschuss (Beifall bei der FDP) Der Tagesordnungspunkt I.13 d entfällt, da der An- trag auf Drucksache 16/1681 zurückgezogen wurde. Rainer Brüderle (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kennen Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit Sie noch das Plakat der CDU „Deutschland braucht den erforderlich, abgewichen werden. Wechsel“ mit orangefarbenem Hintergrund? Schließlich möchte ich Sie schon heute darauf auf- (Zuruf von der CDU/CSU: Ja!) merksam machen, dass der Beginn der Plenarsitzung am Freitag auf 8 Uhr vorgezogen wird. Ich vermute, Sie haben damit nicht gemeint, dass die deutsche Nationalelf das Trikot der Holländer tragen Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – soll. Sie wollten einen Politikwechsel. Sie haben mehr Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- Freiheit versprochen. Nach sechs Monaten einer CDU- sen. Kanzlerin wissen wir nun, was Sie mit dem Wechsel ge- Wir setzen die Haushaltsberatungen – Tages- meint haben: mehr Steuern, mehr Staat, mehr Bürokra- ordnungspunkt I – fort: tie. Das ist Ihr Konzept. a) Zweite Beratung des von der Bundesregierung (Beifall bei der FDP sowie des Abg. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Die Empfehlungen des Sachverständigenrates, der Haushaltsjahr 2006 Bundesbank und des Bundespräsidenten werden igno- riert. Ein führender Sozialdemokrat beschimpft den (Haushaltsgesetz 2006) Bundespräsidenten als Besserwisser. Sie haben gestern – Drucksachen 16/750, 16/1348 – erkannt, dass Deutschland ein Sanierungsfall ist. – Das ist die Situation. Deshalb sollten wir nicht über den Re- b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haus- präsentationsetat der Kanzlerin sprechen, sondern über haltsausschusses (8. Ausschuss) zu der Unterrich- ihre Politik. tung durch die Bundesregierung (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) Finanzplan des Bundes 2005 bis 2009 Sie haben an dieser Stelle versprochen, mehr Freiheit – Drucksachen 16/751, 16/1348, 16/1327 – zu wagen. Ist es mehr Freiheit, wenn Sie die Menschen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3535

Rainer Brüderle (A) in Deutschland mit 20 Milliarden Euro pro Jahr mehr ab- (Beifall bei der FDP) (C) kassieren? Das ist nicht mehr Freiheit, das ist weniger Freiheit. Das ist die Realität. Mit der Forderung nach einer Eins-zu-eins-Umsetzung sind Sie in den Wahlkampf gezogen. Damals haben Sie, (Beifall bei der FDP – Petra Merkel [Berlin] Frau Bundeskanzlerin, wörtlich an die Adresse von Rot- [SPD]: Sie haben aber einen komischen Frei- Grün gesagt – ich zitiere –: Sie haben wieder draufgesat- heitsbegriff!) telt. Das sind die Leute leid, weil sie spüren, dass sie in Europa nicht mehr wettbewerbsfähig sind. – Das haben Statt mehr Eigenverantwortung bekommen wir mehr Be- Sie vor der Wahl richtig erkannt. Jetzt sind Sie als Bett- vormundung, statt mehr Freiheit mehr Regulierung. vorleger der SPD gelandet und setzen mit der SPD das Deutschland freut sich, wenn die Kanzlerin die National- um, was die Grünen wollten. elf anfeuert. Aber ein bisschen Schwung, wie Sie ihn im Dortmunder Westfalenstadion und gestern im Berliner (Beifall bei der FDP – Beifall beim BÜNDNIS 90/ Olympiastadion gezeigt haben, könnten Sie schon in die DIE GRÜNEN) Regierung mitbringen. Das Gleichbehandlungsgesetz läutet das Ende der Ver- Enttäuschung macht sich im Land breit. Manche keh- tragsfreiheit ein. Ihr Gesetz ist ein Antigleichbehand- ren Ihrer Partei den Rücken. Andere hoffen noch darauf, lungsgesetz. Die Benachteiligten werden noch weniger dass Sie sich zu mehr Freiheit bekennen. Chancen haben, da die Angst vor der Prozessflut dazu führt, dass es weniger Einstellungschancen gibt. Sie ha- (Zurufe von der CDU/CSU) ben vor der Wahl immer gesagt: Versprochen, gebro- Selbst Herr Thumann vom BDI hat seine vornehme Zu- chen. – Das haben Sie nach der Wahl vergessen. rückhaltung aufgegeben. Da hilft es auch nichts, dass Sie Meine Damen und Herren von der Union, Sie haben Herrn Röttgen aus Ihrer Prätorianergarde dorthin abord- sich das alte Weltbild der SPD überstülpen lassen. Das nen. Die Stimmung wird schlechter, weil keine entspre- ist das falsche Weltbild. Es ist von gestern. Die Sozialde- chende Politik umgesetzt wird. mokratisierung der Union ist erschreckend schnell vo- (Beifall bei der FDP – Steffen Kampeter rangeschritten. Wir werden von zwei sozialdemokrati- [CDU/CSU]: Dummes Zeug!) schen Parteien regiert. Nehmen wir nur die Familienpolitik. Weil Sie nicht (Beifall bei der FDP) mehr wissen, wen Sie eigentlich alimentieren bzw. un- Eine ist rot angestrichen, die andere ist schwarz angestri- terstützen wollen, erhalten alle ein bisschen. Sie schaffen chen und beide sind falsch programmiert. Das ist die Si- (B) neue bürokratische Regeln. Wahrscheinlich sind Sie tuation. (D) froh, dass es den Normenkontrollrat noch nicht gibt, und hoffen, dass die Menschen deshalb mehr Kinder (Beifall bei der FDP) kriegen. Es geht doch nicht um eine Art Zuchtprämie für Wir leben von Vielfalt. Gleichmacherei schafft nicht ein- Doppelverdiener; es geht um bessere Betreuung und da- mal Mittelmaß. rum, Familie und Beruf besser zu vereinbaren. Das muss Kernstück der Politik sein. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Substanzlose Rede!) (Beifall bei der FDP) Gleichmacherei ist die Orientierung an dem Schlechtes- Generell sollten Sie von der Subventionitis die Finger ten. Das sehen wir jetzt beim Streit über die Gesund- lassen. Sie haben vor wenigen Tagen die größte Steuer- heitsreform. Statt endlich mehr Wahlmöglichkeiten für erhöhung in der Geschichte des Landes im Bundesrat ab- alle zu schaffen, darf jetzt der politische Fliegenpilz segnen lassen. Sie mussten den Ländern 500 Millionen Lauterbach seinen Traum von der sozialistischen Ein- Euro zahlen, damit Sie eine Mehrheit bekommen. Auch heitsversicherung umsetzen. Das ist der falsche Weg. das muss der Steuerzahler blechen. Es bleibt dabei: Sie nehmen dem Bauern ein Schwein, geben ihm drei Kote- (Beifall bei der FDP – Zurufe von der CDU/ letts zurück und dafür soll er sich auch noch bedanken. CSU und der SPD: Oh!) Das ist keine überzeugende Politik. Sie sind dabei, das funktionierende System der privaten (Beifall bei der FDP) Krankenkassen kaputtzuschlagen. Die Einbeziehung der Privatversicherten in den Gesundheitsfonds kommt einer Dann „pofallat“ es in der Debatte über das Ehegatten- Enteignung gleich. splitting. Das ist eine Scheindebatte. Sie kennen die Ver- fassungslage. Ich kann dazu nur sagen: „Pofallala“. Das (Zurufe von der SPD: Oh!) ist kein Ansatz, der überzeugen kann. Sie haben selbst formuliert – ich zitiere Sie, Frau Merkel –: (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der Da, wo Sie falsche Konzepte vertreten wie zum Beispiel CDU/CSU) die Bürgerversicherung, würden Sie Deutschland nicht nutzen, sondern Deutschland schaden. – Das haben Sie Führen Sie eine Flat Tax mit anständigen Kinderfreibe- der SPD gesagt. Versprochen, gebrochen. Jetzt machen trägen ein! Dann haben Sie mit einem Schlag viele Pro- Sie etwas anderes. bleme gelöst. Beim Antidiskriminierungsgesetz hat die Union alle Vorsätze über Bord geworfen. (Beifall bei der FDP) 3536 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Rainer Brüderle (A) Die Union ist dabei, im Schatten des FC Klinsmann (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie (C) ein weiteres Wahlversprechen zu brechen. Im ganzen bei Abgeordneten der FDP) Land schwenken die Menschen die deutsche, schwarz- Ich bin ganz fest davon überzeugt, hier liegt der rot-goldgelbe Fahne. Die Autos fahren mit Fahnen durch Schlüssel für das Gelingen. Die Bürgerinnen und Bürger, die Städte. Der neue Fahnenpatriotismus ist die größte für die wir Politik machen, sind diejenigen, die unser Straßendemonstration gegen die große Koalition. Land stark machen. Politik setzt einen Rahmen; Politik (Lachen bei der CDU/CSU und der SPD) schafft Voraussetzungen; Politik muss deutlich machen, dass wir Vertrauen in die Menschen dieses Landes ha- Jede deutsche Flagge zeigt: Schwarz-rot allein reicht ben. Nur dann – davon bin ich überzeugt – können wir nicht. Da fehlt etwas. Da fehlt nämlich die gelbe Kraft, die Schwierigkeiten überwinden, vor denen wir stehen. die Vernunft. Dafür kämpfen wir. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der FDP – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Mainz bleibt Mainz, wie es Das gilt auch für die Schwierigkeiten in der Außenpo- stinkt und lacht! – Zurufe von der CDU/CSU litik. Ich möchte an dieser Stelle nur erwähnen, der Bun- und der SPD: Helau!) desaußenminister und ich haben in vielen Gesprächen mit einen Beitrag dazu geleistet, dass die Europäische Union zusammen mit den Vereinigten Staaten von Ame- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: rika, Russland und China dem Iran ein Angebot unter- Das Wort hat die Bundeskanzlerin der Bundesrepu- breitet hat. Ich hoffe, dass der Iran auf dieses Angebot blik Deutschland, Angela Merkel. eingeht und die Chance nutzt, einen Konflikt, der diese (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Welt bedrückt, zu beseitigen, und zwar auf diplomati- schem Wege. Ich hoffe, dass die Vernunft siegt. Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha- Wir haben auf der letzten Tagung des Europäischen ben in diesen Tagen die Welt zu Gast bei uns in Deutsch- Rates in Brüssel einen Beitrag dazu geleistet, Wege zu land. Deutschland hat lange auf das größte Sportereignis finden, wie die Europäische Union im Nahen Osten trotz nach den Olympischen Spielen hingearbeitet. Die Orga- der Anforderungen, die das Quartett im Nahostprozess nisatoren haben jede erdenkliche Mühe aufgewandt. Die mit Recht stellt, humanitäre Hilfe leisten kann. Trotzdem Wirtschaft hat geholfen, zum Beispiel mit der Kampa- sagen wir der Hamas ganz deutlich: Ihr müsst das Exis- gne „Deutschland – Land der Ideen“, unser Land nach tenzrecht Israels anerkennen; ihr müsst auf Gewalt als (B) innen und nach außen so zu präsentieren, wie es ist. Die Lösungsmöglichkeit verzichten; ihr müsst akzeptieren, (D) Politik hat das Menschenmögliche für die Sicherheit und dass der Verhandlungsprozess fortgesetzt wird. einen reibungslosen Ablauf getan. Viele Tausende Helfe- rinnen und Helfer haben keine Mühe und keine Zeit ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie scheut – sie tun das auch in diesen Tagen nicht – und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE sich freiwillig zur Verfügung gestellt. Hierfür möchte ich GRÜNEN) allen ganz herzlich danken. Wir haben einen Plan erarbeitet, wie wir den Verfas- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie sungsprozess in der Europäischen Union trotz aller bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- Schwierigkeiten fortsetzen können. Die deutsche Präsi- NISSES 90/DIE GRÜNEN) dentschaft wird einen Beitrag dazu leisten. Wir haben Ziele gesetzt, die etwas mit Wachstum und Beschäfti- 32 Fußballmannschaften geben ihr Bestes oder haben ihr gung in Europa zu tun haben. Deutschland muss seinen Bestes gegeben, darunter eine deutsche, auf die wir stolz Beitrag dazu leisten: Wir müssen zum Beispiel endlich sein können. wieder die Maastrichtkriterien einhalten. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie So, wie wir die Schwierigkeiten in der Außenpolitik bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- meistern können, wenn unsere Politik von einem Ver- NISSES 90/DIE GRÜNEN) trauen in die Menschen geprägt ist, so – davon bin ich überzeugt – werden wir auch die Schwierigkeiten in der Das alles ist aber nur Vorbereitung, Rahmen und Un- Innenpolitik meistern können, wenn wir eine Politik des terstützung, damit das Vorhaben gelingen kann. Das Ei- Dialogs auf die Beine bringen, die vom Vertrauen in die gentliche leisten die Bürgerinnen und Bürger dieses Lan- Bürger geprägt ist. des. Wie ich finde, tun sie das einfach großartig. Sie sind die eigentlichen Gastgeber. Sie feiern mit Begeisterung Es ist natürlich das eine, dass eine Opposition – Herr die Siege der eigenen und der anderen Mannschaften. Brüderle hat es heute wieder vorgemacht – über diesen Sie leiden mit, sie trösten sich gegenseitig und freuen und jenen Teilaspekt diskutiert und ihn kritisiert. sich miteinander. Wenn ich sehe, welches Potenzial an (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Begeisterung und Fröhlichkeit in unserem Lande steckt, GRÜNEN]: Keine Beleidigungen!) wenn ich sehe, wie andere in diesen Tagen von außen auf uns schauen und begeistert sind, dann wird mir nicht Das ist sicherlich auch die Funktion einer Opposition. bange, dass unser Land die Herausforderungen, vor de- Wir alle würden hier gern über Steuersenkungen spre- nen es steht, nicht meistern könnte. chen; wir würden gern Wohltaten verkünden; wir wür- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3537

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) den gern dies und jenes versprechen. Aber ich sage Ih- sei es der Bundesrechnungshof, sei es die Bundesbank, (C) nen: Ich habe eine andere Aufgabe, die Bundesregierung sei es die OECD –, weisen darauf hin, dass Steuererhö- hat eine andere Aufgabe und auch die sie tragenden Ko- hungen immer problematisch sind, dass sie aber zur alitionsfraktionen haben eine andere Aufgabe. Sie haben Konsolidierung unserer Haushalte notwendig sind. die Aufgabe, das Ganze zu sehen, die Dinge im Zusam- menhang zu sehen, weil es um ganz Deutschland und (Zuruf von der FDP: Falsch gelesen!) seine Zukunft geht. Deshalb haben wir an dieser Stelle Entscheidungen ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Fritz troffen; aber sie sind nicht singulär, nicht losgelöst, son- Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie dern ganz deutlich in ein Gesamtkonzept eingebettet, das können wegen Brüderle doch nicht die ganze heißt: Sanieren, Reformieren, Investieren. Genau daran Opposition beleidigen!) arbeiten wir seit sieben Monaten. Wer sich mit dem Haushalt beschäftigt, wer sich mit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Realität beschäftigt – dabei geht es nicht um Schuld- neten der SPD) zuweisungen –, der muss feststellen: Natürlich ist das Wir haben den erfreulichen Sachverhalt, dass die Wort „Sanierungsfall“ ein hartes Wort. Ich habe aber wirtschaftliche Lage besser ist, als sie manches Jahr deutlich gemacht, dass das nicht die ganze Realität war. Wir haben den erfreulichen Sachverhalt, dass wir Deutschlands ist. Ich kann mich jedoch vor den Realitä- seit Jahren – man kann fast sagen: seit einem Jahrzehnt – ten dieses Haushaltes nicht drücken. erstmals keine Zuschüsse mehr für die Bundesagentur (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!) für Arbeit brauchen. Wir haben weniger Insolvenzen. Wir wollen genau diesen Impuls ausnutzen und mit Re- Es gibt ein strukturelles Defizit – das im Übrigen nie- formen und mit Investitionen die Bewegung weitertrei- mand, auch niemand von der Opposition leugnen kann, ben und gleichzeitig eine Konsolidierung der Haushalte weil die Zahlen eindeutig sind – von 60 Milliarden Euro. durchführen. Diese Entwicklung muss fortgesetzt wer- Bei aller Detailbetrachtung, die Sie von der Opposition den. in den Haushaltsberatungen angestellt haben, muss man Das, was wir in sieben Monaten geschafft haben, sagen: Ihre Vorschläge sind entweder nicht redlich oder kann sich sehen lassen. sie decken nicht einmal die Maßgabe des Art. 115 des Grundgesetzes. Das heißt, wenn wir das wollen – zu die- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ser Überzeugung kommt neben der großen Mehrheit des NEN]: Ich sehe nichts außer Steuererhöhun- Bundestages auch die große Mehrheit des Bundesrates –, gen!) (B) dann bleibt uns nichts anderes übrig, als auch zu dem (D) Mittel von begrenzten Steuererhöhungen zu greifen. Wir haben verbesserte Abschreibungsregelungen. Wir haben die Istbesteuerung so verändert, dass in den neuen (Ulrike Flach [FDP]: Begrenzte Steuererhö- Bundesländern besser gearbeitet werden kann. Wir ha- hungen?) ben ein Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz auf den Weg gebracht. Das ist etwas, was Rot-Grün über Wir wissen im Übrigen, dass wir den Menschen damit Monate und Jahre nicht zustande gebracht hat. schwierige Aufgaben aufbürden. Es ist nicht einfach, den Sparerfreibetrag zu reduzieren; es ist nicht einfach, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr! die Pendlerpauschale zu reduzieren; es ist nicht einfach, Weil die Grünen blockiert haben!) die Eigenheimlage zu streichen. 86 Großprojekte können jetzt sehr viel schneller durch- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gesetzt werden. Bei 4,5 Millionen Arbeitslosen ist es na- Jahre zu spät!) türlich nicht egal, ob ein Großprojekt innerhalb von 15 oder 20 Jahren umgesetzt wird oder innerhalb von Glauben Sie nicht, dass das irgendeinem der Abgeordne- fünf oder zehn Jahren. ten hier in diesem Hause leicht fällt. Das zeigt sich im Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern. Wir haben (Beifall bei der CDU/CSU) uns in voller Verantwortung in Bezug auf mögliche Ne- benwirkungen einer Mehrwertsteuererhöhung zwi- Deshalb ist es ein spürbarer Fortschritt für die Men- schen Zukunftssicherung und dem, was heute zu tun ist, schen, dass wir in Zukunft schneller vorankommen wer- den. ( [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Umverteilung!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) und der Möglichkeit, alles unter den Tisch zu kehren und morgen und übermorgen noch schwierigere Schritte zu Wir haben ein Mittelstandsentlastungsgesetz auf den gehen, entschieden. Wir machen dieses Land zukunfts- Weg gebracht. Meine Damen und Herren von der FDP, fest. wir sind jederzeit bereit, gute Vorschläge aufzugreifen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Widerspruch bei der FDP – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Wir haben 500 Vorschläge Diejenigen, die sich einer sachlichen Betrachtung gemacht, Frau Bundeskanzlerin! – Weiterer nicht verschließen – sei es die Europäische Kommission, Zuruf von der FDP: Alles leere Worte!) 3538 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) – Was zum Beispiel den Bürokratieabbau anbelangt, den. Deshalb müssen wir uns an dieser Stelle ganz klar (C) muss ich Ihnen sagen: Die Vorschläge, die gemacht wer- an der Frage orientieren: Was schafft mehr Arbeit? den, müssen seriös sein. Zu diesem Zweck werden wir in einem dauernden (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Etwa so seriös Prozess überprüfen: Funktionieren die Instrumente, die wie Ihr Gleichbehandlungsgesetz?) wir anwenden? Ich will ganz deutlich sagen: Die Zu- sammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe war Maßnahmen, die Geld kosten und erneut zu Lücken im und bleibt ein richtiger Schritt. Hier gibt es überhaupt Haushalt führen, nützen uns überhaupt nichts. kein Vertun. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE Wir haben die rechtliche Grundlage für die Bildung GRÜNEN] – [DIE LINKE]: eines Normenkontrollrates geschaffen. Dadurch werden 50 000 Euro nehmen Sie den älteren Arbeit- wir zum ersten Mal eine systematische Betrachtung der nehmern weg!) Bürokratiekosten auf den Weg bringen. Damit haben un- sere Nachbarn in Holland sehr gute Erfahrungen ge- Aber diese zwei Transfersysteme, die zusammengelegt macht. Auch die Europäische Kommission führt dieses wurden, haben sehr unterschiedliche Wirkungen. Daher Verfahren jetzt ein. Im Rahmen der deutschen EU- müssen wir auch immer wieder kontrollieren: Funktio- Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 werden nieren die Anreizwirkungen dieses Systems? Da wir uns wir genau diese Art und Weise des Herangehens weiter das Motto „Fördern und Fordern“ auf die Fahnen ge- betreiben. Wir wollen auch auf europäischer Ebene eine schrieben haben, müssen wir hinterfragen: Fordern wir bessere Rechtsetzung. Weniger Rechtsetzung kann auch genug und schaffen wir das Fördern? in Europa mehr und besser für die Bürgerinnen und Bür- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das können ger sein. Das, was wir in unserem Lande tun, wollen wir Sie so nicht schaffen!) auch auf europäischer Ebene tun. Ich will an dieser Stelle sagen: Wenn die FDP bei den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Eingliederungshilfen 3 Milliarden Euro streichen will, neten der SPD) dann geschieht das auf dem Buckel der Langzeitarbeits- Wir wissen: Deutschland braucht eine Unternehmen- losen. Das wollen wir nicht. Wir wollen, dass diese Mit- steuerreform. Die Koalition bekennt sich dazu. Der tel auf richtige und vernünftige Art und Weise ausgege- Bundesfinanzminister arbeitet an ihren Eckpunkten, die ben werden. noch vor der Sommerpause vorgelegt werden. Hier wer- (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie (D) den mutige Schritte gemacht. Denn wir müssen sicher- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE stellen, dass unsere Unternehmen international wettbe- GRÜNEN) werbsfähig arbeiten können, damit sie in Deutschland Steuern zahlen und nicht abwandern. Dass das im vergangenen Jahr noch nicht gelungen ist, bedeutet nichts anderes, als dass das System noch nicht (Beifall des Abg. Hartmut Koschyk [CDU/ voll gearbeitet hat. CSU]) (Ulrike Flach [FDP]: Sie wissen doch ganz ge- Wir müssen eine vernünftige Balance zwischen klei- nau, dass diese Gelder nicht abgerufen wer- nen und großen Unternehmen schaffen und uns damit den, Frau Kanzlerin!) auseinander setzen, dass eine Abgeltungssteuer heutzu- tage in vielerlei Hinsicht eine moderne Antwort auf die – Hören Sie doch zu! Frage der Kapitalbildung darstellt. (Ulrike Flach [FDP]: Ja! Natürlich höre ich Ih- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!) nen zu!) Wir müssen dafür Sorge tragen, dass auf der einen Seite – Dass diese Gelder im vergangenen Jahr noch nicht in die Kommunen ihre Einnahmen nicht verlieren, dass vollem Umfang abgerufen wurden, bedeutet nicht, dass aber auf der anderen Seite das gesamte Steuersystem in die Eingliederungshilfen der falsche Weg sind, sich schlüssig und wettbewerbsfähig bleibt. Diese Auf- gabe werden wir lösen. Dabei sind wir auf einem guten (Ulrike Flach [FDP]: Das hat auch niemand Weg. gesagt!) Meine Damen und Herren, alles, was wir tun, orien- sondern, dass die Bundesagentur Anfangsschwierigkei- tiert sich an der Frage: Schaffen wir mehr Arbeitsplätze? ten hatte, was im Übrigen nicht verwunderlich ist. Das Angesichts von 4,5 Millionen Arbeitslosen können wir muss in diesem und im nächsten Jahr besser funktionie- nicht zufrieden sein. Der Rückgang der Beschäftigung ren. ist zwar in diesem Frühjahr zum ersten Mal gestoppt; (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – aber die Situation, in der wir sind, kann uns nicht zufrie- Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist Sa- den stellen. Wir können weder damit zufrieden sein, dass tire!) so viele junge Menschen keine Chance haben, Arbeit zu bekommen, noch damit, dass so viele Menschen schon Wir wollen vernünftige Wege gehen, um die Menschen mit 50 oder 55 Jahren aus dem Arbeitsleben ausschei- in Arbeit zu bringen. Das ist unsere Antwort. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3539

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Meine Damen und Herren, wir haben die Ich-AGs Meine Damen und Herren, wir wissen – das ist ein (C) kritisch auf den Prüfstand gestellt und sie durch ein Kernanliegen unserer Reform –, dass wir die Lohnzu- neues Instrument ersetzt. Mit dem Hartz-IV-Fortent- satzkosten unter 40 Prozent bringen müssen. Wir haben wicklungsgesetz, das noch im Juli dieses Jahres vom an dieser Stelle bereits erste Schritte eingeleitet: Die Ent- Bundesrat beschlossen wird, wollen wir dafür sorgen, scheidung, die Lebensarbeitszeit zu verlängern, ist keine dass das Fordern besser durchgesetzt werden kann. Wer einfache Entscheidung, aber eine zukunftsweisende; mehrmals – um es ganz deutlich zu sagen: dreimal – eine denn wir müssen unsere Gesellschaft darauf vorbereiten, angebotene Arbeit ablehnt, der bekommt im Rahmen des dass die demografischen Veränderungen weitergehen Arbeitslosengeldes II keine Geldleistungen mehr. Das und sich immer klarer zeigen werden. finde ich richtig und wichtig. Wir arbeiten im Augenblick an einer Gesundheitsre- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- form. Da wäre es schön, wenn die politischen Gruppie- neten der SPD) rungen, die in diesem Hause versammelt sind, die Kraft Im Herbst werden wir dann in einem nächsten Schritt finden würden, eine Debatte zu führen, von der die Bür- weitere Probleme lösen müssen. Ich sage ganz selbstkri- gerinnen und Bürger draußen sagen: Die ringen um die tisch: Ich war sehr dafür, dass Zuverdienstmöglichkeiten richtigen Lösungen. eingeführt werden. Aber heute bin ich mir nicht mehr si- cher, ob diese Anreize wirklich funktionieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir werden uns daran gewöhnen müssen, miteinander Wenn sich manch einer, der sich damit nicht so beschäf- eine vernünftige Debatte zu führen. Wir können nicht tigt hat, dazu frank und frei äußert, dann ist das in Ord- davon ausgehen, dass wir mit einer revolutionären Neue- nung. Aber hier einfach Dinge zu behaupten, die weder rung, die wir einführen – wie der Zusammenlegung von beschlossen noch diskutiert sind, das ist nicht in Ord- Arbeitslosen- und Sozialhilfe –, für alle Zeiten ohne jede nung. Änderung weiterkommen. Das ist moderne Politik, meine Damen und Herren: dass man aus dem lernt, was ( [FDP]: Meinen Sie die „Süddeut- nicht vollkommen funktioniert. sche Zeitung“?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Was sind die Ziele unserer Gesundheitsreform? Die neten der SPD) Ziele unserer Gesundheitsreform sind eindeutig defi- niert: Wir wollen, dass die Menschen in diesem Lande Ich bin dem Bundesarbeitsminister sehr dankbar, dass er – unter den demografischen Veränderungen, aber auch an dieser Stelle, zusammen mit den Fraktionen, die ers- angesichts besserer medizinischer Möglichkeiten – alle, ten Änderungsvorschläge gemacht hat. (B) und zwar unabhängig vom Alter und unabhängig vom (D) Wir werden eine Initiative fortsetzen, die sich um Wohlstand des Einzelnen, das medizinisch Notwendige mehr Ausbildungsplätze kümmert. Es ist nicht in Ord- und das medizinisch Mögliche bekommen. Wir wollen nung – ich sage das auch an die deutsche Wirtschaft ge- ein Gesundheitssystem, in dem durch Wettbewerb wandt –, dass heute, in den wenigen Jahren, in denen Wachstumskräfte freigesetzt werden und in dem diejeni- noch mehr Schulabsolventen einen Ausbildungsplatz su- gen, die in den medizinischen Berufen arbeiten, die chen werden, an vielen Stellen nicht ausreichend ausge- Chance haben, dafür auch das entsprechende Geld zu be- bildet wird. Ich habe selber die 300 größten Unterneh- kommen. Ich möchte an dieser Stelle den Ärztinnen und men in Deutschland angeschrieben, um deutlich zu Ärzten, ob freiberuflich oder im Krankenhaus, den Kran- machen: Es ist eine Notwendigkeit und im Übrigen auch kenschwestern und den vielen, die in den Heilberufen ar- eine Zukunftsinvestition, dass die jungen Menschen in beiten, auch einmal ein herzliches Dankeschön sagen. diesem Lande eine Ausbildung bekommen, vorzugs- weise eine betriebliche Ausbildung. Ich hoffe, dass die- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ser Ausbildungspakt wieder mit Leben erfüllt wird, so- dass wir am Jahresende sagen können: Jeder bekommt Wenn wir dieses Gesundheitssystem mit diesen Men- einen solchen Ausbildungsplatz. schen nicht hätten, dann hätten wir große Schwierigkei- ten. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich finde, in diese Debatte gehört ein Stück Ehrlich- Das macht der Bundeswirtschaftsminister, das macht die keit. Bundesbildungsministerin und das macht die ganze Bun- desregierung. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wir sehen nichts! – Gegenruf des Abg. LINKEN) Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Augen auf, – Ja; das ist schon mal ein guter Ausgangspunkt. – Zu Frau Künast! – Zurufe des Abg. Fritz Kuhn dieser Ehrlichkeit gehört, zu sagen, dass in unserem Sys- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) tem an vielen Stellen mehr Wettbewerb möglich ist. Ich – Falls Sie mitmachen würden, Herr Kuhn, wäre das bin der Meinung, dass wir auch Strukturveränderun- auch kein Schaden für unser Land, wirklich nicht! gen brauchen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der neten der SPD) SPD und der FDP) 3540 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Wir werden dazu eine Reihe von Vorschlägen ma- Deshalb haben all jene, die die Thematik verstehen, auch (C) chen, und zwar wirkliche Vorschläge. Wer aber glaubt, die Pflicht, diese Debatte redlich zu führen; denn es wird dass man Strukturveränderungen vornehmen kann, ohne keine Strukturveränderungen geben, ohne dass sich et- neue Strukturelemente einzuführen, der glaubt an etwas, was ändert. was wir eigentlich alle abgelegt haben: den Weihnachts- mann oder so etwas. Denn was heißt mehr Transparenz? (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wo gibt es Intransparenz in unserem System? Da kann NEN]: Dann fangen Sie mal an!) ich Ihnen zwei Bereiche nennen: Die eine Intransparenz Es wird noch eine zweite Wahrheit geben, um die sich liegt darin, dass wir nicht wissen, wie sich der ambulante auch die Opposition aus meiner Sicht nicht drücken darf. Bereich hinsichtlich seiner Kostenstruktur zum stationä- Diese zweite Wahrheit heißt: Auch bei noch mehr Struk- ren verhält. Wenn Sie das durchdenken, dann müssen Sie tureffizienz und noch mehr Transparenz wird dieses Sys- zu dem Schluss kommen: Wir brauchen eine Gebühren- tem der solidarischen Gesundheitsvorsorge in den nächs- ordnung für Ärzte, damit Ärzte wissen, was sie für das, ten Jahren tendenziell nicht billiger, sondern teurer. was sie tun, bekommen. Wir müssen die Preise im am- Auch das müssen wir den Menschen sagen und wir müs- bulanten und im stationären Bereich miteinander ver- sen uns überlegen, auf welche Art und Weise wir diese gleichen können. Das heißt in der Endkonsequenz, dass Probleme lösen. wir die gleiche Finanzierungsform brauchen, sprich: eine monistische Krankenhausfinanzierung. Dafür wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) den wir im Übrigen nicht ein Jahr brauchen und nicht Aus diesem Grunde glaube ich, dass es sehr angezeigt zwei Jahre, sondern wahrscheinlich 15. ist, zu überlegen, wie wir die solidarischen Systeme (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – dazu gehört vor allem das Gesundheitssystem – in Zu- NEN]: 15 Jahre Gesundheitsreform?) kunft organisieren und wie wir die solidarische Grund- lage verbreitern, anstatt sie zu verschmälern. Nur wenn wir diese Strukturen ändern, können wir ver- nünftig entscheiden: Machen wir das besser ambulant (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und oder in einem Krankenhaus? der SPD) Zweiter Punkt. In dem heutigen System der Gesund- Ich füge für mich allerdings hinzu: Das kann nicht die heitsversorgung weiß ich nicht, wie sich die Einnahmen Zerschlagung von funktionierenden wettbewerblichen zu den Ausgaben verhalten. Wenn ich wissen möchte, Systemen in diesem Bereich bedeuten. wer wo wie viel einzahlt und welche Kasse für wen wie (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: viel ausgibt, dann muss ich ganz einfach eine Trennung Lächerlich!) (B) zwischen den Einnahmen und den Ausgaben vorneh- (D) men. Bis dahin ist noch nichts anderes passiert, als diese Wir müssen andere Formen der Solidarität finden und beiden Sachen auseinander zu halten, sodass ich hinter- vor allen Dingen müssen wir – deshalb ist die Abkopp- her feststellen kann, wer mit den Geldern effizient arbei- lung von den Arbeitskosten so wichtig – unseren Anteil tet und wer das nicht tut. an den Lohnzusatzkosten unter 40 Prozent halten. Nichts anderes verfolgt der Gedanke, der hinter einem (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist eine solchen Fondsmodell steht. Ich finde es schon drama- Eierei!) tisch, dass Sie, die Sie genau wissen, dass heute 30 bis Genauso wie die Einhaltung des Art. 115 Grundgesetz 40 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ist das die Aufgabe dieser Regierung. Krankenkassen damit beschäftigt sind, Beiträge einzu- ziehen, schlankweg behaupten, das Ganze würde büro- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kratischer. Ich sage Ihnen: Wenn wir uns für einen sol- neten der SPD) chen Fonds entscheiden sollten, dann wird nichts bürokratischer und dann wird auch nicht mehr Personal Genau unter dieser Maßgabe diskutiert die Koalition benötigt. Im Gegenteil, zum Schluss werden wir aufpas- in diesen Tagen und Wochen das Thema Gesundheitsre- sen müssen, dass wir keine Beschwerden erhalten, weil form. Angesichts der Beschwerlichkeit eines solchen die Leute etwas anderes tun, als Beiträge einzuziehen. Weges und der Schwierigkeit eines solchen Umbaus ist Das ist die Wahrheit. das übrigens keineswegs zu lang. Noch vor der Sommer- pause werden wir unsere Eckwerte dafür vorlegen, so- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dass zum 1. Januar 2007 eine Gesundheitsreform in Kraft treten kann, die ihre Wirkungen über viele Jahre Die Art der Debatte bekümmert mich wirklich ein entfalten wird, weil sie sehr grundsätzliche Neuordnun- bisschen, um es einmal ganz vorsichtig zu sagen. gen enthalten wird. Das sind der Anspruch und die Auf- (Jörg Rohde [FDP]: Oh Gott!) gabe einer großen Koalition. Genau das werden wir auch erreichen. Schließlich schauen die Menschen immer dann, wenn es um die Gesundheit geht, besonders schnell mit Angst (Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Warum und Sorge auf die Diskussion. klatscht ihr denn nicht? – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ein bisschen Beifall! – (Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Abg. Oskar Lafontaine [DIE LINKE]) NEN]: Die Koalition ist kurz weggenickt!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3541

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Neben den Themen Sanieren und Reformieren wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (C) den wir natürlich auch das Thema Investieren miteinan- der zu bereden haben. Diese Bundesregierung hat sich Bei all diesen Investitionen haben wir einen wesentli- trotz des Konsolidierungskurses entschieden, weitere chen Schwerpunkt gesetzt: die Erhöhung der Ausgaben Mittel in den Bereichen zu investieren, in denen wir die für Forschung und Innovation. Ich bin der festen Über- Zukunft dieses Landes sehen, um die wirtschaftliche zeugung: Unsere Entscheidung, 3 Prozent des Brutto- Entwicklung zu beleben. inlandprodukts für Forschung ausgeben zu wollen, ist eine Weichenstellung, die auf sehr lange Zeit, und zwar (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – weit über das Jahr 2010 hinaus, ihre Wirkung entfalten Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE wird. Zum ersten Mal hat die Politik die Voraussetzun- GRÜNEN]: Was ist mit der Mehrwertsteuer- gen in diesem Bereich umfassend erfüllt. Deshalb wer- erhöhung?) den wir die Wirtschaft auffordern, ihrerseits den notwen- digen Beitrag zu leisten. Das heißt, dass die Wirtschaft Dazu gehört, dass man sich die Frage stellt: Wo kön- 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts für Forschung und nen wir neue Arbeitsmöglichkeiten in einer sich verän- Entwicklung ausgeben muss. Wir werden mit der Wirt- dernden Welt schaffen? – Aus diesem Grunde haben wir schaft über die Instrumente zu sprechen haben, wie man damit begonnen, die privaten Haushalte als Arbeitge- das schaffen kann. Wir werden mit der Wirtschaft über ber zu entwickeln. Noch sind wir damit nicht fertig; aber die Rahmenbedingungen zu sprechen haben, Stichwort immerhin haben wir es bereits möglich gemacht, die Ab- Novelle des Gentechnikgesetzes; das ist vollkommen setzbarkeit von Handwerkerrechnungen, von Kinderbe- klar. So wie die Wirtschaft von der Politik mit Recht treuungskosten und von haushaltsnahen Dienstleistun- manches fordert, wird die Politik in dieser Frage deutlich gen zu verbessern. Auf diesem Weg müssen wir machen, dass ihre Erwartungen an die Wirtschaft in die- schrittweise vorangehen. Hier handelt es sich nämlich sem Lande hier ganz klar sind. nicht um kleine Schräubchen, mit denen hie und da eine steuerliche Maßnahme verändert wird, sondern hier han- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) delt es sich um ein beschäftigungspolitisches Zukunfts- feld, das wir in den nächsten Jahren und Jahrzehnten Wer ein modernes und innovationsfreundliches Land systematisch weiterentwickeln müssen, weil es Men- fordert, der muss an dieser Stelle handeln. schen neue Formen von Arbeit eröffnet, die wir so bisher nicht kannten. Es ist richtig, dass die Bundesbildungsministerin ei- nen Dialog mit der Wirtschaft darüber führt, wie man (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zum Beispiel mittelständischen Unternehmen Investitio- neten der SPD) nen in Forschung und Entwicklung erleichtern kann. (B) Hier muss auch die Bereitschaft hinzukommen, etwas zu (D) Wir haben uns entschieden, mit dem CO2-Gebäudesa- wagen; denn unser Wohlstand wird in Zukunft davon ab- nierungsprogramm einen Schwerpunkt zu setzen. Dane- hängen – davon bin ich zutiefst überzeugt –, ob wir auf ben wollen wir die Bauinvestitionen stärken und dabei der Welt zu denen gehören, die Produkte nicht nur erfin- mehr für die Infrastruktur investieren. Das halte ich für den, sondern die Produkte auch einsetzen und herstellen, richtig und wichtig. In einem modernen Industrieland mit denen dann in unserer Gesellschaft Geld verdient muss Mobilität möglich sein. Anstatt große ideologische wird und Steuern gezahlt werden. Debatten darüber zu führen, ob in die Bahn oder in die Straße investiert wird, sorgen wir dafür, dass man sich Wir werden eine Hightechstrategie für 17 Branchen auf den verschiedenen Verkehrswegen in Deutschland entwickeln – die Bundesbildungsministerin hat sie be- vernünftig bewegen kann. reits vorgestellt –, in denen Deutschland führend sein kann und die wir zu einem Markenzeichen dieses Landes (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- machen wollen. Deshalb liegt hier ein großer Schwer- neten der SPD ) punkt unserer Aufgaben. Darüber hinaus investieren wir mit dem Elterngeld in Wir werden noch vor der Sommerpause die Födera- die Zukunft. Herr Brüderle, ich bin über Ihre Reaktion lismusreform verabschieden. sehr erstaunt; das muss ich einmal sagen. Sie werden sich diese Maßnahme angeschaut haben. Eigentlich (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das werden müsste es die FDP für einen sehr modernen Weg halten, wir mal sehen!) Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Natürlich gehört dazu auch die Kinderbetreuung; das ist keine Ich weiß, dass über vieles diskutiert wird und durch die Frage. Dadurch wird vor allen Dingen denen, die eine Anhörungen Fragen aufgeworfen wurden. bessere Qualifizierung haben, die Möglichkeit gegeben, dass die Entscheidung für Kinder von der Gesellschaft (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Kleinstaaterei!) anerkannt wird. Das ist deshalb ein Paradigmenwechsel, – Die Föderalismusreform bedeutet eine sehr grundsätz- weil wir Familienpolitik auch, aber nicht mehr nur als liche Diskussion, die nichts mit Kleinstaaterei zu tun hat, Transfer- und Sozialpolitik begreifen; vielmehr als eine sondern in der wir der Frage nachgehen, wie unser Land gesellschaftspolitische Aufgabe im umfassenden Sinne, am besten organisiert werden kann. die mit Sozial- und Berufspolitik zu tun hat. Mit dieser Neuerung muss man sich wenigstens auseinander setzen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich halte das für einen richtigen Schritt. neten der SPD) 3542 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Dabei wird immer wieder die Auffassung vertreten, dass Wir vom Bundestag nehmen sehr bewusst die neuen (C) der Zentralstaat die beste Möglichkeit ist, ein Land zu Herausforderungen an. Denn es wird mehr zustim- organisieren. Wir glauben, dass ein Land mit 80 Millio- mungsfreie Gesetze geben und wenn diese nicht funktio- nen Einwohnern am besten in der Form organisiert ist, nieren sollten, dann werden wir nicht mehr die Ausrede dass es zentrale Verantwortlichkeiten kennt und die Län- haben, dass irgendein Land seinen Willen durchsetzen der in einem Wettbewerbsföderalismus auf Länderebene wollte. Wir werden uns vielmehr damit auseinander set- um die beste Meinung ringen, die an vielen Stellen auch zen müssen. Das Ganze wird im Übrigen zu verbesserten nur aufgrund der bestehenden Unterschiede ausprobiert Ausschussberatungen im Deutschen Bundestag führen. werden kann. Ich halte die Föderalismusreform für einen Schritt zur (Zuruf von der FDP: Sieht das die SPD auch Stärkung der Möglichkeiten des Deutschen Bundestages so?) und zu mehr Transparenz. Genau das ist für die Akzep- Eines der besten Beispiele ist für mich – das sage ich tanz der Demokratie unter der Maßgabe der Bürgerinnen hier frank und frei –, dass es nach meiner Überzeugung und Bürger notwendig. in Deutschland heute nicht das Abitur nach zwölf Jahren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gäbe, wenn wir in der Bundesrepublik Deutschland ein neten der SPD) zentrales Schulsystem hätten. Es war nur deshalb mög- lich, weil sich Sachsen und Thüringen nach der Wieder- Sieben Monate große Koalition! Wichtige Projekte vereinigung zu diesem Schritt entscheiden konnten, weil sind auf den Weg gebracht oder umgesetzt worden, die sie anschließend dafür geworben und bei der PISA-Stu- der Konsolidierung unserer Finanzen und damit der Zu- die gut abgeschnitten haben. Jetzt sind selbst die Bayern kunftsfähigkeit unseres Landes dienen, damit die jungen der Meinung, dass man das in zwölf Jahren schaffen Menschen in diesem Lande sagen können: Jawohl, wir kann. bleiben; hier wird auch an unsere Interessen in 20 oder (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 30 Jahren gedacht. Das ist eine sehr wichtige Botschaft. der SPD) Wir haben die Weichen in Richtung Forschung und – Damit ich auch den Beifall des Kollegen Ramsauer er- Innovation gestellt. Wir haben Weichen gestellt, die die heischen kann: Die Bayern haben – im Übrigen zu Recht Möglichkeiten, in Arbeit zu kommen, verbessern. Wir – darauf hingewiesen, haben Weichen für diejenigen gestellt, die in Deutsch- land investieren wollen. Wir werden das fortsetzen und (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Jetzt wird es die Unternehmensteuerreform wie auch die Erbschaft- wieder geheilt!) steuerreform in einer Art und Weise durchführen, dass (B) (D) dass die Verkürzung der Schulzeit an sich kein Wert ist, die Unternehmen etwas davon haben und ihre Vorhaben wenn damit der Ausbildungsstand verschlechtert wird. praktizieren können. Wir haben zudem die Föderalis- musreform und die notwendigen Veränderungen unserer (Zuruf von der SPD: Richtig!) sozialen Sicherungssysteme in Angriff genommen. Nur durch die Kombination der PISA-Studie und dem Alle diese Maßnahmen erfordern eine große Ernsthaf- guten Abschneiden von Sachsen und Thüringen ist der tigkeit, weil sie für die Menschen mit Veränderungen Beweis erbracht worden, dass man auch in zwölf Jahren verbunden sind und weil wir in einer Zeit leben, in der etwas schaffen kann, das man andernorts – allerdings wir erkennbar weniger zu verteilen haben, als es in frü- sehr gut; denn Bayern liegt in der PISA-Studie auf Platz heren Zeiten der Fall war. Es ist immer einfacher, Politik eins – in 13 Jahren schafft. Das war der Ausgangspunkt zu machen, wenn man schöne Dinge versprechen kann. dafür, dass sich auch Bayern den anderen Ländern ange- Es ist manchmal sehr hart, Politik zu machen, bei der schlossen hat. Das war nach meiner festen Überzeugung man sagen muss: Dies und jenes können wir uns im Au- der richtige Weg. genblick nicht leisten. Ich glaube aber, dass der Kom- (Beifall bei der CDU/CSU) pass, dass die Grundausrichtung der großen Koalition – dabei gibt es Dinge, die jedem schwer fallen – richtig Deshalb bitte ich, dass, wenn wir nächste Woche über ist, weil wir uns auf die richtigen Schwerpunkte konzen- die Föderalismusreform abstimmen, in den ganzen Dis- trieren: Arbeitsplätze zu schaffen, Zukunft zu sichern, kussionen um die vielen Einzelheiten, in denen sicher- die Integration derjenigen, die in unserer Gesellschaft lich auch richtige und gewichtige Argumente vorge- noch nicht ausreichend integriert sind, zu sichern sowie bracht werden, eines nicht untergeht: Wir werden bei die Zukunft der Energiepolitik zu besprechen und zu ma- einer Vielzahl von Gesetzgebungsvorhaben zu einer nifestieren. Das alles heißt, dicke Bretter zu bohren. deutlich besseren Aufteilung der Verantwortlichkeit von Bund und Ländern kommen. Wir werden – das halte ich In den letzten sieben Monaten haben wir schon eini- für wichtig – aus der Situation herauskommen, dass ges geschafft. Aber in den nächsten Monaten haben wir 60 bis 70 Prozent der Gesetze zustimmungspflichtig sind, noch viel vor uns. Wir wollen dies in einem Geist tun was immer wieder dazu führt, dass schließlich in einem – das ist jedenfalls mein Wunsch und, soweit es das Ka- für die Bürgerinnen und Bürger sehr intransparenten binett angeht, will ich mich dafür ganz herzlich bedan- Vermittlungsverfahren von Bund und Ländern Entschei- ken –, wohl wissend, dass wir zwar zum Teil aus sehr dungen getroffen werden, bei denen sich letzten Endes unterschiedlichen Richtungen kommen, aber eine ge- jeder vor der Verantwortung drücken kann. meinsame Verantwortung haben. Diese Verantwortung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3543

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) nehmen wir gerne für die Menschen in unserem Lande Deshalb denken andere, dass sie unangreifbar wären, (C) wahr, weil wir Vertrauen in sie haben. wenn sie solche Waffen besäßen. Wir müssen aber aus dieser Logik heraus. Dazu müssen zuerst die Atom- Herzlichen Dank. mächte andere Schritte gehen. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- (Beifall bei der LINKEN) fall bei der SPD) Frau Bundeskanzlerin, ich bitte Sie für die Öffentlich- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: keit, für die Bevölkerung im eigenen Land um eine Ant- Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi, Fraktion wort auf folgende Frage: Was machen wir denn nun, Die Linke. wenn George W. Bush wieder durchdreht und Krieg ge- gen den Iran führt? Erklären Sie hier doch einmal ein- (Beifall bei der LINKEN) deutig und verbindlich, dass Deutschland dann nicht zur Koalition der Willigen gehören und daran teilnehmen Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): wird. Frau Präsidentin! Frau Bundeskanzlerin, ich habe Ih- (Beifall bei der LINKEN) nen genau zugehört. Ich glaube, wir beide sollten ein Eingeständnis machen. Es gibt eine Gemeinsamkeit zwi- Wenn Sie, wie ich hoffe, das eines Tages erklären, hätte schen uns: Unser gemeinsamer Leistungsanteil an den ich gerne noch Ihre Antwort auf die Frage gewusst, ob Erfolgen der deutschen Fußballnationalmannschaft ist wir dann zu 80 Prozent – wie unter Schröder – oder ob gleich null. wir zu 100 Prozent nicht teilnehmen, was bedeutete, dass auch unsere Geheimdienste nicht mitmachen und (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und dass keine Flughäfen zur Verfügung gestellt werden. der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Wenn das stimmt, sollten Sie nicht versuchen, die Er- Sie haben nun George W. Bush zum Wahlkampf nach folge der Nationalmannschaft für die Regierung zu ver- Stralsund eingeladen. Frau Bundeskanzlerin, ich bitte einnahmen. Das bekommt man beim besten Willen nicht Sie! Wer George W. Bush für den Wahlkampf in Meck- hin. lenburg-Vorpommern braucht, der hat die Wahlen schon verloren. Ich glaube, das geht daneben. Ich hatte erwartet, dass Sie uns in Ihrer Rede erklären, wohin Sie mit Deutschland wollen. Aber ich habe es (Beifall bei der LINKEN – Heiterkeit bei der nicht verstanden, weder außenpolitisch noch innenpoli- FDP) (B) tisch. Ich glaube, das ist die entscheidende Frage. (D) Lassen Sie mich noch eine andere außenpolitische Zur Außenpolitik: Sie haben über den Iran gespro- Frage ansprechen, die mir wichtig ist, weil wir darüber chen und gesagt, Sie strebten eine diplomatische Lösung gerade so viel diskutiert haben: die EU-Verfassung. Sie des Konflikts an. Das wäre tatsächlich sehr wichtig, wollen die EU-Verfassung natürlich irgendwie in Kraft wenn es denn gelänge. Ich hoffe darauf. Aber ich möchte treten sehen. Ich verstehe auch, dass die EU eine bessere in diesem Zusammenhang auf ein paar Punkte hinwei- Struktur braucht. Aber die EU-Verfassung hat eben ent- sen: scheidende Mängel. Zwei Völker haben durch Volksent- scheid mehrheitlich Nein gesagt. Erstens. Der Präsident des Iran macht Äußerungen zu Israel und dem Holocaust, die in diesem Hause partei- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE übergreifend als völlig indiskutabel betrachtet werden. GRÜNEN]: Aber ganz viele haben zuge- Das steht, glaube ich, fest. stimmt!) Zum Zweiten will er für seinen Staat die friedliche – Jetzt heißt es, viele andere Länder hätten aber Ja ge- Nutzung der Atomenergie in Anspruch nehmen. Darüber sagt. In den 16 Ländern, die Ja gesagt haben, ist das in kann man unterschiedlicher Auffassung sein. Aber das zwei Fällen durch Volksentscheid, im Übrigen nur durch Problem ist, dass sie allen Staaten erlaubt ist. Also kann die Parlamente geschehen. man sie dem Iran nicht verbieten. (Joachim Poß [SPD]: Nur die Parlamente?! Das Dritte ist: Es wird unterstellt, er wolle Atomwaf- Was haben Sie für ein Verständnis vom Parla- fen. Angenommen, es stimmte, dann brächte uns das in ment?) einen Konflikt, und zwar unter anderem deshalb, weil Sie wissen, dass es leichter ist, eine Mehrheit dafür im die fünf Atommächte noch nicht einmal das Ende des Parlament zu bekommen als in der Bevölkerung. Kalten Krieges genutzt haben, um den Atomwaffen- sperrvertrag zu erfüllen und schrittweise ihre Atomwaf- (Beifall bei der LINKEN) fen abzubauen, Das gilt auch für Deutschland. Auch wir hätten hierzu (Beifall bei der LINKEN) einen Volksentscheid gebraucht. weil inzwischen auch Israel, Indien und Pakistan Atom- Abgesehen davon möchte ich wissen: Wie sieht denn waffen haben und weil Kriege gegen Jugoslawien, den Ihr Weg aus? Wollen Sie den Willen der beiden Völker Irak und Afghanistan geführt worden sind, immer gegen umgehen? Wollen Sie ein anderes Annahmeverfahren Staaten, die keine Massenvernichtungswaffen hatten. installieren? Wollen Sie die Verfassung ändern? Wollen 3544 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Dr. Gregor Gysi (A) Sie sie sozialer gestalten, weniger neoliberal? Wollen Sie ein- und unterzuordnen? Die waren noch kapitalismus- (C) sie entmilitarisieren? Wollen Sie vielleicht die Steuern kritisch und wollten, dass man in dieser Gesellschaft mal harmonisieren, all das tun, was wir in der Europäischen etwas angreift, mal etwas verändert. Union dringend benötigten? (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Wo sind Ihre Initiativen beim G-8-Gipfel oder auch Damit bin ich bei der Innenpolitik. Sie haben gestern bei den Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU, gesagt, Deutschland sei ein Sanierungsfall. Das ist ein die darauf abzielen, wenigstens einmal zu diskutieren, mutiges Eingeständnis. ob man nicht eine internationale soziale Marktwirtschaft und eine Steuerharmonisierung hinbekommt? (Zuruf) – Okay, wir sind nicht nur ein Sanierungsfall – ich kenne (Joachim Poß [SPD]: Machen wir doch!) die Ergebnisse der Nationalmannschaft –, Es passiert nicht! (Heiterkeit bei der LINKEN) Was Sie sagen, stimmt auch gar nicht. Die ganze Kon- aber wir sind auch ein Sanierungsfall. Hinzuzufügen ist kurrenzsituation, die Sie schildern, ist nicht gegeben. In aber: Die Regierenden haben aus Deutschland einen Sa- der Europäischen Union der 25 liegen wir bei den Steu- nierungsfall gemacht, und zwar angefangen bei der vori- ern auf Platz 24. Wir sind die Vorletzten. Nur die Slowa- gen Regierung und fortgesetzt durch die jetzige; das ge- kei hat geringere Steuern als Deutschland. hört zur Ehrlichkeit dazu. Dann sagen Sie immer, die Lohnnebenkosten, die Ab- (Beifall bei der LINKEN) gaben seien so hoch; das müsse man bei der Berechnung einbeziehen. Gut, rechne ich das mit ein. Wenn ich Steu- Bestimmte Zahlen nennen Sie nicht. Ich will einmal ern und Abgaben einbeziehe, sind wir in der Europäi- die Steigerung einer Größe von 2004 zu 2005 nennen. schen Union auf Platz 16. 15 Länder der Europäischen Die Gewinne und Einkommen aus Vermögen sind im Union haben höhere Steuern und Abgaben als Deutsch- Vergleich von 2004 zu 2005 um 31 Milliarden Euro land, und zwar an ganz anderen Stellen. gewachsen. Im selben Zeitraum sind die Bruttolöhne und -gehälter der Bevölkerung um 5,7 Milliarden Euro (Beifall bei der LINKEN) gesunken. Das ist die Wahrheit im Vergleich von 2004 Deshalb geht es dort auch etwas gerechter zu. Deshalb zu 2005. Das sind die Folgen Ihrer Politik. haben die auch nicht den Sozialabbau, den Sie hier in (Zuruf von der SPD) Deutschland organisieren. (B) (D) – Gerade Ihrer; denn da war Schröder noch Kanzler. Welche Vorschläge machen Sie in dieser Situation? Im letzten Jahr sind die Gewinne bei 20 DAX-Konzer- (Beifall bei der LINKEN – Joachim Poß nen um mindestens 30 Prozent gestiegen. Welche Vor- [SPD]: Das ist Sache der Tarifpartner! So viel schläge machen Sie, Herr Steinbrück, lassen sie sich von müssen Sie schon auseinander halten können! der SPD-Führung genehmigen? Ihr Vorschlag lautet, die Demagogie!) Körperschaftsteuer zu halbieren, nämlich von 25 Prozent Was haben die Konzerne für die Steuergeschenke ver- auf 12,5 Prozent. Weil Sie immer die Konkurrenzsitua- sprochen, Frau Bundeskanzlerin? Sie haben gesagt, tion anführen, darf ich Sie daran erinnern: Die USA ha- wenn die Kosten gesenkt würden, könnten sie Arbeits- ben eine Körperschaftsteuer von 35 Prozent, plätze schaffen. Dann haben sie Pressekonferenzen ge- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aber die ha- macht. Auf den Pressekonferenzen haben sie die Politik ben keinen Gysi!) verhöhnt und gesagt: Das war sehr nett. Schönen Dank. Wir haben tolle Gewinne. Dafür bauen wir Arbeitsplätze Frankreich hat eine von 33 Prozent, Großbritannien von ab. – In einem Fall waren es 8 000 und in einem anderen 30 Prozent. Sie schlagen 12,5 Prozent vor. Wenn es hier Fall über 10 000 Arbeitsplätze. Ich habe gehofft, Herr jemanden gibt, der Steuerkonkurrenz organisiert, Frau Steinbrück, dass Sie sagen: Dann fordern wir von denen Bundeskanzlerin, dann sind das Sie und Herr Steinbrück wenigstens gerechte Steuern. – Aber Sie machen es ge- und nicht die anderen Länder. nau umgekehrt. (Beifall bei der LINKEN – Steffen Kampeter [CDU/ Das erklären Sie auch. Sie sagen, wir – das ist eine CSU]: Was für ein Dummschwätzer!) Kritik, die sich immer an mich und meine Fraktion rich- tet – hätten nicht begriffen, dass man in Steuerkonkur- Dann machen Sie noch einen Vorschlag hinsichtlich renz lebe, und weil man in Steuerkonkurrenz lebe, der Abgeltungssteuer. Die Einkünfte aus Kapital, Ak- müsse man sich so verhalten. Sie sagen also: Man muss tien und Immobilien unterliegen der Einkommensteuer. sich im Hinblick auf diese Steuerkonkurrenz ein- und Unter Kohl hatten wir einen Spitzensteuersatz von unterordnen. 53 Prozent, jetzt haben wir einen Spitzensteuersatz von 42 Prozent. Nun schlagen Sie eine Abgeltungssteuer von Selbst wenn das stimmte, muss ich noch eine Frage 30 Prozent im ersten Schritt und 25 Prozent im zweiten stellen. Haben die Urväter Wilhelm Liebknecht und Schritt vor. Wieder sollen die Vermögenden, die Best- August Bebel, als sie die Sozialdemokratie gründeten, verdienenden deutlich besser gestellt werden. Aber wirklich daran gedacht, dass sie nur dafür da ist, sich wozu? Was soll dabei herauskommen, außer dass die so- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3545

Dr. Gregor Gysi (A) ziale Ungerechtigkeit in unserem Land grob zunimmt? gen die Mehrwertsteuererhöhung. Frau Merkel hat sie (C) Einen positiven Effekt können Sie nicht nennen. immerhin angekündigt. Sie jedoch haben sich auf Plaka- ten gegen die Erhöhung ausgesprochen. Dadurch haben Konzerne, Bestverdienende und Vermögende haben wir Veränderungen bei den Umfrageergebnissen erlebt. zwei Dinge in Deutschland nicht zu fürchten: die Union Als nämlich Herr Schröder vorzeitige Neuwahlen an- und die SPD. kündigte, lag die Union noch knapp bei der absoluten (Beifall bei der LINKEN) Mehrheit. Das war schon erschreckend. Ihre Umfrage- werte hingegen lagen im Keller; daran kann ich mich er- Inzwischen gibt es – das muss man sich wirklich einmal innern. Gerade wegen der Auseinandersetzung bezüg- überlegen – Reiche, die selbst fordern, höhere Steuern zu lich der Mehrwertsteuererhöhung sackten die Werte der bezahlen. Ich bitte Sie, meine Damen und Herren von Union immer weiter ab und Ihre stiegen immer höher. der Sozialdemokratie: Es gibt Reiche, die inzwischen Unmittelbar nach der Wahl haben Sie dann gesagt: Alles linker sind als die Sozialdemokratie! So weit haben Sie Geschwätz von gestern; wir wollen nicht 2 Prozent, son- es gebracht. dern 3 Prozent Mehrwertsteuererhöhung. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Die Union will an die Konzerne und die Reichen nicht neten der FDP) heran. Das entspricht ihrer politischen Ausrichtung; das Jetzt frage ich Sie einmal: Hätten Sie 2005 Plakate kann ich verstehen. Aber Ihnen von der SPD fehlt jeder gegen Frau Merkel geklebt, auf denen gestanden hätte: Mut diesbezüglich. Darüber sollten Sie nachdenken. „Nicht 2 Prozent, sondern 3 Prozent Mehrwertsteuer- Deshalb haben wir keine gerechte Vermögensteuer, erhöhung“, was glauben Sie, wie viele von Ihnen hier keine gerechte Veräußerungserlössteuer, keine gerechte jetzt nicht säßen, weil Ihr Wahlergebnis viel schlechter Körperschaftsteuer, keine internationale Börsensteuer, gewesen wäre? nichts von dem, was wir benötigten, um Sozialabbau zu (Beifall bei der LINKEN, der FDP und dem verhindern und mehr Gerechtigkeit in diesem Lande zu BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) finanzieren. Was allerdings nicht schön wäre: Es säßen dann mehr Wer soll das Ihrer Meinung nach alles bezahlen? Sie von der Union hier. wollen das über die Mehrwertsteuer finanzieren. Frau Bundeskanzlerin, eines muss ich Ihnen lassen: Sie haben Es geht mir um dieses Thema, weil das ein Vorgang die Erhöhung im Wahlkampf immerhin ehrlich angekün- ist, der alle Politikerinnen und Politiker beschädigt. digt, auch wenn es Ihnen nicht viel gebracht hat Denn letztlich, ob Sie das wollen oder nicht, sagen die (B) Leute: Die sind doch alle gleich; erst versprechen sie das (D) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie ist Bun- eine und dann machen sie das andere. – Dann unter- deskanzlerin!) scheiden die Leute nicht mehr zwischen uns. und Sie nur von 2 Prozent gesprochen haben, es aber nun (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Nicht 3 Prozent geworden sind. Ich kann mich noch sehr gut alle heißen Gysi!) an den Wahlkampf 1990 erinnern, meine Damen und Herren von der SPD. Ich weiß noch, dass Herr Kohl da- – Nein, leider. Aber es hat auch seinen Vorteil: Wir kön- mals sagte, es werde im Osten keine Massenarbeitslosig- nen uns dadurch ganz gut unterscheiden. keit geben und die Einheit koste kein Geld; es gebe keine Steuererhöhungen. Ebenso kann ich mich erin- Die Mehrwertsteuererhöhung ist ökonomisch und so- nern, dass Sie damals einen Spitzenkandidaten namens zial falsch. Wir haben dadurch natürlich etwas höhere Oskar Lafontaine hatten, der sagte: Erstens wird es Mas- Einnahmen. Aber wen treffen Sie mit dieser Erhöhung, senarbeitslosigkeit geben und zweitens wird es zu Steu- Frau Kanzlerin? Nicht sich selbst, nicht mich; wir kön- ererhöhungen kommen. nen das verkraften. Aber denken Sie einmal an die Ar- beitslosen, an die Rentnerinnen und Rentner, an die Ge- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ringverdienenden. Sie alle müssen diese 3 Prozent mehr NEN]: Und dann hat er sich vom Acker ge- zahlen und es gibt nicht eine einzige Ausgleichsleistung macht!) für sie. Damit schwächen Sie die Kaufkraft. Das hat in ganz Deutschland erhebliche negative ökonomische Fol- Ich sage aus Bescheidenheit nicht, dass auch andere das gen. Bei Unternehmen, die schon jetzt an der Grenze ausgesprochen haben; er jedenfalls hat es gesagt. sind, ist die Insolvenz absehbar. Dann gibt es wieder (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt mehr Arbeitslose und Herr Steinbrück wird erneut vor- ist er bei der PDS gelandet! Furchtbar!) schlagen, die Unternehmensteuern zu senken und die Leistungen für Arbeitslose zu kürzen. Genau diesen Weg Sie wissen, wie die Wahlen ausgegangen sind. Danach können wir nicht mehr gehen. kamen Massenarbeitslosigkeit und der Solidaritätszu- schlag, also eine Steuererhöhung. Was haben Sie – nur (Beifall bei der LINKEN) darum geht es mir – damals gesagt? Sie haben gesagt, das sei erstens eine Steuerlüge und zweitens Wahlbetrug. Seit dem Jahr 2000 hatten wir in Deutschland – auch das muss man einmal bei all dem Steuerkonkurrenzge- Jetzt schalten wir einmal um auf das Jahr 2005. Ich rede sagen – einen Exportboom. Wir sind Exportwelt- bin aus ökonomischen und sozialen Gründen strikt ge- meister. Das sind wir nicht deswegen, weil hier alles so 3546 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Dr. Gregor Gysi (A) teuer ist, dass man überhaupt keine Produkte mehr her- in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bis (C) stellen und verkaufen kann. Wir verkaufen weltweit pro- dahin nicht gegeben; das haben Sie zusammen mit den zentual mehr als alle anderen Länder; das muss man ein- Grünen verabredet. Das ist die Wahrheit. fach sehen. Dadurch sind in Deutschland 1 Million (Beifall bei der LINKEN) Arbeitsplätze entstanden. Durch die Schwäche der Bin- nenkonjunktur, durch die Schwäche des Binnenmarktes, Jetzt sagt Herr Rüttgers – Sie lassen sich aber auch vor- sind 1,3 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen, so- führen! –, dies gehe zu weit. Wer sehr lange Beiträge ge- dass wir ein zusätzliches Minus von 300 000 Arbeits- zahlt habe, müsse länger Arbeitslosengeld I bekommen. plätzen haben. Das ist die Wahrheit. Jetzt überholt die CDU Sie sozialdemokratisch. Sie soll- ten wirklich anfangen, nachzudenken. Warum sind wir in der Lage, uns beim Export erfolg- reich ökonomisch zu entwickeln, und lassen bei der Bin- (Beifall bei der LINKEN) nenwirtschaft derart nach? Die Antwort ist ganz einfach: Was macht – lassen Sie mich das noch sagen – Ihr weil Sozialabbau herrscht, weil die Kaufkraft der Bevöl- kerung abnimmt Vorsitzender, Herr Beck? Herr Beck sagt: Die Arbeitslo- sen sollten nicht immer alle Leistungen in Anspruch (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Völliger nehmen. Blödsinn! Hanebüchener Blödsinn!) (Dr. Peter Struck [SPD]: So hat er das über- und weil Sie die Bevölkerung täglich neu verunsichern, haupt nicht gesagt!) sodass sie sich gar nicht mehr traut, einzukaufen, und Man sollte nicht immer all das, was einem nach dem Ge- wenn doch, dann nur noch in diesem Jahr, weil sie setz zusteht, annehmen. Er mahnte etwas Bescheidenheit glaubt, es sich nächstes Jahr überhaupt nicht mehr leis- an. ten zu können. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Wir alle sollten so (Beifall bei der LINKEN – Steffen Kampeter etwas nicht sagen. Man sollte von anderen Leuten nie [CDU/CSU]: So ein Blödsinn!) verlangen, was wir auch von uns nicht verlangen. Weder Was tun Sie noch? Neben der Mehrwertsteuererhö- hat Herr Beck bisher an das zuständige Ministerium ge- hung wollen Sie die Pendlerpauschale einschränken. schrieben und darum gebeten, ihm weniger als sein ge- Was heißt denn das? Sie fordern einen flexiblen Arbeits- setzliches Gehalt auszuzahlen, markt und sagen, man müsse heute bereit sein, auch ein- (Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist doch lächer- mal 100 Kilometer weit zu fahren, um zu seinem lich! Was soll der Quark?) Arbeitsplatz zu kommen. Gleichzeitig kürzen Sie die (B) Leistungen dafür und machen es Arbeitnehmerinnen und noch haben wir deshalb an Herrn Lammert geschrieben. (D) Arbeitnehmern immer schwerer, darauf einzugehen. Das werden wir auch nicht tun. Solange wir das aber nicht machen, sollten wir keinem Arbeitslosen sagen, er Sie kürzen den Sparerfreibetrag. Das stört doch solle nicht all das in Anspruch nehmen, was ihm zusteht. nicht Vermögende. Dieser Freibetrag ist für die Klein- Natürlich tut er das und das ist auch sein Recht. sparer, die bisher davon profitiert haben, gedacht. Viele fallen dann nicht mehr unter diesen Freibetrag und müs- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Peter Struck sen Steuern zahlen. Das ist wieder eine Maßnahme zu- [SPD]: Lächerlich!) lasten der sozial Schwachen. Frau Kanzlerin, Sie haben zu Recht über die fehlen- Was machen Sie bei Hartz IV? Jeden Tag kommt ein den Ausbildungsplätze gesprochen. Es fehlen 50 000. neuer Vorschlag dazu, wo man etwas kürzen kann. Jeden Aber es fällt Ihnen nichts anderes ein, als das zu tun, was Tag kommt ein neuer Vorschlag dazu, wie man die Be- getan hat. Helmut Kohl hat jedes Jahr ei- troffenen drangsalieren kann. Was ist eigentlich eine zu- nen Brief an die Unternehmen geschrieben. Dieser war mutbare Arbeit? Soll ein Ingenieur verpflichtet werden immer ähnlich wirkungslos. Er hat nichts gebracht. Hin- können, Schuhputzer zu werden? Ist das für Sie zumut- terher gab es Tausende Jugendliche ohne Perspektive. bar? Wenn Sie einem Jugendlichen keine Ausbildungschance geben, was soll dann aus ihm werden? Es mag sein, dass (Widerspruch bei der SPD) Ausbildung teuer ist. Aber Jugendgefängnisse sind viel Ist das die Zukunft unserer Gesellschaft? Darf ich einmal teurer. Ich verstehe nicht, mit welchem Recht meine Ge- etwas fragen: Wir haben kaum offene Stellen. Wohin neration meint, der nächsten Generation das Recht auf wollen Sie die Leute vermitteln? Sie drangsalieren in der Ausbildung teilweise absprechen zu können. Hoffnung, dass weniger Anträge auf Bezug von Arbeits- (Beifall bei der LINKEN) losengeld gestellt werden, um auf diese Art und Weise Geld zu sparen. Das ist nicht in Ordnung. Ich muss Ihnen sagen: Diese Bittbriefe an die Unter- nehmen helfen gar nichts. Entweder muss der Staat dann (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei ausbilden – das ist nicht das Ideale, das weiß ich; aber es der SPD) wäre immerhin eine Ausbildung – oder wir müssen end- Eine dreiste sozialdemokratische Sozialkürzung war lich die Ausbildungsplatzabgabe wirklich einführen. dies: 36 Monate lang gab es das Arbeitslosengeld I. Sie haben es in diesem Zusammenhang zwar zu einem Diese Bezugsdauer haben Sie auf zwölf Monate, um Gesetz gebracht, es aber nicht in Kraft gesetzt. Auch das zwei Drittel, gekürzt. Einen solchen Sozialabbau hatte es ist typisch sozialdemokratisch. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3547

Dr. Gregor Gysi (A) Eine solche Ausbildungsplatzabgabe wäre eine Lö- (Heiterkeit bei der LINKEN sowie bei Abge- (C) sung. Ich weiß, die FDP ist strikt dagegen. Sie ist immer ordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- für die Freiheit der Ausbeutung. Das geht uns zu weit; NEN) wenn ich das einmal so sagen darf. Hat die Privatisierung der Einrichtungen der öffentli- (Beifall bei der LINKEN) chen Daseinsvorsorge bewirkt, dass es billiger geworden ist, wie es immer angekündigt worden ist? Es wurde ge- Deshalb meine ich, dass wir hier einen anderen Ansatz sagt, private Konzerne seien effektiv, es sei wunderbar brauchen. für die Kundinnen und Kunden. Nichts davon ist einge- treten. Es gibt höhere Kosten für die Betroffenen, den Zum Elterngeld. Am Elterngeld gefällt mir natürlich, Abbau von Personal und im Falle von Wohnungsgesell- dass man den Bezug um zwei Monate verlängern kann, schaften auch noch höhere Mieten. wenn auch der andere Sorgeberechtigte – in der Regel ist dies ja wohl der Mann – zwei Monate lang zugreifen Nehmen wir die Energieversorgung. Vier Stromkon- muss. Das gefällt mir. Die Nörgelei in der Union, die es zerne haben wir in Deutschland; es ist ja fast alles priva- dazu gibt, werden Sie schon durchstehen. Aber was mich tisiert worden. Am Anfang sank der Strompreis etwas wirklich umhaut: Eine solche verordnete Umverteilung – das stimmt –, aber nur am Anfang. Inzwischen ist er von unten nach oben habe ich in dieser Direktheit noch ins Gigantische gestiegen. Die Stromkonzerne machen nie erlebt. Ich will zwei Beispiele nennen. Das erste Bei- riesige Gewinne und fordern, dass das von den Bürgerin- spiel: Alle haben einen Anspruch auf einen Bezug dieser nen und Bürgern und auch von der Wirtschaft bezahlt Leistungen bis zu 14 Monaten, aber ALG-II-Empfänger werden soll. Es ist dabei also nichts von dem herausge- haben nur einen Anspruch auf zwölf Monate. Das kön- kommen, was Sie versprochen haben. nen Sie nicht erklären. Wieso bekommen sie die Leistun- Lassen Sie mich einen Satz zum Föderalismus sagen. gen zwei Monate weniger? Das zweite Beispiel: Sie be- Frau Bundeskanzlerin, Sie haben darüber länger gespro- kamen bisher Erziehungsgeld, und zwar zwei Jahre lang chen. Sie haben in diesem Zusammenhang auch Bildung monatlich 300 Euro. Jetzt sagen Sie: Es gibt die monatli- und Wettbewerb genannt. Ich bitte Sie, mir die Logik des chen 300 Euro nur ein Jahr lang. Das heißt, die Leistung Ganzen zu erklären. Die Union tritt dafür ein, dass der wird nur für die Hälfte der Zeit gewährt. Ferner sagen Arbeitsmarkt flexibler wird. Das heißt, Sie sagen Eltern Sie: Besserverdienende bekommen monatlich bis zu mit zwei schulpflichtigen Kindern: Wenn ihr einen Ar- 1 800 Euro. – Es ist doch nicht hinnehmbar, dass Sie Ar- beitsplatz wollt, müsst ihr auch bereit sein, das Bundes- beitslosen nur noch die Hälfte geben und den Besserver- land zu wechseln. Das sei heute nun einmal so. Ich will dienenden dagegen ein Elterngeld in Höhe von bis zu jetzt einmal davon absehen, dass Ihre gesamte Ideologie (B) 1 800 Euro zugestehen. Das ist nicht nachvollziehbar. in Bezug auf Kirchenchor und Schützenverein, denen (D) Das ist eine reine Umverteilung. man vielleicht sogar 40 Jahre lang angehören sollte, an- gesichts eines so flexiblen Arbeitsmarkts nicht mehr auf- (Beifall bei der LINKEN – Steffen Kampeter geht; das geht alles ein bisschen durcheinander. Aber das [CDU/CSU]: Das ist Neidpolitik, nur Neid- macht ja nichts; das ist Ihr Problem. politik!) (Heiterkeit bei der LINKEN sowie bei Abge- Wenn wir die Steuer- und Abgabenquote Frank- ordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- reichs hätten, hätten wir im Jahr 200 Milliarden Euro NEN) Mehreinnahmen und brauchten alle diese sozialen Kür- zungen nicht. Wenn wir nur den Durchschnitt der Steuer- Ich will auf etwas ganz anderes hinaus: Die Eltern und Abgabenquote in der EU hätten, wären unsere Ein- können das alles doch nicht mehr verantworten. Wenn nahmen aufgrund von Steuern und Abgaben um 6 Pro- Eltern mit schulpflichtigen Kindern heute zweimal das zent höher; das entspräche 130 Milliarden Euro. All Bundesland wechseln müssen, verhalten sie sich gegen- diese Zahlen stammen aus der OECD-Statistik. Ich finde über ihren Kindern unverantwortlich und verschlechtern es gut, wenn immer wieder darauf hingewiesen wird, deren Bildungschancen. Es ist keine Strukturfrage, son- wie die Realitäten in anderen Ländern aussehen. dern eine Frage der Chancengleichheit für unsere Kin- der, dass wir einheitliche Qualitätsstandards für die Bil- Sie haben auch noch die tolle Idee, die Einrichtungen dung in ganz Deutschland einführen. der öffentlichen Daseinsvorsorge zu privatisieren. Ich (Beifall bei der LINKEN) warte die Ergebnisse Ihrer Gesundheitsreform ab; ich will mich vorher nicht festlegen. Das Einzige, was ich Das Abitur in Bayern und das in Mecklenburg-Vorpom- bis jetzt verstanden habe, ist: Sie wollen eine neue große mern müssen gleich viel wert werden. Dafür haben wir Bürokratie schaffen. zu sorgen, und auch dafür, dass der Abschluss nach der zehnten Klasse und die Berufsausbildung gleichwertig (Dr. Peter Struck [SPD]: Quatsch! Unsinn!) werden. Was sie bringen soll, ist mir völlig schleierhaft. Aber, Ich verstehe Ihre Haltung nicht. Es ist eine einfache wie gesagt, ich warte die Vorschläge ab. – Nur noch Fol- Frage der Logik. Da muss man nicht links oder rechts gendes: Ich habe heute gelesen, sogar die Besserverdie- oder sonst etwas sein, sondern einfach nur vernünftig nenden sollen mehr bezahlen. Ich bin sehr gespannt, was und schon könnte man das anders regeln. Dann würden dabei herauskommt. Sie auch die Bevölkerung für das Prinzip des Föderalis- 3548 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Dr. Gregor Gysi (A) mus begeistern können. Diese Strukturhackerei, die Ver- jedem Land machen. Hier sind also Verbesserungen (C) fahrensweise, dass die reichen Bundesländer meinen, sie möglich. könnten die Bedingungen für die armen diktieren, wird niemandem einleuchten, und das zu Recht. Wir brauchen keine Arbeitszeitverlängerung, sondern Arbeitszeitverkürzung. Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zur deut- schen Einheit sagen. Wir haben jetzt den Abschluss (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Blödsinn!) zwischen den zuständigen Landesministern und dem Wir brauchen gerechte Steuern – ich hatte darüber Marburger Bund für die Klinikärzte erlebt. Ich sage Ih- gesprochen – und Investitionen in Bildung, Kultur, Wis- nen: Das ist einfach eine Unverschämtheit; es ist wirk- senschaft, Forschung und Infrastruktur. Liebe Frau lich eine Unverschämtheit. Bundeskanzlerin, die Situation der Ostdeutschen, der Arbeitslosen in ganz Deutschland, der gering und durch- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) schnittlich verdienenden Arbeitnehmerinnen und Arbeit- Sie stellen sich im Jahre 16 der deutschen Einheit hin nehmer, der Kranken und der Rentnerinnen und Rentner und sagen: Im ersten und im zweiten Jahr erhält eine verlangt unser Nein zu Ihrem Etat. Klinikärztin oder ein Klinikarzt in den neuen Bundeslän- Danke. dern mit Sicherheit 400 Euro weniger als eine Klinikärz- tin oder ein Klinikarzt in den alten Bundesländern. Das (Anhaltender Beifall bei der LINKEN) ist arrogant. Es ist demütigend. Es ist ökonomisch falsch und sozial grob ungerecht. Das ist durch nichts mehr zu Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: verteidigen – wirklich nicht. Nächster Redner ist der Kollege Olaf Scholz, SPD- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Fraktion. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nun wollen wir einmal sehen, wie es dort weitergeht. der CDU/CSU) Aber ich weiß natürlich, wer da sitzt. Ich weiß, welche Landesminister und wer da vom Marburger Bund sitzt. Olaf Scholz (SPD): Diese Arroganz müssen wir überwinden. Wir brauchen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nicht eine Einheit, wir brauchen eine Vereinigung. Das „Uff“ möchte man sagen, wenn Herr Gysi gesprochen heißt, wir müssen aufeinander zugehen. hat. Er ist alles losgeworden, was er einmal sagen wollte, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Neue Töne bei auch wenn nicht alles einen großen Zusammenhang (B) der PDS!) hatte. (D) Frau Bundeskanzlerin, Sie kommen aus Ostdeutsch- (Dr. [DIE LINKE]: Er land; deshalb interessiert mich sehr, ob Sie diesbezüglich hätte noch viel mehr zu sagen!) etwas leisten werden, ob Sie wenigstens einen Fahrplan Wenn man zugehört hat, was links außen und rechts aufstellen. Sind Sie dafür, dass man für die gleiche Ar- außen im Parlament gesprochen wurde – so ist jedenfalls beit den gleichen Lohn erhält? Sind Sie dafür, dass man die Sitzordnung von FDP und Linken –, dann hat man für die gleiche Lebensleistung die gleiche Rente erhält? das Gefühl: Das sind zwei Gegensätze, die sich hier mit- Ich weiß, Sie können das nicht zum 1. Januar 2007 ein- einander unterhalten wollen. Die einen sagen: Das Übel, führen; das verlange ich auch nicht. Aber es wäre doch das wir in unserer Gesellschaft haben, ist der Staat. Die nicht falsch, wenn Sie Auskunft gäben und sagten: Das anderen sagen: Der Staat löst alle unsere Probleme, dann ist unser Fahrplan. In diesen Schritten wollen wir das er- kommt Manna vom Himmel und wir müssen keine Poli- reichen. – Wir haben diesbezüglich noch nichts von tik mehr machen. – Das ist keine sinnvolle Politik, das Ihnen gehört. Ich will wissen, ob Sie die Angleichung ist nicht maßvoll. Ich glaube, dass man sich mehr Mühe wollen oder ob sie bei dieser Bundesregierung abge- geben muss, wenn man das Land regieren will, als sol- schrieben ist. che Sprüche abzulassen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wenn wir die Arbeitslosigkeit senken wollen, brau- Ich glaube auch, dass sich die FDP, die eine große chen wir einen öffentlich geförderten Beschäftigungs- Tradition als Regierungspartei in unserem Land hat, sektor wie in Mecklenburg-Vorpommern. 600 Sozial- arbeiterinnen und Sozialarbeiter arbeiten dort nachmittags (Zurufe von der SPD: Hatte!) an den Schulen, machen Förderunterricht und vieles an- überlegen muss, ob sie sich in diesem Gegensatz und mit dere. Sie erzielen Einnahmen. Diese Einnahmen reichen dieser extremen Positionierung in Fragen der Sozialpoli- aber nicht aus, um sie zu bezahlen. Also zahlt das Land tik richtig verortet. Sie wäre gut beraten, das zu ändern. etwas dazu. Dadurch spart der Bund Arbeitslosengeld. Glauben Sie, wir bekommen solch eine kleine Struk- Es ist von Herrn Brüderle und auch in vielen anderen turfrage geregelt? Man könnte etwa sagen: Von dem ge- Reden schon gesagt worden: Da gibt es Kontinuität. Es sparten Geld geht die Hälfte an Mecklenburg-Vorpom- gab sieben Jahre lang die Regierung Schröder/Fischer. mern, dann könnte es den öffentlich geförderten Wenn man schaut, was jetzt passiert, dann stellt man Beschäftigungssektor erweitern. So könnte man das in fest, dass vieles bei dem ansetzt, was schon vorher statt- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3549

Olaf Scholz (A) gefunden hat. Ich frage mich immer, warum ich mich Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) darüber ärgern soll. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle? (Beifall bei der FDP) Ich fand, die sieben Jahre der rot-grünen Regierung wa- Olaf Scholz (SPD): ren nicht so schlecht, meine Damen und Herren. Ja. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Guido Westerwelle (FDP): Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir müssen ja Herr Kollege, Sie haben gesagt, wir sollten uns ein- nicht in allen Fragen einer Meinung sein! – mal vorstellen, wir würden zusammen regieren. Als die Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Eine kluge erste Variante, das Antidiskriminierungsgesetz, in der Rede von Herrn Scholz!) letzten Legislaturperiode beschlossen worden ist, regier- ten SPD und FDP zusammen, und zwar im Land Rhein- Deshalb: Reden Sie nur weiter so! Das macht noch land-Pfalz. Ist Ihnen bekannt, dass es seinerzeit aus einmal deutlich, dass das, was wir heute tun, was wir Rheinland-Pfalz – mit dem Ministerpräsidenten und jet- heute fortsetzen, was wir heute weiterentwickeln, an zigen SPD-Vorsitzenden Kurt Beck – nicht nur verbalen eine der mutigsten Reformpolitiken der letzten Jahr- Widerstand gegen das Prinzip „Toleranz durch Bürokra- zehnte anknüpft, die in der siebenjährigen Regierungs- tie“ gab? zeit der vorherigen Regierung angefangen hat. Es ist (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE richtig, dass wir da weitermachen und nicht aufhören GRÜNEN]: Guido!) oder eine Kehrtwende beginnen.

(Beifall bei der SPD) Olaf Scholz (SPD): Es ist mir nicht bekannt, dass Kurt Beck den Aus- Zum Antidiskriminierungsgesetz. druck „Toleranz durch Bürokratie“ verwandt hat; dafür (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ist er viel zu intelligent. NEN]: Juhu!) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Herr Brüderle hat darüber gesprochen, Herr Westerwelle Es ist mir aber sehr wohl bekannt, dass zum Beispiel der wird sicherlich auch noch darüber sprechen. rheinland-pfälzische Ministerpräsident und der frühere nordrhein-westfälische Ministerpräsident, der jetzt Fi- (B) (Otto Fricke [FDP]: Das heißt doch gar nicht nanzminister dieser Republik ist – ich habe damals öfter (D) mehr so!) mit ihm darüber diskutiert –, dafür gesorgt haben, dass – Das heißt jetzt Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz; der erste Gesetzentwurf, über den wir geredet haben, so das ist übrigens ein wirklicher Fortschritt. gut geworden ist, dass wir jetzt auf dieser qualitätsvollen Arbeit aufbauen können. (Lachen bei der FPD) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker Beck – Ja, das klingt besser. [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Herr Westerwelle, ich möchte mein Gedankenspiel Ich stelle mir immer vor – es war schon einmal so –, noch ergänzen. Wären Sie in der Regierung, müssten Sie die FDP würde mit den Sozialdemokraten regieren. den Gesetzentwurf hier rechtfertigen. Das ist eine Per- Dann müssten Sie von der FDP das Allgemeine Gleich- spektive, die sich eine Partei wie die Ihre gelegentlich behandlungsgesetz, so wie es dem Deutschen Bundestag erlauben sollte. Sie sollten darüber nachdenken: Ginge vorliegt, hier begründen. das, was ich in der Opposition sage, auf, wenn ich in der (Zurufe von der FDP: Nein!) Regierung wäre? Könnte ich irgendetwas von dem, was ich hier erzähle, wahr machen? Oder gibt es Umstände, Ich frage mich immer, was Herr Brüderle dann sagen Zwänge, gesetzliche Regelungen, die es mir gar nicht er- würde. Er würde wohl sagen: Das muss so gemacht wer- möglichten, die großen Reden fortzuführen, die ich vor- den; denn es gibt europäische Richtlinien. Wir haben gar her gehalten habe? keine große Wahl, wir müssen es so tun. – Herr Westerwelle würde wohl sagen: Das ist richtig so; denn Ich bin ganz sicher, dass sich unsere Freunde von der wenn wir schon von der EU gezwungen werden, vorzu- Union zwar ärgern, dass sie Ihnen nicht die Rede halten schreiben, dass Ausländer und Frauen im allgemeinen können, die Herr Brüderle der Union hält, sich aber mehr Zivilleben nicht diskriminiert werden dürfen, dann lässt darüber freuen, dass sie in der Regierung sind und Ge- sich nicht gut erklären, warum wir nicht auch alten Men- staltungsmacht haben, anstatt hier Reden ohne Wirkung schen, Behinderten oder Homosexuellen den gleichen zu halten. Schutz gewähren sollen. Das ist der Grund dafür, dass (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) wir dieses Gesetz so beschließen wollen. Seitdem sich die neue Regierung gebildet hat, ist eine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ganze Reihe von Reformen auf den Weg gebracht wor- DIE GRÜNEN) den, die mit großen Schritten vorangebracht werden. Es 3550 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Olaf Scholz (A) ist merkwürdig, was wir jetzt erleben: Der eine schreibt ßen Studierendenbergs und der notwendige massive (C) auf Seite 3 der Zeitung, nichts geschehe; der andere Ausbau in Bezug auf unsere Forschungseinrichtungen schreibt auf Seite 2, alle seien nervös, weil jetzt so große und Universitäten dürfen nicht behindert werden, weil Dinge passierten. Die Wahrheit ist: Beides zugleich kann wir im Zuge der Verfassungsreform etwa nicht aufge- nicht richtig sein, schon gar nicht, wenn beides in einem passt haben. Wir werden aufpassen. Das wird uns gelin- Leitartikel steht. Es kommt aber vor, dass beides be- gen; ich bin da ganz optimistisch. hauptet wird. Deshalb möchte ich ein paar Punkte nen- nen, bei denen wir große Fortschritte machen und die Eine der wichtigen Aufgaben, die wir haben und die eine Rolle bei dem, was wir in dieser Koalition in der angesichts der jetzigen Regierungskonstellation viel- nächsten Zeit voranbringen wollen, spielen. leicht etwas Besonderes ist, ist es, dafür zu sorgen, dass das Vertrauen der Menschen in die sozialen Sicherungs- Wir sorgen dafür, dass der föderale Staatsaufbau ver- systeme wieder hergestellt wird, so wie es vor vielen nünftig organisiert wird. Wir brauchen eine Föderalis- Jahren, vor Jahrzehnten, war. Das Vertrauen ist in die musreform. Franz Müntefering und Edmund Stoiber ha- Krise geraten, weil Einnahmen und Ausgaben nicht ben eine große Rolle dabei gespielt, die Dinge zur Zeit mehr ohne weiteres zusammenpassen, weil die wirt- der rot-grünen Koalition voranzubringen. schaftliche und die demografische Entwicklung, die Zu- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Vor allen sammensetzung unserer Bevölkerung, Spuren hinterlas- Dingen Stoiber!) sen hat. Wir werden die Reform jetzt realisieren; wir wollen vor Die Sozialversicherung, insbesondere die Renten- der Sommerpause fertig sein. und die Krankenversicherung, ist zutiefst mit der Ge- schichte unseres Landes verbunden. Sie ist keine Erfin- Der Gesetzentwurf, der hier zur Beratung steht, ist so dung der letzten Jahre, sondern ist weit über 100 Jahre gut, dass er dafür sorgen würde, dass viel weniger Ge- alt; sie stammt noch aus dem vorletzten Jahrhundert. setze im Bundesrat zustimmungspflichtig wären, als es Deshalb gehört eine gute sozialstaatliche Struktur mit in der Vergangenheit der Fall war. Das zu erreichen, ha- dem System der sozialen Sicherung zur Identität, zum ben wir den Bürgerinnen und Bürgern versprochen. Selbstverständnis der Deutschen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Die Sozialversicherung gehört auch zur Traditionsge- CDU/CSU) schichte der beiden Koalitionsparteien; denn der Grund- Wir haben ihnen auch versprochen, dass wir uns nicht stein dafür wurde im vorletzten Jahrhundert von einem nur mit uns selbst beschäftigen und wir es uns sparen Vorfahren eines jetzigen Bundestagsabgeordneten – ich wollen, darüber zu diskutieren, wer wann nachts um vier grüße Carl-Eduard von Bismarck – gelegt, indem er ent- (B) (D) im Vermittlungsausschuss was gemacht hat. schieden hat, zwei Dinge zu tun: erstens die Sozialdemo- kraten ins Gefängnis zu werfen und zweitens dafür zu Wir wollen mit der Föderalismusreform dafür sorgen, sorgen, dass eine Sozialversicherung aufgebaut wird, da- dass die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, mit die Leute nicht auf falsche Gedanken kommen. Das zu entscheiden: Der Struck hat es gut gemacht, der war der Beginn der Sozialversicherung. Westerwelle hat es schlecht gemacht; das berücksichtige ich jetzt bei meinen Wahlentscheidungen. Das ist nicht Es gehört auch zur deutschen Geschichte, dass Kon- möglich, wenn die Verantwortung nicht zugeordnet wer- servative und Sozialdemokraten den Sozialstaat weiter- den kann. Es tut dem Föderalismus gut, wenn die Verant- entwickelt haben. Deshalb wäre es eine große Sache, wortung des Bundes und die Verantwortung der Länder wenn wir es im Bereich Rente und Gesundheit fertig auseinander gehalten werden können. Wir sind für einen bringen würden, einen Konsens zu erzielen, der 10, 20 föderalen Staat; wir wollen ihn stärken und nicht schwä- oder 30 Jahre Bestand hat, und den Menschen damit sa- chen. gen, dass sie sich auf die Sozialversicherung in Deutsch- land verlassen können. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Natürlich muss es Verbesserungen geben. Es ist eine der CDU/CSU) große Sache, dass es uns gelungen ist, eine Verfassungs- besonderheit zustande gebracht zu haben, nämlich eine Bei der Rente sind wir aufgrund der Reformen der gemeinsame Anhörung von Bundestag und Bundesrat letzten Jahre schon sehr weit. Was noch geschehen muss, im Wesentlichen in diesem Saal. Wir alle wissen: Es wird auch geschehen. Irgendwann kann man dann nach muss etwas geändert werden. Das ist für uns Sozialde- vielen Jahren der Propaganda, in denen gesagt wurde, mokratinnen und Sozialdemokraten ganz klar. Wir wol- das Rentenversicherungssystem habe keine Zukunft, len diese Reform, aber wir wollen noch Veränderungen, nicht nur sagen: „Die Rechnung, dass sich Einnahmen die es in der nächsten Woche geben wird. Das wird für und Ausgaben ausgleichen, geht auf“, sondern auch da- jeden sichtbar sein. rauf hoffen, dass die Menschen wieder an die Rentenver- sicherung glauben, weil sie wissen, dass sie in die Zu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kunft investieren. Ich glaube, das ist ganz wichtig. Die der CDU/CSU) meisten Menschen sind nicht so reich, dass sie sich alle Wichtig ist – das wurde schon gesagt –, dass es im vier Jahre einen Systemwechsel bei der Kranken- und Bereich von Wissenschaft und Forschung möglich sein der Rentenversicherung leisten könnten. Die meisten muss, zusammenzuarbeiten. Die Bewältigung des gro- Menschen werden nervös, wenn alle vier Jahre alles zur Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3551

Olaf Scholz (A) Disposition steht. Sie sind darauf angewiesen, dass wir, Zu unseren Aufgaben gehört auch, dass wir den Haus- (C) die Abgeordneten in diesem Haus und die Bundesregie- halt weiter konsolidieren. Das ist nicht leicht. Es ist vor rung, dafür sorgen, dass der Sozialstaat funktioniert. Das allem nicht so leicht, wie die Leichtmacher sich das den- ist die Aufgabe, der wir nachkommen müssen. ken; denn es gibt eine große Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben. Als Nächstes liegt die Reform der Krankenversiche- rung an. Dazu ist schon einiges gesagt worden. Ich (Zuruf von der FDP: Wer hat die verursacht?) glaube, dass wir es hinbekommen, eine Reform der Krankenversicherung auf solidarischer Basis zustande Deshalb muss man dafür sorgen, dass die Lücke kleiner zu bringen. Das ist notwendig; denn die Menschen ver- wird. Der Koalitionsvertrag hat dazu eine klare Aussage langen von uns, dass wir Solidarität herstellen. Solidari- getroffen. Es lohnt sich, sich diese gelegentlich ins Ge- tät ist gut für diejenigen, die wenig verdienen und die dächtnis zu rufen. Ich will das tun. Auch die Kanzlerin sich ohne solidarische Strukturen etwa in der Kranken- hat einen Teil daraus vorgetragen. versicherung einen vollwertigen Versicherungsschutz Wir werden: sanieren, reformieren und investieren nicht leisten könnten. Darum brauchen wir Solidarität und dabei die Lasten gerecht auf alle Schultern ver- insbesondere für die Menschen, die wenig verdienen. teilen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir werden mutig sparen und Subventionen ab- der CDU/CSU) bauen. Das hat Vorrang. Aber ohne Steuererhöhung Wir brauchen Solidarität für die Unternehmer, die ist die für unser Land wichtige Konsolidierung diese Menschen beschäftigen wollen. Wir sprechen hier nicht zu schaffen. über Lohnnebenkosten und über Kosten der Arbeit. Soli- Dieses Zitat aus dem Koalitionsvertrag ist wahr und darität bedeutet in diesem Zusammenhang Entlastung richtig. Seitdem wir gemeinsam regieren, sind wir daran, der Unternehmer; denn davon profitieren gerade Men- diese klare Aussage in allen Details bei der Haushalts- schen mit geringer Qualifikation und geringem Einkom- konsolidierung umzusetzen. men. Die Unternehmer dürfen in einem solidarischen System nicht überproportional hohe Beiträge zur Kran- Auch da gibt es eine gewisse Kontinuität; man ist ja kenversicherung dieser Arbeitnehmer leisten müssen. nicht geschichtslos. Manche der Subventionen, die in Deshalb ist es richtig, dass wir das Krankenversiche- den letzten Monaten abgebaut worden sind, und die Sub- rungssystem unter Beachtung des Solidaritätsprinzips in ventionen, die wir demnächst abbauen werden, haben Ordnung bringen. mehrfach auf der Tagesordnung dieses Parlaments ge- standen. Aber es war immer das gleiche Spiel: Der Bun- (B) Sie wissen, dass darüber diskutiert wird. Über Mo- destag schaffte sie ab, der Bundesrat rettete die Subven- (D) delle kann man allerdings erst dann diskutieren, wenn tionen. Dieses Spiel ist jetzt aus. Das ist der eigentliche sie endgültig da sind. Eines kann man aber als Sozialde- Fortschritt. Wir treiben den Subventionsabbau voran, ob mokrat schon jetzt sagen: Ein Beitrag zur Solidarität das Filmfonds betrifft, ob das die Eigenheimzulage ist wird sein müssen, dass wir dafür sorgen, dass man sich oder ob das verschiedene einfach oder schwer zu be- von der Sozialversicherung nicht verabschieden kann. gründende Subventionen sind. Wir sind miteinander mu- Es darf nicht sein, dass man sich, wie es bei Steueroasen tig. der Fall ist – Beispiel Cayman Islands –, der Solidarität entzieht. Das haben wir allerdings mit dem Nebeneinan- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der von privater und gesetzlicher Krankenversicherung, NEN]: „Miteinander mutig“!) so wie es heute organisiert ist. Wir brauchen vielmehr ein Miteinander. Es gibt viele Wege, wie man das ma- Das ist wichtig, weil wir unser Land und den Staatshaus- chen kann. Darüber reden und streiten wir. Ich bin si- halt in Ordnung bringen wollen. cher, dass wir einen vernünftigen Weg finden werden. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Die Menschen werden dafür sein, dass es solidarisch zu- geht. Da kann die FDP sagen, was sie will. Herr Gysi, Steuererhöhungen für alles und jeden sind nicht die Lösung des Problems. Daher kommt auch nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten das viele Geld, das Sie sich erhoffen. Wir müssen dafür der CDUCSU) sorgen, dass wir die richtige Balance finden. Wir brau- Bei dieser Gelegenheit möchte ich darauf hinweisen, chen eine Besteuerung, die für die Menschen, für die dass in den Fußballstadien, die von einigen von uns be- Unternehmen und international vertretbar ist. Gleichzei- sucht werden, gelegentlich ein sozialdemokratisches tig brauchen wir eine Situation, in der der Staat die Auf- Grundsatzprogramm in Form eines Liedes vorgetragen gaben, die – ich wähle jetzt mal diese Reihenfolge – die wird. Das berührt die Frage, wie wir mit der Gesund- Unternehmen, die Bürgerinnen und Bürger, die Arbeit- heits- und Rentenreform umgehen. Das Grundsatzpro- nehmer, die Studierenden, die Schülerinnen und Schüler, gramm, das dort vorgetragen wird, heißt: You‘ll never die alle an uns stellen, auch erfüllen kann. Der Staat walk alone. Das ist eigentlich die richtige Überschrift für muss dazu in der Lage sein. Man kann nicht eine super ein sozialdemokratisches Grundsatzprogramm. So sehen Autobahn haben und gleichzeitig keine Steuern zahlen wir die Welt. Ich frage mich, wie Sie sie sehen. wollen. Beides gleichzeitig geht nicht. Deshalb werden wir immer das richtige Maß finden müssen. Über dieses (Beifall bei der SPD) Maß kann man streiten. Ich will gerne hinzufügen, dass 3552 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Olaf Scholz (A) Mitte und Maß gute Tugenden des Handwerks in unse- schritt. Es war richtig, dass wir das Angebot an Ganz- (C) rem Land sind. tagsschulen ausgebaut haben. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD) GRÜNEN]: Mittelmaß!) Es ist ein Zielwechsel gelungen. Anders als vor wenigen Es ist die Sache von Außenseitern, zu behaupten, dass Jahren sagt die ganze Republik, weitgehend parteiüber- Mitte und Maß etwas mit Mittelmäßigkeit zu tun hätten. greifend: Wir müssen ein Angebot an Ganztagskrippen, Wir werden uns gegen diese Diskreditierung vernünfti- -kindergärten und -schulen haben. Niemand diskutiert ger Politik immer zur Wehr setzen. heute mehr darüber, dass Eltern, die ihre Kinder dort hinschicken, Rabeneltern wären. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Uns ist schon etwas gelungen, Niemand – zumindest sind es nicht viele – diskutiert heute mehr darüber, dass es schlecht für die Kinder ist, (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE wenn sie eine Ganztagseinrichtung besuchen. Umge- GRÜNEN]: Was denn?) kehrt wissen wir, dass wir manchen unserer jungen sogar eine so schwierige Operation – Herr Gysi und an- Leute nur dann eine Chance geben können, wenn wir ih- dere haben darüber geredet – wie die Erhöhung der nen ganz früh Förderung angedeihen lassen, die sie auf- Mehrwertsteuer. Die ist ja niemandem leicht gefallen. grund der Hintergründe und Umstände von ihren Eltern Keiner macht das gerne, gleich ob vor oder nach Wahl- nicht bekommen können. kämpfen, es bleibt schwierig, wenn man Steuern erhöht. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE NEN]) GRÜNEN]: Große Leistung! Alles wird teu- rer! – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich bin froh, dass sich diese Linie mit dem Elterngeld NEN]: Peinlich!) fortsetzt. Das ist eine ganz moderne Familienpolitik. Man muss Demagoge sein, um das schlecht zu finden. – Seid mal froh, dass ihr nicht mitregieren müsst, dann Es ist eine moderne Politik, weil sie bei den Bedürfnis- wäret ihr auch dafür! sen der jungen Eltern ansetzt, die sich für Kinder ent- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) scheiden, die Beruf und Familie vereinbaren wollen. Wenn wir das jetzt in Deutschland umsetzen, folgen wir Die Menschen sind nicht so aufgeregt, wie die De- Staaten, die uns ansonsten als Vorbild entgegengehalten (B) batte in diesem Parlament geführt wird. Was ist uns nicht werden, zum Beispiel Schweden und Frankreich. Das ist (D) alles vorhergesagt worden? Es wurden Kampagnen in eine soziale Maßnahme, das ist eine Maßnahme für alle. Zeitungen geschaltet und für diejenigen, die das aufhal- ten wollten, wurden Orden verteilt. Jetzt wurde gesagt: Eines möchte ich in diesem Zusammenhang noch sa- Das ist die letzte Chance, das sind diejenigen, die das gen: Wer, wie Herr Gysi, jemanden, der 1 600 Euro El- aufhalten können. Wir haben es trotzdem gemacht. Die terngeld bekommt, weil er sich als Vater um die Betreu- Menschen freuen sich zwar nicht, verstehen aber, warum ung der Kinder kümmert, als Besserverdiener das geschehen ist. Deshalb sind sie mit dem Gesamter- beschimpft, der zeigt, dass er keine Ahnung von dieser gebnis dieser Entscheidung einverstanden. Welt hat. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schönen Dank. Ihr habt die Leute angelogen! So ist es!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Das wird übrigens auch für ein anderes Thema gelten, das viele aufregt. Es betrifft nicht alle, auch nicht alle Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Mitglieder dieses Hauses. Ich bin zwar nicht über die Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast, Nebeneinkünfte eines jeden Abgeordneten informiert, Bündnis 90/Die Grünen. glaube aber, dass mit der Reichensteuer keiner oder fast keiner etwas zu tun haben wird. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Lachen und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau GRÜNEN – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Bundeskanzlerin, ich habe ja geahnt, dass Sie in Ihrer Oskar Lafontaine!) Rede als Erstes versuchen werden, ein bisschen Honig aus der jetzt laufenden Fußballweltmeisterschaft zu sau- – Oskar Lafontaine, das kann sein. – Dass sie kommt, ist gen. gut, weil das zeigt, dass wir die soziale Balance in dem (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sie auch! Sie Besteuerungssystem dieses Landes zustande gebracht haben das in der „Bild“-Zeitung gemacht! – haben. Es ist richtig, dass diejenigen, die über breite Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aber locker, Schultern verfügen, mitmachen. Mädchen! Locker bleiben!) Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen. Ei- – Jetzt operieren wir schon mit dem Wort Mädchen, jun- nen der größten Fortschritte machen wir auf dem Gebiet ger Mann. der Familienpolitik. Hier gibt es eine gute Kontinuitäts- linie. Das Ganztagsbetreuungsprogramm war ein Fort- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Danke sehr!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3553

Renate Künast (A) Sie haben versucht, den Fußball an dieser Stelle zu Ich will mit dem Thema Elterngeld anfangen. Ich (C) nutzen. Aber wahr ist: Wir Abgeordnete haben nicht mit- gratuliere Frau von der Leyen. Der Kampf, den Sie ge- trainiert und wir haben auch nicht mitgespielt. Dass in gen die Männer in der CDU/CSU geführt haben, war si- diesem Land im Augenblick gute Stimmung ist, heißt cherlich nicht einfach. nicht, dass die gute Stimmung der Regierung geschuldet (Volker Kauder [CDU/CSU]: Unsinn! – ist, sondern dem Team von Herrn Klinsmann und denen, Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist ein die auf diesem Feld spielen. Darüber können wir alle vergiftetes Lob! Das merken wir schon!) glücklich und froh sein. Die Leistung, die Klinsmann mit seinen Männern erbracht hat, haben Sie, Frau Merkel, – Das ist einfach die Wahrheit, das ist kein vergifteter erst noch vor sich. Pfeil. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber ich sage Ihnen eines: Das Elterngeld und vor al- lem die Vätermonate – wie Herr Pofalla, die junge auf- Im Gegensatz zu Klinsmann, der das Team systematisch strebende Kraft in der CDU/CSU, sie nennt – zeigen, entwickelt hat, haben wir bei der Bundesregierung im wie weit Sie, die CDU/CSU, noch von der Realität in Augenblick doch wohl eher die Sorge, dass Sie mehr Deutschland entfernt sind. Das Elterngeld ist vielleicht und mehr Ausfälle in der Truppe haben. Das werde ich ein großer Schritt für die CDU/CSU, um endlich aus den Ihnen begründen. 70er-Jahren heraus und im Jahr 2006 anzukommen. Aber dieses Geld ist kein großer Schritt für die Väter Lieber Olaf, du hast gesagt, dass in den Stadien und Mütter in dieser Republik, weil es ihre Probleme „You’ll never walk alone“ gesungen wird. Die Zu- nicht löst. schauer sagen: Dieses Team wird nicht alleine laufen, weil sie Solidarität empfinden und sich mitgenommen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fühlen. Sie jubeln einem Team zu, dessen Trainer sagt: sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- Jeder ist wichtig für unseren Erfolg. Diese Leistung, KEN) wirklich alle Menschen in dieser Republik einzubezie- Die Kernfrage lautet: Was macht man in diesem Land als hen, mitzunehmen, jedem eine Chance zu geben und Mutter oder Vater, wenn das eigene Kind zwölf oder kein Kind auf der Strecke liegen zu lassen, muss die 14 Monate alt ist? Hier lassen Sie die erwerbstätigen Vä- Bundesregierung erst noch erbringen. Ich sehe sie noch ter und Mütter allein. nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – sowie bei Abgeordneten der FDP – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was schlagen Sie (B) Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Seien Sie doch (D) nicht so verkrampft!) denn vor, Frau Künast?) Wir werden unseren Teil dazu beitragen. Aber das än- Ich gebe zu: Das, was Sie vorschlagen, sieht modern dert nichts daran – das sage ich in Richtung SPD –, dass aus. Aber die Leute merken, dass das Problem dadurch die Regierung als Erstes eine Bringschuld hat, Vor- nicht gelöst wird. schläge zu machen. Dazu muss ich Ihnen sagen: Auf die (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was schla- vielen Fragen, die im Augenblick auf der Agenda sind gen Sie denn nun vor?) – wie schaffen wir Arbeitsplätze inmitten einer interna- tionalen Konkurrenz, wie erhalten wir die natürlichen Auch Ihr Familiensplitting ist ein solcher Coup. Lebensgrundlagen, wie schaffen wir eine Energieversor- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Halt! Nicht gung ohne Atomrisiko und ohne Klimazerstörung? –, das Thema wechseln! Sagen Sie: Wie sieht Ihr habe ich hier noch keine Antworten gehört. Ich muss Ih- Vorschlag aus?) nen auch sagen: Die Antwort auf die Frage, wie man in diesem Land Job und Kinder vereinbaren kann, ist von Durch das Familiensplitting werden letztlich wieder die- Ihnen auch noch nicht gegeben worden. jenigen privilegiert, die hohe Einkommen haben. Das Ergebnis ist, dass Kinder in dieser Republik unterschied- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- lich behandelt werden. Dadurch organisieren Sie, viel- SES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: leicht als schöner Schein, ein Stück Modernisierung der Wir machen das!) CDU. Aber wahr ist: Sie zementieren eine neue finan- zielle Ungerechtigkeit zulasten der Kinder. – Sie sagen, Sie würden das machen. Ich sage Ihnen: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Was Sie machen, sind zwei Dinge. Sie inszenieren sich sowie bei Abgeordneten der LINKEN – als Koalition und entwickeln sich in Ihrem Streit in Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was wollen Richtung kleinstes Karo – man nennt das auch Pepita; Sie?) das ist kleinkariert –, ohne dass Sie wirklich Lösungen anbieten. Bei der CDU/CSU habe ich darüber hinaus im Wir wollen das Ehegattensplitting in eine Individual- Augenblick das Gefühl, dass sie sich im Wesentlichen besteuerung mit einem übertragbaren Höchstbetrag von mit sich selbst beschäftigt. Die CDU/CSU beschäftigt 10 000 Euro umwandeln. Das führt letztlich zu einer sich mit den Fragen, wie sie Ihnen von der SPD in den Einsparung in Höhe von 5 Milliarden Euro. Diese Städten die Wählerschaft abgreifen kann und wie sie 5 Milliarden Euro sind die Antwort auf die Frage: Was sich selber ein modernes Antlitz gibt. mache ich mit meinem zwölf Monate alten Kind, wenn 3554 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Renate Künast (A) ich erwerbstätig sein will bzw. muss? Mit diesen (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ach! Das (C) 5 Milliarden Euro kann man eine Betreuung der Kinder ist Quatsch! Das wissen Sie doch besser!) nach dem ersten Lebensjahr finanzieren. Dafür haben wir ein Konzept vorgelegt, über das wir gerne mit Ihnen Das ist der großkoalitionäre, aber kleinkarierte Konsens. diskutieren. Letztlich einigen Sie sich immer auf den Nenner, dem kleinen Mann in die Tasche zu greifen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unser Ziel muss immer sein, die Kinder in den Mittel- sowie bei Abgeordneten der LINKEN – punkt unserer politischen Bemühungen zu stellen und Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das ist ja darauf hinzuwirken, dass jedes einzelne Kind gefördert „PDS light“!) wird. Wir alle kennen die OECD- und PISA-Studien, an denen deutlich wird, dass immer mehr Kinder aus bil- Wir brauchen eine konsequente Unternehmensteuer- dungsfernen sowie finanziell und sozial schwachen Fa- reform. Zwar muss unser Steuerrecht international wett- milien – überproportional aus Migrantenfamilien –, bewerbsfähig sein. Aber die Unternehmensteuerreform wenn sie im Alter von sechs Jahren in die Schule kom- sollte aufkommensneutral sein. Sie sollte weder zulasten men, ein Entwicklungsdefizit von ein bis zwei Jahren der öffentlichen Haushalte noch zulasten der kleinen aufweisen. Dieses Defizit in der Entwicklung der Kinder Leute gehen, sondern mit einer Verbreiterung der Be- tut mir in der Seele weh. Deshalb sage ich: Wir brauchen messungsgrundlage bei den Unternehmensteuern einher- kein Familiensplitting, sondern wir müssen das Geld gehen. So wird ein Schuh daraus. umtopfen, um ganz konkret die Förderung der Kinder zu (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gewährleisten. Jedes Kind braucht einen guten Betreu- SES 90/DIE GRÜNEN) ungsplatz und muss in jeder Hinsicht gefördert werden. Das ist deren, das ist unsere Zukunft. Wir brauchen im Steuerrecht Mechanismen, um end- lich die Gewinnverlagerung ins Ausland an entscheiden- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Stelle zu durchbrechen. Wir brauchen eine Stärkung Da ich von einer neuen Ungerechtigkeit gesprochen des Mittelstands bei der Eigenkapitalbildung; sie ist die habe, muss ich, wenn ich mir die letzten sieben Monate Ursache für die Krisenanfälligkeit der kleineren und vor Augen führe, an dieser Stelle auch auf die Steuerpo- mittleren Unternehmen. Außerdem brauchen wir eine litik zu sprechen kommen. Frau Merkel, Sie haben es ge- Vereinfachung der Gewerbesteuer. Das sind unsere Vor- schafft, die größte Steuererhöhung seit 1949 durchzudrü- schläge und Ansätze für mehr Gerechtigkeit. cken, ohne gleichzeitig das einzuhalten, was Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) versprochen haben: tatsächlich mehr für die Haushalts- (B) (D) konsolidierung zu tun und die Lohnnebenkosten zu sen- Diese Koalition ist meines Erachtens kraftlos und ken. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Unver- ziellos – daran ändern all die warmen Worte, die hier ge- frorenheit, die mich noch mehr ärgert als das unwahre sprochen worden sind, nichts –, weil selbst die großen, Spiel der SPD, die erst Nein zur Mehrwertsteuererhö- angekündigten Reformen noch keine Linie haben und hung sagt und dann aus der geplanten Erhöhung um sich widersprechen. Ich nehme als Erstes die Föderalis- 2 Prozentpunkte eine Erhöhung um 3 Prozentpunkte musreform. Uns wird gesagt, endlich würde klar, wer macht. zuständig ist, und die Bürger wüssten das dann auch. Aber wenn es Ihnen darum geht, dann fangen Sie doch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – einmal da an, wo Sie es schon könnten, zum Beispiel Jörg Tauss [SPD]: Welch eine Schärfe, Frau beim Antidiskriminierungsgesetz. Es ist klar, dass al- Kollegin! Ich bin tief betroffen!) lein der Bund zuständig ist. Zeigen Sie doch, was eine Die Mehrwertsteuererhöhung wird die kleinen Leute Harke ist, anstatt das Fass aufzumachen, indem Sie auf überproportional treffen. Wir wissen, dass jeder Mensch den Bundesrat zugehen, wo es gar nicht nötig ist! nicht nur Lebensmittel zum Leben braucht, sondern auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kleidung, Spielzeug, eine Waschmaschine, Waschpulver usw. Bei allen Produkten, die sie kaufen – sogar, wenn Sie können uns die Föderalismusreform doch nicht als sie Handwerkerrechnungen bezahlen –, werden sie von klare Trennung verkaufen und hier unnötigerweise ein diesen 3 Prozentpunkten betroffen sein. anderes Verfahren wählen. Auf der Liste der neuen Ungerechtigkeiten, die Sie Frau Merkel, Sie haben hier gesagt, welche ungeheu- produzieren, steht auch das Thema Unternehmen- ren Entwicklungsmöglichkeiten sich den Schulen eröff- steuerreform. Alles, was man dazu bisher gehört hat, neten, wenn man die Verfassung zugunsten der Bundes- lässt in mir das Gefühl aufkeimen, dass Sie immer noch länder änderte. Aber Sie haben das mit einem Beispiel vorzugsweise auf Lobbyisten hören. Die Nettoentlastung begründet, das ungeeignet ist, weil man dafür gar nichts der Unternehmen soll satte 8 Milliarden Euro betragen. ändern müsste. Bei der jetzigen Rechtslage, haben Sie Die Frage ist: Wie kann man eine solche Steuerentlas- uns erklärt, hat zum Beispiel Sachsen das zwölfjährige tung gegenfinanzieren? Das entspricht 1 Prozentpunkt Abitur angeschoben und mittlerweile hat auch Bayern Mehrwertsteuer. Da Ihnen keine andere Einnahmequelle davon gelernt. Wozu müssen wir den Bund dann durch zur Verfügung steht, bedeutet das: Sie greifen in das diese Verfassungsreform aus der zentralen Aufgabe der Portemonnaie der kleinen Leute, um die großen Unter- Bildungsplanung herauskatapultieren? Das geht doch nehmen steuerlich zu entlasten. genau in die falsche Richtung! Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3555

Renate Künast (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Merkel –, weil er ja nichts anderes als eine Hülle (C) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) ist, die ein wenig der Gesichtswahrung für beide Seiten dient, weil man weder Kopfpauschale noch Bürgerversi- Bildung ist einer der zentralen Gerechtigkeitspunkte. cherung sagen will. Es kommt jetzt aber darauf an, was Ich weiß, dass das gerade den Sozialdemokraten auf der darin steckt. Ist das mehr als eine neue Megabehörde, die Seele liegt. Bildung, auch eine gute berufliche Ausbil- Gelder einnimmt und dann wieder verteilt? Lösen wir dung, ist der Rohstoff der Zukunft. Eine gute Bildung ist hier irgendein Problem oder werden die gesetzlich Versi- das Kapital, das jedes Kind in dieser Republik mitbe- cherten am Ende nur dreifach abkassiert, indem sie Bei- kommen muss, um seinen Beitrag für die Gestaltung der träge zahlen, indem sie das System über Steuern mit- Gesellschaft leisten zu können, um sich selber entfalten finanzieren und – hier habe ich aufgrund der hohen zu können, um das Geld für sein eigenes Leben verdie- Belastungen besonders für die AOKler Befürchtungen – nen zu können. An dieser Stelle dürfen wir kein einziges eine kleine Kopfpauschale à la Kauder obendrauf finan- Kind zurücklassen. Deshalb, sage ich Ihnen, reicht es zieren? Das wäre nicht gerecht. nicht aus, wenn Sie das Kooperationsverbot im Hinblick auf die Wissenschaft ein bisschen aufheben. Nein, es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – muss auch in Zukunft möglich sein, dass der Bund mit Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie reden wie der Finanzspritzen für die Bildung hilft, dass der Bund mit Blinde von der Farbe!) allen Bundesländern gemeinsam kreativ plant, wie die Wir sagen auch: Die privat Versicherten dürfen nicht Bildung in diesem Land weiterentwickelt werden soll, unbehelligt bleiben. Man muss mindestens an die Versi- für alle Kinder. Das ist ein zentraler Gerechtigkeits- cherungspflichtgrenze heran. Für uns ist klar – ich versu- punkt. che jetzt einmal, in Ihrem System zu bleiben –: Eine gute (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gesundheitsreform darf nicht einseitig nur zulasten der Versicherten gehen. Es muss mehr Wettbewerb zwischen Nun verstehe ich ja, dass Frau Merkel an dieser Stelle allen produziert werden, vor allem unter den Ärzten und ein besonderes Problem hat: Das Problem heißt Roland unter den Apotheken, und die Effizienzpotenziale müs- Koch. sen endlich genutzt werden. (Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr!) Lassen Sie mich noch eines dazu sagen: Eine wirklich – Das sagt selbst Herr Tauss. – Frau Merkel, ich verstehe große Gesundheitsreform braucht ein Präventionsge- ja, dass Sie dem Prinzip folgen, dass man seine stärksten setz; denn zwei Drittel der Kosten entstehen durch chro- Gegner immer einbinden sollte. Aber ich finde, es reicht nisch-degenerative Erkrankungen, die einer ordentlichen aus, wenn Sie Roland Koch bei der CDU als Vize ein- Präventionsarbeit bedürfen und die gerade die sozio- (B) binden – bei der Verfassung sollten Sie als Kanzlerin auf ökonomisch schwachen Schichten belasten. An dieser (D) den Tisch hauen und sagen: Da geht es nicht um Partei- Stelle sage ich Ihnen: Nur dann, wenn Sie in der Lage internes, sondern da geht es um die Zukunft der Kinder sind, dieses Gesamtpaket vorzulegen, erreichen wir eine und deshalb machen wir das so nicht. wirklich gute Umstrukturierung unseres Gesundheitssys- tems. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Diese Föderalismusreform wird keine Mutter der Refor- Frau Merkel, wenn ich mir andere Politikbereiche an- men, es wird möglicherweise nicht einmal ein blasses schaue, dann muss ich sagen: Anders als das Team von Stiefmütterchen. Ich halte die Art und Weise, wie Sie an Klinsmann kommen Sie hier langsam in die gefährliche dieser Stelle vorgehen, für kraftlos, mutlos und ziellos. Zone. Sie haben nämlich lauter Ausfälle in Ihrem Team. Als Zweites warten wir auf die Gesundheitsreform. Der erste Ausfall ist der Wirtschaftsminister. Ihre Gesundheitsreform kommt daher wie ein Wolpertin- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ger, obwohl ich glaube, dass das Modell mit dem Fonds, Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das Sie gerade diskutieren, nicht in Bayern erfunden ist. NEN]: Wie heißt der denn?) Für die, die es nicht wissen: Ein Wolpertinger ist ein Fa- belwesen, das aus verschiedenen Tieren zusammenge- Ich kann Ihnen nur sagen: Die Kabarettisten in dieser setzt ist. Ich stelle es mir vor als ein Fabelwesen mit ei- Republik machen ihn immer nach und müssen gar nicht nem roten Kopf und einem schwarzen Körper. sagen, wen sie vorführen. Ein großes Gähnen genügt. Diesen Mann hört man immer nur dann, wenn es darum (Dr. [CDU/CSU]: Schaut aus geht, dass man die Laufzeiten der Atomkraftwerke ver- wie Sie, genau wie Sie mit Hörnern! Künast längern müsse. Gerüchteweise – ich gebe zu: gerüchte- mit Hörnern!) weise – kümmert er sich jetzt auch um Ausbildungs- Niemand weiß genau, was dieser Wolpertinger eigent- plätze. lich ist und wie gefährlich er ist. So ist es mit Ihrem Herr Glos, ich sage Ihnen: Nutzen Sie gleich das Ende Modell eines Fonds für die Gesundheitspolitik. der Debatte und gehen Sie dort drüben in die Arena von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Adidas. Bezüglich der Ausbildungsquote ist das Unter- nehmen das absolute Schlusslicht. Sie können dort Der Fonds ist ja erst einmal nichts anderes. Den kann gleich einmal sagen: Wer hier vor diesem Hohen Hause man ja an sich nicht kritisieren – da haben Sie Recht, eine Arena aufbaut, der muss die Mindestanforderung, 3556 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Renate Künast (A) nämlich eine entsprechende Ausbildungsquote, erfüllen. nate auf Eingliederungsgespräche und -vereinbarungen, (C) Hier könnten Sie einmal etwas tun, Herr Glos. aber nichts passiert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das sehen wir sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- genauso wie Sie! Das wird von uns nachhal- KEN) tigst kritisiert!) Herr Glos, wenn Sie dann noch Zeit haben, dann tun Wir alle miteinander warten auf wirkliche regionale Ar- Sie endlich auch einmal etwas für sinkende Strom- beitsmarktpolitik und den Wettbewerb um die besten In- preise. Wir haben von den Monopolen die Nase voll. tegrationslösungen. Wir warten auf eine Einschränkung Die Netzagentur braucht unsere Unterstützung. Auch bei den 1-Euro-Jobs, weil diese im wahrsten Sinne des dort müssen Sie einfordern, dass die Preise herunterge- Wortes missbraucht werden, um reguläre Arbeitsplätze hen. zu ersetzen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das kritisie- SES 90/DIE GRÜNEN) ren wir genauso wie Sie!) Wenn wir uns die Ausfälle in diesem Kabinett an- – Das diskutiere ich gerne auch mit Ihnen, Sie Dauer- schauen, dann müssen wir natürlich auch ein Wort zu zwischenrufer. Wir stellen Ihnen gerne unser Progressiv- Herrn Jung sagen. modell vor. Das schafft neue Jobs bei den Niedrigquali- fizierten, und zwar ohne Mitnahmeeffekte. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ein guter Mann!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Jung ist der Nächste, der in diesem Kabinett offen- Sie, Frau Merkel, haben uns gerade im Blick auf die sichtlich überfordert ist. FDP bei Hartz IV Sand in die Augen gestreut, indem Sie gesagt haben, Sie wollten die Gelder, anders als die FDP, (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sie sind als endlich für die Langzeitarbeitslosen einsetzen. Wahr ist: Sprecherin der Grünen überfordert!) Ihre Fraktion organisiert da wieder Taschenspielertricks. Diese 6,5 Milliarden Euro für aktivierende Maßnahmen Er war beim Kongoeinsatz überfordert und beim Thema wollen Sie nicht entsprechend investieren, sondern Weißbuch setzt er jetzt ein heilloses Gemurkse in Gang. Haushaltslöcher damit stopfen. Die Mehrkosten beim Ich sage Ihnen: Wir erwarten, dass diese Strategien zur ALG II sollen aus den Fördermitteln finanziert werden Sicherheitspolitik in diesem Parlament diskutiert werden können. Einer solchen Regelung werden wir nicht zu- und dass wir darüber reden, ob diese Entgrenzung des stimmen. (B) Verteidigungsbegriffs richtig ist. Nicht jedes Sicherheits- (D) problem in dieser Welt kann und darf man mit dem Mili- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Darauf kommt tär lösen. Das muss in einem solchen Papier auch stehen. es Gott sei Dank nicht an!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die meisten Dieses Geld gehört den Langzeitarbeitslosen und muss Militäreinsätze in der deutschen Geschichte kreativ dafür eingesetzt werden, um ihnen zu helfen. wurden von Herrn Fischer vorbereitet!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zur Sicherheitspolitik gehören auch Entwicklungspo- Mein letzter Satz litik und eine nachhaltige Ressourcenpolitik, damit sich die Länder entwickeln und Arbeitsplätze schaffen kön- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Gott sei Dank!) nen. Auf diese Art und Weise kann und muss man Kon- gilt dem Bundesumweltminister. Die Probleme der Kli- flikte entschärfen bzw. gar nicht erst entstehen lassen. mafolgen sind von zentraler Bedeutung. Das Wasser Deshalb findet dieses Weißbuch Ihres Herrn Jung unser steigt immer höher und wird uns irgendwann bis zum definitives Nein. Halse stehen. Ich muss Ihnen sagen: Trotz der wunder- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – baren Rhetorik des Bundesumweltministers steht auch Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Es findet? dieser Mann im Verdacht, ein Ausfall zu werden. Reden Wer suchet, der findet!) allein reicht nicht. Zu REACH hat er sich nicht als Öko- loge geäußert, sondern war in Brüssel faktisch der Ver- Wir erwarten, dass Sie die alltäglichen Sorgen der Men- treter der Chemielobby. Beim zweiten Nationalen Allo- schen ernst nehmen und darauf reagieren. kationsplan zum Emissionshandel – das ist das Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Worte zu Schlimmste – verteilt er Gratiszertifikate. Der „Tages- Hartz IV sagen. Mich stinkt an, wie Sie hier flächende- spiegel“ vom heutigen Tage titelt zu Recht: Hier wird ckend eine Missbrauchsdebatte organisieren. Das ist ab- der Klimaschutz aufgegeben, um die Industrie zu scho- gedroschen und falsch. Es gibt für diesen Missbrauch nen. keine Belege, im Gegenteil. Dann haben Sie noch die Dreistigkeit, anzubieten, ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nen nationalen Fahrkurs einzuführen. Ich sehe das schon und bei der LINKEN) vor mir: Wir alle machen einen Kurs für besseres Auto- fahren, damit wir vorsichtiger anfahren, um einen Trop- Die Wahrheit ist, dass die Förderung überhaupt nicht fen Sprit einzusparen. Ich halte eine ordentliche Fahr- stattfindet. Viele Arbeitslose warten Wochen und Mo- weise für richtig. Aber es ist eine Schildbürgerbotschaft, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3557

Renate Künast (A) zu sagen: Wir schonen die Industrie und ersparen ihr Ich habe bei mancher Ihrer Äußerungen in der letzten (C) Vorschriften zur Reduktion. Mutlos wie Sie sind, trauen Zeit – beispielsweise zur Integrationspolitik oder über Sie sich nicht einmal, die Zertifikate zu versteigern, um die Fehler, die in der Vergangenheit gemacht worden endlich Wettbewerb zu erreichen. Stattdessen sollen die sind – gedacht, dass Sie erkannt hätten, dass sich in un- Autofahrer an der Ampel nicht so scharf Gas geben. Das serem Land etwas ändern muss. Aber Ihre heutige Rede ist albern. Das ist keine Klimapolitik. Wenn Sie so wei- erreicht nicht das intellektuelle Niveau, das wir brau- termachen, Herr Gabriel, haben Sie den Namen „Bun- chen, um Konzepte für unser Land zu entwickeln. desumweltminister“ nicht verdient. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN neten der SPD) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) An die FDP gewandt, möchte ich kurz auf eines hin- Mit Blick auf den G-8-Gipfel erwarte ich von Ihnen, weisen, Herr Brüderle: Sie haben in diesem Haus und Frau Merkel, dass Sie dort tatsächlich eine konsistente auch auf Veranstaltungen außerhalb festgestellt, dass die Energiepolitik machen und dafür sorgen, dass in den von uns beabsichtigte Mehrwertsteuererhöhung nicht nächsten Jahren die G-8-Staaten nicht wie bislang ge- in Ordnung sei. Man kann zwar darüber diskutieren, ob plant Gelder in Höhe von 17 000 Milliarden US-Dollar Mehrwertsteuererhöhungen ein geeignetes Mittel sind, – das ist 70 Mal so viel wie der Bundeshaushalt – für aber dann muss man auch sagen, welche anderen Mittel Atomkraft und die Erschließung der letzten Öl- und Gas- zur Verfügung stehen. Wenn man die Ziele im Blick hat reserven ausgeben. Vielmehr fordere ich Sie auf: Legen – den Haushalt zu konsolidieren, Sie ein international abgestimmtes und gutes Konzept vor, das Gelder für Investitionen in erneuerbare Ener- (Ulrike Flach [FDP]: Sparen!) gien, Energieeffizienz und -einsparmaßnahmen vorsieht. das Land voranzubringen und vor allem dafür zu sorgen, Das ist für die Kunden und für die Wirtschaft bei uns dass der Weg in den Verschuldungsstaat endlich beendet wegen der hohen Rohstoffkosten gut. Das schafft am wird –, dann gibt es dazu aus unserer Sicht keine über- Ende auch Arbeitsplätze. Genau das wollen die Men- zeugende Alternative. schen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) neten der SPD) Mein Fazit dieser sieben Monate der so genannten großen Koalition ist: Viel mehr als den kleinsten ge- Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, Herr meinsamen Nenner haben Sie nicht erreicht. Wir stellen Brüderle – wenn es nicht so traurig wäre, dann müsste ich insgeheim schmunzeln –: Es ist auch keine Art und (B) unsere Konzepte dagegen. Ich sage Ihnen ganz klar: Fin- (D) den Sie endlich den Mut und die Kraft, die Dinge anzu- Weise der politischen Arbeit, einerseits gegen die Mehr- packen! Hören Sie auf, zu lavieren und zu moderieren! wertsteuererhöhung zu wettern, aber andererseits in den Packen Sie die Dinge endlich ernsthaft an, aber machen Ländern, in denen Sie mitregieren, die aus dieser Steuer- Sie das gerecht, statt neue Ungerechtigkeiten zu schaf- erhöhung zu erwartenden Einnahmen bereits in den fen! Haushalt einzustellen. (Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie GRÜNEN) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Sie haben die Reden der Opposition gehört. Es lohnt Das Wort hat der Kollege Volker Kauder, CDU/CSU- sich nicht, sich weiter damit auseinander zu setzen. Fraktion. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- GRÜNEN]: Das ist arrogant!) neten der SPD) Wir legen heute einen Bundeshaushalt vor, der Teil einer Gesamtstrategie ist, die darauf hinausläuft, unser Volker Kauder (CDU/CSU): Land voranzubringen und bessere Chancen für die Men- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und schen in unserem Land zu erwirken. Dieser Bundeshaus- Herren! Wir führen heute die zentrale Debatte über die halt ist ein Übergangshaushalt von der rot-grünen Bun- Frage, wie wir unser Land voranbringen können. Die desregierung zur jetzigen großen Koalition. Welche Regierung hatte dafür ein Konzept. Und sie hat für die- Ausgangslage haben wir denn in der großen Koalition ses Konzept einen Bundeshaushalt vorgelegt. Man darf vorgefunden? Als Eröffnungsbilanz haben wir ein struk- zwar von der Opposition erwarten, dass sie sich mit die- turelles Defizit von 60 bis 65 Milliarden Euro überneh- sem Konzept und den damit verbundenen Fragen ausei- men müssen. nander setzt und ein Gegenmodell vorlegt. Aber gerade für Sie, Frau Künast, gilt: Sie brauchen noch eine erheb- (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Nicht noch liche Zeit in der Opposition, um klarer erkennen zu kön- mehr!) nen, was für unser Land wirklich notwendig ist. Kann ein vernünftiger Mensch glauben, dass innerhalb (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von sieben Monaten – diesen Zeitraum hatten wir bisher neten der SPD) zur Verfügung – ein so hohes strukturelles Defizit auf 3558 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Volker Kauder (A) null gefahren werden kann, Herr Brüderle? Traumtänzer Volker Kauder (CDU/CSU): (C) sind doch Realisten dagegen. Ja. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Bitte, Herr Kuhn. Dieser Übergangshaushalt zeigt schon die klare Rich- tung, dass es mit der Verschuldung eben nicht so weiter- Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): geht wie bisher; wir beginnen vielmehr sehr konsequent Herr Kollege, Sie haben beklagt, dass man nicht so damit, den Haushalt zu konsolidieren. schnell die geplanten Milliardenbeträge einsparen könne. Dafür haben Sie um Verständnis geworben. Ist Nun wird mir ständig – auch auf den Hauptversamm- Ihnen eigentlich bekannt, dass die Union spätestens seit lungen der verschiedenen Verbände – die Frage gestellt, 2002 ein riesengroßes Paket von Einsparungsvorschlä- wo eigentlich gespart worden ist. gen im steuerlichen Subventionsbereich – das gilt auch (Zurufe von der FDP: Ja! – Richtig!) für die Eigenheimzulage – im Bundesrat systematisch blockiert hat und dass wir uns heute, haushaltstechnisch Darauf kann ich nur antworten: Genauso wie ein gesehen, um viele Milliarden besser stünden, wenn Sie Blick in das Gesetzbuch die Rechtsfindung erleichtert diese Blockadepolitik nicht betrieben hätten? – das habe ich als Jurastudent schon im ersten Semester (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gelernt –, erleichtert ein Blick in den vorliegenden Haus- sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Guido haltsentwurf, zu erkennen, welche Strukturen sich be- Westerwelle [FDP]: Das freut die Genossen!) reits verändert haben. Ich nenne ein Beispiel – es ist nur eines von vielen –, Volker Kauder (CDU/CSU): das belegt, wo wir zu strukturellen Veränderungen ge- Herr Kollege Kuhn, es war völlig richtig, dass wir uns kommen sind und wo wir sparen. So wurden wir ständig damals gegen die Streichung der Eigenheimzulage ge- – auch von großen Industrieverbänden – aufgefordert, wehrt haben; denn wir haben gesehen, dass Ihre Regie- die Eigenheimzulage abzuschaffen, weil dann ein zwei- rung die durch den Wegfall der Eigenheimzulage frei stelliger Milliardenbetrag eingespart werden könne. Wir werdenden Mittel nicht zum Einsparen, sondern zum haben die Eigenheimzulage abgeschafft und werden si- Ausgeben verwenden wollte. cherlich einen zweistelligen Milliardenbetrag einsparen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- aber nicht schon im Haushalt 2006. Die Herren haben neten der FDP – Lachen beim BÜNDNIS 90/ (B) offenbar übersehen, dass es im ersten Jahr nur etwa DIE GRÜNEN) (D) 250 Millionen Euro sind. Der Weg ist aber richtig. Herr Kuhn, ich sage Ihnen noch eines: Angesichts der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Eröffnungsbilanz, die wir vorgefunden haben, wäre es neten der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Das haben sinnvoller gewesen, wenn Sie soeben geschwiegen hät- wir immer gesagt!) ten. Ich darf daran erinnern – das alles wird sonst nicht ge- (Beifall bei der CDU/CSU) sagt –, dass wir im Zusammenhang mit dem Haushalts- Denn Sie waren im fraglichen Zeitraum nicht sieben begleitgesetz Sparmaßnahmen beschlossen haben. Dazu Jahre in der Opposition, sondern an der Regierung und bekennen wir uns und dazu stehen wir, auch wenn es sind damit auch für diese Bilanz verantwortlich. nicht einfach ist; denn diese Maßnahmen sind notwen- dig. Ich nenne nur die Kürzung der Pendlerpauschale als (Beifall bei der CDU/CSU – Petra Merkel Beispiel. Glauben Sie bloß nicht, dass uns das leicht ge- [Berlin] [SPD]: Wir alle waren daran betei- fallen ist! Wenn man aber einen stark ausgabengeprägten ligt! – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Genos- Haushaltsplan hat, dann kann man die Ausgaben nicht sen, ihr müsst klatschen! Das ist euer Partner!) einfach auf null reduzieren; denn ansonsten fährt man Ich habe davon gesprochen, dass der Haushalt 2006 den Staat an die Wand. Schließlich haben wir es mit ein Übergangshaushalt ist und dass mit diesem Über- Menschen zu tun, die einen Teil der infrage stehenden gangshaushalt als Teil einer Gesamtstrategie bereits viel Gelder bekommen und darauf vertrauen. Vielmehr gilt erreicht wurde. Wenn ich in den Zeitungen lese, was al- es, zwei Dinge zu tun. Man muss auf der einen Seite die les über die Arbeit der großen Koalition gesagt wird, Ausgaben langsam und sozialverträglich zurückfahren dann habe ich den Eindruck, dass viele meinen, wir seien und auf der anderen Seite die Einnahmesituation verbes- schon über die Hälfte der Zeit hinaus. Tatsächlich regiert sern. Beides tun wir mit dem Haushalt 2006. die große Koalition erst sieben Monate. In dieser Zeit wurden bereits große Dinge geleistet und vorangebracht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Rainer Brüderle [FDP]: Große Schulden!) – Die Mehrwertsteuererhöhung ist noch nicht einmal er- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: folgt, Herr Brüderle. Haben Sie das noch nicht mitbe- kommen? In welcher Realität leben Sie eigentlich? Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kuhn? (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3559

Volker Kauder (A) Was haben wir erreicht? Wir haben die Haushaltskon- Bei der Frage der Ausbildungsplätze geht es aller- (C) solidierung vorangebracht. Wir haben dafür gesorgt, dings noch um ein bisschen mehr und das möchte ich der dass in diesem Land die Investitionen angekurbelt wer- deutschen Wirtschaft sagen. Ich habe den Eindruck, dass den. Dafür haben wir ein 25-Milliarden-Programm auf- das Handwerk in unserem Land dies gut verstanden hat. gelegt. Es geht darum, ein Ausbildungssystem, das eine gute Mischung aus staatlicher Ausbildung und betrieblicher Sie haben das Stichwort Investitionen genannt. Es Ausbildung darstellt, ein Ausbildungssystem, das eben gibt Investitionen in unserem Land, die nur die öffentli- nicht nur „Staat“ heißt, auch für die Zukunft zu erhalten. che Hand tätigen kann. Diese muss die öffentliche Hand Dafür, dass dies gelingt, tragen beide Partner Verantwor- auch tätigen. Wir haben einen erheblichen Nachholbe- tung: die Wirtschaft und wir. Ich hoffe, dass es gelingt, darf bei unserer öffentlichen Infrastruktur, etwa im Stra- dieser Verantwortung, die wir für das System und für die ßenbau. Der Straßenbau wird nicht von der privaten jungen Menschen haben, in den nächsten Wochen auch Wirtschaft finanziert, sondern von der öffentlichen gerecht zu werden. Hand. Deshalb ist es richtig, dass wir gerade in diesem Bereich Geld in die Hand nehmen, um beim Ausbau der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Infrastruktur voranzukommen. neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Beim Sanieren sind wir auf dem Weg. Wir haben ge- neten der SPD) sagt, dass wir den Haushalt 2007 so gestalten werden, dass nicht nur die Maastrichtkriterien erfüllt sind, son- Ein zentrales Aufgabenfeld unseres Zukunftsprojek- dern dass auch die Grenze des Art. 115 Grundgesetz ein- tes, Deutschland voranzubringen – die Bundeskanzlerin gehalten wird. Das ist ein ambitionierter Anspruch. Da- hat es angesprochen –, sind Forschung und Wissen- mit tun sich viele Länder, auch Länder, in denen die FDP schaft. Auch hier nehmen wir Geld in die Hand. Ich an der Regierung beteiligt ist, sehr schwer. Diesen An- warte darauf, dass die Wirtschaft sagt: An diesem Zu- spruch zu erfüllen, bedarf der ganzen Kraft. Wir werden kunftsprojekt, Deutschland voranzubringen, beteiligen den Bundesfinanzminister auf diesem Weg unterstützen. wir uns im Bereich Wissenschaft und Forschung. Allein Der Haushaltsentwurf wird noch in diesem Jahr vorge- können dies die öffentliche Hand und die Bundesregie- legt. Ich kann Sie nur ermuntern, Herr Bundesfinanz- rung nicht schultern. minister: Bleiben Sie hart! Wir stehen an Ihrer Seite. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Zu- Es gibt keinen anderen Bereich, wo ich so viele Mög- rufe von der FDP: Oh!) lichkeiten sehe, voranzukommen und neue Chancen zu Sanieren, investieren, reformieren: Über die Reform- (B) (D) ermöglichen. Es war früher unsere Stärke, dass infolge aufgaben, die sich uns stellen, hat die Bundeskanzlerin qualifizierter Spitzenforschung auch entsprechende Pro- bereits gesprochen. Da kann ich nur sagen: Wir haben in dukte gefertigt wurden. Das hat den hochintelligenten der Koalitionsvereinbarung der großen Koalition ganz Leuten und denen, die dann produziert haben, Arbeit ge- genau festgelegt, wann wir welche Reform auf den Weg geben. Das müssen wir in unserem Land wieder errei- bringen. Wenn die Damen und Herren in den großen chen. Dafür müssen Blockaden aufgehoben werden. Hauptversammlungen, die im Augenblick stattfinden, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fragen, was bisher passiert ist und was wir auf den Weg neten der SPD) gebracht haben, dann kann ich nur sagen: Wir haben Ih- nen versprochen, dass es bis zum 1. Januar 2007 eine Wenn wir darüber reden, dass wir Chancen für dieses Reform des Gesundheitssystems geben wird und dass Land und für die Menschen in diesem Land ermöglichen wir dann die Unternehmensteuerreform beschlossen ha- wollen, reden wir natürlich auch über die junge Genera- ben werden, sodass Sie planen können. Nach meiner tion. Die Bundeskanzlerin hat völlig Recht, wenn sie Kenntnis haben wir jetzt aber noch nicht den 1. Januar sagt: Wir müssen dafür sorgen, dass junge Menschen 2007, sondern gerade einmal Juni 2006. Ausbildungsplätze bekommen. Ich kann nur sagen: Wir werden unsere Zusagen ein- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) halten. Alle überzogene Kritik, die jetzt erfolgt, ist we- nig hilfreich und überhaupt nicht überzeugend. In diesem Zusammenhang kann ich nur an die Wirt- schaft appellieren, junge Menschen einzustellen, sie in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ausbildungsverhältnisse zu übernehmen. Wir tun dies, neten der SPD) weil wir Verantwortung dafür tragen, dass junge Men- Zum Thema Gesundheitsreform hat die Bundeskanz- schen in unsere Gesellschaft hineinwachsen können. Ich lerin alles gesagt. werde nachher noch einige Sätze zum Thema Integration sagen. Jetzt nur so viel: Wenn junge Menschen keinen (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Nichts hat sie guten Start in die Gesellschaft haben, dann tun sie sich gesagt!) auch mit der Integration schwer, egal ob sie Ausländer oder Deutsche sind. Deswegen ist es so wichtig, jungen Bei der Unternehmensteuerreform sind wir gerade Menschen Zukunftschancen in diesem Land zu geben. dabei, die Eckpunkte zu formulieren. Wir werden dafür sorgen müssen, dass wir eine Unternehmensteuerreform (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- durchführen, die die Kapital- und Personengesellschaf- neten der SPD) ten, insbesondere den Mittelstand, das Rückgrat unserer 3560 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Volker Kauder (A) deutschen Wirtschaft, in gleicher Weise entlastet und ten Zeit zu schnell gewachsen ist und wir zu wenig getan (C) gleiche Situationen schafft. haben, um Europa intern zusammenzuführen. Auch da bitte ich Sie, diesen Aspekt während der europäischen Ich weiß, wie schwer es ist, die Gewerbesteuer zu Ratspräsidentschaft einzubringen und zu berücksichti- verändern. Auch die Kommunen haben keine leichte gen. Finanzsituation. Im Augenblick sprudeln die Gewerbe- steuereinnahmen, was übrigens auch ein Zeichen dafür Liebe Kolleginnen und Kollegen, jenseits aller Wirt- ist, dass sich in unserem Land etwas bewegt. Wenn wir schaftsfragen, aller Haushaltsfragen und aller Finanzfra- an diesem Punkt Probleme haben, dann können wir die gen gibt es Themen in unserer Gesellschaft, die die Men- Gewerbesteuer nicht weiter ausbauen und verfestigen; schen bewegen und die wir ernst nehmen müssen. Das dann können wir nicht viel verändern. Aber eine Gewer- ist zum Beispiel das Thema der Integration. Wir erleben besteuer aufzubauen, die wieder Elemente der Substanz- im Augenblick ein Land, das nicht schöner zeigen besteuerung enthält, nachdem wir die Gewerbekapital- könnte, wie weltoffen es ist und wie wir mit Gästen in steuer gerade abgeschafft haben, ist nicht der Weg, den unserem Land umgehen. Ich bin stolz darauf, was zurzeit wir von der Union uns vorstellen. in diesem Land abläuft. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Zur Gesundheitsreform – Herr Kollege Scholz hat bei Abgeordneten der FDP) sie angesprochen –: Wir, auch der Kollege Struck, wis- Viele Ausländer, die hierher kommen, sagen: Wir haben sen, dass wir hier eine gute Arbeit abliefern müssen, und gar nicht erwartet, dass wir so offen aufgenommen wer- das werden wir auch tun. Alle können sich darauf verlas- den. Auch von einer Dienstleistungswüste ist nichts zu sen, dass wir hier zu einem guten Ergebnis kommen. Na- spüren. Bis morgens um 3 Uhr werden die Menschen türlich diskutieren wir offen miteinander darüber, wel- überall bedient. chen Beitrag jeder in diesem System leisten muss. Wir brauchen – ich bin froh, dass wir hier dieselbe Überzeu- (Lachen und Zurufe von der FDP) gung haben – mehr Wettbewerb im System. Dann – das – Wenn Sie einen Beitrag dazu geleistet haben, dann sage ich schon jetzt voraus – wird es auch nach der Re- seien Sie froh. Sie müssten mir aber noch sagen, wel- form eine private Krankenversicherung als Vollversiche- chen. rung geben. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das wissen Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ganz genau!) neten der SPD) – Darüber können wir nachher reden. – Es herrscht also (B) Meine Damen und Herren, die Föderalismusreform eine super Stimmung in diesem Land. (D) ist angesprochen worden. Ich bin sicher, dass die große Koalition auch bei diesem Thema ihre Reformfähigkeit Ich sage Ihnen aber: Wir müssen uns mit der Integra- beweisen wird. Aber hier habe ich eine Bitte, Frau Bun- tion beschäftigen. Deswegen bin ich der Bundeskanzle- deskanzlerin. Die Föderalismusreform zeigt, dass es not- rin dankbar dafür, dass sie unsere Initiative aufgegriffen wendig ist, klar zu machen, welche Ebene was regeln hat, einen Integrationsgipfel durchzuführen. Auf die- muss, damit die Transparenz gesichert ist. Sie, Frau Bun- sem Integrationsgipfel müssen natürlich die Themen Bil- deskanzlerin, werden im ersten Halbjahr 2007 die EU- dung und Sprache angesprochen werden; denn Bildung Präsidentschaft führen. Große Projekte stehen an. Man und Sprache sind die entscheidenden Voraussetzungen weiß, wie schwer die Aufgabe sein wird. Wir von der dafür, dass die Menschen Anteil an der Entwicklung un- Union haben die herzliche Bitte, dass Sie das Thema serer Gesellschaft nehmen können. Ich bin aber auch der Subsidiarität während dieser Präsidentschaft erneut an- Meinung, dass auf diesem Integrationsgipfel deutlich ge- sprechen. Europa muss verstehen, dass es große Aufga- macht werden muss, dass es um Fördern und Fordern ge- ben zu bewältigen hat, die der Nationalstaat allein nicht hen muss, dass Integration nicht nur eine Einbahnstraße bewältigen kann. Ich denke beispielsweise an die Ener- im Hinblick auf das Angebot unsererseits sein kann, son- giepolitik – ein großes Feld, wie man an der derzeitigen dern dass es auch eine Annahme dieses Angebots geben Entwicklung der Gaspreise sieht –, ich denke aber auch muss. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Angebote an die Außenpolitik und die Sicherheitspolitik. Aber es auch angenommen werden. gibt Felder, um die sich Europa heute kümmert, um die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) es sich aber nach dem Prinzip der Subsidiarität nicht zu kümmern bräuchte und nicht kümmern dürfte. Ich bitte Zu diesem Integrationsgipfel gehört nach meiner Sie, das zum Thema zu machen. Überzeugung auch, dass wir das Ausländerrecht darauf- hin überprüfen, wo die aktuellen Bestimmungen Integra- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tion erschweren. Diese müssen wir dahin gehend ändern, neten der SPD) dass sie die Integration erleichtern. Wir wollen, dass Europa auch in den Köpfen der Menschen wieder ein Zukunftsmotor wird. Wir wollen (Beifall bei der CDU/CSU) an dem Satz festhalten können: Deutschland ist unsere Heimat, Europa unsere Zukunft. Dazu gehört aber auch, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dass man das Gefühl der Menschen ernst nimmt, die den Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Eindruck haben, dass die Europäische Union in der letz- Addicks? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3561

(A) Volker Kauder (CDU/CSU): Ich glaube, was hier stattfindet, wird uns noch lange (C) Ich bin in meiner Redezeit schon sehr knapp und will beschäftigen. Bis vor wenigen Monaten haben wir es ja die Redezeit meiner Kollegen, die noch sprechen wer- noch erlebt, dass Bundesminister beim Singen der Natio- den, nicht verkürzen. nalhymne die Zähne nicht auseinander gekriegt haben, geschweige denn die Hände aus den Hosentaschen. Da (Lachen bei der FDP) hat sich einfach etwas zum Guten gewendet. Das ist auf- Zu den derzeitigen großen Problemen und den Hand- geklärter Patriotismus; das ist ein europäischer Patriotis- lungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten sage ich: mus, der uns Deutschen auch gut tut. Das sind Welt- Diese große Koalition macht ihre Aufgabe richtig. Wir offenheit und Toleranz. sollten von der Stimmung der Fußballweltmeisterschaft etwas mitnehmen. Olaf Scholz hat gesagt: „you’ll never Das ist das Einzige, was ich kommentierend zur Fuß- walk alone“. Ich sage, es gilt auch ein anderer Satz, der ballweltmeisterschaft sagen möchte. deutlich macht, was die Deutschen in diesem Tagen vor- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hartmut leben: „Steh auf, wenn du ein Deutscher bist! Nimm die Koschyk [CDU/CSU]: Weiter so!) Sache in die Hand und bring das Land voran!“ Ich möchte gern an das anknüpfen, was die Bundes- Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. kanzlerin, die sich ja überraschend früh zu Wort gemel- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- det hat, am Anfang der Debatte vorgetragen hat. Sie, fall bei Abgeordneten der SPD) Frau Bundeskanzlerin, sprachen von einer „begrenzten Steuererhöhung“. Das ist ja, höflich formuliert, ein Akt der babylonischen Sprachverwirrung. Man könnte es Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: auch Veräppelung nennen. Mir würden im Herrenkreise Das Wort hat der Kollege Dr. Guido Westerwelle, auch andere Bemerkungen einfallen, die ich nicht sagen FDP-Fraktion. darf, weil mich die Bundestagspräsidentin dann zu Recht (Beifall bei der FDP) rügen würde. Bei der größten Steuererhöhung seit Gründung der Republik von einer „begrenzten Steuer- Dr. Guido Westerwelle (FDP): erhöhung“ zu sprechen, ist eine schlichte Unverschämt- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und heit. Herren! Ich will an das anknüpfen, was Herr Kollege (Beifall bei der FDP) Kauder am Schluss seiner Rede gesagt hat; ich glaube, das verbindet uns. Ich bin kein großer Fußballspezialist, Es ist ja beeindruckend, dass – gestern von Herrn wie alle Redner vorher es augenscheinlich sind. Kampeter, heute von der Bundeskanzlerin und eben (B) übrigens auch von Herrn Kollegen Kauder – in Richtung (D) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- meiner Fraktion gesagt worden ist: Die Regierungspar- NEN]: Kein Neid!) teien haben das große Ganze im Blick und die Opposi- Deswegen kann ich auch keine Vergleiche anstellen. tionsparteien haben ja nur ihr kleines Partikularinteresse Aber ich finde, Sie haben am Schluss Ihrer Rede eine im Kopf. kluge Bemerkung gemacht. Sie haben dargestellt, wel- (Dr. Peter Struck [SPD]: Ja, genau!) che Stimmung derzeit in diesem Land herrscht. Nach diesem großen Erfolg gestern und nachdem man gesehen Dazu fällt mir ein: Arroganz der Macht ist das eine, hat, wie bis tief in die Nacht auf den Straßen deutsche große Koalition heißt große Arroganz der Macht das an- Fahnen geschwenkt wurden, möchte ich an das Wort er- dere. Denn jeder Abgeordnete ist dem ganzen deutschen innern, das der Präsident des Deutschen Bundestages Volk verpflichtet. Wenn Sie nun behaupten, dass wir nur gestern zur Eröffnung der Haushaltsdebatte gewählt hat: einige wenige im Kopfe hätten und Sie für Deutschland Das ist ein fröhlicher Patriotismus. zuständig seien, so verwechseln Sie das mit der Geistes- Ich möchte das jetzt in einen Zusammenhang mit dem haltung eines absolutistischen Staates. stellen, was wir von Gewerkschaftsfunktionären der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten GEW lesen durften, der CDU/CSU) (Zurufe von der CDU/CSU: Ja!) Der Staat sind nicht Sie; Sie sind die Regierung. Die nämlich dass, wenn man die deutsche Nationalhymne werden wir auch weiterhin kritisieren. singe, man ein furchtbares Loblied singe. Heute habe ich Um das auf den Punkt zu bringen: Der FDP die gelesen, dass die Jugendorganisation der PDS der Über- Regierungsfähigkeit abzusprechen, hat etwas Drolliges, zeugung ist, dass die schwarz-rot-goldene Fahne für wenn es aus den Reihen der Union kommt. Wir regieren Ausgrenzung stehe. ja in den drei großen Bundesländern zusammen fast die (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Pfui!) Hälfte der gesamten bundesrepublikanischen Bevölke- rung; 36 Millionen Menschen werden von uns gemein- Ich empfinde es als eine wunderbare Freude, dass sich sam in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und unsere Bürger von solchen linken Dämlichkeiten nicht Niedersachsen regiert. Herr Kollege Kauder, da in Ihrem beeindrucken lassen. Heimatland Schwarz-Gelb an der Regierung ist und in (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der meinem Heimatland Schwarz-Gelb an der Regierung ist, SPD) wissen wir beide: Man kann Deutschland auch anders 3562 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Dr. Guido Westerwelle (A) regieren als mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner der möglich. Von der Frau Bundeskanzlerin konnten wir (C) großen Koalition. gestern hören – wir beide hatten die Ehre, auf der Veran- staltung des BDI zu sprechen –, Deutschland sei ein (Beifall bei der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sanierungsfall. Dabei haben Sie überrascht getan. Ent- Aber bei starker Führung der CDU!) schuldigen Sie, Frau Bundeskanzlerin, aber das war Schließlich möchte ich auch noch an das anknüpfen, doch die Ausgangslage, warum die CDU-Vorsitzende was von Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, zu Beginn der Angela Merkel, der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber Debatte eingeführt worden ist. Ich will Sie in diesem Zu- und meine Wenigkeit seinerzeit auf einem Wechselgipfel sammenhang einfach daran erinnern, was Sie am 30. No- ein Programm mit niedrigeren, einfacheren und gerech- vember des letzten Jahres in Ihrer Regierungserklärung teren Steuern, Abbau von Bürokratie, Liberalisierung ausgerufen haben. Da waren Sie noch mutig; da haben des Arbeitsrechts sowie Schwerpunktsetzung auf neue Sie gesagt: „Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen!“ Ich Technologien und Forschung verabredet haben. Nichts erinnere mich noch daran, dass meine Fraktion Ihnen an von dem, was Angela Merkel in der Opposition an heh- dieser Stelle, obwohl wir ja Opposition sind, Beifall ge- ren Zielen gehabt hat, ist auf der Regierungsbank gelan- spendet hat, weil dieser Satz auch unserer Haltung ent- det. Das empfinde ich als Enttäuschung. spricht. Jetzt sind Sie etwas mehr als ein halbes Jahr im (Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD: Er Amt, je nachdem, wie man rechnet. Eines stellen wir macht immer noch „Wunden lecken“! – Immer jetzt fest: Seitdem Sie regieren, Frau Bundeskanzlerin, nur rückwärts gewandt!) hat Ihre Regierung nicht mehr Freiheit gewagt. Sie ha- ben den Bürgern mehr Unfreiheit gebracht. Wir haben gestern gehört, dass der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion, Herr Kollege Poß, eine, (Beifall bei der FDP – Zurufe von der CDU/ wie ich finde, geradezu unverschämte Beschimpfung des CSU und der SPD: Oh!) Herrn Bundespräsidenten vorgenommen hat. Sie haben in den wenigen Monaten Ihrer Regierungs- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zeit die größte Steuererhöhung in der Geschichte der Re- der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: „Schizo- publik beschlossen. Sie haben die größten Schulden phrenie“ war gerade höflich, oder?) – darüber reden wir in dieser Woche – in Höhe von fast 40 Milliarden Euro aufgenommen. Sie haben – entgegen Das Allermindeste, das man in dieser Debatte erwarten allen Bekundungen gegen das Antidiskriminierungsge- darf, ist, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie den Herrn Bun- setz, die es vor der Wahl gab – beschlossen, die despräsidenten, den wir übrigens einmal gemeinsam ge- Bürokratie auszuweiten. wählt haben, vor diesen Beschimpfungen aus den Rei- hen der Koalition hier öffentlich in Schutz nehmen. (B) (Jörg Tauss [SPD]: Oh!) (D) (Beifall bei der FDP – Zurufe vom BÜND- Jetzt haben Sie sich auf den Weg gemacht, einen Kassen- NIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) sozialismus in der Gesundheitspolitik durchzusetzen Koalitionsfrieden ist das eine. Unser Staatsoberhaupt ist (Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD und aber ein Verfassungsorgan. Daher gehören sich solche dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Entgleisungen nicht. Wenn es sich um eine andere Per- mithilfe von Fonds, mit enteignungsgleichen Eingriffen son handeln würde, dann würden Sie es genauso sehen. bei den privat Versicherten, mit Steuererhöhungen, mit (Beifall bei Abgeordneten der FDP) mehr Bürokratie, mehr Schulden und Abkassieren. Das ist mehr Unfreiheit und nicht „mehr Freiheit wagen“, Deutschland ist ein Sanierungsfall. Das ist der Aus- was Sie uns in diesem Hohen Hause versprochen haben. gangspunkt Ihrer Analyse. Ich glaube, da wird Ihnen mittlerweile jeder in diesem Hause zustimmen. Die Ent- (Beifall bei der FDP – Petra Merkel [Berlin] [SPD]: zückung der Sozialdemokraten bei Ihren Ausführungen, Wir sind hier doch nicht im Bierzelt!) wessen Schuld dies ist, war mit den Händen greifbar. Ich finde es sehr interessant, wie sehr Ihre jetzige Politik mit dem kontrastiert, was noch bis zur Bundes- (Vorsitz: Präsident Dr. ) tagswahl von uns gemeinsam vertreten worden ist. Lie- Aber schauen wir nach vorne und denken über die ber Herr Kollege Scholz, einige Ihrer Ausführungen Frage nach, wie man dieses Problem Sanierungsfall fand ich zwar bemerkenswert; darauf kann ich gleich Deutschland angehen soll. Das kann auf zwei Wegen ge- noch eingehen. Dass aber ein Sozialdemokrat in dieser schehen. Der eine Weg ist der, den Sie mittlerweile ge- Debatte die FDP kritisiert, weil wir das sagen, was Sie wählt haben. Sie setzen in Wahrheit auf mehr Staat und selber bis zum Wahltag immer gesagt haben, nämlich mehr Staatswirtschaft. Dabei kommt folgender Kon- dass eine Mehrwertsteuererhöhung Arbeitsplätze kos- struktionsfehler einer großen Koalition zum Tragen: In tet, ist wirklich eine Form von Schizophrenie, die Ihnen einer großen Koalition haben nämlich die „Sozialdemo- keiner durchgehen lässt, Herr Kollege Scholz. kraten“ beider großen Parteien die strukturelle Mehrheit. (Beifall bei der FDP und der LINKEN) Daraus ergibt sich der eigentliche Fehler, dass niemand mehr darauf achtet, dass Kompromisse in Richtung mehr Jetzt wollen wir einmal Folgendes festhalten. Sie ge- Freiheit, mehr Eigenverantwortung und in Richtung hen mit dem größten Wahlbetrug der letzten Jahre an „Privat kommt vor dem Staat“ gezogen werden. Das ist die Öffentlichkeit. Sie sagen, das sei gar nicht anders es, was in Wahrheit fehlt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3563

Dr. Guido Westerwelle (A) Vor diesem Hintergrund können Sie, Frau Bundes- unserer Politik dar – jede Steuererhöhungspolitik kriti- (C) kanzlerin, nicht sagen, die Opposition habe keine Alter- sieren. In den letzten Jahren haben wir nämlich die Er- nativvorschläge. Jedes Mal fragen Sie hier rhetorisch fahrung gemacht, dass Steuererhöhungen nie dazu ge- für die Bürger, die uns zuschauen: Wo sind denn eure führt haben, dass die Staatsfinanzen in Ordnung kamen. Alternativen? Wir würden sie prüfen. – Was Sie dabei Die Staatsfinanzen kommen nur in Ordnung, wenn Ar- verschweigen, ist, dass wir in all den unter Ausschluss beitsplätze entstehen. Also muss alles unterlassen wer- der Öffentlichkeit tagenden Ausschüssen, bei denen den, was Arbeitsplätze kostet. Weil Steuererhöhungen keine Fernsehkameras zugegen sind und somit auch nie- dramatisch viele Arbeitsplätze kosten, muss man sie las- mand zuschauen kann, die Umsetzung unserer Alterna- sen, meine sehr geehrten Damen und Herren. tivvorschläge beantragt haben und diese dort auch aus- führlicher dargestellt haben, als wir es hier aufgrund der (Beifall bei der FDP – Zuruf der Abg. Petra geringen Redezeit als Oppositionspartei machen können. Merkel [Berlin] [SPD]) Wir haben 500 Anträge im Haushaltsausschuss gestellt. Ich nenne Ihnen nun ein paar Unsinnigkeiten in Ihrem Sie sagen, das seien alles Kürzungsanträge, die aus Ihrer Haushalt, für die Sie die Verantwortung tragen. Wenn Sicht nicht seriös seien. Das müsste ich im Rahmen des ich das tue, ist das keine Kritik am Staat, die man verur- politischen Meinungsstreites so stehen lassen. Aber dass teilen müsste. Nein, wir wollen einfach diese Ausgaben Sie auch die über 70 Anträge zum Haushalt mit einem nicht. Sie wollen diese Ausgaben aus politischen Grün- Einsparvolumen von mehreren Milliarden, die wir in den den; das ist Ihr gutes Recht. Sie haben eine große Mehr- Ausschüssen gestellt haben und die bis hin zu den For- heit in diesem Hause und können es auch beschließen. mulierungen dem entsprechen, was die Union in den Aber es muss erlaubt sein, dass wir als Opposition be- letzten Jahren als Opposition im Haushaltsausschuss be- stimmte Einzelpunkte aufgreifen und angreifen. antragt hat, abgelehnt haben, zeigt, dass bei Ihnen der Verstand in Wahrheit durch die Koalitionsräson domi- (Zuruf von der SPD: Das ist doch keine niert wird. Das ist schlecht für Deutschland, meine sehr Frage!) geehrten Damen und Herren. Als Beispiel nenne ich die Tatsache, dass wir immer (Beifall bei der FDP) noch Entwicklungshilfe an China zahlen. Wir haben im Haushaltsausschuss die Streichung dieser Hilfen be- Sie wissen das und deswegen genieren Sie sich dafür ja antragt und hätten uns mit Ihnen auch über Übergangs- auch. fristen und darüber, wie man dabei vorgehen kann, ver- Wo ist die CSU geblieben? Sie hatte einmal im Zu- ständigen können. Tatsache ist, China ist mittlerweile sammenhang mit der Kandidatur von Strauß plakatiert unser wichtigster Handelspartner in Asien. Es ist die (B) – als junger Student bin ich, wie es sich gehört, heftig drittgrößte Handelsnation der Welt. Wir aber geben hun- (D) dagegen angegangen –: Freiheit statt Sozialismus! Die- derte Millionen Entwicklungshilfe an China. ses Plakat wird eines Tages einmal gegen Sie herausge- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: 70 Millio- holt. nen! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die (Heiterkeit und Beifall bei der FDP – Dr. Peter Zahlen müssen stimmen!) Ramsauer [CDU/CSU]: Sie haben schon vie- Die bauen den Transrapid und steigen in die Weltraum- les herausgeholt!) industrie ein. Wir aber geben einem unserer stärksten Das wird passieren. Konkurrenten Entwicklungshilfe. Das ist Denken von gestern. Hier handelt es sich um einen Wettbewerber, Nein, wir haben etwas anderes gewollt. Lassen wir meine sehr geehrten Damen und Herren. einmal das Geplänkel weg und konzentrieren uns auf die Sache. Ich will Ihnen einmal ein paar Beispiele nennen: (Beifall bei der FDP) (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ein biss- Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, dass sich die chen mehr hätten Sie schon zur CSU sagen Entwicklungshilfe für China in den letzten drei Jahren können!) auf etwa 200 Millionen Euro belaufen hat. Sie haben da- zwischengerufen, es seien nur 70 Millionen. Das gilt nur Sie, Herr Kollege Steinbrück, haben gestern in der für einen Ansatz. Insgesamt haben wir in den letzten Einbringungsrede zum Haushalt einen meiner Meinung Jahren etwa 2,8 Milliarden Euro Entwicklungshilfe an nach ganz wichtigen Punkt angesprochen, der es auch China gezahlt. Man kann natürlich so weitermachen. wert wäre, hier im Bundestag besprochen zu werden. Sie Man kann es auch ändern. Wir sind der Meinung, man forderten, den Staat nicht schlecht zu machen, und kriti- sollte es ändern. sierten, eine Allianz aus Opposition und Boulevard- presse – so haben Sie es sinngemäß formuliert – ver- (Beifall bei der FDP) greife sich an dem Ansehen des Staates, weil sie von Sie sind der Meinung, man solle es so lassen. Verantwor- dem gefräßigen Steuerstaat spreche. ten Sie das gegenüber der Bevölkerung. Wir vertreten (Jörg Tauss [SPD]: Das tut die FDP!) eine andere Meinung. Deswegen sind wir nicht schlech- tere Deutsche, Herr Finanzminister. Das möchte ich an Ich sage Ihnen, lieber Herr Finanzminister, das ist aus dieser Stelle klar sagen. meiner Sicht zu kurz gegriffen. Wir werden als Opposi- tion auch in Zukunft – das stellt die kontinuierliche Linie (Beifall bei der FDP) 3564 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Dr. Guido Westerwelle (A) Ich will auf einen weiteren Punkt eingehen. Sie sagen hung der Mehrwertsteuer 600 Euro mehr zahlen. Dieses (C) ja, Sie würden jetzt die Staatsfinanzen konsolidieren. Geld nehmen Sie den Bürgern. 600 Euro, sechs Hundert- Tatsache ist, Sie erhöhen die Steuern wie keine Regie- Euro-Scheine, mehr, wenn man sich ein Auto kauft, nur rung zuvor, und Tatsache ist, dass Sie das nicht zuguns- weil Sie nicht in der Lage sind, strukturelle Reformen ten der jungen Generation tun nach dem Motto: Dann des Haushaltes zu bewirken. Ich finde, das ist ein unan- machen wir weniger Schulden. Sie machen beides. Auch ständiges Abkassieren der Bürgerinnen und Bürger. Das die Nettokreditaufnahme ist so hoch wie nie zuvor: fast hat mit wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Gerechtig- 40 Milliarden Euro. Das hat es noch nicht gegeben. keit nichts zu tun. Große Koalition, große Schuldenmacherei – das ist es, worüber wir hier reden müssten. (Beifall bei der FDP) (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Nein,1996 Herr Kollege Scholz, ich muss auch auf dieses Thema waren Sie dabei, Herr Westerwelle! 41 Mil- eingehen, weil Sie es angesprochen haben: Thema Steu- liarden!) ern. Wir haben ein Konzept dazu vorgelegt. Es fehlt mir die Zeit, es als Oppositionsabgeordneter vortragen zu Was bedeutet Ihre Politik für die Familien? Sie rüh- können. Ich kann nicht wie Regierungsmitglieder belie- men sich ja so wegen des Elterngelds. Niemand ist dage- big lange reden. Wir haben entsprechende Konzepte im gen, dass Familienpolitik gemacht wird. Die Frage ist Haushaltsausschuss eingebracht. nur, wie sie gemacht wird. Als staatliche Bevormun- dung? Eigentlich müsste dem Staat jedes Kind gleich Nun aber zum Thema Bürokratie. Dass die Union viel wert sein. Das ist immer die klassische Haltung die- gegen das Antidiskriminierungsgesetz gewesen ist, ses Hohen Hauses gewesen. wissen alle. Aber bei allem Respekt, Herr Kollege Scholz, wie kann man den Satz formulieren: Habt ihr et- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Und das von was für die Diskriminierung übrig? – Wenn es jemanden der FDP!) – auch im Rahmen der heutigen Debatte – gibt, der sich Sie machen jetzt etwas ganz anderes. Sie sagen: Es be- ganz persönlich mit Sicherheit immer gegen die Diskri- kommt Geld, wer das Familienmodell der Regierung in minierung von Minderheiten aussprechen wird, dann bin der Erziehung verfolgt. Wir sagen: weniger Bevormun- ich es. Ich glaube, dass Sie mit diesem Antidiskriminie- dung wäre besser. Das ist auch eine intelligente Fami- rungsgesetz Minderheiten in Wahrheit nicht schützen, lienpolitik. sondern ihnen schaden. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Was tun Sie stattdessen im Familienbereich? Ich Mit dieser Bürokratie und der Klagewelle von Opferver- (B) (D) möchte in der Öffentlichkeit noch einmal Zahlen nen- bänden gegen den Willen des angeblich Diskriminierten nen: Eine Familie mit einem Durchschnittseinkommen werden Sie denen, die Sie schützen wollen, nur schaden. von 40 000 Euro wird nur durch die Beschlüsse der letz- Es ist in Wahrheit ein minderheitenschädliches Gesetz, ten Wochen eine Mehrbelastung in Höhe von 1 600 Euro das Sie hier beschließen. im Jahr haben. Lassen Sie uns darüber sprechen, wie bisher darüber (Jürgen Koppelin [FDP]: Leider wahr!) gedacht worden ist. Die Bemerkungen von Frau Merkel im Bundestagswahlkampf waren hinreichend bekannt. Ich möchte auch einmal erwähnen, was das für das Wir haben doch einmal gemeinsam das Antidiskriminie- Handwerk und den Handel bedeutet, weil Sie sich rungsgesetz verhindert, weil wir es für zu bürokratisch darüber wundern, dass im Augenblick so viel gekauft hielten. Da Sie der FDP Vorwürfe gemacht haben, zitiere wird. Das ist doch kein Wunder. Viele Leute wollen der ich einige Aussagen. Schily: Die Rücknahme des Anti- Mehrwertsteuererhöhung entgehen, von der sie wissen, diskriminierungsgesetzes wäre ein echter Beitrag zum dass sie im nächsten Jahr kommt. Die Käufe werden vor- Bürokratieabbau. – Das sagte er im März letzten Jahres. gezogen. Umso leerer werden die Auftragsbücher in den ersten beiden Quartalen des Jahres 2007 sein. Das sagen (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) Ihnen der Bundesbankpräsident, die FDP und die Wirt- schaftsinstitute. Sie wollen es aber nicht hören und be- Clement: Ich sehe das genauso wie der Kollege Schily. – schimpfen stattdessen die Opposition. Steinbrück: Das Antidiskriminierungsgesetz in seiner jetzigen Konzeption ist eine zusätzliche Belastung für Ich möchte ein Beispiel anführen: Eine Familie will die Wirtschaft. Deshalb würde ich im Bundesrat diesem einen Golf zu einem Preis von – das ist geschätzt – Gesetz nicht zustimmen. – 20 000 Euro kaufen. (Beifall bei der FDP) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist eine schmale Ausgabe!) Platzeck: Wir sind ein völlig verriegeltes Völkchen ge- worden. Was Deutschland wirklich nicht mehr gebrau- – Ja, Herr Kampeter, das ist die schmale Ausgabe; ich chen kann, ist, auf Brüssel noch irgendwo einen Punkt bin sicher, dass Sie die nicht fahren. draufzulegen. – Herr Ude, SPD-Oberbürgermeister in (Heiterkeit bei der FDP) München: Da haben sich Gutmenschen ausgetobt. – Schöner hätte ich das gar nicht formulieren können. Es gibt aber Familien, die weniger verdienen als ein Ab- geordneter. – Diese Familie wird nur durch die Erhö- (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3565

Dr. Guido Westerwelle (A) Herr Beck, ich meine den großen Beck, den SPD-Vorsit- dass Sie ein sehr guter Redner sind. Es war toll, wie Sie (C) zenden Beck, das hier gemacht haben. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU) NEN]: Wie groß ist er denn?) Herr Fraktionsvorsitzender, das war toll und beeindru- den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt ckend. Respekt gegenüber Ihrer Professionalität zolle Beck, der damals zugleich stellvertretender SPD-Chef ich Ihnen immer, auch wenn Sie Unfug machen. war, sprach sich dafür aus, gesetzlich nur das zu regeln, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Habe ich was was die EU-Richtlinien zwingend vorgeben. Eigentlich falsch gemacht?) waren wir uns doch einig! Entsprechend sah auch Ihre Regierungserklärung aus. Die EU-Richtlinie sollte eins Aber Sie, Herr Kauder, stellen sich hier hin und sagen, zu eins umgesetzt werden. Wenn Sie jetzt Bürokratie die Bundeskanzlerin habe zum Thema Gesundheit alles draufsatteln, dann kritisieren Sie die FDP nicht dafür, gesagt. Nichts hat sie gesagt. dass sie das anprangert! (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo waren Sie (Beifall bei der FDP) denn?) Weil Sie, Frau Bundeskanzlerin, gerade ganz Wichti- Sie hat gar nichts gesagt, was irgendwie Substanz gehabt ges mit dem Bundesumweltminister zu besprechen hat- hätte. ten, komme ich auf eine Sache ganz kurz zu sprechen. Es (Beifall bei der FDP – Hartmut Koschyk [CDU/ ist erstaunlich, wofür die Regierung Geld hat, zum Bei- CSU]: Das haben Sie nicht verstanden!) spiel für eine Broschüre gegen die Kernkraft. Die hat jeder Zeitung beigelegen. Die kostete Geld, Tausende, Sie sagte: Vor dem Sommer werden wir das alles noch vielleicht sogar Hunderttausende. lösen. Da gehen wir heran. – In Wahrheit haben die Zei- tungen längst die Papiere. Oder wollen Sie sagen, dass (Zurufe von der SPD: Millionen! – Dr. Peter die „Süddeutsche Zeitung“ in ihrer heutigen Ausgabe Struck [SPD]: Milliarden!) lügt? Gibt es dieses Papier oder gibt es das nicht? Ist das eine Regierungsausarbeitung oder lügt etwa die „Süd- – Nach sozialdemokratischer Rechnung wären das Mil- deutsche Zeitung“? Sie hätten die Gelegenheit wahrneh- liarden. Das ist wahr. – Da stehen Sie, meine Damen und men können, etwas dazu zu sagen. Herren, fröhlich beieinander. Herr Gabriel, der Umwelt- minister, schreibt, wie klasse es sei, dass man aus der (Beifall bei der FDP) Kernkraft aussteige, (B) Nach den Plänen, die wir bisher kennen, wissen wir nur (D) (Jörg Tauss [SPD]: Da hat er Recht!) eines: Nach der größten Steuererhöhung, dem Ausbau von Bürokratie und der größten Verschuldung kommt wie notwendig das sei und dass die SPD schon seit Jah- jetzt in der Gesundheitspolitik noch einmal ein tiefer ren dafür sei. Griff in die Tasche der Bürger auf uns zu. Warum? Weil (Beifall bei der SPD) Sie nicht in der Lage sind, sich auf einen gemeinsamen Reformnenner zu verständigen. Jetzt wird eine Chimäre – Und die SPD klatscht. – Drei Tage später spricht un- geboren. Ein bisschen so und ein bisschen so, wie in der sere Bundeskanzlerin auf der Hannover-Messe und sagt: Steuerpolitik: Gibst du mir deine Mehrwertsteuererhö- Wissen Sie, ich glaube, wenn man den Klimaschutz hung, gebe ich dir die Reichensteuer. Das machen Sie wirklich ernst nimmt, dann kann man auf die Kernkraft jetzt wieder in der Gesundheitspolitik. Sie fangen schon nicht verzichten. – wieder mit dem Abkassieren an. Es werden Fonds gebil- det, und an die PKVs wird herangegangen, als ob es um (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die Kassen ginge, dabei geht es doch um die Versicher- der CDU/CSU) ten; denen wird das Geld weggenommen. Was gilt denn jetzt in dieser Regierung? (Beifall bei der FDP) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das, was die Eines sage ich Ihnen: Sie hätten Mut zur Reform der Kanzlerin sagt!) sozialen Sicherungssysteme zeigen müssen. Sie hätten Gabriel grinst sich einen, was ich aus seiner Sicht verste- sagen müssen: Das ist mein Weg in der Gesundheitspoli- hen kann. Das Mindeste, was man erwarten kann, ist, tik. Stattdessen ringen Sie um einen faulen Kompromiss dass Sie, Frau Bundeskanzlerin, dafür sorgen, dass Sie hinter verschlossenen Türen. Die Zeitungen bekommen wenigstens in Ihrer Öffentlichkeitsarbeit mit Rücksicht Papiere zugesteckt, damit sich die Öffentlichkeit nachher auf das Portemonnaie der Steuerzahler eine einheitliche nicht so aufregt, weil nicht ganz so dramatisch abkassiert Haltung vertreten. Das ist das Mindeste, was man von wird, wie die Horrorzahlen, die heute veröffentlicht wur- Ihnen erwarten kann. den, vermuten ließen. Diese Regierung wagt nicht mehr Freiheit, es ist eine Regierung, die den Staat wichtiger (Beifall bei der FDP) nimmt als die Gesellschaft und die Bürger. Deswegen, wegen dieser grundsätzlichen Haltung, lehnen wir den Ich will mit einer Bemerkung zur Gesundheitspolitik Haushalt Ihrer Regierung ab, Frau Merkel. schließen. Es war eine brillante Verkleisterung, Herr Kollege Kauder, die Sie uns geboten haben. Das zeigt, (Anhaltender Beifall bei der FDP) 3566 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich weiß ja nicht, ob Sie in das Kabinett hineingehen (C) Nächster Redner ist der Vorsitzende der SPD-Frak- wollten. Es hieß ja, Sie hätten die Liste, wer was werden tion, Dr. Peter Struck. sollte, schon fertig. Stellen Sie sich vor, Sie hätten über die Finanzen reden müssen. Wir haben eine Mehrwert- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten steuererhöhung um 3 Prozentpunkte durchgesetzt. Ein der CDU/CSU) Prozentpunkt bringt dem Bund 4,7 Milliarden Euro. Das heißt, eine Erhöhung um 2 Prozentpunkte bringt 9,4 Mil- Dr. Peter Struck (SPD): liarden Euro. Wenn Sie keine Steuererhöhung gemacht Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- hätten, hätten im Bereich der geplanten Investitionen ren! Herr Kollege Westerwelle, ich fand es mutig, dass 9,4 Milliarden Euro gefehlt. Sie hier zugegeben haben, dass Sie nichts von Fußball verstehen – im Gegensatz zu mir: Wir haben ein Investitionsprogramm mit einem Vo- lumen von 25,4 Milliarden Euro in den nächsten Jahren (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) aufgelegt, das weitere Investitionen in einer Größenord- Ich war einer der tragenden Spieler in der Bundestags- nung von 60 Milliarden Euro nach sich zieht. Hätten mannschaft. Peter Rauen wird das bestätigen. diese Investitionen nicht stattfinden sollen? Das ist meine Frage. Hätten Sie nicht Ihre Hand dafür gehoben, (Jörg Tauss [SPD]: Wovon versteht Herr dass wir Maßnahmen zur Sanierung von Gebäuden sub- Westerwelle etwas?) ventionieren oder das Elterngeld einführen? All das wird Ich stimme Ihnen in einem Punkt, den Sie angespro- doch davon finanziert. chen haben, dennoch zu: Die Weltmeisterschaft ist für Außerdem senken wir den Arbeitslosenversiche- uns ein Glückfall. rungsbeitrag um einen Punkt. Sind Sie dagegen, dass (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist wahr!) das geschieht? Ich frage angesichts des Gedröhnes, das Sie mit Ihrem komischen Märchenbuch, mit Ihren An- Sie hat vor allem dem Land den Schleier der Miesma- trägen, die Sie in den Haushaltsausschuss eingebracht cherei weggerissen. haben, verursachen: Was würden Sie eigentlich tatsäch- lich anders machen? (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Sie haben heute versucht, damit weiterzumachen. (Beifall bei der SPD – Petra Merkel [Berlin] Deutschland ist ein freundlicher Gastgeber. Die Fan- [SPD]: Sehr gut!) meile in unmittelbarer Nähe zum Reichstag ist Tag für Ich greife einen Punkt heraus, der mich aufgrund mei- Tag und Abend für Abend ein Beweis für ein fröhliches ner früheren Tätigkeit besonders beschäftigt. Die FDP- (B) (D) Miteinander von Gästen und Gastgebern. Wir können Fraktion sagt: Wir kürzen bei der Bundeswehr um stolz auf unsere Deutschen sein, die unsere ausländi- 1 Milliarde Euro. Die PDS-Fraktion fordert noch mehr: schen Kameraden und Freunde betreuen und sich mit ih- nen zusammen über Siege freuen und über Niederlagen (Zurufe von der LINKEN: Die Linke! – Das trauern. Wir freuen uns, auch bei den nächsten Spielen, sollten Sie wissen! – Gegenruf des Abg. Jörg mehr über Siege. Tauss [SPD]: Wir sind die Linken!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 2 Milliarden. Dazu will ich Ihnen deutlich sagen: Was der CDU/CSU) glauben Sie, was die Soldaten in Afghanistan oder im Kongo von einer solchen Maßnahme halten? Es ist eine Herr Kollege Westerwelle, Sie haben von der Enttäu- unzumutbare Vorstellung, den Haushalt der Bundeswehr schung auf der Regierungsbank gesprochen. Ich inter- um 1 Milliarde Euro zu kürzen. Das kann man niemals pretiere das so, dass Sie enttäuscht sind, dass Sie nicht akzeptieren. Das geht überhaupt nicht. auf der Regierungsbank sitzen. Da wollten Sie ja gerne hin. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Otto Fricke [FDP]: Wir müs- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sen gar nicht in den Kongo!) Was hätten Sie eigentlich gemacht, wenn Sie regiert hät- – Wir haben eine internationale Verantwortung. Das ten? – Ich will übrigens klar sagen: Die Aussage, weiß doch jeder und auch Sie. Sie sind doch diejenigen Deutschland ist ein Sanierungsfall, ist nicht die meine. gewesen, die, als wir regiert haben, immer gesagt haben: Das möchte ich unterstreichen. Ihr müsst mit dem Rumsfeld und dem Bush klarkom- (Beifall bei der SPD) men; gebt mehr Geld für Verteidigung aus. Jetzt wollen Sie kürzen. Deutschland war ein Sanierungsfall 1998. Weitere Kürzungsmaßnahmen aus Ihrem Märchen- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) buch: 3 Milliarden Euro wollen Sie bei den Eingliede- rungshilfen kürzen. Carsten Schneider hat schon ges- Da haben wir zusammen mit den Grünen die Regierung tern in der Debatte darauf hingewiesen, dass 50 Prozent übernommen. Wir haben ordentlich regiert. Trotzdem dieser Eingliederungshilfen in Ostdeutschland ausgeteilt sage ich: Es gibt in diesem Land viel zu tun. werden. Sind Sie dafür, dass in dem Bereich noch här- Was hätten Sie eigentlich gemacht, wenn Sie neben tere Kürzungsmaßnahmen durchgeführt werden? Das Frau Merkel auf der Regierungsbank gesessen hätten? kann doch nicht Ihr Ernst sein. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3567

Dr. Peter Struck (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten versuchen. Ich bin jetzt gerade bei einem anderen (C) der CDU/CSU – Abg. Otto Fricke [FDP] mel- Thema. Sie kommen aber wirklich noch dran. Ich habe det sich zu einer Zwischenfrage) es ja zugesagt. – Wollen Sie eine Zwischenfrage stellen? Einen Augen- (Otto Fricke [FDP]: Danke!) blick noch. Setzen Sie sich noch einen Moment, Herr Fricke, es dauert noch ein bisschen. Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch über Optimierungsgesetze. Wir haben über das Hartz-IV- (Otto Fricke [FDP]: Ich kann auch im Stehen Optimierungsgesetz entschieden. Ich will gar nicht ver- warten!) schweigen, dass in meiner Fraktion natürlich heftige De- batten darüber geführt wurden. Auch bei den Kollegin- – Ja, Sie können auch gern im Stehen warten. nen und Kollegen von den Gewerkschaften gab es Ich will Folgendes sagen: Wir, CDU, SPD und CSU, Debatten. Aber ich muss sagen: Ich kann überhaupt haben 70 Prozent Mehrheit im Parlament. Das bedeutet, nicht verstehen, dass das Optimierungsgesetz, das Franz wir können zum Beispiel Verfassungsänderungen allein Müntefering vorgelegt hat, so umstritten gewesen ist, durchsetzen. Im Bundesrat ist die Situation so, dass die und zwar auch bei den Gewerkschaften, weil es dabei Länderregierungen diese Koalition tragen. Es wird im- doch darum geht, einen besseren Verwaltungsablauf zu mer Situationen geben, in denen ein Land, aus welchen erreichen. Es geht auch darum, dass man jemanden – ob- Gründen auch immer, beabsichtigt, den Vermittlungs- wohl Renate Künast Recht hat, wenn sie die Größenord- ausschuss anzurufen, oder uns sagt, dass wir noch über nung des Missbrauchs anspricht –, der eine zumutbare etwas reden müssen, bevor wir es im Bundestag be- Arbeit zwei oder drei Mal ablehnt, auch mit entspre- schließen. chenden Sanktionen belegt. Das Geld, das die Arbeits- agentur oder die Argen vergeben, ist doch Steuerzahler- Die jetzige Situation hatten wir seit der ersten großen geld. Es geht darum, dass wir eine gerechte Lösung Koalition von 1966 bis 1969 nicht mehr. Das heißt für finden. Dieses Optimierungsgesetz war also richtig und mich, dass es eine große Verantwortung ist. Wenn nicht wir werden, wenn es nötig ist, noch weitere Schritte ge- diese große Koalition die Zukunftsfragen der Nation hen. Es gibt einen laufenden Überprüfungsprozess, den löst, wer löst sie dann? Das heißt, wir sind wirklich zum der Arbeitsminister durchführt. Erfolg verdammt. Das gilt für jeden Punkt, über den wir zu diskutieren haben. Ich will die Opposition nicht klein- (Beifall des Abg. Olaf Scholz [SPD]) reden. Ganz im Gegenteil: Ich respektiere Ihre Arbeit. Das zweite Hauptthema, das die Menschen beschäf- Das wissen Sie ganz genau. Aber auf uns kommt es jetzt tigt, ist: Was passiert mit mir, wenn ich krank werde? Je- an. (B) der von uns kann in diese Situation geraten. Das wissen (D) Was sind die Zukunftsfragen der Nation? Versetzen Sie. Wir müssen darauf achten, welche Sorgen die Men- wir uns einmal in die Lage eines normalen Menschen, schen haben. Was ist die Sorge der Menschen? Die der seinem Beruf nachgeht oder einen Arbeitsplatz Sorge ist: Bin ich so krankenversichert, dass wirklich sucht. Was erwartet er von uns? Er erwartet von uns, jede Krankheit, die mich befallen kann, entsprechend dass wir folgende Probleme lösen: den ärztlichen Regeln behandelt wird? Mit anderen Wor- ten: Erhalte ich das, was medizinisch notwendig ist, un- Erstens erwartet er, wenn er arbeitslos wird oder be- abhängig davon, wie alt ich bin und ob ich arm oder reits arbeitslos ist, dass wir ihm helfen, einen Arbeits- reich bin? platz zu finden. Die Maßnahmen, die wir jetzt mit Hartz IV bei der Zusammenlegung von Arbeitslosen- (Beifall bei der SPD) hilfe und Sozialhilfe begonnen haben, sind absolut rich- tig. Die Debatte, die vor einiger Zeit über Hartz IV ge- Die Ziele der Gesundheitsreform müssen sein – hier führt worden ist, war falsch. Es war eine richtige sind wir uns einig –: Erstens. Jeder muss krankenversi- Maßnahme, zu der wir stehen. Es war keine falsche chert sein. Maßnahme. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CDU/CSU) der CDU/CSU) Gegenwärtig sind ungefähr 400 000 Menschen nicht Übrigens war es im Vermittlungsausschuss so – das wis- krankenversichert. Das muss in Form eines Kontrahie- sen auch Sie –, dass die damalige Opposition, die CDU/ rungszwangs für die Krankenversicherungen organisiert CSU, zugestimmt hat. werden. Zweitens. Jeder muss die medizinisch notwendigen Präsident Dr. Norbert Lammert: Leistungen erhalten. Wir wollen keine Zustände wie Herr Kollege Struck, besteht denn die Aussicht, dass zum Beispiel in Großbritannien. Dort kommt es vor, Kollege Fricke seine Frage noch vor dem Ende Ihrer dass man drei oder vier Monate auf einen Operationster- Rede stellen kann? min warten muss oder dass sich ein 70-Jähriger die künstliche Hüfte, die er braucht, selbst kaufen muss. Sol- che Zustände wollen und werden wir in Deutschland Dr. Peter Struck (SPD): nicht bekommen. Ich verfolge gerade meinen Gedankengang. Herr Fricke, Sie können es vielleicht nachher noch einmal (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 3568 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Dr. Peter Struck (A) Die dritte Frage, die die Menschen neben den Themen (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker (C) Arbeitslosigkeit und Krankheit bewegt, bezieht sich auf Kauder [CDU/CSU]) die Rente: Was geschieht, wenn ich alt bin? Sowohl Nun zu den Kleinigkeiten, über die sich die Opposi- durch die Debatten der letzten Zeit als auch durch die tion aufregt. Weil es in den Zeitungen steht und viel da- Diskussionen, die wir in den letzten zehn Jahren, also rüber geredet wird, zum Beispiel in Hintergrundgesprä- schon zu Helmut Kohls Regierungszeit, geführt haben, chen, ist bekannt, dass über ein Allgemeines weiß jeder, dass die Leistungen der gesetzlichen Renten- Gleichstellungsgesetz diskutiert wird. Ich weiß, dass die versicherung nicht ausreichen werden, um den Lebens- Unionsfraktion damit Probleme hat. standard, den man während des aktiven Arbeitslebens hatte, im Alter zu halten. Warum das so ist, brauche ich (Volker Kauder [CDU/CSU]: Richtig!) nicht zu erläutern. Das hat unter anderem mit der demo- grafischen Entwicklung und mit der Arbeitsmarktent- Aber wir haben Vereinbarungen getroffen. Die Koalition wicklung zu tun. Das ist bekannt. kann nur dann durchhalten, wenn diese Vereinbarungen eingehalten werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass Deshalb hat die vorherige Koalition aus SPD und dies geschieht und dass Volker Kauder sein Wort, das er Grünen die Riesterrente eingeführt. Sie wird gut ange- mir gegeben hat, hält; nommen und ist auch in der Unionsfraktion akzeptiert. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Hier müssen wir noch mehr tun. Klar ist – darüber wurde in den Koalitionsverhandlungen diskutiert und das ist denn andernfalls könnten wir nicht mehr zusammenar- umfangreich kommentiert worden –, dass wir länger ar- beiten. So ist das. An dieser Stelle möchte ich den Kolle- beiten müssen. Franz Müntefering hat die mutige Ent- gen der CDU/CSU-Fraktion dafür danken, dass sie ihr scheidung getroffen, öffentlich darüber zu sprechen, Wort halten. dass bis zum Alter von 67 Jahren gearbeitet werden (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hartmut muss und ab wann diese Regelung gilt. Das hat natürlich Koschyk [CDU/CSU]: Das gilt aber auch für keinen Jubel hervorgerufen. den Föderalismus! – Volker Kauder [CDU/ (Volker Kauder [CDU/CSU]: Bei den Sozis CSU]: Das ist doch selbstverständlich!) schon!) – Ja, darauf komme ich gleich noch zu sprechen. Das ist logisch. Dass darauf vonseiten der PDS-Fraktion (Zuruf des Abg. Dr. Guido Westerwelle mit gnadenlosem Populismus reagiert wurde, war nach- [FDP]) vollziehbar. Aber das ist keine Lösung. Wir müssen also länger arbeiten. Kollege Westerwelle weist zwar darauf hin, dass ihr, (B) bevor wir unsere Vereinbarungen getroffen haben, etwas (D) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) anderes gesagt habt. Aber das ist in der Politik nun ein- mal so. Natürlich habt ihr in der Vergangenheit etwas an- Welche Funktion hat eine Haushaltsdebatte? Da ich deres gesagt. Aber dann haben wir uns auf eine be- im Deutschen Bundestag schon an 25 Haushaltsdebatten stimmte politische Lösung geeinigt. teilgenommen habe – ich meine die zweiten und dritten Lesungen –, kann ich Ihnen mitteilen: Die normale (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Ja! Aber Funktion dieser Debatte besteht darin, dass die Regie- wenn wir das hier ausbreiten, dann müssen wir rung sagt, dass sie alles eigentlich ganz gut macht – Frau es richtig ausbreiten!) Merkel, Ihr Amtsvorgänger hat immer gesagt, dass seine Das hat auch etwas mit der Föderalismusreform zu tun. Regierung eigentlich sehr gut ist; Sie sind im Augen- Auch darüber wird innerhalb der Koalition diskutiert; blick noch ein bisschen bescheidener –, das gebe ich gerne zu. (Vereinzelt Heiterkeit) Frau Merkel, Sie haben es angesprochen und es ist völlig richtig: Man darf das große Ziel nicht aus den Au- und dass die Opposition sagt, dass alles, was die Regie- gen verlieren; ich schaue jetzt die Kritikerinnen und Kri- rung macht, falsch ist. tiker in meinen Reihen an. Im Hinblick auf die Opposition muss ich feststellen: (Volker Kauder [CDU/CSU]: Herrn Tauss!) Sie sprechen immer nur von der Mehrwertsteuererhö- hung. Aber irgendwann müssen Sie dieses Thema ver- – Nicht nur Herrn Tauss; wir werden in der nächsten gessen, Herr Westerwelle. Dann muss Ihnen etwas ande- Woche darüber entscheiden. – Die Zielrichtung – weni- res einfallen. Im nächsten Jahr können Sie nicht mehr ger zustimmungspflichtige Gesetze und eine klare Ver- auf die Mehrwertsteuererhöhung verweisen. Dass Sie teilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern – das im Moment machen, kann ich aber verstehen. ist absolut richtig und dabei bleibt es auch. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Die Mehrwertsteuererhöhung ist niemandem leicht gefallen. Da wir jedoch gleichzeitig die Beiträge zur Ar- Aber man muss schon darüber diskutieren, ob es richtig beitslosenversicherung senken und das Investitionspro- ist, manche Kompetenzen vom Bund auf die Länder zu gramm finanzieren, legen wir das Geld der Bürger, das verlagern. Wir haben – das wissen Sie genau – ein sehr wir durch die Mehrwertsteuererhöhung einnehmen, ver- umfangreiches Anhörungsverfahren durchgeführt, wie nünftig an. es das in der Geschichte des Bundestages noch nicht ge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3569

Dr. Peter Struck (A) geben hat: 100 Sachverständige, nicht nur von den Frak- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (C) tionen, sondern auch vom Bundesrat benannt, haben in CDU/CSU – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: diesem Raum manchen Punkt sehr kritisch bewertet. Wir nehmen Sie beim Wort!) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: So ist es! Wir – Ich mache das schon. haben es alle gehört!) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Die Koali- Wir haben alle, soweit wir es konnten, zugehört, und un- tionsverhandlungen werden hier allmählich öf- sere Expertinnen und Experten haben uns darüber be- fentlich! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE richtet. Es kann aber nicht sein – das will ich deutlich sa- GRÜNEN]: Was ist das für ein Plauderton?!) gen –, dass wir diese Anhörung just for show gemacht haben, vielmehr nehmen wir das, was hier vorgetragen Man muss natürlich auch sagen, dass wir, was die Föde- wurde, ernst. ralismusreform angeht, am Freitag in einer Woche eine ausführliche Debatte brauchen. Denjenigen Kolleginnen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und Kollegen, die Bedenken haben, muss wirklich die der CDU/CSU und der FDP) Chance gegeben werden, ihre Änderungswünsche im Aber wir alle in diesem Raum wissen doch auch: Von Plenum darzustellen. dem, was im Hinblick auf die Föderalismusreform dis- Trotzdem muss sich am Ende jeder – ich schaue jetzt kutiert wird, wird einiges vom Bundesrat akzeptiert wer- in Richtung der FDP, weil ich weiß, dass es auch dort den können und einiges nicht; das ist so. Hier verlaufen Rechtsexperten gibt, die viele Fragen haben – die Frage die Grenzen doch nicht zwischen SPD und CDU/CSU stellen: Sollen wir trotz Bedenken an einzelnen Stellen einerseits und der Opposition andererseits, sondern die – die jeder haben kann – das Gesamtpaket scheitern las- Grenzen verlaufen zwischen Bundestag und Bundesrat. sen? ( [DIE LINKE]: Auch, ja!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nein!) – Auch. Aber im Wesentlichen scheiden sich die Mei- – Meine Position ist auch: Nein. Aber ich setze voraus, nungen doch gerade an dem Punkt, über den wir hier kri- dass wir noch Gespräche zu führen haben, auch mit dem tisch diskutieren. Bundesrat, um auszuloten, was machbar ist und was Also: Ich weiß genau, wir bekommen nicht alle un- nicht. sere Änderungswünsche durch. Übrigens ist es nicht so, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass nur meine Fraktion gerne etwas geändert hätte – es der CDU/CSU) gibt auch Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU- (B) Fraktion, die gern etwas geändert hätten. Zu Beginn der Debatte, als der Entwurf der Föderalis- (D) musreform eingebracht worden ist, da hieß es: Nichts (Jörg Tauss [SPD]: Viele Vernünftige!) wird geändert, das steht im Koalitionsvertrag, der Bun- Sie verstecken sich im Moment nur hinter uns, weil sie desrat hat so beschlossen. – Deshalb bedanke ich mich sich sagen: Lass mal die Sozis vorangehen! bei denjenigen, die dazu beigetragen haben, dass es eine offenere Debatte gibt und dass die harte Ablehnung in- (Volker Kauder [CDU/CSU]: So mutlos sind zwischen aus der Welt ist. Dafür herzlichen Dank! wir nicht!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Und auch in der FDP wird vieles kritisch diskutiert; das der CDU/CSU) weiß ich. Ich will noch auf den Kollegen Kauder eingehen, weil Trotzdem bin ich der festen Überzeugung, dass wir er im Zusammenhang mit der Unternehmensteuerre- eine Föderalismusreform – über die wir ja in der nächs- form etwas zu aktuellen Fragen wie der Zukunft der Ge- ten Woche zu entscheiden haben – brauchen. Wir brau- werbesteuer gesagt hat. Ich habe jahrelang Kommunal- chen sie, um die Regierung unseres Landes schneller politik betrieben – ich war 20 Jahre im Kreistag – und handlungsfähig zu machen. Die Einzelheiten müssen wir will für meine Fraktion und sicher auch für den Finanz- noch bereden. minister deutlich machen: Ich bin nicht bereit, die Ge- (Beifall des Abg. Olaf Scholz [SPD]) werbesteuer in irgendeiner Weise aufzugeben, solange es nicht eine bessere Alternative dazu gibt. Ich sehe keine – Etwas spröde, kann man sagen. bessere Alternative. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Besonders be- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) merkenswert ist, dass der Beifall auf diesen Satz kommt!) Man kann über vieles sprechen. Das werden wir auch tun. – Ich kriege das schon hin in meiner Fraktion. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir verlassen Ich möchte eines gleich klarstellen. Herr Finanzmi- uns da auf Sie!) nister Steinbrück, der Herr Kollege Kauder hat Ihnen seine uneingeschränkte Solidarität zum Haushaltsent- – Das denke ich schon. Ich nehme meine Verantwortung wurf 2006 bekundet. Damit überhaupt kein Zweifel da- als Fraktionsvorsitzender wahr und will dazu gleich ein- ran besteht: Ich möchte mich dieser uneingeschränkten mal etwas sagen. Solidarität für die SPD-Bundestagsfraktion anschließen. 3570 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Dr. Peter Struck (A) (Beifall bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle Zur Bundeswehr. Ich meine, Sie können nicht sagen, (C) [FDP]: Das überlebt er nicht! Jetzt ist er fer- Herr Kollege Jung kenne sich nicht aus. Sie sagen, die tig!) Bundeswehr brauche nicht so viele Waffen, weswegen um 1 Milliarde Euro gekürzt werden könne. Ich frage – Nein, das glaube ich nicht. Sie einmal: Wie wollen Sie das verantworten? Ich Abschließend möchte ich sagen: Es ist der erste Haus- meine: Ein Soldat ohne Waffensystem ist eigentlich auch halt dieser großen Koalition. Der zweite Haushalt, der nicht viel wert. Das muss man wohl festhalten. 2007er-Haushalt, wird schwieriger. Darüber sind wir uns (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Aber keine – das gilt für alle, die auf der Regierungsbank sitzen, und U-Boote im Kongo!) auch für uns – völlig im Klaren. Wir werden das schaf- fen, weil wir wissen, dass wir unseren Auftrag erfüllen – Nein, U-Boote im Kongo nicht. Wie gesagt: Ich kenne müssen. Wir müssen das tun, was die Menschen in unse- mich aus und wäre bei den Kürzungen ganz vorsichtig. rem Land brauchen. Die SPD-Fraktion steht dazu bereit. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ist okay!) (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei Dass Sie hier Ihre Vorschläge machen müssen, ist ja der CDU/CSU) nachvollziehbar. Zur Eingliederungshilfe. Ich bin dafür nicht politisch Präsident Dr. Norbert Lammert: verantwortlich. Ich bin auch nicht in der Regierung dafür Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Otto verantwortlich, dass das, was Sie eben angesprochen ha- Fricke das Wort. ben, eintritt. Ich bin aber optimistisch, dass das Problem gelöst wird. Gerade unsere Haushälter und der Herr Ar- Otto Fricke (FDP): beitsminister werden genau darauf achten, dass wir das Herr Kollege, Herr Fraktionsvorsitzender Struck, Sie Thema Eingliederungshilfe so behandeln – haushaltsmä- hatten mir leider nicht die Möglichkeit gegeben, eine ßig, über die Agenturen und über wen auch immer –, Frage zu stellen. Deswegen muss ich jetzt diesen Weg dass das seine Richtigkeit hat. Ich weiß, was Sie anspre- gehen. chen, und kenne den Hintergrund Ihrer Frage. Ich ver- lasse mich auf die Leute, die wir haben, und der Minister Ich darf Sie als Erstes darauf aufmerksam machen, ist sowieso ein guter Minister. dass die Änderungsanträge der FDP-Fraktion bezüglich der Bundeswehr nicht die Ausstattung der Soldaten, son- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dern zum Beispiel Waffensysteme für Hubschrauber, der CDU/CSU) Waffensysteme für den Eurofighter und Ähnliches mehr (B) (D) betreffen. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Und die sozi- Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Lothar Bisky, ale Absicherung!) Fraktion Die Linke. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir diese Dinge im (Beifall bei der LINKEN) Kongo brauchen. Es wäre unverantwortlich, wenn wir so etwas tun würden. Das nur zur Klarstellung. Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Regel- Zweitens. Bekomme ich von Ihnen als Fraktionsvor- fall lobt die Regierung ihren eigenen Haushalt und wir sitzenden der SPD zum Thema Eingliederungshilfe, bei als linke Opposition kritisieren ihn. Das ist auch bei die- dem Sie uns den Vorwurf machen, wir würden den Leu- sem Haushalt richtig und wichtig; denn wieder einmal ten etwas wegnehmen, hier im Parlament die klare und sollen die sozial Benachteiligten die Zeche zahlen. Aber deutliche Aussage, dass die 6,5 Milliarden Euro, die für keine Regel ohne Ausnahme. die Eingliederungshilfe etatisiert worden sind und von denen bisher übrigens nur ein Viertel verbraucht worden Dem Kulturstaatsminister ist es gelungen, Kürzungen ist, obwohl bereits die Hälfte des Jahres herum ist, nur im Kulturhaushalt abzuwenden, ja, sogar kleine Zu- dafür und nicht für irgendetwas anderes ausgegeben wächse zu erreichen. Bundeskulturstiftung, Filmförde- werden? Würde das Geld für etwas anderes ausgegeben, rung und die Deutsche Welle profitieren mit jeweils dann wären unsere Anträge ja durchaus berechtigt. 2 Millionen Euro. Der Hauptstadtkulturfonds bleibt un- beschadet. Die Unterstützung zur Sanierung des Perga- Präsident Dr. Norbert Lammert: monmuseums ist in Aussicht gestellt. Auch bei der Staatsoper gehen wir davon aus, dass sich der Bund an Zur Erwiderung, Herr Kollege Struck. der Sanierung angemessen beteiligen wird.

Dr. Peter Struck (SPD): (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Herr Kollege Fricke, entschuldigen Sie, aber ich habe Das tut er auch!) wirklich vergessen, später noch eine Frage zuzulassen. Das bestehende Niveau wurde also insgesamt gehal- Das war ernst gemeint. ten. Das ist angesichts der überall grassierenden Kürzun- (Otto Fricke [FDP]: D’accord!) gen auch von uns als linker Opposition ausdrücklich zu würdigen. Nun gilt es, dieses Votum für die Kultur poli- – Das ist jetzt also geklärt. tisch zu verteidigen. Ich bin mir sicher, das wird nicht Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3571

Dr. Lothar Bisky (A) einfach werden. Aber – ich bin nun dabei, etwas Wasser Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE): (C) in den Wein zu gießen – viele Kultureinrichtungen sind Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Die Frak- aufgrund steigender Kosten und der Kürzungen vergan- tion Die Linke fordert ein Zukunftsinvestitionspro- gener Jahre in einer äußerst schwierigen Lage. Das ist gramm „Jugend und Innovation“ und darin 1,5 Millio- nicht zu übersehen. Wir beantragen deshalb zum Bei- nen Euro mehr für die Filmförderung. Der Film und spiel mehr Mittel als von Ihnen vorgesehen für die Stif- andere kulturwirtschaftliche Faktoren müssen energi- tung für das sorbische Volk. scher gefördert werden. Haben Sie mehr Courage dazu! Haben Sie mehr Mut zu Neuinvestitionen in der Kultur! (Beifall bei der LINKEN – Petra Merkel [Ber- Mehr Kultur ist der Zweck von Politik. lin] [SPD]: Da hat es keine Kürzungen gege- ben!) Ich danke Ihnen. – Ich weiß. Sie haben den Mittelansatz sogar leicht er- (Beifall bei der LINKEN) höht. Aber wir wollen etwas mehr. Das dürfen wir doch noch. Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Kollegin Christine Scheel, (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Das dürfen Sie!) Bündnis 90/Die Grünen. – Danke. Das ist okay. Vor allem aber fragen wir: Wo ist die Investition in die Kultur, von der die Kanzlerin in ih- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rer Regierungserklärung gesprochen hat? Wo ist die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir richtige, wichtige und zukunftsträchtige Investition in haben auch heute wieder auf sehr eindrucksvolle Weise den deutschen Film? Die dafür vorgesehenen Investi- erkennen können, dass die Union und die SPD mit ihren tionen sind um 2 Millionen Euro erhöht worden; das gemeinsamen Projekten, die für die Zukunft dieses Lan- wissen wir. des wichtig sind, nicht wirklich weitergekommen sind; vielmehr werden die einzelnen Projekte anscheinend Endlich gibt es sie wieder: erfolgreiche deutsche noch stärker zerfleddert, bevor Eckpunkte vorgelegt Filme von Qualität. Deren Regisseure und Produzenten werden können. Für das Land ist das fatal, weil weder in haben es verdient, dass nun auf sie gesetzt wird. Das der Wirtschaft noch für die Bürger und für die Berufe, Stichwort heißt: Investitionen in die Kulturwirtschaft als von denen wir wissen, dass sie für notwendige Innova- Wachstumsbranche für moderne Arbeitsplätze. Da sind tionen von Bedeutung sind und in denen neue Arbeits- die 2 Millionen Euro mehr für den deutschen Film in plätze entstehen können, eine Perspektive erkennbar ist. diesem Haushalt ein Anfang. Aber im Großen und Gan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) zen sind dies wie so vieles Großkoalitionäre zögerliche (D) Trippelschritte; denn sie reichen keinesfalls aus. Es mag Das ist das Problem. Wenn man sich die einzelnen ja sein, dass sie eine Art Bonsai-Hollywood als Leitbild Bereiche anschaut, dann wird deutlich, dass es nicht nur vor Augen haben. Das wird nicht reichen, um dem deut- in der Frage, wie ein bestimmtes Gesetz im Detail ge- schen Film wirkliche Wachstumsimpulse zu verleihen. staltet wird, Unterschiede gibt; vielmehr gibt es auch hinsichtlich der Geisteshaltung und der Vorstellung, wie (Beifall bei der LINKEN) die Gesellschaft in Zukunft auszusehen hat, eklatante Unterschiede innerhalb dieser Koalition, und zwar nicht Wo bleiben zukunftsträchtige Investitionen in Städte nur zwischen der CDU/CSU und der SPD, sondern auch und Regionen, die ihr industrielles Fundament verloren innerhalb der Union und der SPD. haben, aber über große Kulturschätze und damit über Anziehungskraft verfügen? Würden diese Städte besser Ich mache das an verschiedenen Beispielen deutlich. gefördert und ihr kulturelles Potenzial innovativ genutzt, Wir haben eine Debatte über die Frage begonnen, wie könnten sie durch Kultur zu neuer Blüte und modernem wir in Zukunft die finanzielle Situation von Kindern und Reichtum kommen, wie dies vielen ehemaligen armen Familien verbessern können. Man muss es anerkennen, Städten und Regionen in Europa gelungen ist und woran dass Herr Pofalla diese Debatte angestoßen hat. Wir dis- zum Beispiel auch Essen erinnert. Ist denn das für uns kutieren zurzeit darüber, ob das Ehegattensplitting zu- alle keine Herausforderung? kunftsorientiert und richtig ist oder ob dieses Modell, das in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren geeignet war, in Wie wäre es mit einem Sonderinvestitionspro- der modernen Gesellschaft von heute keinen Bestand gramm des Bundes für die Kultur? 25 Milliarden mehr hat. Euro sind ausgelobt worden. Warum wird die Kultur da- ran nicht beteiligt? Der Kulturausschuss hat sich dafür Er kommt aber zu der falschen Schlussfolgerung. Er ausgesprochen, das Ressort von Herrn Neumann an die- geht nicht davon aus, dass dem Staat jedes Kind gleich sem Programm zu beteiligen und zum Beispiel in den viel wert sein muss. Seine Schlussfolgerung ist vielmehr, Denkmalschutz und den Erhalt von Baudenkmälern zu dass Bezieher von sehr hohen Einkommen neben dem investieren, vor allem übrigens in den neuen Ländern. Ehegattensplitting in Zukunft auch noch das Familien- Wir halten das für sehr sinnvoll. splitting in Anspruch nehmen können und damit eine massive Entlastung erfahren. Die Bezieher von kleinen Einkommen hätten aber nichts davon, zumal dann die Präsident Dr. Norbert Lammert: Kinderfreibeträge wegfallen würden. Das heißt: Oben Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss. entlasten Sie und unten belasten Sie; die Differenz 3572 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Christine Scheel (A) zwischen Kindern aus Familien mit niedrigem Einkom- Gefahr, dass das Gesetz verfassungswidrig ist, dass die- (C) men und hohem Einkommen wird erhöht. Das ist unge- jenigen, die große Erbschaften gemacht haben, vor Ge- recht und es ist auch für die Zukunft aus unserer Sicht richt klagen werden und ihre Steuerbescheide unter Vor- nicht akzeptabel. behalt stellen und dass diesen Erben später eine Steuerrückerstattung gewährt werden muss. Das akzep- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tieren wir nicht. Wir wollen eine faire und gerechte Lö- Dass die CSU das Thema nicht angehen will, verstehe sung. Auch wir wollen eine vernünftige Nachfolgerege- ich. Denn die Riege der CSU-Vorderen hinkte schon im- lung für kleine und mittelständische Unternehmen. Aber mer der gesellschaftspolitischen Entwicklung hinterher. bei einer solchen Regelung muss der Erhalt von Arbeits- plätzen berücksichtigt werden. Das gilt nicht nur im (Widerspruch bei der CDU/CSU) Hinblick auf die Unternehmensbesteuerung und die Erb- Ich finde, sie sollten sich ein bisschen mehr um den Bä- schaftsteuer, sondern auch im Hinblick auf die Entwick- ren kümmern. lung in der Sozialversicherung und für alle anderen Ebe- nen, über die wir heute nur ansatzweise diskutieren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) können, weil wir nicht wissen, was Sie konkret vorha- Aber vielleicht bekommt ihr ein bisschen mehr Drive ben. Da Sie nicht in der Lage sind, dazu detaillierte Aus- und werdet etwas fortschrittlicher in eurer Denkweise. künfte zu geben, können wir keine abschließende Be- wertung vornehmen. ( [CDU/CSU]: Wider besseres Wissen! Das kann man so nicht stehen lassen! Fest steht jedenfalls: Wir haben eigene Vorschläge Das werden wir mal im Einzelgespräch erör- und Modelle und werden in der Sommerpause noch eine tern!) spannende Auseinandersetzung haben. Was die Unternehmensbesteuerung anbelangt, gibt Danke schön. es anscheinend einen breiten Konsens darüber, die Ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) werbesteuer beizubehalten. Die CDU/CSU war immer für die Abschaffung; die anderen haben gefordert, sie beizubehalten. Das Fatale an der gegenwärtigen Situa- Präsident Dr. Norbert Lammert: tion ist aber, dass man ein Reformkonzept für alle unsere Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Christian Ruck, Unternehmen – auch für die kleinen und mittelständi- CDU/CSU-Fraktion. schen – auf den Weg bringen will, das man auch ver- (Beifall bei der CDU/CSU) nünftig finanzieren möchte, weil man sich keine riesigen Steuerausfälle leisten kann, dass aber – wie alle Ankün- (B) Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): (D) digungen aus den verschiedensten Reihen, gerade auch Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der die Presseberichte des heutigen Tages, sehr deutlich ge- Haushalt 2006 ist der erste Haushalt einer neuen Regie- macht haben – die Finanzierung der Reformen keinen rung. Er beginnt mit einem neuen Kurs. Die alte Politik Bestand mehr hat. In diesem Zusammenhang muss man war gescheitert. Deutschland ist nun auf einem guten schon berücksichtigen, was dabei herauskommt, wenn Weg. Der Regierungswechsel hat zu einer positiven man sich auf die Senkung der Körperschaftsteuersätze Stimmung geführt. Das drückt sich nicht nur im Meer beschränkt. Das ist keine Reform für die Zukunft; es ist der bunten Fahnen der Fußballfans aus, sondern auch in vielmehr der kleinste gemeinsame Nenner, auf den man harten ökonomischen Fakten. Der Stellenabbau ist zum sich letztlich einigt. Der BDI-Präsident Thumann hat zu Stillstand gekommen. Die Arbeitslosenzahlen sind erst- Recht darauf hingewiesen, dass der kleinste gemeinsame mals wieder signifikant gesunken. Bei uns in Bayern Nenner auch null sein kann. Bei den Reformen ist zu be- steigen die Beschäftigungszahlen bereits seit Monaten fürchten, dass für die Gesellschaft und vor allen Dingen wieder. hinsichtlich der Arbeitsplätze null herauskommt. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jawohl! So ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) es!) In diesem Kontext sind auch die Überlegungen be- Der deutsche Export boomt. Die Investitionen nehmen treffend die Erbschaftsteuer zu sehen. Das ist kein klei- wieder zu und die Binnenkonjunktur festigt sich. nes Thema. Wir, die Gesellschaft, müssen die in unserer Verfassung verankerte Sozialbindung des Eigentums (Beifall bei der CDU/CSU) sehr ernst nehmen. Man geht aber den falschen Weg, Diese Trendwende ist natürlich auch der neuen Bun- wenn man sowohl kleine und mittelständische Unterneh- desregierung unter Kanzlerin Merkel zu verdanken. men als auch Konzerne unabhängig davon, ob sie Ar- beitsplätze erhalten, über einen Zeitraum von zehn Jah- (Beifall bei der CDU/CSU) ren von der Erbschaftsteuer vollständig befreit. Dann Wir haben die Kraft zu einer stetigen Politik. Mit dem müssen die Bürger letztendlich die Steuerausfälle bezah- Dreiklang „Sanieren, Reformieren, Investieren“ haben len. Wahrscheinlich ist ein solches Gesetz sogar verfas- wir den richtigen Ansatz gefunden, Deutschland wieder sungswidrig. Das geht nicht. nach vorne zu bringen. Vorredner haben schon darauf Die Sozialbindung des Eigentums ist ein ganz zentra- hingewiesen, dass die große Koalition bereits konkret les Element. Wenn Sie dieses Element im Gesetzge- angepackt hat. Bezüglich der Ausgabenseite haben wir bungsverfahren nicht berücksichtigen, dann laufen Sie den Entwurf eines Hartz-IV-Fortentwicklungsgesetzes Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3573

Dr. Christian Ruck (A) verabschiedet. Das Gesetz ist nicht eine gesetzliche Re- sind für uns auch der Erhalt der privaten Krankenversi- (C) gelung für Sozialabbau, sondern stellt eine Initiative zur cherung und die Abkopplung der Gesundheitskosten von Korrektur von Fehlentwicklungen im Ausgabenbereich den Arbeitskosten. dar. Es verhindert Leistungsmissbrauch und löst läh- mende Verwaltungsverstrickungen. Ich erinnere nur an (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den explosionsartigen Anstieg der Zahl von Bedarfsge- neten der SPD) meinschaften, gegründet von jungen Leuten. Genau das Ziel bleibt: Es muss gewährleistet werden, dass der wollten wir alle doch nicht haben. Wir haben des Weite- technische Fortschritt im Gesundheitsbereich auch in ren Steuerschlupflöcher geschlossen, fragwürdige Ge- Zukunft jedermann zugute kommt. staltungsmöglichkeiten eingeschränkt und die Ausnut- zung von Gesetzeslücken eingedämmt. Zweck all unserer Reformen und Haushaltsentwürfe muss letztlich die Sicherung und Schaffung von Bezüglich der Einnahmeseite haben wir das Steu- Arbeitsplätzen sein. Dazu müssen wir die Wirtschaft eränderungsgesetz unter Dach und Fach gebracht, und und vor allem den Mittelstand ankurbeln. Dazu ist be- zwar im Rahmen eines vernünftigen finanz- und steuer- reits viel in Gang gesetzt, zum Beispiel das Gesetz zur politischen Gesamtkonzepts. Wir tun das nicht aus Jux steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäfti- und Tollerei. Vielmehr gibt es keine Alternativen zu die- gung, zum Beispiel das Mittelstandsentlastungsgesetz, sen Maßnahmen. Dieses Gesamtkonzept zielt darauf ab, das in Arbeit ist, und das 6-Milliarden-Euro-Programm den europäischen Stabilitätspakt und die Verschuldungs- „Neue Impulse für Innovation und Wachstum“. grenze des Art. 115 des Grundgesetzes im nächsten Jahr einzuhalten. Dagegen kann niemand sein. Das Steuerän- (Beifall bei der CDU/CSU) derungsgesetz ist ein wichtiger Schritt hin zur Haushalts- Auch das Handwerk wurde von uns durch die Einfüh- konsolidierung. Mit ihm wird genau das umgesetzt, was rung der steuerlichen Absetzbarkeit von Handwerksleis- CDU/CSU und SPD gemeinsam im Koalitionsvertrag tungen wieder einigermaßen aufs Gleis gesetzt. vereinbart haben. Deswegen finde ich es unfair und nicht korrekt, dass (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Frau Künast – jetzt ist sie nicht mehr da – behauptet, der neten der SPD) Bundeswirtschaftsminister würde hier zu wenig tun. Ich wehre mich energisch gegen das Stichwort „Arro- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ein unglaubli- ganz“, das vonseiten der FDP gefallen ist. Wir haben den cher Vorwurf!) Mut gehabt, auch im Wahlkampf die Notwendigkeit von Steuererhöhungen deutlich zu machen. Wir von der CSU Das alles sind ganz entscheidende Schritte, die in den (B) gewinnen im Gegensatz zu den Mitgliedern der FDP un- ersten sieben Monaten aus diesem Haus gekommen sind. (D) sere Wahlkreise in der Regel direkt. Das geht nicht, in- Der größte Treppenwitz ist, dass dem Bundeswirt- dem wir gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, die schaftsminister die hohen Strompreise angekreidet wer- uns wählen, die Arroganz an den Tag legen, die Sie uns den. Wenn von der grünen Politik in den sieben Jahren unterstellen. Rot-Grün irgendetwas bleibt, dann ist es nicht die Dis- Unsere Familienpolitik zeigt, dass die große Koali- kussion um die Legehennenbatterien, sondern dann sind tion auch hier innovative Wege geht. Mit dem Elterngeld es die exorbitant gestiegenen Energiepreise; die haben erhalten die Familien eine neue finanzielle Unterstüt- nämlich vor allem die Grünen zu vertreten. zung. Mit der Ausweitung der Kinderbetreuung, der (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: steuerlichen Absetzbarkeit der Betreuungskosten und Na, na! Die Welt ist wesentlich komplizier- der Schaffung von mehr Familienfreundlichkeit am Ar- ter! – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ beitsplatz fördert die große Koalition die Familien. Uns DIE GRÜNEN]: In den letzten sieben Mona- ging es auch darum, dass die Elternteile oder die Frauen, ten sind die Energiepreise enorm gestiegen, die die Aufgabe der Kindererziehung wahrnehmen, in- also zu Zeiten der großen Koalition!) dem sie zu Hause bleiben, nicht benachteiligt werden, sondern ebenfalls gefördert werden. Das war ein fester Richtig ist, dass die große Koalition die Besteuerung und wichtiger Bestandteil der CSU-Politik. der Unternehmen neu ordnet, damit Arbeitsplätze gesi- chert und geschaffen werden. Da möchte ich etwas an- (Otto Fricke [FDP]: Wie erklärt man das denn sprechen, was mir in der Debatte als etwas schräg aufge- bei Hartz-IV-Empfängern?) fallen ist. Es wird immer hin und her gerechnet, auf Für die CSU geht Qualität vor Eile. Das gilt vor allem welchem Platz in Europa die Steuerbelastung der deut- für die Gesundheitsreform. Hier ist der öffentliche schen Unternehmen steht. Der Kern des Problems ist Druck besonders groß, doch darf er uns nicht zu unüber- doch, dass wir mit einer massiven Abwanderung von Ar- legten Entscheidungen zwingen, die wir alle dann als Pa- beitsplätzen und Unternehmen ins Ausland zu kämpfen tienten und Beitragszahler bereuen würden. haben. Das hat eine ganze Reihe von Ursachen. Die Form der Besteuerung ist eine Ursache. Es gibt einige Der Finanzierungsfonds ist nicht ein Zweck an sich Stellschrauben, an denen wir nicht drehen wollen. Zum und gewiss auch nicht ein Grundstein für Kassensozia- Beispiel kommen für uns Dumpinglöhne nicht infrage. lismus, wie das heute behauptet wurde; im Gegenteil, er Das ist für uns kein Weg. ist Mittel zum Zweck, nämlich für mehr Transparenz, mehr Wettbewerb und mehr Rationalisierung. Wichtig (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 3574 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Dr. Christian Ruck (A) Deswegen müssen wir einen anderen Weg finden. Der Deshalb treten wir für die Umsetzung des EU-Stufen- (C) hat dann etwas mit steuerlicher Entlastung zu tun. plans für die Entwicklungsfinanzierung ebenso wie für gemeinsames Handeln in Krisengebieten und schnelle Die CSU-Landesgruppe will Waffengleichheit für Hilfeleistung nach Katastrophen ein. Kapitalgesellschaften und Personenunternehmen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir stehen (Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ist es!) vor wichtigen Entscheidungen. Bundestag und Bundes- Wir wollen die Investitionskraft und die Standortbin- rat müssen beweisen, dass wir in der Lage sind, das Ver- dung gerade der kleinen und mittleren Unternehmen trauen, das die Bürger uns bei der Wahl geschenkt ha- stärken. Deswegen ist es für uns ganz wichtig, dass es zu ben, zu mutigen und nachhaltigen Reformen zu nutzen. einer vernünftigen Regelung bei der Erbschaftsteuer Das nächste Entscheidende, was wir angehen müssen, ist kommt, Frau Scheel. Da können wir über alles Vernünf- die Föderalismusreform. Sie macht unsere Entschei- tige reden. Aber eine Regelung, die gerade provoziert, dungsprozesse transparenter, sorgt für schnellere politi- dass ausgelagert wird, bevor diese Regelung in Kraft sche Entscheidungen und trägt dazu bei, dass unsere De- tritt, ist genau das falsche Rezept, um Arbeitplätze zu si- mokratie wieder erfolgreicher wird und auf größere chern. Akzeptanz stößt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere Na- Ich möchte auch darauf hinweisen, dass es Minister- tionalmannschaft – das haben wir heute schon gehört – präsident Stoiber und Herr Müntefering waren, die arbeitet hart daran, die Weltmeisterschaft zu gewinnen. schon in der letzten Legislaturperiode die entscheiden- den Weichenstellungen für dieses Reformwerk vorge- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jawohl!) nommen haben. Auch der Weltmeistertitel Deutschlands im Export ist (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: das Ergebnis harter Arbeit. Wir müssen die Vorausset- Sehr richtig!) zungen dafür erarbeiten, dass wir Spitze bleiben. Der Export ist der Motor unserer Wirtschaft; auch unsere so- Wir brauchen bei den Reformprozessen nicht nur ziale Balance im Innern hängt davon ab. Mut, sondern auch Kompromissfähigkeit. Die Koalition (Beifall bei der CDU/CSU) und die Koalitionäre haben sich aus verschiedenen poli- tischen Richtungen aufeinander zubewegt und zusam- Wir leben vom Verkauf unseres international anerkann- mengefunden. Das ist oft ein schwieriger Prozess und ten Know-hows. Deswegen setzt auch die CSU auf eine geht, wie Sie sehen, nicht immer ohne Blessuren ab. starke, verbesserte Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Bildungs- und Ausbildungssystems. (Heiterkeit bei der SPD – Petra Merkel [Ber- (B) lin] [SPD]: So schlimm?) (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Aber wir sind zum Erfolg entschlossen, zum Wohle un- seres Landes. Auch wir von der CSU, Herr Struck, wer- Um unsere Position in der Weltwirtschaft abzusi- den uns da einbringen. chern, müssen wir auch unsere Außenbeziehungen opti- mieren, verzahnen und nachhaltig gestalten. Dazu ist die Vielen Dank. Verbesserung der transatlantischen Beziehungen ebenso (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wichtig wie ein neuer Anlauf zur Schaffung eines poli- neten der SPD) tisch handlungsfähigen Europas. Denn es wird immer deutlicher, dass wir als Nationalstaat zwischen den gro- Präsident Dr. Norbert Lammert: ßen ökonomischen und politischen Blöcken ohne ein funktionierendes Europa zerrieben würden. Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Merkel für die SPD-Fraktion. Wir benötigen als Deutschland eine gesicherte Ener- gie- und Rohstoffversorgung, ein faires Handelsregime Petra Merkel (Berlin) (SPD): und breit angelegte strategische Partnerschaften mit ei- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe ner Vielzahl von Staaten, auch mit den neuen politischen Kolleginnen und Kollegen! Der Haushalt 2006, den wir und ökonomischen Kräften wie China, Indien, Mexiko in dieser Woche abschließend beraten, ordnet sich ein und Brasilien. Überall hier haben die Bundeskanzlerin – das kennen Sie jetzt schon – in den Dreiklang aus Sa- und ihr Kabinett bereits entscheidende Akzente gesetzt. nieren, Reformieren und Investieren. Allerdings verschärfen sich vielerorts in den Schwel- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut!) len- und Entwicklungsländern die Entwicklungspro- bleme. Sie gefährden langfristig auch Frieden und Wohl- Unter dieser Zielsetzung hat die Koalition aus SPD, stand in Deutschland und Europa. Deswegen ist die CDU und CSU ihre Arbeit angetreten. Der Haushalt ist Ratio der Entwicklungspolitik als Teil unserer Außenbe- durch eine strikte Ausgabendisziplin geprägt. Er hat aber ziehungen nicht nur ein Element christlicher Solidarität vor allem ein Ziel: die Wachstumskräfte zu stärken und und Verantwortung, sondern liegt auch im Interesse un- damit Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen. serer eigenen Sicherheit und der Position Deutschlands Die Beratungen des Haushalts 2006 wurden am in der Welt. 1. Juni im Haushaltsausschuss abgeschlossen. Dort fin- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) det übrigens die Kärrnerarbeit statt. Da werden ständig Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3575

Petra Merkel (Berlin) (A) folgende Fragen gestellt: Sind die Ausgaben realistisch? Neuverschuldung im Jahr 2006. Wir sind der Überzeu- (C) Sind die Einnahmen richtig veranschlagt? Wo kann ge- gung, dass unsere Staatsfinanzen nicht allein mit einer spart werden? Welche Strukturen müssen verändert wer- rigorosen Sparpolitik in Ordnung gebracht werden kön- den, damit weniger ausgegeben wird? nen. Die globalen Minderausgaben in den Fachetats (Beifall bei der SPD) – das sind die pauschalen Einsparsummen, die jedes Wir brauchen einen Mix aus wachstums- und beschäfti- Ressorts zu erbringen hat – konnten weitestgehend auf gungsfördernden Maßnahmen, einer Verbesserung der die Einzelposten verteilt werden. Das war für viele Kol- gesetzlichen Rahmenbedingungen, einer entschlossenen leginnen und Kollegen eine unglaubliche Arbeit. Das Haushaltskonsolidierung und war anstrengend. Diese Arbeit ist – das können Sie sich vorstellen – nicht einfach. (Otto Fricke [FDP]: Steuererhöhungen!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) strukturellen Reformen. Strukturveränderungen, die da- rüber hinaus für ein dauerhaftes Wachstum nötig sind, Wir scheuen uns nicht vor internen Auseinanderset- werden vorbereitet, zum Beispiel die Gesundheitsre- zungen. Denn anders wäre es nicht dazu gekommen, form, die Unternehmensteuerreform, die „Reichen- dass wir die Ausgaben für die Öffentlichkeitsarbeit in steuer“ und die Föderalismusstrukturreform. Diese wer- allen Ressorts um insgesamt 10,2 Millionen Euro senken den die Beratungen für den Haushalt 2007 und den werden. Das entspricht ungefähr 10 Prozent der Gesamt- Finanzplan bis 2010 bestimmen. ausgaben für den Bereich Öffentlichkeitsarbeit. Als Mitglied des Haushaltsausschusses, das für den Wir halten auch an der pauschalen Stellenkürzung Etat der Bundeskanzlerin zuständig ist, möchte ich ein der letzten Jahre in den Bundesverwaltungen in Höhe aktuelles Thema aufgreifen, das Sie und mich bewegt von 1,5 Prozent fest. Das ist eine ziemlich große und von dem wir alle gepackt sind, obwohl wir gar nicht Summe. Im Gegenteil: In diesem Jahr mussten wir diese so recht gewusst haben, wie sehr es uns packen könnte. auf 1,6 Prozent erhöhen, weil wir die beschlossene Ar- Dahinter verbirgt sich aber ein sehr grundsätzliches ge- beitszeitverlängerung umsetzen mussten. sellschaftliches Thema; Herr Kauder, Sie haben es schon Allerdings stützt dieser Haushalt die politischen angesprochen. Die Zeitungen überschlagen sich und fra- Schwerpunkte, mit denen Arbeitsplätze gesichert werden gen: Was ist los in Deutschland? „Hoppla – sind wir und neue entstehen. So sind während der Haushaltsbera- das?“ titelte Gerd Appenzeller vom „Tagesspiegel“ in tungen trotz der nötigen Einsparungen die Investitions- der vergangenen Woche seinen Kommentar und be- ausgaben mit 23,2 Milliarden Euro konstant geblieben. schrieb sehr treffend, was viele von uns bewegt. Ich (B) Wir starten mit dem Haushalt 2006 unser 25-Milliar- möchte daraus zitieren: (D) den-Investitionsprogramm, das durch circa 12 Milliar- Wir mögen uns Deutschland ohne Weltmeister- den Euro aus den Ländern und Kommunen ergänzt wird, schaft gar nicht vorstellen im Moment, also circa 37 Milliarden Euro umfassen wird. Wir ver- sprechen uns von diesem Investitionsprogramm mehr (Heiterkeit des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Arbeitsplätze und damit ein höheres Wirtschaftswachs- ohne das Turnier, wohlgemerkt, nicht ohne den Ti- tum. Wir erwarten dadurch mehr Ausbildungsplätze. Wir tel, wollen die Grundlage einer Existenz für die Jugendli- chen schaffen und das Handwerk stärken. – Das finde ich gut. – (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) das ist etwas ganz anderes. … Entweder verändert uns diese Weltmeisterschaft, oder sie hat uns die Zum Beispiel werden, beginnend im Jahre 2006, Augen dafür geöffnet, dass wir längst anders sind, 6 Milliarden Euro für die Förderung der Forschung be- als wir dachten. Wir alle, die wir in diesem Land le- reitgestellt. Insgesamt 9,4 Milliarden Euro werden zur ben, ob wir nun hier geboren oder zugewandert Förderung des Mittelstands durch Impulsprogramme, sind, ob schon unsere Eltern einen deutschen Pass wie zum Beispiel das CO -Gebäudesanierungspro- 2 hatten oder den eines anderen Landes. … Wenn in gramm, eingestellt und hoffentlich die Baukonjunktur Neukölln und auf dem Kurfürstendamm junge Tür- stärker bewegen. Das Solar- und das Wärmedämmpro- ken und Araber, in Deutschlandfahnen gehüllt, nach gramm für Hausfassaden wirken doppelt: Auf der eine dem Sieg gegen Polen frenetisch hupend Autokor- Seite wirken sie energiesparend; auf der anderen Seite sos veranstalten, kann uns das die Augen dafür öff- setzen sie auf neue Techniken. 4,3 Milliarden Euro wer- nen, dass dieses Land vielleicht viel weiter ist, als den zusätzlich für Verkehrsinvestitionen ausgegeben und wir dachten. 3 Milliarden Euro für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf – das ist ein wichtiges Feld, wie Sie wissen – be- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) reitgestellt. Richtig: Deutschland ist bunt, nicht nur zur WM; Über den Haushalt versuchen wir bereits mit kurzfris- Menschen aus unterschiedlichen Ländern, bunte Trikots, tigen Maßnahmen, das Wachstum zu stabilisieren. Wir gemeinsames Feiern, gemeinsames Bangen um den rich- verzichten im Haushalt 2006 bewusst auf weitergehende tigen Schuss ins Tor und – natürlich – das gemeinsame Einschnitte in Sozialleistungen und Bundesinvestitionen Jubeln, wenn der Treffer gelungen ist. Durch dieses ge- und akzeptieren eine eigentlich immer noch zu hohe meinsame Erleben des friedlichen großen WM-Festes 3576 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Petra Merkel (Berlin) (A) entsteht mehr; es entsteht ein neues Gefühl der Nähe und Ich brauche die Verlässlichkeit, hier in Deutschland (C) Verständigung. Auch diejenigen sind gepackt, die sich leben zu können. Ich lebe gerne hier, aber ich will nicht unbedingt für Fußball interessieren; auch ich habe auch, dass ihr mich wollt. Ich brauche echte Chan- das gemerkt. cen in der Bildung und ich brauche eine Perspek- tive, zu arbeiten. Und: Ich brauche die Achtung und (Jörg Tauss [SPD]: Aha!) Anerkennung, die ich auch den Deutschen entge- genbringe. Das gemeinsame bunte Leben in Deutschland scheint mit dieser Fußballweltmeisterschaft neu wahrgenommen Ich glaube, treffender kann man das nicht ausdrücken. zu werden und zusätzliche Impulse zu bekommen. Nicht nur die Defizite des Zusammenlebens, die in den letz- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten Monaten leider immer wieder Schlagzeilen machten, der CDU/CSU) stehen im Mittelpunkt, sondern auf einmal eine zwar Zum Austausch gehört die Sprache. Sprache, Spra- längst vorhandene, aber vielleicht nicht erkannte ge- che, Sprache, immer wieder – zur Integration gehört das meinsame Lebenswirklichkeit. Genau diese positive Le- ganz notwendig dazu. Das müssen wir unterstützen, wie benswirklichkeit ist in der letzten Zeit in der Wahrneh- wir alle wissen. Ich glaube aber, auch da muss man das mung zu kurz gekommen, vom Karneval der Kulturen in Rad nicht immer neu erfinden. Vor einigen Jahren haben Berlin über die Integrationsarbeit in vielen Sportverei- die Firma McKinsey, das Bundesministerium für Bil- nen in der Bundesrepublik und in den vielen Jugend- dung und Forschung und der Senat von Berlin einen gruppen bis hin eben zu unserer Fußballnationalmann- „Spracherwerbskoffer“ für Kindergärten entwickelt. Mit schaft; auch da hat sich ja etwas verändert. Jetzt ihm kann man nicht erst mit Kindern im Kindergartenal- berichtet die Presse darüber, wie weltoffen die Atmo- ter, also in einem Alter ab drei Jahren, arbeiten, sondern sphäre ist und was in Deutschland auch wirklich Grund- schon viel früher, nämlich dann, wenn die Kinder anfan- lage ist. gen zu sprechen. Zielgruppe wären auch nicht nur die Kinder mit einer anderen Sprache als Deutsch, sondern Dazu, beide Aspekte, sowohl die Defizite als auch die auch die deutschen. Wir stellen ja auch bei den deut- gelungene Integration, das gelungene Zusammenleben schen Kindern immer wieder fest, dass ihre Sprache im- in Deutschland, zusammenzuführen, könnte als ein ers- mer reduzierter wird und immer weniger in ihrer Vielfalt ter Schritt der Integrationsgipfel mit Vertreterinnen und angewandt wird. Der Grundstein dazu wird in der Vertretern von Ländern, Städten und Gemeinden, Aus- Krippe und in der Kita gelegt. Dieser Spracherwerbskof- länderverbänden und Religionsgemeinschaften dienen. fer ist eine der Möglichkeiten, die wir nutzen können Damit soll ein Prozess zur Erarbeitung eines nationalen und die wir in den Gedankenaustausch mit einbringen (B) Aktionsplans eingeleitet werden. Ziel muss es sein, das können. (D) Notwendige für Integration zu tun, aber auch die positi- ven Erfahrungen der unterschiedlichen Akteure zu nut- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zen und auszutauschen. Gute Beispiele müssen genutzt werden. Die Bedingungen und Angebote für Integration müs- sen definiert werden; das ist ganz klar. Es muss aber (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) auch der Diskriminierung entgegengewirkt werden. Zur Wahrnehmung neuer Aufgaben im Zusammenhang Ich habe festgestellt, dass in dem Einzelplan zum Amt mit dem Antidiskriminierungsgesetz sind die Personal- der Bundeskanzlerin eine Menge enthalten ist, was mit mittel im Bereich der Migrationsbeauftragten gegenüber den Fragen der Integration und damit zu tun hat, wie dem Vorjahr um 324 000 Euro erhöht worden. man Brücken zwischen den Völkern schlägt, und was der Verständigung dient. Dort ist ebenfalls das Amt der Wir erleben im Moment, wie sehr der Sport Men- Beauftragten der Bundesregierung für Migration, schen verbindet. Das gilt aber auch für die Kultur. Der Flüchtlinge und Integration, Frau Professor Dr. Böhmer, Sport wie die Kultur leisten tagtäglich Beiträge dazu, angesiedelt; es ist ja jetzt erstmals im Haushalt des Bun- Menschen in unserem Land zusammenzubringen. Häu- deskanzleramts verankert. Mit diesem Haushalt haben fig geschieht das unter Mitwirkung von sehr vielen Eh- wir die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass dieser renamtlichen. Sport und Kultur schaffen so Verständnis, Integrationsgipfel noch in diesem Sommer möglich Achtung und ein gemeinsames Gefühl von Heimat und wird. Identifikation. Damit schaffen sie die Grundlagen für In- tegration und zugleich auch für Eigenständigkeit. Sport Wie wichtig dieser Austausch von Erfahrungen ist, und Kultur bauen Brücken untereinander und zu anderen habe ich gerade wieder in der Pfingstakademie des Berli- Ländern. ner Wannsee-Forums erlebt. Da treffen sich zu Pfingsten Sie haben sicherlich gemerkt, dass das meine Überlei- jeweils an die hundert Jugendliche aus allen Teilen der tung zu dem Haushalt des Beauftragten der Bundesregie- Bundesrepublik, um ihre Erfahrungen im Bereich Ju- rung für Kultur und Medien, Herrn , gendbeteiligung und in Bezug auf Jugendprojekte auszu- war. tauschen. Das ist eine bunte Gruppe von jungen Men- schen. Das Thema, das ich mit ihnen diskutiert habe, 2006 beträgt der Haushalt für Kultur 914 Millionen war: Migration in Deutschland. Wir haben hart disku- Euro. Daran hat die Kulturstiftung des Bundes mit tiert. Eine junge Frau aus Köln, in der Ukraine geboren, Hortensia Völckers an der Spitze, die gerade wiederge- formulierte das so: wählt worden ist, einen großen Anteil. Auch dort finden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3577

Petra Merkel (Berlin) (A) wir viele Projekte zur Integration als Brücke in andere Nicht nur unsere Gäste, auch wir selbst erleben uns (C) europäische Länder. Ich nenne zum Beispiel das Büro völlig anders, als wir sonst sind – oder vielleicht zu Kopernikus, das deutsch-polnische Kulturprojekte initi- sein glaubten? Ein Deutschland, das sich weder Be- iert. Übrigens wird Nikolaus Kopernikus sowohl von denken tragend noch mürrisch präsentiert, ein den Polen als auch von den Deutschen gleichermaßen Land, das fröhlich, begeistert und begeisternd ist, in für sich beansprucht. Ich nenne weiter das Projekt dem schwarz-rot-goldene Fahnen geschwenkt wer- „Migration“, das etablierte Sichtweisen auf Migration den und in dem die Bürger ganz selbstverständlich überwinden will. die Nationalhymne mitsingen, ohne dass ein Hauch von Überheblichkeit oder Chauvinismus mit- Nach dem Koalitionsvertrag sind im Haushalt 2006 schwingt. zusätzliche Mittel für die Kulturförderung auf der Grundlage des Bundesvertriebenengesetzes in Höhe von Ich füge als jemand, der sich für Fußball begeistert, 1 Million Euro eingestellt worden. hinzu: Vielleicht liegt das auch daran, dass sich die Aus- strahlung der deutschen Fußballnationalmannschaft er- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist sehr heblich verändert hat. Sie ist eine Mannschaft, die nicht gut!) zaudert, zögert oder defensiv spielt, sondern ein Team, Die finanzielle Unterstützung dient zur Wahrung der ei- das nach vorne geht, manchmal etwas riskiert, sich etwas genen kulturellen Wurzeln. zutraut und seine Chancen sucht; eine Mannschaft, auf die wir richtig stolz sind. Glückwunsch, Herr (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Klinsmann! CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie können gleich weiterklatschen. Denn: Mit der CDU/CSU) 2 Millionen Euro wird die Ausstellung „Flucht, Vertrei- bung, Integration“ im Haus der Geschichte der Bundes- Ich hoffe, dass die positive Stimmung, die hier im republik Deutschland gefördert, Regierungsviertel unweit vom Parlament, aber auch an vielen anderen Orten der Republik zu spüren ist, und das (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Selbstwertgefühl auch in den Monaten nach der Fußball- CDU/CSU) WM weiterwirken. Klinsmann hat gezeigt, dass ein die neben Bonn und Leipzig auch in Berlin gezeigt wird. Mentalitätswechsel möglich ist. Diese Ausstellung zeigt übrigens ganz deutlich, wie groß Ich will mich an dieser Stelle bei den Kolleginnen die Integrationsleistung in Deutschland nach dem Krieg, und Kollegen für die Beratung im Haushaltsausschuss also in einer weitaus schwierigeren Zeit, gewesen ist. bedanken. Ich spüre immer wieder, dass die Zusammen- (B) (D) Auch der Bundesanteil zur Unterstützung der Wah- arbeit gut funktioniert, auch wenn wir unterschiedlicher rung der Eigenständigkeit der Volksgruppe der Sorben Meinung sind. Wenn das bei diesen Debatten herüber- als nationale Minderheit wird in Höhe von 7,6 Millionen kommt, dann kann es nicht schaden. Euro bewilligt. Ein neues Finanzierungsabkommen zwi- Schönen Dank. schen den Ländern Brandenburg, Sachsen und dem Bund ist allerdings dringend notwendig. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich weise gern auf Genshagen hin. Das Berlin-Bran- denburgische Institut für deutsch-französische Zusam- menarbeit in Europa ist zunehmend auch im Dialog mit Präsident Dr. Norbert Lammert: Polen. Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, möchte ich darauf hinweisen, dass die namentliche Ab- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Gute Einrich- stimmung zum Einzelplan des Kanzleramtes in etwa tung!) 16 Minuten, also in einer guten Viertelstunde, stattfinden Auch das ist wichtig für den Brückenbau zwischen wird. Das ist etwas früher, als wir zwischenzeitlich unter Nachbarn. anderem auch im Videotext angekündigt hatten. So möchte ich auf diesem Wege die Kolleginnen und Kolle- Nicht zuletzt die Medien bringen Menschen unter- gen, die nicht ohnehin schon hier sind, darauf aufmerk- schiedlicher Kulturen zueinander. Der neue Titel „Deut- sam machen, dass die namentliche Abstimmung in ab- scher Filmförderfonds“ mit 14,3 Millionen Euro setzt ei- sehbarer Zeit aufgerufen wird. nen kulturellen wie wirtschaftlichen Schwerpunkt. Die Deutsche Welle erhält circa 273 Millionen Euro. Sie Nun erteile ich dem Kollegen Wolfgang Börnsen für trägt Informationen über Deutschland in viele Teile der die CDU/CSU-Fraktion das Wort. Welt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten neten der SPD) der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Gute Ar- beit!) Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und – Das stimmt. Herren! Petra Merkel, Sie haben mit Art und Ausrich- Ich komme noch einmal zurück auf den Kommentar tung Ihrer Rede genau das praktiziert, was Sie von ande- von Gerd Appenzeller: ren gewünscht haben, nämlich eine positive Einstellung 3578 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) zu vermitteln, ohne dabei die notwendige Differenzie- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie (C) rung aus den Augen zu verlieren. Herzlichen Dank. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Das von manchen Kulturkritikern verbreitete Bild ei- nes nur muffigen, kleinkarierten Landes stimmt objektiv Mit dem Etat der Bundeskanzlerin entscheiden wir nicht. Deutschland ist wieder, besonders im Kulturbe- auch heute gewissermaßen über den hochkarätigen Edel- reich, zu einem Land der Ideen geworden. Die meisten stein dieses Etats, nämlich die Kulturförderung. Anmeldungen beim Europäischen Patentamt kommen Deutschland hat eine der vitalsten Kulturszenen in der aus der Bundesrepublik. Solche Erfolge kommen nicht Welt. von ungefähr. Sie sind das Resultat einer an Freiheit (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!) orientierten Kulturpolitik des Bundes, der Länder und der Kommunen. Hier ist ein kreativer Bodensatz entstan- Ob im Musiktheater, in der modernen Kunst, ob in der den, der schöpferische Kräfte freisetzt und zu einem Literatur bis hin zu Fernseh- und Filmproduktionen: Aufbruch in der Gesellschaft führt. Glücklicherweise Kreativ, kritisch, herausfordernd bis anmaßend präsen- diktiert nicht die Nützlichkeit maßgeblich die Kulturför- tiert sich die Spitzenkultur in unserem Land. Kultur ist derung, sondern das Wissen um ihre identitätsstiftende gut für uns und Kultur tut gut. Wirkung. Kulturelle Bildung schafft Toleranzkompe- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tenz. Sie ist das Salz im Flechtwerk der Demokratie. neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie kostet zwar viel, aber Unkultur kostet noch viel Wir verstehen Kunst und Kultur nicht als Dekoration. mehr. Sie sind existenzieller Teil unseres Staatsverständnisses. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Im Einigungsvertrag nimmt dieser Gedanke eine der SPD) Schlüsselfunktion ein. Heute, 15 Jahre später, lässt sich Es ist bemerkenswert um die Kulturnation Deutsch- feststellen: Kunst und Kultur haben durch die Wirkungs- land bestellt. Das gilt für die Qualität, das gilt auch für kräfte der Wiedervereinigung einen dynamischen Schub die Quantität: mehr als 110 000 Theater-, Opern- und und neue schöpferische Kraft bekommen. Musicalaufführungen jährlich, mehr als 7 000 Konzerte, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die von über 35 Millionen Menschen besucht werden, mehr als 6 500 Museen und Ausstellungshäuser mit über Mit ihren Finanzbeiträgen für die Kultur haben alle Bun- desregierungen diesen Prozess von Anfang an konstruk- (B) 100 Millionen Besuchern. Die Bundesliga dagegen (D) kommt gerade einmal auf 10 Millionen Zuschauer. Da tiv und verlässlich begleitet. Fast 1 Milliarde Euro für können Sie einmal sehen, welchen Stellenwert bei uns die Bundeskultur sind zu einer festen Größe geworden. die Kultur einnimmt. Fast auf den Tag genau 15 Jahre nach dem hauchdün- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie nen Hauptstadtbeschluss zugunsten Berlins lässt sich be- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE legen: Unser Kulturstaat ist in seiner Hauptstadt er- GRÜNEN) kennbar und erlebbar. Berlin ist zu einem erstklassigen Kulturschaufenster geworden. Um im Bild dieser Tage zu bleiben: In einigen Kultur- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bereichen sind wir sogar dabei, weltmeisterlich zu wer- neten der SPD) den. Auf dem Weltkunstmarkt setzen wir erstklassige Akzente. Deutsche Orchester bestimmen europaweit die Jeder zweite Euro für die Bundeskultur wird hier inves- Maßstäbe in der Musik. Literatur aus unserem Land hat tiert. Ob allerdings alle Investitionen der Erfüllung ge- eine internationale Reputation. Das Kulturland Deutsch- samtstaatlicher Aufgaben entsprechen, ist von den Mit- land zeigt Kraft und Kreativität. gliedern des Haushaltsausschusses kritisch zu prüfen, Steffen Kampeter. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Die Kultur ist dabei nicht nur ein Kostgänger des Auf jeden Fall praktiziert Staatsminister Bernd Staates. Sie ist zu einer beispielhaften Wachstumsbran- Neumann mit Professionalität und Pragmatismus Kultur- che geworden. Fast 800 000 Menschen arbeiten in Krea- förderung in der Kontinuität seiner Vorgänger. Für je- tivberufen. Im Vergleich dazu: Die Automobilindustrie manden, der bedingt durch die vorgezogene Bundestags- beschäftigt 620 000 Mitarbeiter. Innerhalb der letzten wahl fast ein Dutzend kultur- und geschichtspolitische zehn Jahre ist die Anzahl der Kulturschaffenden bei uns Baustellen aus dem Stand hat übernehmen müssen, sind um 31 Prozent gestiegen – ein jährliches Wachstum von seine bisherigen Erfolge anerkennenswert. Das gilt auch 3,4 Prozent! Jeder Zweite davon ist selbstständig. Kultur für die Erhöhung der Mittel des Kulturhaushalts. und Kunst haben sich zu einem Jobmotor gemausert. Die (Beifall bei der CDU/CSU) Wertschöpfung im Kreativsektor betrug 2003 beacht- liche 35 Milliarden Euro – 5 Milliarden mehr, als die Die Bundeskanzlerin hat zutreffend von einer zweiten Energiebranche auf die Beine brachte. Kultur schafft Be- Gründerzeit in der Kultur gesprochen und damit nicht schäftigung! nur die neuen Medien gemeint. Die eindrucksvolle, wür- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3579

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) dige Eröffnung des Deutschen Historischen Museums Kultur ist Lebensmittel. Sie ist kein Luxus, sondern sie (C) ist ein Beispiel dafür. Geschichte als Mahnung, als Sinn- ist eine Grundlage unseres Lebens. stiftung, aber auch als Aufforderung zur Mitgestaltung (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Wolfgang an einer weltoffenen Demokratie der Partizipation! Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]) (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Ich glaube, wenn wir das mit unserer Politik deutlich Solms) machen können, dann haben wir viel erreicht. Für eine solch sachgerechte Ausrichtung wäre zu for- Wir haben dafür verschiedene Einrichtungen. Die dern, dass im Rahmen der Föderalismusreform für Kulturstiftung des Bundes erreicht 2006 erstmals die Art. 23 eine Formulierung gefunden wird, die unserem Zielförderhöhe von 38 Millionen Euro. Das ist eine föderalen Staat in Brüssel eine einheitliche gesamtstaatli- Menge Geld. Das Wichtige daran ist, dass wir gemein- che Interessenwahrnehmung garantiert. Außerdem – das same Projekte mit anderen Ländern, aber auch gemein- gilt auch für die EU – müssen wir uns einer Initiative an- same Projekte in den Kommunen und in den Bundeslän- schließen, die unser Parlamentspräsident angestoßen hat, dern machen können. Das ist die größte Stiftung ihrer nämlich Deutsch als dritte Amtssprache aus den Brüsse- Art in Europa, mit der sehr innovative Programme ge- ler Verhandlungen nicht auszuklammern. staltet und Projekte unterstützt werden können. So wird (Beifall bei der CDU/CSU) beispielsweise mit der Kulturstiftung der Länder die Restaurierung mobiler Objekte finanziert, wodurch sehr Wer diesem Anspruch gerecht werden will, der muss seltene Handwerksberufe wieder belebt werden können, auch dafür sorgen, dass die Förderung der Sprachkom- die sonst aussterben würden. Das ist ganz wichtig; denn petenz eine der Kernaufgaben der Kulturpolitik bleibt damit unterstützen wir den Erhalt von Arbeitsplätzen und im Land praktiziert wird – das ist auch wichtig für und sorgen dafür, dass Know-how erhalten bleibt. unsere Außendarstellung –; denn Sprache schafft Identi- tät und öffnet erst die Tür zur Integration. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich komme zum Ende. Wir haben bei der schrittweisen Sanierung eines be- deutenden Weltkulturerbes, der Museumsinsel in Ber- Vizepräsident Dr. : lin, dieses Know-how benötigt. Man sieht, dass die Ja, bitte. Menschen die Museumsinsel annehmen und diese ein Publikumsmagnet ist. Allein an dem einen Wochenende im letzten Jahr, an dem das Bode-Museum probeweise Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): geöffnet war, kamen 25 000 Besucher. Daran sieht man, (B) Das Bildungswesen in Deutschland, das auf dem Weg dass sich die Leute informieren wollen und dass sie Kul- (D) zur flächendeckenden Ganztagsschule ist, braucht ein tur wollen. Kultur gehört zur Grundausstattung und sie Bündnis mit der Breitenkultur. Die Breitenkultur ist ne- ist ein Lebensmittel. Deswegen ist Geld, das für Kultur ben der Spitzenkultur einer der kreativsten und beacht- ausgegeben wird, kein verschenktes Geld, sondern eine lichsten Bereiche in unserer Demokratie. 7 Millionen notwendige Investition, die gleichzeitig Arbeitsplätze Menschen sind in diesem Bereich ehrenamtlich tätig. Sie schafft. Wir freuen uns, dass 2009 das Neue Museum er- sollten in einer Kulturdebatte ebenso Anerkennung und öffnet werden kann. Das Geld dafür ist wirklich gut ein- Unterstützung finden wie die Spitzenkultur. gesetzt. Herzlichen Dank. Nicht nur Berlin kommt die Tätigkeit der Stiftung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Preußischer Kulturbesitz zugute. Im Rahmen des fö- deralen Programms arbeitet die Stiftung auch mit Institu- tionen der Länder zusammen, um hochwertige Ausstel- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: lungen zu realisieren. Deswegen glauben wir, dass es Das Wort hat nun die Kollegin Monika Griefahn von wichtig ist, dass es dem Bund auch nach der Föderalis- der SPD-Fraktion. musreform weiterhin möglich ist, Kultur zu fördern und mit den Ländern und den Kommunen zusammenzuarbei- Monika Griefahn (SPD): ten, genauso wie es mit anderen Ländern in der interna- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- tionalen Politik möglich ist. nen und Kollegen! Ich war in der letzten Woche bei einer Die internationale Politik macht sich vor Ort bemerk- bemerkenswerten Veranstaltung. Es wurden drei Jubi- bar. Ich verweise auf das Haus der Kulturen der Welt, läen gleichzeitig gefeiert: erstens das 30-jährige Jubi- das nur 500 Meter von hier entfernt ist und ein Treff- läum der Kulturpolitischen Gesellschaft, zweitens das punkt für viele Nationen ist. Zurzeit gibt es eine tolle 35-jährige Jubiläum der Fabrik, einem Kulturzentrum in Ausstellung über die brasilianische Kulturrevolution. Hamburg, und drittens das 30-jährige Jubiläum von Auch dieses Haus wird jetzt mit Mitteln bedacht, damit MOTTE, einem Kulturzentrum, das stadtteilbezogene es renoviert werden und weiterhin ein Treffpunkt sein Kultur- und Sozialarbeit macht. kann. Damit kann das, was Frau Merkel im Zusammen- Alle drei verkörpern das, was uns wichtig ist, nämlich hang mit der Fußballweltmeisterschaft dargestellt hat, Kultur für alle und Kultur so zu gestalten, dass alle teil- weitergehen, nämlich der Spirit des Gemeinsamen, des nehmen können, wobei sie dort abgeholt werden, wo sie Internationalen, des Offenen. Deswegen ist es gut, dass sind. Wir hatten in unserem Wahlprogramm die Losung: wir das fördern können. 3580 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C) Frau Kollegin Griefahn, darf ich Sie einen Moment der SPD) unterbrechen? – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich Sie waren so schön, dass ich fast geneigt gewesen wäre, bitte, der Rednerin Gehör zu schenken und insbesondere Ihnen zuzustimmen. in der Mitte des Saales die Privatgespräche einzustellen. Ein Thema haben Sie aber sehr konsequent ausgespart (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP – ich stelle fest, dass während der gesamten Haushaltsde- und der LINKEN) batte kein einziges Wort darauf verwendet wurde –: Die Bundeskanzlerin hat vorhin angekündigt, dass die Föde- Monika Griefahn (SPD): ralismusreform bis zur Sommerpause durchgepeitscht Damit schlage ich eine Brücke vom Haushalt der und vom Bundestag endgültig beschlossen werden soll. Bundeskanzlerin und des Bundeskanzleramtes zu dem Die Konsequenzen aber, die dieses Reformwerk für die Haushalt, den wir als nächsten diskutieren werden, dem zukünftige Kulturfinanzierung hat, sind bisher von kei- des Auswärtigen Amts; denn die auswärtige Kultur- und nem Redner angesprochen worden. Bildungspolitik wird aus beiden Haushalten finanziert. Sie haben mehrfach über die Kulturstiftung des Bun- Ein wichtiger Bereich, der im Ressort von Herrn des gesprochen. Wir müssen ernsthafte Zweifel haben, Neumann angesiedelt ist, ist die Deutsche Welle. Ich bin ob die Kulturstiftung des Bundes angesichts des vorge- sehr froh, dass wir die Deutsche Welle stabilisieren sehenen Art. 104 b des Grundgesetzes überhaupt noch konnten und Herr Neumann angekündigt hat, sich in den zulässig ist, ob sie überhaupt noch weiterhin fördern kommenden Haushaltsverhandlungen weiter für ange- kann. messene Mittel einzusetzen. Ich glaube, wir können im Lande nicht einschätzen, welche Bedeutung die Deut- Bei den Rednerinnen und Rednern der Koalition ver- sche Welle hat. Sie erreicht 90 Millionen Bürger welt- misse ich Folgendes: Alle Kulturpolitiker haben es in weit. den vergangenen Wochen und Monaten versäumt, auf die Gefahren, Risiken und Fragen hinzuweisen, die der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Kulturfinanzierung durch dieses Reformwerk in Zukunft Abgeordneten der FDP und der LINKEN) drohen. Die vorgesehene Änderung des Grundgesetzes bedeutet, dass es dort, wo die Länder die ausschließliche In vielen Ländern der Welt, in denen es sonst keine In- Gesetzgebungszuständigkeit haben, zum Beispiel im Be- formationen gibt, hat sie die Funktion, Informationen zu reich der Kultur, keine Kooperation von Bund und Län- verbreiten. Sie hat einen Etat, der kleiner als der des dern mehr geben darf. WDR ist. Wir sollten also nicht darüber diskutieren, ob (B) das zu viel Geld ist. Die Finanzierung muss weitergehen; Ich halte es, gelinde gesagt, für unklug, dass die Kol- (D) denn wir brauchen den Kontakt zu den Bürgern. Ich leginnen und Kollegen von der großen Koalition hier freue mich, dass wir jetzt zum Beispiel das arabische hehre Worte finden, obwohl in der nächsten Woche die- Programm haben, das noch ausgeweitet wird, dass wir ser große Einschnitt in die Kulturpolitik droht. Das muss den Afghanen geholfen haben und dass das spanische angesichts der Haushaltsberatungen heute mit einem Programm weitergeht, was ebenfalls sehr kontrovers dis- Wort erwähnt werden. Hier droht Schaden für die deut- kutiert worden ist. sche Kultur. Zu weiteren Punkten der auswärtigen Kultur- und Bil- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dungspolitik werden meine Kollegen Lothar Mark und der LINKEN) Gert Weisskirchen etwas sagen. Ein zentraler Punkt betrifft die Kulturpolitik insge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: samt: Wir müssen die Budgetierung vorantreiben. Das Frau Griefahn zur Erwiderung, bitte. gilt besonders für die Goethe-Institute, aber auch für andere Einrichtungen, zum Beispiel den DAAD. Die Monika Griefahn (SPD): Mittel müssen flexibler einsetzbar sein, damit wir in die- Erstens bin ich auf die Föderalismusreform eingegan- sen Bereichen weiterkommen. gen. Ich habe gesagt, dass der Bund weiterhin die Mög- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. lichkeit haben muss, mit den Ländern und Kommunen – genauso wie auf internationaler Ebene – Kulturpolitik (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der zu machen. Dafür setzen wir uns ein. CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zweitens. Der Kollege Börnsen ist darauf eingegan- Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem gen, dass wir auch auf europäischer Ebene die Vertre- Kollegen Hans-Joachim Otto von der FDP-Fraktion. tungsregelung diskutieren und schauen, wie wir das bes- ser regeln können. Diese Sache müssen wir natürlich mit den Ländern abstimmen. Dazu können Sie in den Län- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): dern, in denen Sie mitregieren, beitragen. Liebe Frau Kollegin Griefahn, lieber Herr Kollege Börnsen, Sie haben in gewohnter Weise sehr schöne (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Worte für die Kultur und den Kulturhaushalt gefunden. CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3581

Monika Griefahn (A) Für uns ist das ein sehr wichtiges Ziel. Daran arbeiten Die Filmförderung ist ökonomisch wichtig. In den (C) wir – das haben wir auch immer deutlich gemacht –, Vereinigten Staaten von Amerika hat die Filmindustrie auch als Kulturpolitiker. heute bereits eine höhere Bedeutung als die Automobil- industrie. Deswegen ist es für uns wichtig, uns um die- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sen Bereich zu kümmern und in diesem Bereich Förde- rung anzusetzen, so wie es der Beauftragte tut. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt Das gilt übrigens auch für einen zweiten Bereich, der erteile ich das Wort dem Kollegen Jörg Tauss von der häufig belacht und vernachlässigt wird und von dem SPD-Fraktion. man sagt, er habe nur mit Gewalt und Ballerei zu tun. Doch das stimmt nicht. Es geht um den Bereich der Computerspiele. Jörg Tauss (SPD): Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich bin sehr froh, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dass es im Rahmen der Beratungen des Kanzleretats Das ist ein Bereich, den wir in Deutschland völlig ver- möglich ist, auf den Etat für Kultur und Medien einzuge- hen. Wie wir gehört haben, ist es zwar ein kleiner, aber nachlässigen, der aber zwischenzeitlich eine noch grö- wesentlicher Bereich des Etats. Er ist der kleinste im ßere wirtschaftliche Komponente – er hat auch eine kul- Bundeshaushalt; darum ist er besonders sensibel. turelle Komponente – im Bereich der Jugendkultur hat als der Bereich des Films. Deswegen würde ich es mir Lieber Kollege Otto, uns Kultur- und Medienpoliti- sehr wünschen – leider ist vom Bundesrat gerade nie- kern ist es in einem schwierigen finanzpolitischen Um- mand anwesend –, dass wir über dieses Thema nicht nur feld gelungen, den Etat des Beauftragten der Bundesre- unter dem Gesichtspunkt Ballerei und Gewalt diskutie- gierung für Kultur und Medien weiter zu steigern, und ren – was ein kleiner Randaspekt ist –, sondern unter zwar auf 914 Millionen Euro. Im Vorjahr waren es dem Gesichtspunkt dessen, was kulturell und ökono- 907 Millionen Euro. misch bis in den Bereich der Informatik für Deutschland In Verbindung mit den anderen Punkten mit Blick auf möglich wäre. Stellenkürzungen, die meine Kollegin Griefahn ange- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sprochen hat, werden wir sicherlich noch viel zu tun ha- ben. 1,6 Prozent Stellenkürzungen in einem 10 000-Per- Die Föderalismusreform ist einige Male angespro- sonen-Ministerium sind natürlich etwas anderes als chen worden. Liebe Frau Bundeskanzlerin, Sie haben 1,6 Prozent Stellenkürzungen in einem kleinen Goethe- mich heute wieder so nett angesehen. Ich weiß gar nicht, Institut irgendwo vor Ort. Deswegen müssen wir uns um warum Sie immer mich ansehen, wenn es um den Föde- (B) diese Fragen kümmern. ralismus geht. (D) Über die auswärtige Kulturpolitik wird nachher noch (Heiterkeit bei der SPD) gesprochen. Ich glaube, ihre Bedeutung muss noch ein- mal deutlich zum Ausdruck gebracht werden. Gerade die Es scheint bei Ihnen angekommen zu sein, dass ich dazu heute so viel bemühte Fußballweltmeisterschaft ist eine noch ein paar Fragen habe. Im Kulturbereich können wir Chance, über das, was wir jetzt im sportlichen Bereich natürlich noch über das eine oder andere diskutieren, erleben, hinaus, nämlich im Bereich der auswärtigen Kollege Börnsen. Kulturpolitik, auch weiterhin für unser Land Akzente zu Frau Bundeskanzlerin, aus der Union kam der interes- setzen und für unser Land zu werben. sante Vorschlag, im Zusammenhang mit Art. 23 des (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Grundgesetzes – es war , der das vorgetra- gen hat – darüber zu diskutieren, ob es nicht sinnvoll Ich gehe in Fußballstadien. Ich bin selbstverständlich wäre, dass der Bund die Interessen des Bundes und der Mitglied beim KSC. Aber es gehen immer noch mehr Länder in Europa vertritt, und die österreichische Lö- Menschen in Museen und Theater als in Fußballstadien. sung zu übernehmen. Ich würde vorschlagen, über die- Deswegen müssen wir den Sport und die Kultur in den sen Punkt am Sonntagabend zu diskutieren. Das wäre Mittelpunkt unserer Betrachtungen stellen. vernünftig. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Hinsichtlich der Schulen, Frau Bundeskanzlerin – wir Ein wichtiger Bereich der Kulturförderung ist die werden die Bildungsdebatte ja noch führen –, stimme ich Filmförderung. Es gibt gerade einen sehr schönen Film Ihnen völlig zu. Mich interessiert nicht die Frage, wie in Deutschland: „Das Leben der anderen“. Der Film ist Bayern die Schulzeit behandelt. Dazu habe ich eine Mei- wirtschaftlich erfolgreich, aber darüber hinaus ein her- nung; aber es interessiert mich nicht als Bundespolitiker. vorragender kultureller Beitrag zu einem Thema, das uns Mich interessiert nicht einmal die Frage, warum es nicht nach der deutschen Einheit bewegt, nämlich die Bewälti- möglich ist, dass Bayern und Baden-Württemberg ein gung dessen, was der Stasiapparat und andere auch im gemeinsames Lateinbuch herausgeben. Es gibt kein ein- kulturellen Bereich in diesem Lande angerichtet haben. ziges Land, das mit einem anderen Land ein gemeinsa- Es wäre ganz gut, wenn die Freunde von der PDS gele- mes Schulbuch hat. Darüber könnten wir einmal im Zu- gentlich auch zu diesem Thema etwas sagen könnten. sammenhang mit der Föderalismusreform diskutieren. Das ist jetzt aber nicht unser Thema. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) 3582 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Jörg Tauss (A) Eines würde ich allerdings gerne thematisieren: Da Wir kommen zur Abstimmung über den (C) die Länder für die Schulen zuständig sind – sie sollen es Einzelplan 04 in der Ausschussfassung. Hierzu liegen auch sein –, müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass jedes zwei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke vor, über Jahr Zehntausende von Jugendlichen – auch aus Baden- die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Ände- Württemberg, Bayern, Berlin und Nordrhein-Westfalen – rungsantrag auf Drucksache 16/1862? – Wer stimmt da- die Schule ohne Abschluss verlassen und keine Chance gegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist auf eine Lehrstelle haben. Dieses Problem wird dem mit den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung der Bund von den Ländern sozusagen vor die Haustür ge- Fraktion Die Linke abgelehnt. kippt. Wir kommen zum Änderungsantrag auf Druck- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sache 16/1892. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage- gen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist mit Ich akzeptiere es, wenn die Länder nicht wollen, dass dem gleichen Stimmenverhältnis abgelehnt. der Bund für die Schulpolitik zuständig ist. Aber ich will gemeinsam mit den Ländern darüber diskutieren kön- Wir stimmen jetzt über den Einzelplan 04 in der Aus- nen, welche Folgen sich aus ihrer misslingenden Schul- schussfassung ab. Es ist namentliche Abstimmung bean- politik für den Bund ergeben. Er muss nämlich Milliar- tragt worden. denbeträge aufwenden, um die Folgen dieses Systems Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die bis in die Schulstrukturen hinein zu reparieren. vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind die Urnen be- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulrike setzt? – Das ist der Fall. Dann bitte ich, mit der Abstim- Flach [FDP] und des Abg. mung zu beginnen. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Haben jetzt alle Mitglieder ihre Stimmkarte abgege- Da meine Redezeit gleich abgelaufen ist, möchte ich ben? – Das scheint der Fall zu sein. folgende Schlussbemerkung machen: Unsere Fraktion Ich schließe die Abstimmung und bitte, mit der Aus- ist sich mit Peter Struck völlig einig: Über ein Koopera- zählung zu beginnen. tionsverbot muss diskutiert werden dürfen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das gibt es doch Abstimmung unterbreche ich die Sitzung. gar nicht!) (Unterbrechung von 13.26 bis 13.35 Uhr) Liebe Frau Bundeskanzlerin, es macht keinen Sinn, im Grundgesetz vorzuschreiben, dass im Hinblick auf die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) Zukunftsthemen Bildung, Wissenschaft und Forschung Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich (D) keine Kooperation staatlicher Ebenen möglich sein darf. bitte darum, wieder die Plätze einzunehmen. Das wäre Unfug. Meine Bitte an Sie ist, den Fraktions- vorsitzenden der SPD, die SPD-Fraktion, die vielen Ver- Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schrift- nünftigen in den Reihen der Union, der FDP, der Grünen führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim- und teilweise sogar der Linken hier zu unterstützen. mung über die Beschlussempfehlung des Haushaltsaus- schusses zu dem Entwurf eines Gesetzes über die Herzlichen Dank. Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haus- haltsjahr 2006 – hier: Einzelplan 04, Geschäftsbereich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Bundeskanzlerin und des Bundeskanzleramtes – be- der CDU/CSU) kannt: Abgegebene Stimmen 580. Mit Ja haben ge- stimmt 425, mit Nein haben gestimmt 155, Enthaltungen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: keine. Die Beschlussempfehlung und damit der Einzel- Ich schließe die Aussprache. plan 04 sind angenommen.

Endgültiges Ergebnis Norbert Barthle Wolfgang Börnsen Abgegebene Stimmen: 580; Dr. (Bönstrup) davon Günter Baumann Dr. Hans Georg Faust Klaus Brähmig ja: 425 Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Michael Brand Ingrid Fischbach nein: 155 Veronika Bellmann Hartwig Fischer (Göttingen) Dr. Dr. Dirk Fischer (Hamburg) Ja Monika Brüning Dr. Klaus-Peter Flosbach CDU/CSU Carl-Eduard von Bismarck Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Thomas Dörflinger Erich G. Fritz Dr. Maria Böhmer Marie-Luise Dött Jochen-Konrad Fromme Thomas Bareiß Jochen Borchert Maria Eichhorn Dr. Michael Fuchs Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3583

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Hans-Joachim Fuchtel Eduard Lintner Wilhelm Josef Sebastian Dr. (C) Dr. Dr. Klaus W. Lippold Kurt Segner Dr. Herta Däubler-Gmelin Dr. Jürgen Gehb Bernd Siebert Dr. Michael Luther Martin Dörmann (Altötting) Dr. Carl-Christian Dressel Wolfgang Meckelburg Elvira Drobinski-Weiß Ralf Göbel Dr. Christian Freiherr von Stetten Dr. Reinhard Göhner Dr. Angela Merkel Detlef Dzembritzki Josef Göppel Andreas Storm Dr. Wolfgang Götzer (Hamm) Max Straubinger Siegmund Ehrmann (Heilbronn) Lena Strothmann Hermann Gröhe Philipp Mißfelder Michael Stübgen Petra Ernstberger Michael Grosse-Brömer Dr. Eva Möllring Karin Evers-Meyer Markus Grübel Dr. Hans-Peter Uhl Annette Faße Carsten Müller Elke Ferner Monika Grütters (Braunschweig) Volkmar Uwe Vogel Karl-Theodor Freiherr zu Stefan Müller (Erlangen) Andrea Astrid Voßhoff Rainer Fornahl Guttenberg Bernward Müller (Gera) Gerhard Wächter Gabriele Frechen Dr. Gerd Müller Peter Friedrich Holger Haibach Hildegard Müller Bernd Neumann (Bremen) Ursula Heinen Henry Nitzsche Peter Weiß (Emmendingen) Iris Gleicke Uda Carmen Freia Heller Gerald Weiß (Groß-Gerau) Günter Gloser Dr. Georg Nüßlein Renate Gradistanac Franz Obermeier Karl-Georg Wellmann Angelika Graf (Rosenheim) Ernst Hinsken Eduard Oswald Anette Widmann-Mauz Dieter Grasedieck Klaus-Peter Willsch Monika Griefahn Robert Hochbaum Rita Pawelski Willy Wimmer (Neuss) Klaus Hofbauer Dr. Peter Paziorek Elisabeth Winkelmeier- Gabriele Groneberg Franz-Josef Holzenkamp Ulrich Petzold Becker Achim Großmann Anette Hübinger Dr. Wolfgang Grotthaus Hubert Hüppe Sibylle Pfeiffer Dagmar Wöhrl Wolfgang Gunkel Dr. Wolfgang Zöller Hans-Joachim Hacker Willi Zylajew (B) Dr. Hans-Heinrich Jordan Bettina Hagedorn (D) (Konstanz) Klaus Hagemann Dr. Franz Josef Jung Daniela Raab SPD Alfred Hartenbach Bartholomäus Kalb Dr. Lale Akgün Michael Hartmann Hans-Werner Kammer Dr. Peter Ramsauer (Wackernheim) Steffen Kampeter Peter Rauen Nina Hauer Bernhard Kaster (Potsdam) Ingrid Arndt-Brauer Reinhold Hemker Siegfried Kauder (Villingen- Klaus Riegert Rainer Arnold Rolf Hempelmann Schwenningen) Dr. (Neuruppin) Dr. Barbara Hendricks Volker Kauder Franz Romer Dr. Hans- Peter Bartels Eckart von Klaeden Johannes Röring Petra Heß Jürgen Klimke Kurt J. Rossmanith Sören Bartol Gabriele Hiller-Ohm Julia Klöckner Dr. Norbert Röttgen (Essen) Dr. Christian Ruck Uwe Beckmeyer Iris Hoffmann (Wismar) Kristina Köhler (Wiesbaden) (Weiden) Frank Hofmann (Volkach) Manfred Kolbe Peter Rzepka Dr. Eike Hovermann Norbert Königshofen Anita Schäfer (Saalstadt) Klaas Hübner Dr. Hermann-Josef Scharf Christel Humme Hartmut Koschyk Dr. Wolfgang Schäuble (Heidelberg) Lothar Ibrügger Thomas Kossendey Hartmut Schauerte Brunhilde Irber Dr. Johannes Jung (Karlsruhe) Dr. Dr. Günter Krings Karl Schiewerling Dr. Johannes Kahrs Dr. Martina Krogmann Norbert Schindler Klaus Brandner Ulrich Kasparick Johann-Henrich Georg Schirmbeck Dr. h.c. Susanne Kastner Krummacher Dr. Hermann Kues Christian Schmidt (Fürth) (Hildesheim) Andreas G. Lämmel Andreas Schmidt (Mülheim) Hans-Ulrich Klose Dr. Norbert Lammert (Berlin) Marco Bülow Astrid Klug Dr. Dr. Bärbel Kofler Dr. Max Lehmer Dr. Ole Schröder Dr. Michael Bürsch Fritz Rudolf Körper Bernhard Schulte-Drüggelte Karin Kortmann Marion Caspers-Merk Rolf Kramer 3584 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Olaf Scholz Patrick Döring Dr. Barbara Höll (C) Ernst Kranz Mechthild Dyckmans Ulla Jelpke Nicolette Kressl Reinhard Schultz Jörg van Essen Dr. Hakki Keskin Volker Kröning (Everswinkel) Ulrike Flach Angelika Krüger-Leißner (Spandau) Otto Fricke Monika Knoche Dr. Hans-Ulrich Krüger Ewald Schurer Paul K. Friedhoff Jürgen Kucharczyk (Bayreuth) Katrin Kunert Helga Kühn-Mengel Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Edmund Peter Geisen Oskar Lafontaine Ute Kumpf Dr. Martin Schwanholz Hans-Michael Goldmann Michael Leutert Dr. Uwe Küster Miriam Gruß Ulla Lötzer Rita Schwarzelühr-Sutter Joachim Günther (Plauen) Dr. Gesine Lötzsch Christian Lange (Backnang) Wolfgang Spanier Dr. Christel Happach-Kasan Ulrich Maurer Dr. Dr. Margrit Spielmann Elke Hoff Dorothee Menzner Waltraud Lehn Jörg-Otto Spiller Birgit Homburger Kornelia Möller Helga Lopez Dr. Ditmar Staffelt Kersten Naumann Gabriele Lösekrug-Möller Andreas Steppuhn Dr. Heinrich L. Kolb Wolfgang Neskovic Dirk Manzewski Hellmut Königshaus Dr. Lothar Mark Rolf Stöckel Gudrun Kopp Petra Pau Christoph Strässer Jürgen Koppelin Bodo Ramelow Dr. Peter Struck Heinz Lanfermann Elke Reinke Joachim Stünker Harald Leibrecht Paul Schäfer (Köln) Dr. Rainer Tabillion Ina Lenke Volker Schneider Petra Merkel (Berlin) Jörg Tauss Sabine Leutheusser- (Saarbrücken) Ulrike Merten Jella Teuchner Schnarrenberger Dr. Herbert Schui Dr. Dr. h.c. Markus Löning Dr. Ilja Seifert Ursula Mogg Jörn Thießen Horst Meierhofer Dr. Marko Mühlstein Franz Thönnes Patrick Meinhardt Frank Spieth Detlef Müller () Hans-Jürgen Uhl Jan Mücke Dr. Michael Müller (Düsseldorf) Rüdiger Veit Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Gesine Multhaupt Simone Violka Hans-Joachim Otto Franz Müntefering Jörg Vogelsänger (Frankfurt) Jörn Wunderlich Dr. Rolf Mützenich Dr. Marlies Volkmer Detlef Parr Sabine Zimmermann Hedi Wegener Andreas Weigel Gisela Piltz BÜNDNIS 90/DIE Holger Ortel Petra Weis Jörg Rohde GRÜNEN (B) Frank Schäffler (D) Heinz Paula Gunter Weißgerber Kerstin Andreae Johannes Pflug Gert Weisskirchen (Bremen) Dr. Hermann Otto Solms Christoph Pries (Wiesloch) Volker Beck (Köln) Dr. Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Dr. Rainer Stinner Lydia Westrich Birgitt Bender Carl-Ludwig Thiele Dr. Sascha Raabe Dr. Matthias Berninger Andrea Wicklein Grietje Bettin Christoph Waitz (Cottbus) Heidemarie Wieczorek-Zeul Alexander Bonde Dr. Guido Westerwelle Maik Reichel Dr. Dieter Wiefelspütz Ekin Deligöz Dr. Claudia Winterstein Gerold Reichenbach Engelbert Wistuba Dr. Thea Dückert Dr. Dr. Carola Reimann Dr. Dr. Ursula Eid Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Christel Riemann- Waltraud Wollf Hans Josef Fell Martin Zeil Hanewinckel (Wolmirstedt) Heidi Wright Katrin Göring-Eckardt DIE LINKE Sönke Rix Anja Hajduk Rene Röspel Manfred Zöllmer Hüseyin-Kenan Aydin Britta Haßelmann Dr. Karin Binder Karin Roth (Esslingen) Dr. Lothar Bisky Peter Hettlich Michael Roth (Heringen) Nein Priska Hinz (Herborn) Eva Bulling-Schröter Ulrike Höfken Marlene Rupprecht SPD Dr. Dr. (Tuchenbach) Roland Claus Bärbel Höhn Ulla Burchardt Anton Schaaf Sevim Dagdelen Thilo Hoppe Axel Schäfer (Bochum) Dr. Ute Koczy FDP Bernd Scheelen Dr. Dagmar Enkelmann Sylvia Kotting-Uhl Dr. Klaus Ernst Fritz Kuhn Dr. Karl Addicks Wolfgang Gehrcke Renate Künast Ulla Schmidt (Aachen) Diana Golze Undine Kurth (Quedlinburg) Silvia Schmidt (Eisleben) Daniel Bahr (Münster) Dr. Gregor Gysi Markus Kurth (Nürnberg) Heike Hänsel Monika Lazar Dr. Frank Schmidt Rainer Brüderle Lutz Heilmann Dr. Reinhard Loske Heinz Schmitt (Landau) Hans-Kurt Hill Anna Lührmann Carsten Schneider (Erfurt) Ernst Burgbacher Inge Höger-Neuling Jerzy Montag Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3585

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Kerstin Müller (Köln) Elisabeth Scharfenberg Josef Philip Winkler (C) Winfried Nachtwei Christine Scheel Hans-Christian Ströbele Margareta Wolf (Frankfurt) Brigitte Pothmer Irmingard Schewe-Gerigk Dr. Harald Terpe Claudia Roth (Augsburg) Dr. Jürgen Trittin fraktionslos Rainder Steenblock Wolfgang Wieland Gert Winkelmeier

Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.7 auf: Außenpolitik für dieses Land. Ich will hinzufügen: Mit dem, was sie damit leisten, toppen sie auch die Bundes- Einzelplan 05 regierung. Auswärtiges Amt (Beifall bei der FDP – Iris Gleicke [SPD]: Da – Drucksachen 16/1305, 16/1324 – können wir jetzt leider nicht klatschen! Schade!) Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Koppelin Die FDP hat die Außenpolitik der Bundeskanzlerin Herbert Frankenhauser und der Bundesregierung in den letzten Wochen oft ge- Lothar Mark nug gelobt, Frau Kollegin. Wir bleiben dabei: Es war gut Michael Leutert und richtig, dass Frau Merkel Neujustierungen vorge- Alexander Bonde nommen hat. Die deutsche Außenpolitik musste nach sieben Jahren Rot-Grün dringend wieder auf Kurs ge- Zum Einzelplan 05 liegt ein Änderungsantrag der bracht werden. Wir sind froh, dass erste Ansätze sichtbar Fraktion der Linken vor. werden. Außerdem rufe ich den Zusatzpunkt 2 auf: (Beifall bei der FDP) Beratung des Antrags der Fraktion des Ein Beispiel ist die Russlandpolitik. Herr Schröder BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN war aus lauter Freundschaft zu Präsident Putin vollkom- Neubesetzung des Amtes des Koordinators für men unkritisch geworden. Seine Betriebsblindheit ge- die deutsch-russische zwischengesellschaftli- genüber Russland hat ihn inzwischen sogar dazu ge- che Zusammenarbeit bracht, ganz unmittelbar in einen Betrieb des Kreml einzusteigen. (B) – Drucksache 16/1885 — (D) (Markus Löning [FDP]: „KGB“ muss man sa- Über diesen Antrag werden wir später abstimmen. gen!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Ich finde, dieses Vorgehen ist schlicht schamlos. die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Sie sollten sich mal entschuldigen für den Blöd- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- sinn hier!) nerin das Wort der Kollegin Birgit Homburger von der FDP-Fraktion. Frau Merkel dagegen hat bei ihrem Moskaubesuch gezeigt, Herr Kollege Tauss, dass man ein gutes Arbeits- (Beifall bei der FDP) verhältnis mit dem russischen Präsidenten durchaus mit direkter und indirekter Kritik am leider rückläufigen Birgit Homburger (FDP): Transformationsprozess in Russland verbinden kann. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Zusammentreffen mit Vertretern der russischen Zi- „Die Welt zu Gast bei Freunden“ – das erleben derzeit vilgesellschaft war geschickt und wirkt in Russland bis Hunderttausende Besucher aus aller Herren Länder über- heute nach. Es ist ein ermutigendes und positives Zei- all in Deutschland. Ausländische Gesprächspartner sind chen; denn diese Zivilgesellschaft ist Russlands Zukunft. voll des Lobes und manche internationalen Zeitungen Jetzt bleibt nur zu hoffen, dass dies nicht nur der erste geradezu überrascht: Das hatte man uns Deutschen nicht Elan war, sondern dass es in der Substanz bei dieser zugetraut. Politik bleibt. Dazu fordert die FDP Sie auf. (Iris Gleicke [SPD]: Das ist schön!) (Beifall bei der FDP) In der Debatte heute Morgen war schon von der Gast- Beim G-8-Gipfel in Sankt Petersburg gibt es die Gele- freundlichkeit und Weltoffenheit, die von den Menschen genheit dazu. Dieser Gipfel darf nicht einfach zu einer in diesem Land gezeigt wird, die Rede. Ich möchte den Jubelarie für den russischen Präsidenten werden. Dafür Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes und insbeson- ist die Entwicklung in Russland einfach zu besorgniser- dere den Fußballfans ein Kompliment machen; denn sie regend. Freedom House hat Russland gerade zum zwei- machen mit ihrer Begeisterung und Gastfreundschaft ten Mal in die Gruppe der unfreien Staaten eingruppiert, eine tolle Imagekampagne für dieses Land. Sie sind zwar und zwar auf derselben Stufe wie Simbabwe. Die G 7 keine klassischen Diplomaten, aber sie machen eine tolle – das möchte ich an dieser Stelle hervorheben – sind sei- 3586 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Birgit Homburger (A) nerzeit als Zusammenschluss der industrialisierten De- In der Irankrise gibt es keine Alternative zu Verhand- (C) mokratien gegründet worden. Genau deshalb ist es so lungen. Wir sind der Meinung, dass sich eine militäri- wichtig, den G-8-Gipfel in Russland auch dazu zu nut- sche Option nicht stellt. Anreize müssen glaubwürdig zen, gemeinsam mit den Partnern gegenüber dem russi- mit Druckmitteln verknüpft werden. Das ist jetzt gesche- schen Präsidenten und auch der russischen Zivilgesell- hen. Der Iran muss reagieren. Wenn der iranische Präsi- schaft deutlich zu machen, dass wir mit Sorge sehen, dent das Angebot einfach ausschlägt, dann brüskiert er dass Russland den Weg der Demokratie und Rechtstaat- nicht nur die internationale Staatengemeinschaft. Er lichkeit verlassen hat. stößt dann auch die durchaus offen und modern den- kende iranische Mittelschicht vor den Kopf. Denn sie (Beifall bei der FDP) will das Land nicht auf Dauer in völliger Isolation sehen. Ich finde, wir sollten Russland nicht nur auffordern, Deswegen sollte diese Politik fortgesetzt werden. sondern anlässlich des G-8-Gipfels von Russland auch Im Nahen Osten spitzt sich die Entwicklung leider deutlich einfordern, Herr Bundesaußenminister, auf den immer weiter zu. Trotzdem bleiben auch wir Liberalen Weg zur Transformation zurückzukehren. Das ist vor al- dabei, dass mit der Hamas erst dann kooperiert werden len Dingen auch deshalb so entscheidend, weil die klei- kann, wenn diese dem Terror abschwört, Israel aner- nen und mittleren Länder in der EU auf Deutschland kennt und sich zu internationalen Abkommen bekennt. schauen. Eine klare Haltung Deutschlands ist entschei- Wenn das auf glaubwürdige Weise geschieht, dann soll- dend für die Haltung Europas. ten wir die israelische Regierung auffordern, zum Ver- Hinzu kommt, dass Deutschland zum 1. Januar nächs- handlungsweg und zur Road Map zurückzukehren. ten Jahres die Präsidentschaft in der EU übernimmt. Das (Beifall bei der FDP) heißt, die Blicke sind schon heute besonders auf die Bundeskanzlerin gerichtet. Es gibt hohe Erwartungen an Wir machen uns große Sorgen um die Situation und Deutschland. Deshalb fordern wir, dass Deutschland in die Entwicklung in Afghanistan. Es zeigt sich leider, enger Abstimmung mit Finnland eine konsistente, an de- dass auch Jahre des intensiven internationalen Engage- mokratischen Grundsätzen und Menschenrechten orien- ments das Land noch nicht so weit vorangebracht haben, tierte Russlandpolitik betreibt. wie wir uns das erhoffen. Es gibt sicherlich keinen Kö- nigsweg für Afghanistan, aber es muss allmählich Licht (Beifall bei der FDP) am Ende des Tunnels auftauchen, Frau Merkel ist auch in den USA sehr positiv aufge- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nommen worden, und zwar trotz ihrer Kritik an Guanta- NEN]: Sie haben jetzt den Ministerpräsidenten namo. Das zeigt vor allem eines: Amerika ist und bleibt Hamid Karzai!) (B) eine offene Gesellschaft. Die Amerikaner wissen sehr (D) genau, dass man einzelne Aspekte der Politik ihres Prä- weil sich ein militärisches Engagement im derzeitigen sidenten kritisieren kann. Sie tun das selbst zur Genüge. Umfang sicherlich nicht über Jahrzehnte aufrechterhal- Aber man sollte das in Deutschland nicht innenpolitisch ten lässt. So wichtig und richtig die Durchführung freier instrumentalisieren und die transatlantische Freund- Wahlen war, so notwendig ist auch die Unterstützung schaft nicht riskieren. Deshalb ist es so wichtig, dass die von Präsident Karzai. Wir müssen uns aber über eines im transatlantischen Beziehungen wieder in Ordnung ge- Klaren sein: Afghanistan ist nicht nur Kabul und Karzai bracht werden. Wir als FDP sind froh, dass wir hierbei ist nicht Afghanistan. Wir brauchen neben der militäri- auf einem guten Weg sind. schen Konzeption mit den PRTs dringend ein politisches Konzept, das diesem Land auch eine wirtschaftliche Per- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten spektive eröffnet; denn die UNO hat im Jahr 2005 fest- der CDU/CSU) gestellt, dass die Hälfte des afghanischen Bruttoinlands- Wir hoffen, Herr Bundesaußenminister, dass Sie diese produkts im Drogenhandel erwirtschaftet wird. Es Linie übernehmen. In den ersten Monaten waren Sie ja bedarf also eines politischen Konzeptes und hier sind vor allem mit dem Versuch beschäftigt, das Erbe Schröders Sie, Herr Bundesaußenminister, aus unserer Sicht in be- zu retten, während Frau Merkel Außenpolitik gemacht sonderem Maße gefordert. hat. Wir fordern die Übernahme der Politik, die Frau (Beifall bei der FDP) Merkel eingeleitet hat, und damit nicht mehr und nicht weniger als die Rückkehr zu einer werteorientierten Au- Abschließend möchte ich noch etwas zum Kongoein- ßenpolitik, die unter Rot-Grün völlig vernachlässigt satz sagen, über den wir hier ja bereits diskutiert haben: wurde. Es ist ein außenpolitischer Fehler – der erste der Bundes- kanzlerin und dieser Bundesregierung –, Soldaten in (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der eine solche unsichere Mission zu schicken. Wir Liberale SPD) appellieren an die Bundesregierung sowie an die Kolle- Die FDP unterstützt nicht nur diesen Kurswechsel, gen von der Koalition, künftig Auslandseinsätze der sondern auch die Politik der Bundesregierung in den ak- Bundeswehr nur als letztes Mittel zu beschließen. Wir tuellen Brennpunkten der Außenpolitik, beispielsweise fordern eine überzeugende, multilateral abgestimmte der Irankrise. und zeitlich absehbare Rahmenkonzeption. Wir wollen vor allen Dingen ein politisches Gesamtkonzept für die (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stabilisierung eines Landes nach einem Einsatz. Ein sol- Steht das im Manuskript?) ches Konzept beinhaltet auch das nun vorgelegte Weiß- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3587

Birgit Homburger (A) buch nicht. Das sollte Sie, Herr Bundesaußenminister in den letzten Jahren Europa erreicht hat, dass nach wie (C) Steinmeier, ganz besonders interessieren; denn schließ- vor humanitäre Hilfe in bekannten und neuen Krisenre- lich ist dieses Dokument dann eine außenpolitische gionen zu leisten ist und dass bei der Sicherung des Frie- Grundlage. Wir hoffen, dass Sie sich einschalten und auf dens bzw. beim zivilen Aufbau in Afghanistan, im Ko- eine intensive Überarbeitung dieses Weißbuchs drängen. sovo, im Irak und in Darfur sowie nun bei der Sicherung In der jetzigen Fassung findet das Weißbuch jedenfalls der Wahlen im Kongo unsere Unterstützung gefragt ist, nicht unsere Zustimmung. sind die Erwartungen an die Bundesregierung und das Auswärtige Amt – auch in konzeptioneller Hinsicht – Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, gewachsen. wer Bundeswehreinsätze zunehmend als Politikersatz in der Außenpolitik missbraucht, versündigt sich nicht nur Der Haushalt des Auswärtigen Amtes hat im Jahr an unseren Soldaten und deren Angehörigen, sondern 2006 ein Gesamtvolumen von circa 2,3 Milliarden Euro. beschädigt auch massiv das Ansehen unseres Landes. Damit beträgt der Anteil der Ausgaben für die Außen- Hier besteht Handlungsbedarf. Wir erwarten, dass Sie politik am Gesamthaushalt lediglich 0,88 Prozent. Im darüber öffentlich und im Parlament diskutieren. Vergleich zu 2005 steigt der Haushalt des AA realiter zwar um 87 Millionen Euro; davon sind aber allein Vielen Dank. 73 Millionen Euro auf Wechselkursanpassungen bei den (Beifall bei der FDP) UN-Pflichtbeiträgen zurückzuführen. Seit langem trete ich dafür ein, dass die Konzernkos- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ten – so nenne ich das – wie die UN-Pflichtbeiträge von Das Wort hat jetzt der Kollege Lothar Mark von der den flexiblen Ausgaben getrennt und herausgerechnet SPD-Fraktion. werden, da heute bei Kürzungen die flexiblen Titel über- proportional belastet werden. Lothar Mark (SPD): (Beifall der Abg. Monika Griefahn [SPD]) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich möchte darauf aufmerksam ma- Dies ist allerdings nur dann umsetzbar, wenn im Bundes- chen, dass die FDP mit dieser Rede die Beratungen über haushalt generell so verfahren wird. Die Berichterstatter den Haushalt des Auswärtigen Amtes eröffnet hat. – darunter Herr Koppelin – haben dies bereits im Aus- Trotzdem möchte ich kurz auf ein paar Punkte eingehen. wärtigen Ausschuss thematisiert. Es wurde gesagt, dass das Auswärtige Amt auf Kurs ge- Die große Koalition hat zahlreiche Maßnahmen ein- bracht werden müsse. Das bedeutet, dass die Friedens- geleitet, um Binnenkonjunktur und Außenwirtschaft an- (B) politik, die wir die ganze Zeit betrieben haben, seitens zukurbeln. Ich appelliere deshalb an Sie, mit uns dafür (D) der FDP infrage gestellt wird. Oder wie ist das zu inter- zu sorgen, dass der Haushalt des AA in den nächsten pretieren? Genauso verhält es sich, wenn gesagt wird, Jahren wieder einen echten Aufwuchs erfährt, eine werteorientierte Außenpolitik sei vernachlässigt worden. Ich weise das ganz entschieden zurück; (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wie der Auswärtige Ausschuss mit seinem Beschluss vom 5. April 2006 für das Haushaltsjahr 2007 bereits an- denn das ist eine Unterstellung, die weder die alte Bun- gemahnt hatte. desregierung noch die neue Bundesregierung verdient haben. Der Ansatz für humanitäre Hilfe konnte in den dies- jährigen Haushaltsberatungen erstmals substanziell, auf (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der 50 Millionen Euro, angehoben werden und in der CDU/CSU) Finanzplanung verstetigt werden. Ich glaube, dass dies Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschlands ein großer Erfolg ist. Verantwortung in der internationalen Politik ist in den Mit meinem Berichterstatterkollegen Herbert vergangenen Jahren kontinuierlich gewachsen. Erst Frankenhauser habe ich dafür gesorgt, dass der Ansatz kürzlich wurde Deutschland mit der höchsten Stim- beim Titel „Demokratisierungs- und Ausstattungshilfe, menzahl in den neuen UN-Menschenrechtsrat gewählt, Minenbeseitigungsprogramme, Unterstützung von Maß- was als Zeichen der Anerkennung für eine berechenbare nahmen zur Förderung der Menschenrechte“ gegenüber und ausgewogene Linie Deutschlands in der inter- dem Regierungsentwurf eine Erhöhung um 504 000 Euro nationalen Menschenrechtspolitik zu verstehen ist, Frau auf fast 19 Millionen Euro erfährt. Homburger. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr gut!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die zusätzlichen Mittel sollen zur Verstärkung der lau- fenden Minenbeseitigungsprogramme dienen. Im ersten Halbjahr 2007 werden wir – wie bereits er- wähnt – die EU-Präsidentschaft sowie ganzjährig den Allerdings muss hier auch angemerkt werden, dass Vorsitz der G 8 mit Ausrichtung des G-8-Gipfels über- das Ottawa-Abkommen, mit dem Antipersonenminen nehmen, was neue Herausforderungen an uns alle stellen geächtet werden, intensiver verfolgt werden muss und wird. Vor dem Hintergrund, dass der islamistische Terror dass nicht weiter Antipersonenminen produziert, ver- 3588 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Lothar Mark (A) kauft und zum Schluss verlegt werden dürfen. Produk- Wirtschaftsattaché abgezogen wurde. Auch darüber (C) tion und Vertrieb sind grundsätzlich einzustellen und zu sollte man neu nachdenken. ächten. Zum Thema Kuba werde ich nichts sagen, weil wir (Beifall im ganzen Hause) demnächst eine Kubadebatte haben werden. Wir sollten die Länder, die in der Vergangenheit solche Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, da in den Minen produziert und vertrieben haben, verstärkt heran- letzten Wochen eine breite Diskussion zur auswärtigen ziehen, wenn es um die Beseitigung dieser Minen geht. Kultur- und Bildungspolitik insbesondere im Zusam- menhang mit dem Goethe-Institut in den Medien, aber Zum Thema Ausstattungshilfe gestatten Sie mir ein auch in den Ausschüssen stattgefunden hat, will ich da- paar Sätze. Wir hatten die Gelegenheit, die Ausstat- rauf eingehen. Zunächst einmal bekunde ich mit Dank- tungshilfe in Tansania zu besichtigen. Da ist uns klar ge- barkeit und Freude, dass wir im Auswärtigen Ausschuss worden, welch segensreiche Arbeit geleistet wird. Mit einen Unterausschuss für auswärtige Kultur- und Bil- dieser Ausstattungshilfe werden zum Beispiel Kranken- dungspolitik geschaffen haben. häuser finanziert, wird das Gesundheitswesen in Tansa- nia aufgebaut, allerdings unter Oberaufsicht der dortigen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Armee. Aber wenn man um die Strukturen in diesen der CDU/CSU) Ländern weiß, wird man sehr schnell erkennen, dass es Auch hier wird daran gearbeitet, eine Trendwende in der leider keinen anderen Akteur gibt, der in der Lage ist, si- Förderung der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik cherzustellen, dass dies auf Dauer funktioniert. einzuleiten. Wichtig scheint mir noch zu sein, den Stabilitätspakt Nach den parlamentarischen Beratungen kann das Afghanistan und den Stabilitätspakt Südosteuropa zu er- Kapitel „Pflege kultureller Beziehungen zum Ausland“ wähnen. Diese beiden Pakte sind mit 30 Millionen Euro mit einem Volumen von 548 Millionen Euro im laufen- ausgestattet, derzeit beim BMZ etatisiert. Sie laufen in den Jahr einen leichten Zuwachs gegenüber 2005 ver- diesem Jahr aus. Ich bitte darum – und das habe ich dem zeichnen. Bundesfinanzminister bereits mitgeteilt –, dass diese Mittel auch in Zukunft bereitgestellt und beim AA etati- Die Haushaltslage des Goethe-Instituts gibt Anlass siert werden, weil hier auch die politische Fachverant- zur Sorge. Die Geschäftsführung ist deshalb gebeten, bis wortung liegt. Ich bitte darum, dass im Sinne von Haus- spätestens Herbst 2006 ein Sanierungskonzept zu er- haltsklarheit und Haushaltswahrheit so verfahren wird. arbeiten, bei dem es nicht nur darum gehen kann, be- währte Einrichtungen im alten Europa zu schließen, wie (B) (Beifall des Abg. Markus Meckel [SPD]) vielfach in den Medien berichtet wurde. Effizienzsteige- (D) rung durch Bündelung der Kräfte, Vernetzung und ge- Ich möchte einige Anmerkungen zur internationalen meinsame Unterbringung mehrerer Mittlerorganisatio- Politik insgesamt machen, bevor ich auf die auswärtige nen vor Ort sind hier genauso gefragt wie Kooperationen Kulturpolitik eingehe. Ich habe mit sehr großer Freude mit dem Institut Français, dem Instituto Cervantes und zur Kenntnis genommen, dass unser Außenminister dem British Council. Ich begrüße außerordentlich, dass Dr. Steinmeier auch eine Weichenstellung in Richtung in diesem Jahr in Abu Dhabi ein Goethe-Institut einge- Lateinamerika vorgenommen hat. Er hat dies mit einer richtet wurde, das sich mit dem Deutschen Akademi- Auslandsreise wenige Monate nach seinem Amtsantritt schen Austauschdienst und der GTZ die Räumlichkeiten dokumentiert. Ich denke, hiermit wird signalisiert, dass teilt, um damit gegenseitig Synergieeffekte zu nutzen. wir diesen Bereich stärker beobachten müssen. In Die Emirate sind inzwischen Deutschlands größter Han- Lateinamerika gehen fundamentale Änderungen vor delspartner in der Region. Die Nachfrage nach deutscher sich, die wir verfolgen müssen, wenn wir die Märkte Sprache kann kaum befriedigt werden. dort nicht verlieren wollen. Im Zuge der parlamentarischen Beratungen wurde Der Mercosur spielt in Zukunft eine große Rolle. Des- beim Goethe-Institut eine Umschichtung von Pro- halb bitte ich, auch die Kontakte in Richtung Venezuela grammmitteln zur institutionellen Förderung vorgenom- zu überprüfen. Ich habe bei meinem Besuch festgestellt, men, damit die Zentrale die Deckungslücke von rund dass Italien, Spanien und Frankreich sehr intensive 7 Millionen Euro in diesem Jahr schließen kann; prinzi- Wirtschaftskontakte und auch Regierungskontakte mit piell sollen aber die Projektmittel verstärkt werden. Venezuela pflegen und dort sehr stark ins Geschäft kom- men. Wir hatten für diesen Haushalt bereits das Pilotprojekt Italien des Goethe-Instituts beschlossen, das die gesamte (Beifall der Abg. Monika Knoche [DIE Budgetierung für Goethe in Italien beinhaltet. Ich be- LINKE]) grüße, dass mit dem neuen Haushalt die Erprobungs- Ich denke, dass wir darüber verstärkt nachdenken müs- phase auf die Regionen Nordamerika, Osteuropa und sen. Zentralasien ausgedehnt werden soll. Ich bin der festen Überzeugung, dass die neuen Steuerungsinstrumente Ich möchte einige kleine Hinweise geben, die viel- – Budgetierung und die damit verbundene strategische leicht Beachtung finden können: Es stellt sich die Frage, Zielvereinbarung – dazu beitragen werden, eine effizien- wieso ein Militärattaché in Lima, aber nicht in Caracas tere Steuerung und größeres Kostenbewusstsein zu er- ist und wieso aus dem prosperierenden Land Panama der möglichen. Durch sie werden die Eigenverantwortung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3589

Lothar Mark (A) der Mittler gestärkt sowie eine bessere Überschaubarkeit Lothar Mark (SPD): (C) und Kontrolle der Ausgaben sichergestellt. In diesem Zusammenhang denke ich auch an die poli- tischen Stiftungen und deren Engagement im Ausland. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Abschließend einen herzlichen Dank an den Haus- Ich bin allerdings auch der Meinung, dass wir diese haltsauschuss und den Auswärtigen Ausschuss und an Budgetierung auf das Goethe-Institut weltweit ausdeh- die Mitberichterstatterkollegen und den Hauptbericht- nen müssen und dass wir weitere Mittlerorganisationen erstatter Jürgen Koppelin sowie an die Mitarbeiterinnen budgetieren sollten, und Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, die uns in vor- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) bildlicher Weise Rede und Antwort standen. Vielen Dank. weil damit ein Weg gezeigt würde, wie man effizient mit Steuermitteln des Bundes umgehen kann. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) (Herbert Frankenhauser [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Mittel für den Deutschen Akademischen Aus- Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Knoche von tauschdienst wurden auf 119,7 Millionen Euro, die für der Fraktion Die Linke. die Alexander-von-Humboldt-Stiftung auf 34 Millionen und die für das Deutsche Archäologische Institut auf fast (Beifall bei der LINKEN) 25 Millionen Euro aufgestockt. Monika Knoche (DIE LINKE): (Herbert Frankenhauser [CDU/CSU]: Das ist Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Herren und Da- sehr gut!) men! Guantanamo muss geschlossen werden. Diesen In diesem Zusammenhang will ich darauf hinweisen, Satz sollte die Bundeskanzlerin ihrem baldigen Gast, dass diese Institutionen dazu beitragen, den Ruf der Herrn Präsidenten Bush, in aller Deutlichkeit sagen. Bundesrepublik international zu stärken, und dass ge- (Beifall bei der LINKEN) rade in diesen Sektoren Zukunftsentwicklungen möglich sind. Wer politischen Gefangenen grundlegende Rechte vorenthält, sie körperlicher und psychischer Gewalt aus- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten setzt und sie in Suizide treibt – das ist noch zu untersu- der CDU/CSU) (B) chen –, darf nicht erwarten, dass die Frau an der Spitze (D) Ich möchte den Europäisch-Islamischen Kulturdialog Deutschlands darüber hinweglächelt. Frau Merkel hat erwähnen. Er wird in den nächsten Jahren immer mehr als Repräsentantin eines demokratischen Rechtsstaates an Bedeutung gewinnen. Es ist uns gelungen, die Mittel die Pflicht, deutlich zu fordern, dass dieses Lager ge- hierfür auf immerhin 6 Millionen Euro anzuhäufen. schlossen wird. (Beifall der Abg. Monika Griefahn [SPD]) Der Präsident der USA führt den Krieg gegen Terror mit all seinen Unerträglichkeiten, zum Beispiel mit be- Dass hier weiterer Bedarf besteht, steht außer Frage. sonderen Verhörmethoden in Abu Ghureib, politisch ka- tastrophalen Auswirkungen im Irak, neuen Bombarde- Das Thema Auslandsschulen kann ich nur kurz strei- ments, geheimen Gefängnissen und all dem, womit der fen. Auch hier ist es unabdingbar, dass ein neues umfas- Untersuchungsausschuss sich zu beschäftigen hat. Guan- sendes Konzept entwickelt wird, das uns nach Möglich- tanamo ist ein Schandfleck für das Völker- und das Men- keit noch in diesem Jahr vorgelegt wird. Dass die schenrecht. Auslandsschulen eine sehr große Bedeutung haben, zeigt sich am Beispiel Mexiko, wo annähernd 100 Absolven- (Beifall bei der LINKEN) ten der deutschen Schule in einheimischen Spitzenfunk- Nicht nur die Fraktion Die Linke, die aus tiefer Über- tionen arbeiten, einschließlich zweier Minister. Es ist zeugung gegen den Krieg gegen Terror ist, sieht das so darauf hinzuweisen, dass diese Absolventen natürlich und vertritt diese Einstellung. Ich denke, wir Abgeordne- eine große Affinität zu Deutschland – auch im ökonomi- ten sollten es dem Europaparlament gleichtun und eine schen Sinne – entwickeln. gemeinsame Erklärung abgeben. Diese Realität belastet Meine Redezeit läuft mir davon. Ich möchte nur noch in nicht unbeträchtlicher Weise die deutsch-amerikani- darauf hinweisen, dass Kultur- und Bildungsmittel In- schen Beziehungen. vestitionen in die Zukunft sind, die der Konfliktpräven- Mit Kontinuität sind die transatlantischen Bezie- tion auch im Inland dienen. hungen unter der großen Koalition meines Erachtens (Beifall der Abg. Monika Griefahn [SPD]) nicht treffend beschrieben. Die Zeit nach dem Kalten Krieg währt schon 16 Jahre. Durch die Macht des Fakti- schen hat sich mehr neu definiert, als die Politik je dis- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: kutiert hat. Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt die Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Sie ha- neuen Kriege des 21. Jahrhunderts ab, auch wenn sie im ben Ihre Zeit weit überzogen. Namen der Terrorbekämpfung geführt werden. 3590 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Monika Knoche (A) Die große Koalition aber löst sich in dieser Frage Aids/HIV, gerade was Spritzdrogengebrauch und Prosti- (C) nicht aus der unguten Überloyalität zu den USA. Im Ge- tution angeht, so eng mit der afghanischen Drogenmafia genteil: Sie versucht, mit einer Militarisierung der EU verbunden ist, dass es ohne eine weltweit neue Ausrich- neben der NATO einen eigenen militärischen Arm zu be- tung der Drogenpolitik nicht zu einer Beherrschung der wegen. Infektion kommen kann. Es gibt aber keine Anzeichen – ich war gerade in Russland –, dass die Mächte der G 8 All das geschieht in völkerrechtlich nicht gesicherter vom unsinnigen und gescheiterten „Krieg gegen Dro- oder in verfassungsrechtlich zweifelhafter Weise. Eine gen“ ablassen und sich einer aufgeklärten Politik zuwen- weltweit einsetzbare Interventionsarmee soll nach den. Oder glaubt jemand, Präsident Putin wird nach Pe- 60 Jahren die Verteidigungsarmee ablösen. Das deutsche tersburg die Erkenntnis haben, mit Methadon und Selbstverständnis soll sich ändern. Man ändert lieber die Heroinsubstitution für sich prostituierende Mädchen Verfassung, als dass man die Politik zivilisiert. Zivilisie- oder Gefängnisinsassen den Kampf gegen Aids aufzu- rend wäre es, alle Anstrengungen zu unternehmen, sich nehmen? – Das ist ein Randthema der G 8; ich weiß. aus der Abhängigkeit von Öl und Gas zu emanzipieren. Aber es ist aufgerufen worden. Nicht alle Konflikte dieser Welt lassen sich auf dieses Die große Aufgabenstellung lautet: globale Energie- Schema zurückführen. Der Konflikt Israel/Palästina sicherheit. Im Klartext: Es wird dabei mehr Kriegsge- beispielsweise steht in einem anderen historischen und fahr beim Kampf um die knapper werdenden Ressourcen aktuellen Kontext. Aber auch da schlägt sich Deutsch- und eine Renaissance der Atomindustrie herauskommen. land nur auf die Seite Israels und der USA. Das halten wir für eine fatale Fehlentwicklung. Im Iran geriert sich Deutschland als diplomatische (Beifall bei der LINKEN) Vortruppe der US-genehmen Positionen. Der Iran hat sich keiner Verletzung des Atomwaffensperrvertrags Umso mehr muss begriffen werden, dass die UNO schuldig gemacht, aber er droht in unannehmbarer Weise aufgewertet werden muss, wie es auch der UN-General- Israel. Und dennoch: Wir Linke setzen auf eine diploma- sekretär in dieser Woche in der „Frankfurter Rundschau“ tische Lösung und eine Friedenskonferenz als Bühne da- sagte, als er davon sprach, dass die Reichen einen erdrü- für. ckenden Einfluss auf die Vereinten Nationen ausüben. (Beifall bei der LINKEN) Viele sagen zur EU-Politik: Nach dem Brüsseler Gipfel ist die Zukunft ungewiss; die EU ist zerrissen. Etwas näher gerückt ist erfreulicherweise eine friedliche Das kommt davon – so will ich etwas flapsig sagen –, Beilegung des Konflikts. Bemerkenswert bleibt aus mei- wenn man sich das Gigaprojekt „supranationale Ver- ner Sicht: Deutschland scheint über kein eigenes diplo- (B) fasstheit“ in den Kopf setzt und glaubt, via einen Kon- (D) matisches Besteck zu verfügen. Es ist eine Außenpolitik, vent über die Meinung der Bevölkerung der Mitglied- die sich in dem Kreis der G 8 und einer neuen Militär- staaten hinweggehen zu können. Ich halte die Prognosen macht Europa einfindet. hinsichtlich einer Zerrissenheit für übertrieben. Das Pro- Es mag im Einzelnen nach nicht zusammenhängen- jekt „Verfassung“ ist geplatzt. Mehr ist nicht passiert. den Außenaktivitäten aussehen, wenn überallhin Solda- (Beifall bei der LINKEN) ten entsandt werden. Trotzdem ergibt sich ein stimmiges Bild. Deutschland will den Kampf um die Ressourcen Die Verträge bestehen weiter. Es kann auch ohne Verfas- mal mit der NATO, mal mit der EU gewinnen. Das ist sung eine Reform für ein soziales, friedliches Europa ge- eine Ausrichtung, die wir Linke nicht akzeptieren. ben. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Mitte Juli treffen sich in Sankt Petersburg die Regie- Eine Reform jedoch hat die EU offenbar vollkommen rungschefs der G-8-Staaten. Sie treffen, wie immer, verpasst; das ist die, die in einigen Ländern Lateiname- Verabredungen von globaler Tragweite. Ein repräsentati- rikas stattgefunden hat. Deshalb begrüße ich, was Sie, ves Gremium für solche weitreichenden Entscheidungen Herr Mark, in Ihrer Haushaltsrede dazu gesagt haben. sind sie aber keinesfalls. Hätte die Regierung unseren Antrag zum Wiener Gip- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) fel gelesen, wäre sie nicht erstaunt gewesen, dass es nicht dazu gekommen ist, eine Freihandelszone auf ganz Sie haben nicht das Mandat der Welt, um maßgeblichen Lateinamerika auszuweiten. Einfluss auf diese zu nehmen. Nur ein Siebtel der Welt- bevölkerung lebt in diesen reichen G-8-Staaten und doch (Beifall bei der LINKEN) wird die Geschäftspolitik des Internationalen Währungs- fonds und der Weltbank von ihnen allein bestimmt. Insofern ist es eine gute Nachricht, wenn dort im Schlussdokument die Souveränität und die politische (Markus Löning [FDP]: Weil das ja auch dieje- Unabhängigkeit der Staaten Lateinamerikas hervorgeho- nigen sind, die es bezahlen!) ben werden. Wir hoffen doch sehr, dass sich auch die USA diese Erklärung zu Gemüte führen. Das ist eine Mittlerweile eignet sich die G 8 immer mehr Themen gute Nachricht. an, die bei der UNO besser aufgehoben wären, zum Bei- spiel das Thema HIV/Aids. Der UN-Aids-Gipfel vor Keine gute Nachricht – damit komme ich zum drei Wochen in New York ergab unter anderem, dass Schluss – kommt derzeit aus Afghanistan. Hier will die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3591

Monika Knoche (A) NATO ihr Konzept ausweiten, ja sogar ISAF und Endu- dass dem Iran ein neues Verhandlungsangebot unterbrei- (C) ring Freedom faktisch zusammenlegen. Am Ende be- tet worden ist. Wir müssen bei dieser Frage geschlossen käme die Bundeswehr noch einen Kampfauftrag. Das und auch entschlossen vorgehen. Geschlossenheit be- wollen wir auf keinen Fall. zieht sich auf den Weg und Entschlossenheit auf das Ziel. (Beifall bei der LINKEN) Der Iran darf auf keinen Fall Nuklearmacht werden. Deutsche Soldaten sollen nicht Konfliktpartei wer- Das ist die Forderung des Völkerrechts. Völkerrecht ist den. Was wir stattdessen brauchen, ist eine Exitstrategie. eine Sollensordnung mit dem Anspruch auf internatio- Die Truppenstellenden müssen folgende Fragen beant- nale Durchsetzung, eine Ordnung, die am Ende auch ge- worten: Erstens. Was sind die eigentlichen Kriegsziele? gen den Willen des Rechtsunterworfenen durchgesetzt Zweitens. Wann sind diese Kriegsziele erreicht? Drit- werden muss. Dazu müssen wir bereit sein, alle geeigne- tens. Die Taliban sind erstarkt, es blüht der Mohnanbau, ten und erforderlichen Mittel einzusetzen, die nukleare es herrscht der Drogenhandel – was jetzt? Wir sagen, Af- Bewaffnung des Iran zu verhindern, und dürfen von ghanistan ist so nicht zu schaffen – nicht mit Waffen. vornherein keine Optionen ausschließen. (Beifall bei der LINKEN) (Zuruf von der LINKEN: Auch keinen Krieg?) Die wichtige und richtige Antwort findet man in einer Bundesaußenminister Steinmeier hat zu Recht in ei- radikalen Energiewende und dem Ende des Krieges um nem „Spiegel“-Interview in dieser Woche eine neue Öl. Das befriedet die Transit- und Exportstaaten, mini- Qualität in der amerikanischen Außenpolitik festgestellt. miert das Risiko atomarer Bewaffnung und schließt eine Das gilt auch für unsere Außenpolitik. Wir bekennen uns radikale Abwehr vom Krieg gegen Drogen ein. im Koalitionsvertrag zum effektiven Multilateralismus. Unsere Verpflichtung ist es, seine Effektivität – das heißt Ich danke Ihnen. die Fähigkeit, Probleme multilateral lösen zu können – unter Beweis zu stellen. (Beifall bei der LINKEN) Der Iran betont wie viele andere muslimische Staaten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bei der Auseinandersetzung immer wieder die Ehre sei- ner Nation. In der Tat verfügt der Iran über eine jahrtau- Das Wort hat jetzt der Kollege Eckart von Klaeden sendealte beeindruckende Geschichte. Das erneute Ver- von der CDU/CSU-Fraktion. handlungsangebot zeigt, wie respektvoll wir den Iran (Beifall bei der CDU/CSU) behandeln. Die Ehre des Iran wird aber nicht durch die Behandlung durch den Westen, sondern durch die Äuße- (B) rungen seines Präsidenten Ahmadinedschad verletzt. (D) Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der stehen in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten vor FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- wichtigen Herausforderungen und Entscheidungen in SES 90/DIE GRÜNEN) der Außen- und Sicherheitspolitik. Ich nenne beispiel- Es geht nicht nur um die Ehre des Iran, sondern auch um haft Iran, Afghanistan und Kongo. Bei all diesen Heraus- unsere Ehre forderungen stellt sich die Frage, wie wir gemeinsam mit unseren Partnern und Verbündeten auch in Zukunft in (Zurufe von der LINKEN) der Lage sein werden, die globale Ordnung zu gestalten. und unsere Pflicht, dem Recht zur Durchsetzung zu ver- Das gilt zunächst einmal für den Iran. Dort geht es helfen. Opus iustitiae pax – der Friede ist das Werk des um die Durchsetzung der Aufrechterhaltung unserer Rechts. Prinzipien, nämlich um die Achtung des Völkerrechts Vor ähnlichen Herausforderungen stehen wir auch in und globaler Institutionen, um die Fortführung der Ab- Bezug auf Nordkorea. Wir haben in diesen Tagen erfah- rüstung und Unterbindung der Proliferation sowie um ren, dass Nordkorea vor dem Abschuss einer so genann- die Anerkennung des Existenzrechts Israels. Es geht des- ten Taepodong-2-Rakete steht, einer nordkoreanischen halb auch nicht, Frau Kollegin Knoche, um einen Kon- Kontinentalrakete, die die USA erreichen und letztlich flikt zwischen dem Iran und den USA, sondern um einen auch uns bedrohen kann. Ein heißer, möglicherweise so- Konflikt des Iran mit der internationalen Rechtsgemein- gar nuklearer Konflikt in Ostasien würde Länder treffen, schaft. die enge Partner von uns sind, und die Weltwirtschaft auf das Schwerste erschüttern. Gareth Evans, der Präsi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- dent der International Crisis Group, hat Nordostasien als ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) einen der gefährlichsten Brandherde der Welt qualifiziert Es ist nicht zuletzt ein besonderer Erfolg der Bundes- und das auch an der „Wiederauferstehung eines rüden regierung – Frau Knoche, auch hier hätten Sie sich ein Nationalismus“ in der Region festgemacht. anderes Feld für Ihre Kritik an der Bundesregierung aus- Nordkorea und Iran zeigen uns, dass unsere Sicher- suchen müssen; Sie müssten allerdings selbst herausfin- heit auch durch Konflikte in weit entfernten Regionen den, welches –, gefährdet werden kann. (Monika Knoche [DIE LINKE]: Danke für (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Am Hindu- den Hinweis!) kusch!) 3592 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Eckart von Klaeden (A) Deswegen ist es wichtig, dass die NATO den Dialog und Die genannten Themen haben eines gemeinsam, was (C) die globale Partnerschaft mit Staaten wie Japan oder vor wenigen Jahren noch nicht der Fall war: Bei all die- Australien sucht, die unsere Werte und unsere sicher- sen Fragen spielt China eine zunehmend wichtigere heitspolitischen Interessen teilen. Rolle. Dies wird besonders bei dem Thema Energie- sicherheit deutlich. China, aber auch die anderen asiati- (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Unsere schen Staaten von Indien über die südostasiatischen Län- nicht!) der bis nach Japan stellen für uns als Deutsche und für Auch Singapur ist ein Partner von uns und kann eventu- Europa die Herausforderung überhaupt dar. Wir stehen ell eine Vermittlerrolle übernehmen. am Anfang eines asiatischen Zeitalters und die beson- dere Wichtigkeit Asiens für unsere Politik, nicht nur für Es ist richtig und wichtig, dass wir uns weiterhin in unsere Außenpolitik, haben die Reisen von Bundes- Afghanistan und im Kongo mit Bundeswehrsoldaten minister Steinmeier und auch der Bundeskanzlerin un- engagieren. Ich will hier ausdrücklich den Soldatinnen terstrichen. und Soldaten für ihren Einsatz danken. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie China drängt auf die Weltmärkte. Das ist keine Neu- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE igkeit. Indien und China vereinen 40 Prozent der Welt- GRÜNEN) bevölkerung im arbeitsfähigen Alter. Im besten Fall ist China auf dem Weg, die technologischen und finanziel- Die Einsätze sind ein Beispiel für das breite internatio- len Stärken einer hoch entwickelten Gesellschaft mit nale Engagement und die Verpflichtung zum Völker- dem Kostenvorteil eines Entwicklungslandes zu verbin- recht der Bundesrepublik Deutschland. den. China ist nicht mehr allein die Werkbank der Welt. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: „Zum Völ- China verfügt mit über 750 Milliarden US-Dollar über kerrecht der Bundesrepublik Deutschland“ – die zweitgrößten Devisenreserven der Welt. Chinesische das ist genial!) Familien haben eine enorme Sparquote; sie liegt bei circa 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. China baut In Afghanistan müssen wir mehr dafür tun, dass die sein Humankapital kontinuierlich aus. Chinesische Uni- Afghanen auch in entlegenen Gegenden von internatio- versitäten graduieren jährlich mehr als 200 000 Inge- nalen Einsätzen profitieren und damit die Präsenz in- nieure. Die chinesische Regierung gründet jedes Jahr ternationaler Organisationen anerkennen. Wir müssen über 200 Forschungsinstitute. Das Microsoft-Entwick- mehr und effektivere Maßnahmen gegen Drogenanbau lungsbüro in China dominiert zunehmend die Innovatio- und -handel treffen. Wir sollten die Kritik von Lakhdar nen dieses Weltkonzerns. Indien blickt auf ähnlich kraft- Brahimi, dem ehemaligen algerischen Außenminister volle Zahlen. – Auf diese geballte Entwicklung müssen (B) und Sondergesandten der UNO, in der „FAZ“ vom wir uns einstellen. Wir müssen uns fit machen für den (D) 6. Juni 2006 beherzigen. Er mahnte, die internationale Wettbewerb und uns die Frage stellen, wie wir uns in Gemeinschaft müsse sich realistische Ziele setzen und eine zunehmend asiatisch dominierte Weltwirtschaft in- auf das Wesentliche konzentrieren, so beispielsweise in tegrieren. Afghanistan auf den Aufbau der Rechtsstaatlichkeit. Nach Brahimi könne es nicht darum gehen, aus Afgha- In diesem Zusammenhang sollten wir auch die Prinzi- nistan ein Schweden zu machen, und es deshalb mit pien unserer Entwicklungszusammenarbeit mit China 800 Nichtregierungsorganisationen zu überziehen und ständig neu hinterfragen und weiterentwickeln. Dazu ge- Geld „ohne Sinn und Verstand“ zu verteilen. hört, dass wir unsere eigenen Interessen, zum Beispiel an einem funktionierenden und transparenten Rechtssystem (Beifall der Abg. Monika Knoche [DIE in China, in den Vordergrund stellen. Wir können nicht LINKE]) die soziale und ökologische Verantwortung der chinesi- Was wir im Kongo nach dem Wahlprozess unterstüt- schen Regierung gegenüber ihrer eigenen Gesellschaft zen wollen, muss auch heute schon eine Rolle spielen übernehmen. Wir sollten darauf achten, dass China kon- und darauf müssen wir uns stärker konzentrieren. Wir tinuierlich und immer mehr für Leistungen bezahlt, die müssen größeres Gewicht auf den Aufbau einer formel- von uns erbracht werden. len, transparenten und rationalen Bergbauwirtschaft, die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der auch ihren Beitrag für die kongolesische Bevölkerung SPD und der FDP) leisten kann, legen. Die Herausforderung gegenüber China hat nicht nur (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) eine innen-, sondern auch eine außenpolitische Dimen- Erste richtige Schritte sind die europäische Initiative zu sion. China stellt uns die Systemfrage. Das chinesische Transparenz in der Rohstoffindustrie sowie die geplante System, ein Einparteienstaat, der das Land wie ein gi- Einrichtung einer Kommission zur Überwachung der gantisches modernes Wirtschaftsunternehmen führt, übt Rohstoffförderung im Kongo. Wir sollten die afrikani- aufgrund seines Erfolges eine große Anziehungskraft schen Staaten viel mehr ermuntern, sich stärker dem aus. Dagegen wirken westliche Demokratien schwerfäl- Aufbau regionaler Märkte zu widmen. Das ist die beste lig. Andere Staaten könnten in der Einschränkung der Entwicklungszusammenarbeit. Mosambiks wirtschaftli- Beteiligung der eigenen Bevölkerung eine Erfolgsformel cher Aufschwung zum Beispiel ist mitunter auf die be- für ihre eigene Zukunft sehen. Deswegen sind wir he- eindruckende Steigerung eines interregionalen Handels rausgefordert, zu zeigen, dass unser System erfolgreich in der SADC zurückzuführen. ist. Die Reformen, die wir in unserem Land durchführen, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3593

Eckart von Klaeden (A) sind also auch Teil unserer Asienstrategie. Es geht um einräumen. Die Zusammenarbeit mit der Ukraine könnte (C) die Frage, wie unser Modell auf andere Länder aus- und sollte ein Schwerpunkt der deutschen EU-Präsident- strahlt. schaft sein. Dabei gilt es auch – wir sind ja in der Haus- haltsdebatte –, die Instrumente unserer Außenpolitik auf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- solche Schlüsselländer wie die Ukraine stärker auszu- neten der SPD) richten. Dass China eine außenpolitische Herausforderung In diesem Zusammenhang möchte ich, wie es der darstellt, zeigte sich erneut beim Treffen der Schanghai- Kollege Mark schon getan hat, die Arbeit der politi- Kooperation-Organisation in der vergangenen Woche. schen Stiftungen in der Ukraine, aber auch in anderen Die Organisation gewinnt regional auch in Abgrenzung Ländern ganz besonders loben und ihnen dafür danken. zu den transatlantischen Partnern an Bedeutung; sie bot Wir sollten darauf achten, dass den politischen Stiftun- dem iranischen Präsidenten Ahmadinedschad eine inter- gen für ihre hervorragende Arbeit auch in Zukunft die nationale Bühne. Des Weiteren finden Herrscher wie die nötigen Mittel zur Verfügung stehen. birmanischen Generäle, Diktatoren wie Mugabe, Popu- listen wie Chávez oder islamische Führer wie Bashir Un- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD sowie bei terstützung in Peking, weil ihre Länder über wertvolle Abgeordneten der FDP und des BÜNDNIS- Bodenschätze verfügen. Das erschwert unsere Bemü- SES 90/DIE GRÜNEN) hungen um Förderung der Demokratisierung in diesen Ländern. Zudem kann das Verhalten Chinas zum Bei- Ein letztes Wort zu Russland. Das G-8-Treffen in spiel gegenüber dem Sudan oder dem Iran unmittelbar Sankt Petersburg im Juli steht unmittelbar bevor. Russ- unsere europäischen Sicherheitsinteressen berühren. land steht vor ähnlichen Herausforderungen wie China. Russlands Demokraten benötigen den Westen als Mo- Welche Konsequenzen müssen wir daraus ziehen? dell. Wir wollen, dass die viel beschworene strategische Erstens. Wir müssen alles dafür tun, dass sich China Partnerschaft zwischen Deutschland und Russland nicht friedlich und im Rahmen des internationalen Rechts ent- nur eine wirtschaftliche Partnerschaft ist, sondern sich wickeln kann. Wir müssen China, soweit es geht, in die diese Partnerschaft an universellen Werten orientiert. internationale, globale Ordnung einbinden. Daran muss Dazu gilt es die Vertrauensbasis weiterzuentwickeln. In China selber ein Interesse haben, weil es die internatio- diesem Zusammenhang spielt auch die Frage, wie sich nale, die globale Interdependenz als eigenen Entwick- Russland innenpolitisch entwickelt und wie es sich sei- lungsweg gewählt hat. nen Nachbarn gegenüber verhält, eine Rolle. Was die in- nenpolitische Entwicklung Russlands angeht, so will ich Zweitens müssen wir China ermuntern, einen eigenen hier ganz deutlich sagen, weil es dazu einen Antrag der (D) (B) Beitrag zur Regelung von Problemen zu leisten. Letzt- Grünen gibt, dass wir die Übergriffe auf unseren Kolle- lich kann auch China kein Interesse an Instabilität wie gen Volker Beck bedauern und verurteilen. im Sudan oder in Simbabwe haben. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Drittens müssen wir Europäer uns sehr viel mehr um und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie unsere natürlichen Verbündeten kümmern, um unsere bei Abgeordneten der LINKEN) Gleichgesinnten in Asien, mit denen wir gemeinsame politische Ziele verfolgen. Ich nenne hier insbesondere Gleichzeitig weisen wir darauf hin, dass die Delega- Japan, aber auch Südkorea oder Singapur. tion der Nichtregierungsorganisationen, die vor zwei Wochen auf Einladung von Andreas Schockenhoff in Wir haben ein Interesse an einer friedlichen Entwick- Berlin war, zum Ausdruck gebracht hat, welche Wert- lung Chinas zu mehr Wohlstand. Wir haben aber auch schätzung Andreas Schockenhoff bei den Nichtregie- ein Interesse daran, dass die Risiken in der Entwicklung rungsorganisationen in Russland genießt und dass ihm Chinas gesehen werden und alles getan wird, dass ent- die demokratische Entwicklung Russlands sehr am Her- sprechende Entwicklungen nicht eintreten. zen liegt. Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen. Das führt uns zu den Aufgaben, die wir in Europa (Beifall bei der CDU/CSU) wahrzunehmen haben. Die europäische Sicherheitsstra- tegie soll dafür sorgen, dass sich Sicherheit und Wohl- stand in unserer Nachbarschaft weiterentwickeln kön- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nen. Dazu gehört die Entwicklung auf dem Balkan, aber Bevor ich in der Rednerliste fortfahre, möchte ich Ih- auch die Entwicklung in der Ukraine. Die Ukraine ist nen Folgendes bekannt geben: Die Fraktionen haben ein Schlüsselland in Osteuropa. Deswegen ist es gut, sich darauf verständigt, dass die Beratung des dass sich in der letzten Nacht die Parteien der orangenen Einzelplans 06 wie vorgesehen heute Abend stattfindet, Revolution auf eine Neuauflage der Koalition geeinigt jedoch die Abstimmungen über den Einzelplan 06 ein- haben. schließlich der namentlichen Abstimmung erst morgen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie zu Beginn der Sitzung erfolgen. Gleiches gilt für die Be- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE ratung und Abstimmung über den Einzelplan 10. Die GRÜNEN) Beratung erfolgt wie vorgesehen morgen Abend, die Ab- stimmungen einschließlich der namentlichen Abstim- Die Ukraine braucht eine klare europäische Perspektive mung finden jedoch erst am Freitag zu Beginn der und wir müssen ihr diese klare europäische Perspektive Sitzung statt. Damit können wir abends zu der entspre- 3594 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) chenden Zeit auf die namentlichen Abstimmungen ver- (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- (C) zichten und sie morgens früh durchführen. loch] [SPD]) Als nächste Rednerin erteile ich der Kollegin Kerstin Das ist der richtige Weg, auch wenn manche Äußerun- Müller vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort. gen von Präsident Ahmadinedschad wirklich unerträg- lich sind. Auch die Amerikaner sind jetzt zu direkten Gesprächen mit Iran bereit und unterstützen das Ange- Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bot. Das hat auch meine Fraktion immer wieder gefor- NEN): dert. Das ist ein zentraler und wichtiger Schritt nach Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am vorn. Das zeigt: Wenn die internationale Gemeinschaft Montag hat der neue Menschenrechtsrat der Vereinten gemeinsam und entschlossen handelt, dann sind auch in Nationen erstmals getagt. Das war für die Menschen- schwierigen Krisensituationen Verhandlungslösungen rechte sicherlich ein guter Tag. Gleichzeitig wird damit erreichbar. ein Teil der Reformen der Vereinten Nationen umge- setzt, leider aber nur ein Teil. Darauf will ich zunächst Jetzt aber ist der Iran am Zuge. Wir fordern Iran auf, einmal zu sprechen kommen. Sie, Herr von Klaeden, ha- auf der Basis dieses Angebotes wirklich ernsthafte Ver- ben den effektiven Multilateralismus angesprochen. handlungen aufzunehmen und natürlich während dieser Deshalb wundert mich, dass Sie die UN-Reform nicht Zeit die Urananreicherung zu suspendieren. Das ist – das erwähnt haben; denn in einem Hilferuf hat Kofi Annan muss man deutlich sagen – die letzte Chance. Wir bieten in diesen Tagen deutlich gemacht, dass die Vereinten Anerkennung und Sicherheit, einschließlich Sicherheits- Nationen als Ganzes scheitern, wenn nicht auch die übri- garantien. Falls der Iran das Angebot ablehnt, führt der gen Reformen angegangen werden, weil sie für die Weg in die Isolation. Das sind die Alternativen. neuen internationalen Herausforderungen nicht gewapp- Das bedeutet aber, dass wir dem Iran auch klar- net sind. machen müssen: Falls neue Verhandlungen abgelehnt werden, sind wir bereit, das gesamte Instrumentarium Die Vereinten Nationen stehen vor einem Moment politischer, finanzieller und ökonomischer Druckmittel der Wahrheit, anzuwenden, auch wenn das teilweise zu unseren Lasten so Kofi Annan. Er hat Recht. Die Selbstblockade, die gehen wird. Ohne diese Konsequenz bleibt das Angebot wir zurzeit bei der UN-Reform erleben, ist verheerend. wirkungslos. So notwendig die Reformen sind, der Beitragsboykott Der Fall Iran weist auf ein weiteres ernsthaftes Pro- der USA ist, so meine ich, ein völlig unakzeptables Mit- blem hin: Der Nichtverbreitungsvertrag ist inzwischen tel zu deren Durchsetzung. Damit wird man nicht weiter- fast wirkungslos. Wenn wir aber den Iran, Nordkorea (B) (D) kommen. und andere davon abhalten wollen, Nuklearwaffen zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN entwickeln, dann müssen auch die Atommächte ihre Ab- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der rüstungsverpflichtungen endlich ernst nehmen. SPD und der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Fatal ist auch – das ist die andere Seite des Konflikts – die momentane Reformverweigerung vieler Entwick- Herr Außenminister, Sie haben die Atommächte ge- lungsländer. mahnt. Aber auch hier ist, so glaube ich, Initiative ge- fragt. Gerade Deutschland – ich darf daran erinnern, dass Herr Außenminister, die Reformvorschläge liegen auf auch in unserem Land noch Atomwaffen stationiert sind – dem Tisch. Wir brauchen jetzt eine neue Initiative zur sollte gemeinsam mit anderen Nichtkernwaffenstaaten Umsetzung der Reformen. Ich fordere Sie auf: Werden eine politische Initiative zur grundlegenden Reform und Sie als Bundesregierung endlich sichtbar aktiv. Ein Stärkung des Nichtverbreitungsvertrages ergreifen. Scheitern der UN-Reformen wäre ein verheerendes Signal. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das zeigt: Deutsche Außenpolitik bleibt Friedenspoli- Der Einsatz für den effektiven Multilateralismus – darin tik; sie ist eingebunden in die Vereinten Nationen und sind wir uns alle einig – gehört zu den Grundsäulen der wir betreiben sie gemeinsam mit den europäischen Part- deutschen und der europäischen Außenpolitik. nern. Was heißt das für den Nahostkonflikt? Gerade in der zurzeit verfahrenen Situation müssen wir auch hier (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN multilateral, das heißt im Rahmen des Nahostquartetts, sowie bei Abgeordneten der SPD) alles versuchen, damit der Friedensprozess zwischen den Konfliktparteien wieder aufgenommen wird. Die Forde- Nirgendwo wird das deutlicher – das ist in der Tat ein rungen an die Hamas sind klar: Ohne Anerkennung des positives Beispiel – als im Atomstreit mit dem Iran. Von Existenzrechts Israels und ohne einen klaren Gewaltver- Anfang an haben die Europäer auf eine Verhandlungslö- zicht der Hamas ist auch für uns eine Kooperation mit sung gesetzt. Herr Außenminister, ich bin sehr froh, dass der neuen Regierung undenkbar; Sie den Kurs der alten Regierung fortsetzen und dass dem Iran jetzt ein neues Angebot der internationalen Ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN meinschaft vorgelegt wurde. sowie bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3595

Kerstin Müller (Köln) (A) denn die Sicherheit des Staates Israel ist – darin stimmen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) wir alle überein – eine historische Verpflichtung unserer Das Wort hat jetzt der Bundesminister Frank-Walter Außenpolitik. Dennoch war es überfällig, dass das Nah- Steinmeier. ostquartett am Samstag einen Hilfsfonds für die Palästi- nenser beschlossen hat, der unter Umgehung der Hamas- Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Regierung zumindest eine humanitäre Krise verhindern Auswärtigen: soll. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Der Vorschlag von Präsident Abbas, notfalls eine Herren! Reisende im deutschen Interesse sind wir alle, Volksabstimmung über die Gefangeneninitiative, das die einen mehr, die anderen weniger. Fast überall sind heißt, letztlich über eine Zweistaatenlösung, herbeizu- wir zu Gast bei Freunden. Ich jedenfalls stoße bei fast führen, ist, meine ich, ein sehr kluger Vorschlag, den wir allen meinen Gesprächspartnern im Augenblick auf den- und die EU unterstützen sollten. Wir brauchen eine selben Grundton. Deutschland ist ein international schnelle Rückkehr an den Verhandlungstisch, solange wichtiger und – wie ich finde – zunehmend gefragter Präsident Abbas noch das Vertrauen der palästinensi- Gesprächspartner, allerdings auch einer, an den hohe Er- schen Bevölkerung hat. Insofern ist das morgige erste wartungen gerichtet werden. Ich bin mir sicher, dass Sie Treffen zwischen Abbas und Premier Olmert in Jorda- fast alle – außer offensichtlich Frau Knoche – bei Ihren nien ein wichtiger Schritt. Auslandsreisen, bei Ihren Kontakten in den Gastländern, Ein Bürgerkrieg zwischen Hamas und Fatah und eine bei Ihren Besuchen in den Botschaften und Vertretungen weitere Eskalation mit Israel sind noch lange nicht abge- dort, die gleiche Botschaft erhalten. Weltweit wird unser wendet. Die EU braucht daher schnellstens eine Strate- Land als gewichtiger Akteur – gewichtig weil vernünftig gie, wie eine weitere Eskalation der Lage verhindert und effektiv multilateral aufgestellt – im internationalen werden kann. Die Isolation der Hamas ist richtig. Aber Staatengefüge wahrgenommen. sie ersetzt keine Politik. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Zum Schluss möchte ich noch einmal zum Thema bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Menschenrechte zurückkommen. Herr von Klaeden, es GRÜNEN) ist sicher gut, dass Sie hier noch einmal klargestellt ha- ben, dass Sie die Übergriffe auf Herrn Beck anlässlich Das ist keine falsche Wahrnehmung. Die Wahrneh- der Demonstration in Moskau bedauern. Aber ich meine mung ist zutreffend. Wir tragen in der Tat mehr Verant- – das muss ich hier sehr deutlich sagen –: Das reicht wortung. Gleichzeitig – ich finde das richtig und not- nicht. Man braucht sich nur die Äußerungen anzusehen, wendig – überlegen wir uns sehr genau, wo und wie wir die Herr Schockenhoff, Ihr Koordinator für deutsch-rus- diese Verantwortung übernehmen. Das hat die jüngste (B) sische Zusammenarbeit, gemacht hat. Zum grundrechts- Debatte über einen Einsatz im Kongo hier im Hohen (D) widrigen Verbot des Christopher Street Days in Moskau Hause durchaus eindrucksvoll gezeigt. Lange haben wir hat Herr Schockenhoff gesagt, man müsse „sich auf die miteinander darüber diskutiert. Lange haben wir das Für politische Ordnung eines Gastlandes einstellen“ und und Wider einer Beteiligung an einer solchen Mission dürfe nicht die russischen „Spielregeln“ unterlaufen. abgewogen. Ich glaube, eines wird man uns nicht vor- Den Einsatz des Kollegen Volker Beck für die Rechte werfen können: Leicht hat es sich hier in diesem Hohen der Lesben und Schwulen hat er sehr heftig kritisiert. Hause in der Tat niemand gemacht. Am Ende, nach lan- ger Diskussion, war sich eine übergroße Mehrheit des Ich will Sie nur einmal darauf aufmerksam machen: Bundestages einig, dass es richtig ist, die Wahlen im Wenn sich die Ostdeutschen an die politische Ordnung Kongo durch eine europäische Mission, an der wir betei- und die Spielregeln der DDR gehalten hätten, dann ligt sein werden, abzusichern. Hier stehen wir gemein- stünde die Mauer heute noch. Dann wäre man nicht sehr weit gekommen. sam in einer internationalen Pflicht: in der Pflicht, ge- meinsam mit unseren Partnern dafür zu sorgen, dass die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Stabilisierungsbemühungen der letzten Jahre, von denen sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- ich berichtet habe, nach der Wahl nicht in Gefahr ge- KEN) bracht werden. Russische NGOs wie zum Beispiel Memorial haben Meine Damen und Herren, wenn wir heute über den ausdrücklich die Teilnahme ausländischer Politiker an Haushalt des Auswärtigen Amtes diskutieren, so tun wir solchen Aktionen begrüßt. Sie haben noch einmal deut- das vor dem Hintergrund einer veränderten Situation, ei- lich gemacht: Die russische Bürokratie zwingt NGOs ner Situation, in der wir gewachsene internationale Ver- mit fadenscheinigen Demonstrationsverboten zu solchen antwortung tragen. Verantwortung heißt ganz praktisch nicht genehmigten Versammlungen. Sie, Herr – das ist in vielen Reden angeklungen –: höhere Ansprü- Schockenhoff, haben sich bisher leider nicht entschul- che an unsere Kreativität und Sachkompetenz, über- digt. Ich meine: Wer Menschenrechtsaktivisten vom si- durchschnittlicher Einsatz, aber auch angemessene Mit- cheren Deutschland aus verbal in die Kniekehlen tritt, telausstattung; darauf werde ich am Ende meiner der taugt nicht mehr als Russlandkoordinator. Ich meine, Ausführungen noch einmal zu sprechen kommen. der Rücktritt des Herrn Schockenhoff von seinem Amt als Koordinator ist überfällig, Herr Außenminister. Ich möchte kurz zwei Krisenherde ansprechen, ob- wohl wir in den vergangenen Wochen und Monaten be- Vielen Dank. reits häufig genug Anlass hatten, über diese Themen zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) reden. Beginnen sollte ich mit Afghanistan, weil diese 3596 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) Region in den allermeisten Reden, die hier gehalten wur- Seit Montag vergangener Woche gibt es einen inter- (C) den, eine Rolle gespielt hat. Zu Recht sind die Schwie- nationalen Finanzierungsmechanismus, der im Europäi- rigkeiten, die wir im Augenblick in Afghanistan haben, schen Rat vereinbart wurde. Frau Bundeskanzlerin, ich angesprochen worden. Aber wir sollten trotz aller bin froh, dass nach dem Europäischen Rat auch das Nah- Schwierigkeiten nicht vergessen, dass wir dort gemein- ostquartett diesem Finanzierungsmechanismus zuge- sam mit unseren internationalen Partnern ein Fundament stimmt hat. Jetzt bin ich zuversichtlich, dass es mithilfe für die Stabilisierung und den Aufbau eines demokrati- der Weltbank gelingen wird, der Not leidenden palästi- schen Staatswesens geschaffen haben. nensischen Bevölkerung tatsächlich und schnell zu hel- fen, Deutschland hat dazu wichtige Beiträge geleistet. Wir tragen seit kurzer Zeit die Verantwortung für das Regio- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nalkommando Nord. Wir haben für den Aufbau der der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Polizei in Afghanistan Verantwortung übernommen. GRÜNEN) Darüber hinaus leiten wir zwei regionale Wiederaufbau- teams. Deshalb glaube ich, dass wir – damit meine ich und zwar – das betone ich – unter Umgehung der auch dieses Haus – selbstbewusst feststellen können: Hamas-Regierung. Ich weiß, dass viele – vielleicht auch Wir haben in den letzten Monaten und Jahren vieles er- der eine oder andere hier im Hause – sich in dieser Frage reicht. mehr Flexibilität wünschen. Ich halte all denjenigen, die unsere restriktive Haltung gegenüber der Hamas kritisch Das sage ich auch vor dem Hintergrund einer sich sehen, entgegen: Wir haben eine klare Verantwortung – verändernden, weil angespannten Sicherheitslage in Af- aus unserer Geschichte – gegenüber Israel. Unser Platz ghanistan; auch das darf nicht verschwiegen werden. kann daher nie an der Seite derjenigen sein, die das Exis- Das, was dort jetzt geschieht, verdeutlicht im Grunde ge- tenzrecht Israels infrage stellen. nommen nur das, was wir in unseren Analysen der letz- ten Jahre immer wieder festgestellt haben: Das Land ist (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP von staatlicher Normalität noch weit entfernt. Natürlich und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ist unsere Mission nicht ohne Risiko. Aber genau des- Ich kann bestätigen, dass das drängendste politische halb sind wir, sowohl mit zivilen als auch mit militäri- Problem der Konflikt um das iranische Atompro- schen Kräften, so prominent vor Ort. Ich jedenfalls bin gramm ist. Sie wissen, dass wir, die EU-3, gemeinsam fest davon überzeugt – ich bin froh, dass das auch andere mit Russland, China und den USA dem Iran ein umfas- festgestellt haben –: Wir dürfen in dieser unserer Unter- sendes Angebot zur Kooperation vorgelegt haben. Die- stützung Afghanistans nicht nachlassen. (B) ses Kooperationsangebot eröffnet dem Iran Perspekti- (D) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem ven; wie ich finde, sogar weit reichende Perspektiven. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Sie wissen ebenso, dass eine Antwort bis zum heutigen geordneten der FDP) Tage leider nicht vorliegt. Wir verfolgen natürlich mit großer Aufmerksamkeit das, was gegenwärtig an Äuße- Meine zweite Bemerkung bezieht sich auf den Nahen rungen aus der iranischen Führung zu hören ist. Wir sind Osten: Die Lage bleibt kompliziert. Die Hamas-Regie- im Augenblick zufrieden – müssen zufrieden damit sein –, rung verweigert sich den Kriterien – sie sind heute viele dass die iranische Führung und viele Beteiligte sich da- Male genannt worden –, die das Nahostquartett für eine hin gehend geäußert haben, dass man dieses Angebot konstruktive Zusammenarbeit mit der dortigen Regie- ernsthaft prüfen will. Wie ich immer öffentlich gesagt rung genannt hat. Gleichzeitig verschlechtert sich die Si- habe: Das rechtfertigt noch keinen Optimismus. Aber cherheitslage in den palästinensischen Gebieten ganz er- ich kenne meinen iranischen Amtskollegen, Herrn kennbar. Ich kann nur hoffen, dass, wie es Frau Müller Mottaki, der am Wochenende wieder hier in Berlin sein zum Ausdruck gebracht hat, die Initiative von Mahmud und ein Gespräch mit mir führen wird, aus früheren Be- Abbas hilft, den innenpolitischen Stillstand, den es ganz gegnungen. Deshalb sage ich ausdrücklich: Ich bin froh, ohne Zweifel gibt, aufzulösen und die vorherrschende dass er dieses Angebot öffentlich zumindest als einen Gewalt einzudämmen. Das habe ich dem Präsidenten der entscheidenden Schritt nach vorn bezeichnet hat. Ich Palästinensischen Autonomiebehörde am vergangenen hoffe natürlich, dass sich in Teheran am Ende der inter- Freitag in einem ausführlichen Telefongespräch gesagt nen Beratungen die Kräfte der Vernunft durchsetzen. und ihm unsere Unterstützung für diesen Prozess zugesi- Wir hoffen, dass der Iran die Chancen erkennt, die in chert. diesem Angebot liegen. Das alles hilft jedoch nicht, wenn wir gleichzeitig zur Dokumentiert wird in dem Verfahren, wie wir zu die- Kenntnis nehmen müssen, dass sich die humanitäre Lage sem Angebot gekommen sind, aber auch ein Zweites: in den palästinensischen Gebieten verschlechtert. Wie Die USA haben in Gesprächen mit den Europäern ihre Sie wissen, haben wir im Kreise der EU-Außenminister Bereitschaft bekundet, an diesen Verhandlungen teilzu- in den letzten Wochen intensiv nach Wegen gesucht, wie nehmen, und es besteht die begründete Hoffnung, dass wir den Menschen in den palästinensischen Gebieten Russland und China diesem Beispiel folgen. Das allein konkret helfen können: bei der Nahrungsmittelversor- ist ein großer Erfolg der internationalen Politik und wir gung, bei der Versorgung mit Wasser und Energie und dürfen uns freuen, dass wir hier in vorderster Reihe mit- letztlich auch bei der Versorgung von Kranken. gearbeitet haben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3597

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie einen Bericht vorzulegen. Mit diesem Bericht wird na- (C) der Abg. Kerstin Müller [Köln] [BÜND- türlich erwartet, dass wir, wie es heißt, einen tragfähigen NIS 90/DIE GRÜNEN]) Vorschlag für die Fortsetzung des Verfassungsprozesses entwickeln. Ich hoffe, dass uns das gelingt, aber ich kann Wenn ich noch einen Nachsatz sagen darf: Aus meiner Ihnen auch sagen: Das wird nicht allein von der Präsi- Sicht ist das auch ein Erfolg für die europäische Außen- dentschaft, sondern auch von der Bereitschaft vieler politik. Der Hohe Repräsentant der EU, Solana, war als wichtiger Mitgliedstaaten abhängen, an diesem Prozess fest eingebundener, glaubwürdiger und akzeptierter Part- mitzuwirken. ner an den Gesprächen von Anfang an beteiligt. Er hat als Vertreter aller sechs Staaten, die in Wien zusammen Ich spreche von der Präsidentschaft aber auch, weil verhandelt haben, das Angebot nach Teheran überbracht. ich sagen will, dass wir in erster Linie natürlich inhalt- Das ist letztlich auch ein Beweis für das Vertrauen in die lich gefordert sein werden. Das ist aber nicht alles. In ei- gemeinsame europäische Außenpolitik, die wir viel- ner groß gewordenen Europäischen Union wird die euro- leicht etwas selbstbewusster vertreten sollten, als wir das päische Ratspräsidentschaft auch unter protokollarischen in der Vergangenheit getan haben. und logistischen Gesichtspunkten eine Herausforderung sein. Ich sage das deshalb, weil das einerseits Last, ande- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie rerseits aber zugleich Chance ist. Ich finde, wenn wir er- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE kennen, wie es bei Großveranstaltungen gelingen kann, GRÜNEN) das äußere Erscheinungsbild eines Landes zu prägen, Der westliche Balkan wird uns weiterhin beschäfti- dann müssen wir auch zusehen, wie dies nicht nur bei ei- gen, gar keine Frage: Es gibt viele ungelöste Probleme, ner Fußballweltmeisterschaft, sondern auch während denen wir uns weiterhin widmen müssen, ganz zuvor- einer Ratspräsidentschaft gelingen kann. Ich darf hinzu- derst natürlich die Klärung des Status des Kosovo. Ich fügen: Österreich hat das während seiner Ratspräsident- will dazu zum gegenwärtigen Zeitpunkt gar nichts weiter schaft in geradezu vorbildlicher Art und Weise gezeigt. sagen, weil wir diese Frage hier oft genug erörtert haben. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Martti Ahtisaari hält an seinem Zeitplan fest, er hat die bei Abgeordneten der FDP) beteiligten Parteien in Wien beieinander. Zur Kenntnis nehmen müssen wir allerdings, dass die Positionen noch Meine Damen und Herren, einige wenige abschlie- weit auseinander liegen. Ich greife dieses Stichwort des- ßende Bemerkungen zum Haushalt selbst. Ich stehe zu halb auf, um auf eine Entwicklung hinzuweisen, die sich den Konsolidierungsbemühungen der Bundesregierung. in den letzten beiden Wochen ergeben hat, eine Entwick- Deshalb sage ich auch in Richtung des Bundesfinanz- lung, deren Brisanz auch in anderen europäischen ministeriums: Wir haben unsere Einsparungen gemäß (B) Hauptstädten stärker erkannt wird: Für Serbien häufen dem Koalitionsvertrag erbracht. Es ist gesagt worden: (D) sich in diesem Jahr nicht leicht zu verkraftende Entwick- Dieser Haushalt entsteht und steht unter etwas unge- lungen: Montenegro hat sich von Serbien losgelöst, Ser- wöhnlichen politischen Rahmenbedingungen. Er ist des- bien muss befürchten, demnächst mit einer Klärung des halb eher so etwas wie ein Übergangshaushalt. Dies ist Status des Kosovo konfrontiert zu werden, und die Ver- für uns mit der Möglichkeit eines knapp 4-prozentigen handlungen mit der EU sind ausgesetzt – keine einfache Zuwachses verbunden. Herr Mark hat darauf hingewie- Situation. Unter den europäischen Außenministern ist sen: Das gleicht den Mehrbedarf bei den Pflichtbeiträgen besprochen worden, dass wir uns intensiver bemühen aus. Lothar, neben den vielen anderen Dingen, die du er- müssen, auch Serbien auf dem Weg nach Europa zu hal- wähnt hast, möchte ich zwei Erfolge herausheben, näm- ten; lich zum einen die humanitäre Hilfe mit einer Absiche- rung in der Größenordnung von 50 Millionen Euro und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zum anderen zumindest in den Bereichen Wissenschafts- denn eines ist bei all den Bemühungen um den westli- austausch und Stipendien verbesserte Möglichkeiten im chen Balkan ja klar: Ohne Serbien wird es keine Stabili- Bereich der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. tät auf dem Balkan geben. Insofern müssen wir diese Be- Wenn meine Redezeit jetzt nicht vorbei wäre, dann mühungen bei aller berechtigten Kritik gegenüber der würde ich jetzt anknüpfend an die Fußballweltmeister- Politik in Belgrad fortsetzen. schaft sagen: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (Jürgen Koppelin [FDP]: Sie haben keine Be- bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- grenzung! – Otto Fricke [FDP]: Sie können NISSES 90/DIE GRÜNEN) weiter reden! Sie haben keine Begrenzung!) Meine Damen und Herren, einige wenige Sätze zur Mit Blick auf die gelungene neue Präsentation unseres deutschen Ratspräsidentschaft. Auch hier schauen alle Landes müssen wir gemeinsam miteinander auch eine mit großen Erwartungen auf uns. Die Erwartungen an neue Wertschätzung gegenüber der auswärtigen Kultur- unsere Präsidentschaft sind groß. Es gibt viele Rat- und Bildungspolitik auf den Weg bringen, und zwar schläge dafür, wie wir diese Präsidentschaft anlegen nicht eine, die wir nur in Sonntagsreden formulieren, können. Reden wir aber nicht darum herum: Auch dann, sondern eine, die sich in den Haushaltsansätzen wider- wenn wir uns darum bemühen, die Verfassung nicht so spiegelt. sehr in den Mittelpunkt zu stellen, wird sie ein wichtiger Punkt unserer Präsidentschaft sein. Sie wissen, dass der (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Rat Deutschland beauftragt hat, Mitte nächsten Jahres und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – 3598 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: helfen soll, Kontakte ins Ausland zu knüpfen, dann ge- (C) Sie sind an der Regierung! Voran, Herr Minis- hört es dazu, dass ich einen vernünftigen Etat habe und ter!) dass vor allem die Botschaften personell entsprechend ausgestattet sind. Meinen Dank an diejenigen, die im Parlament für den Haushalt 2006 zuständig waren – Herrn Koppelin als Ich will das einmal deutlich machen. Als es darum Hauptberichterstatter und Herrn Frankenhausen, Herrn ging, diesen Haushalt abzuspecken, waren wir alle ohne Mark, Herrn Bonde und Herrn Leutert als Ausnahme dabei. Seit 1993 wurde allein bei den Bot- Mitberichterstatter –, verbinde ich deshalb mit der An- schaften die Zahl der Beschäftigten um 2 000 reduziert. kündigung und der Bitte, bei der Diskussion über den Der Rest ist Substanz. Mehr geht nicht. Das ist insge- Haushalt 2007 so etwas wie eine kleine Trendwende bei samt die Auffassung der Berichterstatter. Deswegen ha- den Ansätzen für den Bereich der auswärtigen Kultur- ben wir schon vor längerer Zeit das Personal des und Bildungspolitik hinzubekommen. Ich danke Ihnen Auswärtigen Amtes von allgemeinen Kürzungen ausge- schon jetzt für Ihre Bereitschaft. nommen. Vielen Dank. Ich möchte an dieser Stelle – ich glaube, das tue ich für alle Berichterstatter – nicht nur den Mitarbeiterinnen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) und Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes, sondern vor allem auch unserem Personal an den Botschaften überall Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dort, wo es seinen Dienst tut, ausdrücklich danken. Herr Bundesminister Steinmeier, es ist zwar einerseits richtig, dass Sie aufgrund der Verfassung jederzeit unbe- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD grenzt Rederecht haben. Aber es ist andererseits üblich, und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sich in einem gewissen Rahmen an die Vereinbarungen Wir haben große Erwartungen, wenn wir Politik ma- der Geschäftsführer der Fraktionen zu halten, weil dann, chen. Jedes Mal, wenn es darauf ankommt – bei dem wenn Sie länger reden, dies auf Kosten der Redezeit der Tsunami haben wir es erlebt und erleben das auch bei an- Kollegen aus der eigenen Fraktion geschieht. deren Katastrophen –, merken wir, welche Leistungsfä- (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Die FDP higkeit in den Botschaften steckt, obwohl sie teilweise wollte doch spendabel sein!) personell ausgesprochen dünn besetzt sind. Sie leisten eine hervorragende Arbeit, ohne dabei im Dienst auf die Ich erteile als nächstem Redner das Wort dem Kolle- Uhr zu schauen. Wir müssen uns irgendwann einmal gen Jürgen Koppelin von der FDP-Fraktion. darüber unterhalten – wir haben hier eine Fürsorge- (B) pflicht und Verantwortung –, ob unsere Botschaften in (D) Jürgen Koppelin (FDP): dieser Weise noch arbeiten können. Das trifft nicht nur Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! auf das Personal, sondern auch auf die finanzielle Situa- Herr Minister, ich will auch Ihnen zuerst einmal Dank tion zu. Ich finde, so geht es auf Dauer nicht mehr wei- sagen. Sie haben eben die Berichterstatter erwähnt. Ich ter. bin in dieser Legislaturperiode Hauptberichterstatter für (Beifall des Abg. Harald Leibrecht [FDP]) den Etat 05, Auswärtiges Amt. Ich will mich ausdrück- lich bei Ihnen und vor allem bei den Mitarbeiterinnen Wenn wir für die Botschaften gute Leute bekommen und Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes für die gute wollen, dann muss sich ein Minister darum kümmern, Zusammenarbeit bedanken. was mit den Ehepartnern derjenigen, die ins Ausland ge- hen, passiert, die keinen Job haben. Auch bei der Besol- Da Sie uns Berichterstatter erwähnt haben, will ich dung wird gekürzt. Dadurch wird der Dienst im Auswär- hier ausdrücklich sagen, dass wir als Berichterstatter- tigen Amt bei den Botschaften immer unattraktiver. Das gruppe ein ausgesprochen gutes Team sind. Sie werden wird dazu führen, dass wir kaum noch gute Leute be- – das haben Sie erlebt – kaum eine Unterscheidung zwi- kommen. Insofern ist es wichtig, sich darum zu küm- schen Regierung und Opposition finden. Das ändert mern, an den Botschaften zum Beispiel eine Jobbörse nichts daran, dass natürlich jede Opposition versucht, einzurichten, damit die Ehepartner die Möglichkeit be- Akzente zu setzen. Das gilt ebenfalls für Ihren Haushalt. kommen, bei deutschen Firmen, die im Ausland tätig Auch bei den Koalitionsabgeordneten hat jeder sein Ste- sind, eine Stelle zu finden. Das sollten wir langfristig an- ckenpferd; das ist völlig in Ordnung. gehen. Das halte ich für dringend erforderlich. Als Oppositionsabgeordneter sage ich: Wir suchen Ich will noch einen weiteren Bereich ansprechen, um zwar in jedem Etat nach Einsparmöglichkeiten. Der Etat den Sie sich als Minister kümmern sollten; dabei werden des Auswärtigen Amtes jedoch hat kaum Speck auf den wir Sie gerne unterstützen. Ich staune immer über das Rippen. Im Gegenteil: Nach meiner Auffassung – das Tempo, wie hier am Potsdamer Platz die US-Botschaft sage ich ganz deutlich – ist er, wenn man ganz ehrlich entsteht. ist, unterfinanziert. Für einen Minister gehört es dazu, sich bei den Haushaltsberatungen nicht mit globalen (Detlef Dzembritzki [SPD]: Pariser Platz!) Minderausgaben abspeisen zu lassen, die die Haushälter – Entschuldigung. Ich nehme die Korrektur entgegen. erbringen müssen. Vielmehr müssen Sie dem Finanzmi- nister sagen: So geht das nicht. Wenn ich Außenpolitik (Detlef Dzembritzki [SPD]: Potsdam oder machen und über die Botschaften unserer Wirtschaft Paris?) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3599

Jürgen Koppelin (A) – Das ist nicht so entscheidend. Es geht um den Bau die- müssen wir die EU meines Erachtens in vielerlei Hin- (C) ser Botschaft. Manchmal wünsche ich mir, dass die Bau- sicht wieder vom Kopf auf die Füße stellen. maßnahmen des Bundes vor allem im Ausland in einem Das Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ wurde ähnlichen Tempo stattfänden, anstatt Behörden zwi- heute schon vielfach erwähnt. Von Deutschland geht ein schenzuschalten, die – das ist mein Eindruck – blockie- positives Bild um die Welt. Wir sehen allenthalben die ren, sodass sich unsere Botschaften noch mit den Behör- schwarz-rot-goldenen Flaggen. Sie sind von den meisten den herumschlagen müssen. Es wäre gut, sich auch völlig unpolitisch gemeint: nicht als Symbol der Einheit, darum zu kümmern, Herr Außenminister. der Demokratie oder der sozialen Marktwirtschaft, son- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dern als kleines Zeichen der deutschen Identität. der CDU/CSU und der SPD) Wenn wir im Zusammenhang mit der Wertegemein- Dadurch könnten wir auch viel Geld sparen. Das ist schaft von europäischer Identität sprechen, dann ist, meine Meinung. glaube ich, die deutsche Identität die Basis dafür. Inso- fern bedauere ich das, was zurzeit in Sachsen bei den Ich habe mich auch deswegen zu Wort gemeldet, um Jungen Linken passiert. Dort ist von einer linken Abge- – damit spreche ich sicherlich für alle Berichterstatter – ordneten zu hören, dass die Flaggen von den Straßen zu unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an den Bot- holen seien und dass sie gegen T-Shirts mit Antinaziauf- schaften herzlich zu danken. Sie sollen wissen, dass sie drucken getauscht werden könnten. sich auf uns verlassen können. Wir können natürlich kein Geld drucken. Deutschland hat mit der Fußballweltmeisterschaft ein positives Bild in die Welt getragen. Wir haben aber auch (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) in den Jahren davor mit unserem Engagement für den Aufbau der Europäischen Union und die Integration Deshalb sind wir darauf angewiesen, dass der Minister neuer Mitgliedstaaten ein positives Bild in die Welt ge- erfolgreich mit dem Bundesfinanzminister verhandelt. tragen. Herzlichen Dank für Ihre Geduld. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]) der CDU/CSU – Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Nun sind wir an einem Punkt angelangt, an dem Das ist die neue Europapolitik der FDP!) Deutschland sein Ansehen und seinen Einfluss dazu nut- zen muss, die EU wieder auf den richtigen Weg zu brin- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gen. Es gibt jede Menge Baustellen: die Erweiterung der (B) Das Wort hat jetzt die Kollegin Veronika Bellmann Europäischen Union, Wachstum und Beschäftigung, der (D) von der CDU/CSU-Fraktion. Verfassungsvertrag, die Finanzierung, die Energiepoli- tik und die Europäische Sicherheits- und Verteidigungs- politik. Veronika Bellmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Lassen Sie mich zwei Punkte herausgreifen. Zunächst Herren! Die Debatte über den Haushalt des Auswärtigen zur Finanzierung: Der Kampf um den neuen EU-Haus- Amtes bietet traditionell auch die Möglichkeit zu einigen halt für die Jahre 2007 bis 2013 hat gezeigt, dass es auch grundsätzlichen Ausführungen zum Thema EU. Als in Zukunft nicht leichter wird, ein angemessenes Budget Sächsin aus dem Erzgebirge – der neuen geografischen zusammenzubekommen. Obgleich die Einigung für den Mitte der EU nach der Osterweiterung – tue ich das sehr neuen Förderungszeitraum gelungen ist, wird die finni- gerne. sche Ratspräsidentschaft noch Einzelheiten auszuhan- deln haben. Denn wir haben immerhin über 40 Politik- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne programme, bei denen wir uns keinen Aufschub mehr Kastner) leisten dürfen. Das gilt vor allem für die Bereiche Struk- Insbesondere nach dem Ratstreffen vom 15. bis turpolitik, Forschung und Ausbildung. 16. Juni dieses Jahres stellt sich die Frage, ob Europa ge- Gerade als ostdeutsche Abgeordnete will ich aber auf rettet werden will, kann oder soll. Die Antwort ist: Es einen positiven Aspekt hinweisen, den die EU-Förde- muss gerettet werden; denn es gibt keine Alternative zur rung mit sich gebracht hat. Bei der EU-Strukturförde- Wirtschafts- und Wertegemeinschaft der EU. Es gibt erst rung haben wir in hohem Maße von den Haushaltsmit- recht keine Alternative zu der seit fast 60 Jahren beste- teln profitiert, die die Mitgliedstaaten jährlich zur henden Friedensgemeinschaft der EU. Verfügung gestellt haben. Ich nenne nur ein Beispiel aus (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der Solarindustrie. In meinem Wahlkreis ist die deutsche Solar-World angesiedelt. In Sachsen-Anhalt ist Q-Cells Angesichts der Globalisierung brauchen wir die Wirt- vertreten. Diese Solarfirmen sind bekanntlich mittler- schaftsgemeinschaft; denn nur sie verleiht uns Stärke. weile börsennotiert. Sie haben in den 90er-Jahren mit Ich denke zum Beispiel an die Durchsetzungsfähigkeit in vier bis zehn Arbeitsplätzen begonnen. Die Zahl der der Welthandelsorganisation, bei dem Partnerschaftsab- Arbeitsplätze ist inzwischen – auch dank der millionen- kommen mit Russland oder demnächst bei dem Trans- schweren EU-Förderung – auf 700 bis 1 000 Arbeits- atlantischen Partnerschaftsabkommen mit den USA. Wir plätze angewachsen. Das zeigt doch, wie man eine sinn- brauchen diese Stärke. Aber um sie wiederzugewinnen, voll angewendete EU-Förderung in Beschäftigung 3600 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Veronika Bellmann (A) (Markus Löning [FDP]: Bringen die auch werden. Dann kann es das Diplom geben bzw. die Auf- (C) Geld?) nahme in die EU erfolgen. Die besten Beispiele bieten zurzeit Bulgarien und Rumänien, deren Aufnahme in die – auch in Geld, Herr Löning – ummünzen kann. EU ansteht. Sie werden alle Hände voll zu tun haben, bis Wir müssen dennoch über eine Neuordnung der zur Vorlage des Fortschrittsberichts im Herbst die Bei- Finanzierung nachdenken. Ich meine damit nicht die trittskriterien zu erfüllen. Erst dann sind sie würdig, in unsägliche Debatte über die Einführung einer EU- die EU aufgenommen zu werden. Steuer, sondern die solide Finanzpolitik der EU, die na- Die Bundesregierung übernimmt mit der Ratspräsi- türlich auf der soliden Finanzpolitik der einzelnen Mit- dentschaft 2007 viel Verantwortung. Alles, was von uns gliedstaaten basiert und davon nicht abgekoppelt werden erwartet wird, können wir, glaube ich, gar nicht schul- kann. Daher ist die Forderung der Europäischen Kom- tern. Aber am wichtigsten ist – gerade in Bezug auf den mission nach mehr Transparenz bei der Strukturförde- Verfassungsvertrag – das Thema Bürgernähe. Mehr In- rung richtig. Dort gibt es erhebliche Informationsdefi- formation und mehr Kommunikation mit den Bürgern zite. So haben wir bislang kaum überblicken können, ob sind notwendig, wenn mehr Identität entstehen soll. Wir mit EU-Mitteln zum Beispiel die Arbeitsplatzverlage- brauchen mehr Transparenz und eine stärkere demokra- rung von einem Staat in einen anderen gefördert worden tische Legitimation. ist.

(Markus Löning [FDP]: Die Bundesregierung Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sagt, das gibt es nicht!) Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. Insofern muss es dort mehr Information und Kommuni- kation sowie Kontrolle geben. Veronika Bellmann (CDU/CSU): Der Vorschlag Frankreichs ist zu begrüßen, die Agrar- Ich komme zum Schluss. politik zu vereinfachen. Immerhin ist der Agrarhaushalt Es sind viele Aufgaben erwähnt worden, die wir in mit einem Anteil von 40 Prozent am EU-Gesamthaus- Zukunft im Hinblick auf die EU zu erledigen haben. halt ein großer Posten. Hierauf bezogen darf ich Mahatma Gandhi zitieren, der Die Kanzlerin betont ständig die Themen Deregulie- einmal gesagt hat: „Ohne Tat bleibt jeder Gedanke rung und Entbürokratisierung und übt Aufgabenkritik. blass.“ Das alles führt zu Einsparungen. Man darf nicht verges- Herzlichen Dank. sen: 30 Prozent der EU-Kosten sind Verwaltungskosten. Die hierfür verwendeten Mittel kommen nur in einem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (B) (D) sehr geringen Umfang dem Bürger zugute. Ich glaube, neten der SPD) dass wir auf diesem Gebiet hart in der Sache bleiben müssen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Michael Leutert von (Beifall bei der CDU/CSU) der Fraktion Die Linke. Ich komme zur Erweiterungspolitik. Auch der neuen (Beifall bei der LINKEN) Europäischen Kommission ist nicht verborgen geblie- ben, dass eine gewisse Erweiterungsmüdigkeit herrscht. Es gibt eine Abkehr vom bisherigen Erweiterungsauto- Michael Leutert (DIE LINKE): matismus; das ist zu begrüßen. Wir müssen aber das, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! was wir in Zukunft in Bezug auf die Erweiterung ma- Seit geraumer Zeit gehört der Koalitionsvertrag zu mei- chen wollen, neu definieren. Das betrifft zum einen den nen Lieblingslektüren. politischen und den wirtschaftlichen Charakter der (Zuruf von der CDU/CSU: Bravo!) Union und zum anderen die geografische Ausbreitung und den kulturhistorischen Bereich. Die Forderung des Ich darf kurz daraus zitieren: Europäischen Parlaments an die EU-Kommission, einen Vertraglich abgesicherte Nichtverbreitung, Abrüs- Zeitplan für die Neukonzeption der Erweiterungsstrate- tung und Rüstungskontrolle sind zentrale Anliegen gie vorzulegen, und die Forderung, dass zukünftig der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Wir Kandidatenländer bereits vor der Aufnahme von Ver- halten an dem langfristigen Ziel der vollständigen handlungen die EU-Grundsätze – Demokratie, Men- Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen fest. schenrechte und Rechtsstaatlichkeit – verwirklichen sol- len, sind unbedingt zu begrüßen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Gut ge- Ich möchte an dieser Stelle eine Metapher des serbi- lesen!) schen Außenministers Vuk Drašković aufgreifen, die er kürzlich bei seinem Parisbesuch vortrug: Wenn wir das Diesen Punkt können auch wir als Linke unterschreiben Prinzip so fortsetzen wie bisher, dann ist das so, als und unterstützen. wenn ein Student zu seinem Professor geht und sagt, gib (Beifall bei der LINKEN) mir das Diplom, ich lerne dann schon. So darf es bei der Erweiterung nicht zugehen. Zuerst muss gelernt und Nun gibt es im Einzelplan des Auswärtigen Amtes ei- müssen die Aufgaben bzw. die Beitrittskriterien erfüllt nen Titel, in dem auch Mittel zur Minenbeseitigung be- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3601

Michael Leutert (A) reitgestellt werden. Leider muss man feststellen, dass trag zuzustimmen, die Mittel für die Minenbeseitigung (C) diese Gelder von ehemals 12 Millionen Euro auf jetzt zu verdoppeln, nämlich auf 16 Millionen Euro zu erhö- knapp 9 Millionen Euro abgeschmolzen werden. Zum hen. Wir alle haben also heute die Chance, unseren Wor- Vergleich dazu – um die Dimension deutlich zu machen –: ten Taten folgen zu lassen. Der Verteidigungsetat mit einem Volumen von fast 24 Milliarden Euro – das ist der zweitgrößte Etat – und Danke. mit etwas mehr als 9 Prozent des Gesamthaushalts ent- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten hält ein Extrakapitel – ich habe das hier schon einmal an des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) anderer Stelle gesagt – mit der Bezeichnung „Wehrfor- schung, wehrtechnische und sonstige militärische Ent- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wicklung und Erprobung“. Allein dieses Kapitel umfasst Nächster Redner ist der Kollege Gert Weisskirchen, circa 1,1 Milliarden Euro. Das sind 0,4 Prozent des Ge- SPD-Fraktion. samthaushalts. Der Einzelplan 05 umfasst lediglich das Doppelte, 0,88 Prozent des Gesamthaushalts. Die Mittel (Beifall bei der SPD) in diesem Kapitel sind natürlich um 153 Millionen Euro aufgestockt worden. Hier scheinen die Schwerpunktset- Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): zungen etwas verfehlt zu sein. Haushaltsplan und Koali- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tionsvertrag passen an dem Punkt meines Erachtens Der Außenminister hat den Krisenbogen beschrieben, nicht so ganz zusammen. der uns direkt berührt, in dessen räumlicher Nähe wir le- (Beifall bei der LINKEN) ben: die arabische Welt. Sie befindet sich in einem fun- damentalen Wandel und in einem Umbruch, der viel tie- Auch die CDU/CSU war schon einmal Oppositions- fer geht als das, was wir Europäer an Umbrüchen in den partei. letzten 15 Jahren erlebt haben. (Markus Löning [FDP]: Das merkt man gar Wenn man sich die Region genau anschaut, dann wird nicht mehr!) auch klar, warum es so einen dramatischen Unterschied Im März 2002 stellte die CDU/CSU-Fraktion einen An- gibt zwischen den Transformationsprozessen, die in Eu- trag im Bundestag, auch von Frau Merkel unterzeichnet, ropa stattgefunden haben und noch stattfinden, und dem, in dem es unter anderem heißt – ich zitiere –: was der arabischen Welt bevorsteht. Dort gibt es keinen Anker, an dem sich die Länder festhalten können. An- Jahr für Jahr sind mehrere tausend zivile Minenop- ders war es bei den Ländern, die damals den Wandel in fer zu beklagen. In allen Teilen der Welt gibt es Osteuropa durchgesetzt haben. Sie hatten einen Anker: (B) Länder, in denen Minen in einer so großen Menge Sie konnten in die Europäische Union, nach Westen und (D) verlegt wurden, dass sie eine immense Gefahr für sich dort erstens in Bezug auf Stabilität, Konsolidierung die Bevölkerung darstellen ... und Demokratie und zweitens in Richtung ökonomischer Sie kommt zu der Schlussfolgerung: Modernisierung orientieren. So konnten sie den Versuch unternehmen, zivilisatorische Nachholprozesse zu orga- Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie- nisieren. Das ist der Unterschied zur arabischen Welt. rung auf, ... den nationalen Beitrag für Minenräum- projekte und die Minenopferhilfe signifikant zu er- Unsere Aufgabe ist es, der arabischen Welt in dieser höhen. Situation, die zurzeit erlebt wird und die in Angst, zum Teil in Verzweiflung mündet, eine vernünftige, kluge Damals war ein Betrag von 9,5 Millionen Euro einge- Antwort zu geben. Die auswärtige Kultur- und Bildungs- stellt. Sie sprachen von signifikanter Erhöhung und nicht politik, der Islamdialog ist eine solche Antwort. Ich bin von Kürzung in diesem Bereich. Ich frage Sie einfach, froh darüber, dass der Außenminister am Schluss seiner ob Sie mir sagen können, warum Sie jetzt, wo Sie die Rede deutlich gemacht hat, dass die auswärtige Kultur- Chance haben, das durchzusetzen, was Sie eigentlich politik einer der ganz zentralen Punkte – mit Blick auf wollten, das nicht in die Tat umsetzen. das, was künftig zu tun ist, vielleicht sogar das Herz- Ich glaube auch nicht, dass das am Widerstand der stück – unserer Außenpolitik ist. Ich bin froh darüber, SPD liegt. Immerhin meinte der ehemalige Bundestags- dass das in Ihren Händen ist. Diese Politik wird fortge- präsident Wolfgang Thierse – Zitat –: setzt und das Parlament wird Sie dabei unterstützen. Über 30 000 Menschen kommen jährlich durch Mi- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie nen ums Leben oder werden durch sie schwer ver- der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜND- letzt. Sie treffen ihre Opfer unvorbereitet und völlig NIS 90/DIE GRÜNEN]) wahllos auf grausamste Weise. Es muss alles getan Die Angst, die man in der arabischen Welt erleben werden, um diesem Wahnsinn ein Ende zu machen. kann, sucht sich Fluchtwege. Um nur ein Beispiel zu Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann also hier nennen: Seit 1976 ist die Hälfte aller Ärztinnen und im Hohen Hause eine breite Mehrheit feststellen – die Ärzte – vorwiegend Ärzte –, die in der arabischen Welt FDP und die Grünen haben ähnlich gelagerte Anträge in ausgebildet worden sind, ausgewandert, in die USA oder den letzten Legislaturperioden gestellt –, was die Mittel in die Europäische Union. Die Angst verlangt aber eine für Minenbeseitigung betrifft. Deshalb kann ich Sie nur andere Antwort. Diese Antwort zu finden, dazu können darum bitten, unserem heute vorliegenden Änderungsan- wir etwas beitragen. Wir können die entwickelten 3602 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (A) Instrumente verstärken und, wo es nötig ist, zuspitzen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) Zum Beispiel halte ich es für zwingend erforderlich, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE dass der Islamdialog an folgendem Punkt ergänzt und GRÜNEN) erweitert wird, Herr Außenminister: Wir sollten nicht al- leine – was wichtig genug ist – mit den politischen Ak- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: teuren, etwa Parlamentariern, in diesen Regionen Kon- Nächster Redner ist der Kollege Rainder Steenblock, takte pflegen und ausbauen, sondern darüber hinaus den Bündnis 90/Die Grünen. Jugendlichen in dieser Region die Chance zu einer Be- gegnung mit Jugendlichen der Europäischen Union ge- ben. Ich glaube, dass das eines der ganz zentralen neuen Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Instrumente sein muss. Damit ist schon begonnen wor- NEN): den, aber das muss ausgebaut und verstärkt werden. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Denn die Begegnung zwischen jungen Menschen ist Teil Sehr verehrter Herr Außenminister, Sie haben im außen- dessen, wonach die islamische Welt – das ist einer der politischen Teil Ihrer Rede eine ganze Reihe von Fragen Gründe, warum sie sich gegenwärtig in Aufruhr befindet – angeschnitten, in denen Sie in diesem Hause über die geradezu sehnsüchtig sucht: Anerkennung und Achtung Regierungsfraktionen hinaus sicherlich eine breite Un- ihrer eigenen Religion. terstützung haben werden. Ich glaube, an diesem Punkt kann der Islamdialog ein Das Wenige, das Sie heute zu Europa gesagt haben, ungeheuer vernünftiges, kluges Instrument sein, das un- hat mich doch sehr enttäuscht. Sie haben im Grunde nur kurz auf die Frage des Verfassungsvertrages hingewie- verzichtbar ist und an dem wir weiterarbeiten müssen, sen, so wie er auf dem letzten Rat behandelt worden ist. – liebe Kolleginnen und Kollegen. Sehr geehrte Frau Kollegin Schwall-Düren, ich spreche (Beifall bei der SPD) gerade mit dem Außenminister. Das ist auch deshalb nötig, weil die Modernisierungs- (Zuruf von der CDU/CSU: Ja, sie auch!) versuche, die in der arabischen Welt seit Jahrzehnten un- – In diesem Hohen Hause ist es in der Regel so, dass ternommen werden, allesamt gescheitert sind, und zwar man das vom Rednerpult aus macht. Es hat sich aber, ge- auch deshalb, weil die Konzepte, die als Modernisie- rade wenn ein Vertreter der Opposition redet, eingeschli- rungsversuche überlegt worden sind, entliehene Kon- chen, dass andere als der Redner, der am Rednerpult zepte waren; entliehen aus der europäischen Welt nach steht, mit den Vertretern und Vertreterinnen der Regie- dem Vorbild des Kolonialismus. Der erste Versuch war, rung sprechen. Ich finde diesen Stil in diesem Hause (B) den Nationalismus zu adaptieren, zu übernehmen, ob- nicht in Ordnung. Das will ich in aller Ruhe sagen. (D) wohl die Europäer schon damals erkannt hatten, dass das falsch war. Ich nenne nur das Beispiel der PLO. Der Ver- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- such, den Nationalismus auf die eigene Region zu über- SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – tragen, ist gescheitert; er musste scheitern. Schon in dem Beifall bei der FDP – Eckart von Klaeden Moment war klar, dass der blinde Aktionismus der PLO [CDU/CSU]: Herr Fischer war stilbildend!) nur in die Leere gehen oder gar zu etwas viel Gefährli- – Ich bin nicht derjenige, der berufen ist, irgendjeman- cherem führen kann – das war schon zu Beginn zu er- den zu verteidigen. kennen –: In dem Moment, wo die Enttäuschungen über die Fehlkonzepte der europäischen Welt, wie etwa der (Markus Löning [FDP]: Den kann man auch Nationalismus eines war, in dieser Region explodieren, nicht verteidigen!) gibt es einen Adressaten, bei dem man den Hass abladen Ich finde, wir haben Regularien, die wir alle einhalten kann, nämlich Israel. sollten. Daran möchte ich in aller Ruhe erinnern. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: SES 90/DIE GRÜNEN) Herr Kollege, darf ich Sie sanft an die Zeit erinnern? Herr Außenminister, Sie haben zwar auf die gewach- (Jürgen Koppelin [FDP]: Nein! Weiterma- sene Bedeutung Deutschlands und die Erwartungen, die chen!) an uns gerichtet werden, hingewiesen. Es wäre aber auch notwendig gewesen, etwas zum Inhalt der Verfassungs- debatte zu sagen. Sie hätten darstellen können, dass wir Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): im nächsten Jahr während der deutschen Ratspräsident- Ich meine, gerade aus diesem Grunde haben wir schaft nicht nur Vorschläge dazu machen wollen, wie Deutsche und wir Europäer die Aufgabe, die Pflicht, da- das Verfahren weitergeht – es wäre zu wenig, diesbezüg- für zu sorgen, dass die Modernisierungsblockaden in der lich nur eine Tagesordnung aufzustellen –, sondern auch arabischen Welt aufgelöst werden, damit Israel als Anker dazu, wie wir in der Sache vorankommen. Diese Verant- der Modernisierung und der Demokratie in dieser Re- wortung liegt zu einem ganz großen Teil bei uns. Da- gion eine andere und noch bessere Chance hat, als es ge- rüber müssen wir mit unseren Freundinnen und Freun- genwärtig der Fall ist. Auch deshalb ist es wichtig, dass den reden. Dieser Verantwortung sollten wir uns nicht der Islamdialog fortgesetzt wird. entziehen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3603

Rainder Steenblock (A) Das heißt natürlich auch, dass wir das Gespräch mit von denen mit der Türkei getrennt werden. Denn die Er- (C) den Menschen in diesem Lande suchen müssen. Die weiterungsverhandlungen mit Kroatien haben mit Blick Europäische Union hat sich mit ihrer Kommunikations- auf die Region einen anderen Stellenwert. Deshalb müs- strategie nicht besonders mit Ruhm bekleckert. Im sen wir deutlich machen: Wir wollen die Integration des Grunde findet in der EU keine Debatte über die Konse- Balkans in die Europäische Gemeinschaft, wobei die quenzen aus den Voten von Frankreich und den Nieder- einzelnen Staaten unterschiedliche zeitliche Perspekti- landen statt. Wir brauchen eine neue Kommunikations- ven erhalten sollten. Das müssen wir ernst nehmen und initiative, um die Menschen in der EU tatsächlich wieder dazu benötigen wir Symbole. für die europäischen Ideen zu begeistern. Der Internatio- (Beifall des Abg. Markus Meckel [SPD]) nalismus, der die Herzen der Menschen in diesem Lande erobert hat – das sehen wir bei dieser Weltmeister- Die Verhandlungen mit Kroatien stellen eines dieser schaft –, ist eine gute Grundlage dafür, um europäische Symbole dar. Politik aus Deutschland heraus zu gestalten. Es ist wich- tig, dass die Bundesregierung intensivere Kommunika- (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- tion betreibt, als Sie das heute dargestellt haben. loch] [SPD] sowie des Abg. Markus Löning [FDP]) Sie haben die Frage der Erweiterung so gut wie gar nicht angesprochen. Auch die Energie wird ein zentrales Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes – was Thema auf dem Frühjahrsgipfel, den die deutsche Rats- ich sehr ärgerlich finde – sagen. Wenn wir angesichts der präsidentschaft durchführen wird, sein. Sie haben dazu Vertrauenskrise der Europäischen Union, die es im Au- und zum Lissabonprozess nichts gesagt. genblick gibt, die Menschen begeistern wollen, dann gilt: Wir brauchen Transparenz. Wir müssen den Men- (Markus Löning [FDP]: Das ist beschämend schen sagen, was passiert. Ein Beispiel ist der Umgang für die Bundesregierung!) mit dem Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler Die Bundesregierung wird natürlich an der Frage ge- aus Deutschland. In diesen Zusammenhang gehört für messen, ob sie in der Lage ist, diesen Themenkatalog ab- mich die Frage der Transparenz entscheidend dazu. zuarbeiten. In Bezug auf die Frage des Verfassungsver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN trages stimmt mich sehr nachdenklich, dass der Rat sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und beschlossen hat, den Zeitplan so aufzubauen, dass erst der SPD und des Abg. Markus Löning [FDP]) unter der französischen Ratspräsidentschaft auf dem De- zembergipfel am Ende des Jahres 2008 eine Entschei- Wenn dann die Bundesregierung, der Bauernverband dung über den Verfassungsvertrag erfolgt. Ich halte die- oder wer auch immer sagen, dass sie keine Offenlegung (B) sen Zeitablauf vor dem Hintergrund der Debatten, die dahin gehend wollen, wo zum Beispiel Mittel aus der (D) wir führen, für hochgefährlich. Der vorgesehene Zeit- Agrarförderung oder der Strukturförderung ausgegeben punkt der Entscheidung liegt wenige Wochen vor der werden, dann ist das nicht nur beschämend. Vielmehr ist Europawahl. das genau der falsche Weg, wenn man Menschen für die EU begeistern und sie mitnehmen will. Wenn man möchte, dass die Menschen in der EU aus- reichend Zeit haben, um über diesen gegebenenfalls (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN neuen Verfassungsvertrag zu diskutieren, brauchen wir sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und eine andere Zeitplanung, sodass sich die Menschen in der SPD und des Abg. Michael Leutert [DIE der EU ernst genommen fühlen. Wir müssen die Men- LINKE]) schen in dieser Debatte mitnehmen. Deshalb glaube ich, dass wir an dieser Stelle mehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mut brauchen. Die Menschen in Deutschland und in der EU sind nicht gegen die europäische Integration. Aber Das Gleiche gilt für die Frage der Erweiterung der sie wollen wissen, was passiert. Wir haben die Verant- Union. Sie haben – das unterstütze ich sehr – die Per- wortung, mit ihnen darüber zu diskutieren. Das ist eine spektive für den Balkan angesprochen. In diesem Zu- Aufgabe, der sich die Bundesregierung in der Zukunft sammenhang stellt sich auch die Frage – da gebe ich Ih- stärker als in der Vergangenheit widmen muss. nen völlig Recht –, wie man zu Serbien steht. Auch ich halte die Stimmung und Perspektivlosigkeit, die sich im Vielen Dank. Augenblick auf dem Balkan zusammenbrauen, für hoch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN brisant. Deshalb, glaube ich, sind wir gut beraten, die Er- sowie bei Abgeordneten der SPD) weiterungsdiskussion so zu führen, dass die Menschen und die Staaten dort eine Perspektive erhalten. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Nächste Rednerin ist die Kollegin Erika Steinbach, Es wird nicht anders gehen. Sonst drohen uns extrem CDU/CSU-Fraktion. große Gefahren. (Beifall bei der CDU/CSU) Jeder, der sich dort aufhält, weiß, dass die Diskussio- nen, die derzeit dort geführt werden, fast schon ein Pul- Erika Steinbach (CDU/CSU): verfass darstellen. Auch aus diesem Grunde bin ich da- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen für, dass die Erweiterungsverhandlungen mit Kroatien und Kollegen! Es ist nötig, dass wir in einer Haushalts- 3604 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Erika Steinbach (A) debatte eben nicht nur über Geld reden, sondern auch Menschenrechtsverletzungen fest. Schauen wir doch (C) über Menschen und ihre Rechte, insbesondere beim einmal auf Europa. Der Europäische Rat hat auf seiner Thema Außenpolitik. Erfreulicherweise haben das ja Sitzung am 15./16. Juni in Brüssel die Aufnahme der auch alle Redner getan; die Menschenrechte haben in Beitrittsverhandlungen mit der Türkei thematisiert. Der den Reden eine sehr deutliche Rolle gespielt. Rat hat die Türkei aufgefordert, die in Gang gesetzten Reformprozesse zu intensivieren. Die Aktualität dieses Seit Montag dieser Woche trifft sich in Genf der neu Hinweises wird durch die Statistik der ergangenen Ur- gegründete Menschenrechtsrat. Mit der hochrangigen teile des Europäischen Gerichthofes für Menschenrechte Vertretung Deutschlands durch Außenminister Frank- in Straßburg verdeutlicht. Die Türkei führt mit 290 Ver- Walter Steinmeier und den neuen Menschenrechtsbeauf- urteilungen im Jahre 2005 leider die Liste der Länder an, tragten der Bundesregierung, unseren früheren Kollegen in denen Menschenrechtsverletzungen begangen wur- Günter Nooke, zeigt Deutschland, welche Bedeutung es den. Das ist eine dramatische Entwicklung; denn das dem Thema Menschenrechte zumisst. Es wird nicht die entspricht einem Anteil von 26 Prozent aller Entschei- zweite, die dritte oder die vierte Garnitur geschickt; viel- dungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschen- mehr ist es gut, dass Sie, Herr Außenminister, persönlich rechte. Daran sieht man, dass es in der Türkei in diesem dort teilnehmen. Bereich erhebliche Defizite gibt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Durch die gesetzlichen Reformen im Bereich des tür- neten der SPD) kischen Strafrechts wurden in den letzten Monaten zwar Deutsche Außenpolitik kümmert sich eben nicht nur ohne Zweifel Fortschritte erzielt – insbesondere die Zahl um Wirtschaftskontakte – so wichtig sie auch immer der Folterungen von politischen Gefangenen ist wohl sind – oder um Sicherheitspolitik, sondern auch um rückläufig –, aber gleichzeitig stellt Amnesty Internatio- Menschenrechte. Finanziell ist das wohl eher eine zu nal in seinem Jahresbericht fest, dass sich „gewöhnliche vernachlässigende Größenordnung im Haushalt des Aus- Straftäter“ heute eher einer erhöhten Gefahr ausgesetzt wärtigen Amtes oder im gesamten Bundeshaushalt; mo- sehen, Misshandlungen zu erleiden. Das zeigt, dass die ralisch aber ist dieser Einsatz von herausragender Be- Türkei noch weit davon entfernt ist, europäische Men- deutung. Er muss immer wieder in den Vordergrund schenrechtsstandards zu erreichen. gestellt werden. Amnesty International hat mehrfach auf den neuen Wie nötig der Einsatz für Menschen ist, zeigt die § 301 im türkischen Strafgesetzbuch verwiesen, der die Vielzahl von erschütternden Berichten über Menschen- „Herabwürdigung des Türkentums, der türkischen Repu- rechtsverletzungen weltweit. Ein Blick nach China blik und der Institutionen des Staates“ – so heißt es (B) macht das aktuell sehr deutlich. Das Schicksal des chine- darin – unter Strafe stellt. Schon diese nebulösen Formu- (D) sischen Regierungskritikers und Umweltaktivisten Fu lierungen lassen den Verdacht aufkommen, dass sich Xiancai, der schwere Verletzungen durch brutale Schlä- darunter bei Bedarf eine Menge subsumieren lässt. In ger erlitten hat, weil er um sein Recht kämpfte, und die der Tat gibt es unzählige Berichte, dass türkische Behör- dann unterlassene notwendige medizinische Behandlung den auf ebenjenen Paragrafen zurückgreifen, um Kriti- haben viele bei uns in Deutschland berührt; ja, es hat ker einzuschüchtern sowie Menschenrechtsverteidiger viele Menschen auch erschüttert. Erst die finanzielle Un- und Pressevertreter am Ende strafrechtlich zu belangen. terstützung von deutscher Seite hat es am Ende ermög- Schließlich höhlen auch die Einschränkungen für den licht, dass dieser Mann operiert werden konnte. Auch Gebrauch von Minderheitensprachen das Recht auf Mei- wenn ihm diese Operation wohl das Leben gerettet hat, nungsfreiheit aus. Hierdurch werden insbesondere die wird er wahrscheinlich leider querschnittsgelähmt blei- Kurden in ihren Rechten beschnitten. ben und im Rollstuhl sitzen müssen. Dieses Beispiel ist Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in der nur ein kleiner Ausschnitt aus dem chinesischen Alltag. Türkei mit Bezug auf Menschenrechte noch vieles im Es zeigt aber, wie richtig die Bundeskanzlerin lag, als sie Argen liegt. Es ist völlig unerheblich, ob man der Mei- bei ihrem Staatsbesuch in China vor Ort die Einhaltung nung ist, dass die Türkei Mitglied der Europäischen der Menschenrechte dezidiert gefordert hat. Union werden solle, oder ob man begründete Bedenken (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dagegen hat wie viele Kolleginnen und Kollegen aus der neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Die Menschenrechts- GRÜNEN) lage in der Türkei ist für beide Positionen nicht akzepta- bel. Sie muss sich deutlich verbessern. Liebe Kolleginnen und Kollegen vom Koalitionspart- ner, ich verkneife mir, zu sagen, dass ich diesen Paradig- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- menwechsel in der deutschen Außenpolitik begrüße; neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE denn ich weiß, dass es Sie ein wenig treffen würde. Da- GRÜNEN) rum sage ich es ausdrücklich nicht. Ich bitte die Bundesregierung, sich weiterhin so inten- (Heiterkeit und Zustimmung bei der CDU/ siv wie in den vergangenen Monaten für Menschen- CSU) rechtsfragen einzusetzen, und danke für das in diesen Monaten gezeigte Engagement. Aber nicht nur im entfernten Asien, in Afrika, in Süd- amerika oder auch in Guantanamo – das sage ich mit (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Blick auf die Vereinigten Staaten – stellen wir tagtäglich Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3605

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Bitte verstehen Sie die FDP an dieser Stelle nicht (C) Das Wort hat der Kollege Michael Link, FDP-Frak- falsch. Wir sind überhaupt nicht dagegen, dass wir Geld tion. für die Europäische Union ausgeben, und wir sagen auch nicht per se, die Beträge sind zu hoch. Wir sagen aber, (Beifall bei der FDP) die Ausgaben sind vor dem Hintergrund dessen, wofür sie ausgegeben werden, zu hoch und formell nicht in Michael Link (Heilbronn) (FDP): Ordnung, weil der Bundestag darüber nicht mitentschei- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- den durfte. Das muss sich ändern, im Bereich EU-Finan- gen! Die Frau Bundeskanzlerin hat mit ihrem Wort vom zen genauso wie im Bereich EU-Vertragsänderungen Sanierungsfall bewusst oder unbewusst vielleicht das und europäische Verfassung. Mitspracherecht des Bun- Wort der Woche, vielleicht das Wort des Monats und destages ist das Gebot der Stunde. vielleicht sogar mehr geprägt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich will über einen anderen Sanierungsfall reden, den der LINKEN) Sanierungsfall Europäische Union. Ich konzentriere Wir haben es heute sehr stark vermisst, von Ihnen, mich dabei insbesondere auf die Finanzen. Ich denke, Herr Bundesaußenminister, dazu etwas zu hören. Wir wir sind uns da gar nicht so uneinig, denn immerhin ist wissen zwar, dass gegenwärtig die Verhandlungen über unter starker Mitwirkung der Bundeskanzlerin und des die Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregie- Bundesaußenministers – wir haben das begrüßt – ein Be- rung laufen, aber zumindest eine Absichtserklärung schluss herbeigeführt worden, dass die gesamten Ein- wäre schön gewesen. Zu einem Zeitpunkt, wo wir mer- nahmen und Ausgaben der Europäischen Union 2008 ken, dass zurückgerudert wird, leider auch bei Punkten, auf den Prüfstand sollen. Auch das nennt man einen Sa- die die Kollegen von der CDU/CSU letztes Jahr selber in nierungsfall. Gerade weil gegenwärtig so vieles bei den den Deutschen Bundestag eingebracht haben, wäre es Finanzen der EU im Argen liegt, haben wir als FDP im doch wichtig, ein Signal zu setzen, dass der Deutsche Europäischen Parlament genauso wie hier den im De- Bundestag bei Vertragsänderungen und bei Beschlüssen zember letzten Jahres in Brüssel gefundenen Kompro- über weitere Erweiterungsschritte im Vorfeld eingebun- miss bezüglich der finanziellen Vorausschau, die nicht den wird, und zwar auch in der Art, dass, wie es im An- weniger als sieben Jahre gelten soll, abgelehnt. trag der CDU/CSU vom 25. Januar 2005 noch heißt, mit Ein solcher Beschluss – das muss man sich einmal dem Bundestag Einvernehmen hergestellt wird. klar machen; es ist ja auch vielen, die sich mit dieser ex- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten trem komplizierten Materie EU-Haushalt befassen, nicht der CDU/CSU) klar – bindet uns hier auf sieben Jahre. Wir könnten nicht (B) (D) einfach von einem Jahr zum anderen sagen, wir nehmen Wenn sich die derzeitige Bundesregierung, in der ja unser Entscheidungsrecht wahr. Dieses Recht haben wir auch Abgeordnete der damaligen Opposition vertreten nämlich nicht. Deshalb müssen wir – das ist ein ganz sind, nicht an das hält, was damals gesagt wurde, und entscheidender Punkt, wo das Parlament über die Frak- wenn auch die Frau Bundeskanzlerin in diesem Punkt tionsgrenzen hinweg endlich tätig werden muss – dazu nicht den Mut hat, dem Parlament die Rechte zu geben, kommen, dass in Zukunft vor Entscheidungen, die sich die sie damals selbst eingefordert hat, dann hat die Bun- über sieben Jahre bindend auf den Bundeshaushalt aus- desregierung ein Glaubwürdigkeitsproblem. Deshalb wirken, wirklich eine substanzielle Befassung damit im werden wir dieses Thema weiterhin massiv propagieren. Parlament stattfindet und dem Bundestag auch ein wirk- Wir als FDP sagen deshalb auch zum Bundesaußen- liches Mitspracherecht zukommt und nicht nur das minister: Trauen Sie in den Bereichen europäische Fi- Recht, einen solchen Beschluss im Nachhinein abzuseg- nanzen und auch Mitwirkungsrechte der frei gewählten nen. Parlamentarier dem Bundestag mehr zu. Wir sind hier keine Populisten, die ein „race to the bottom“ veranstal- (Beifall bei der FDP) ten wollen. Wir wollen mit der Regierung Schritte für Das Stichwort „im Nachhinein“ möchte ich zum An- die EU unternehmen: beim Geld, bei der Erweiterung, lass nehmen, daran zu erinnern, wie spät wir beim letz- bei der Verfassung. Das geht aber nur, wenn wir nicht ten und bisher einzigen Mal darüber abgestimmt haben: nur hinterher abnicken dürfen, sondern auch mitreden Etwa zwei Jahre, nachdem die finanzielle Vorausschau dürfen. von den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Danke schön. Union beschlossen wurde, bekamen wir nämlich den so genannten EU-Eigenmittelbeschluss zur Ratifizierung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten vorgelegt. Glauben Sie im Ernst daran, dass jemand die der LINKEN) finanzielle Vorausschau, nachdem sie schon zwei Jahre Basis für das Handeln war, ablehnen könnte? Es sind Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: beileibe auch keine Peanuts, über die wir hier reden, son- Nächster Redner ist der Kollege Axel Schäfer, SPD- dern es geht jedes Jahr um 21 Milliarden Euro, über die Fraktion. der Bundestag eigentlich nicht wirklich mitentscheiden darf. Das ist, meine Damen und Herren, Demokratiede- Axel Schäfer (Bochum) (SPD): fizit live. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der FDP) Mein Bochumer Mitbürger Herbert Grönemeyer hat bei 3606 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Axel Schäfer (Bochum) (A) der WM-Fußballhymne getextet: „Zeit, dass sich was Das ist eine gute Aufgabe auch für die Deutsche Rats- (C) dreht“. Das stimmt. Das stimmt, Gott sei Dank, auch für präsidentschaft: immer in Europa weiterkämpfen, sich Europa. selbst engagieren und dabei andere mitnehmen. Ich glaube, die heutige Debatte hat gezeigt, dass wir da gut Das Erste. Wir bringen Soziales wieder voran. Ges- aufgestellt sind. Glückauf für diese unsere Bundesregie- tern hat der Kommissionspräsident Barroso in seinem rung, vor allem für unseren Außenminister in der Euro- Bericht vor dem Europäischen Parlament so häufig über papolitik! die Notwendigkeit von sozialer Verantwortung und Zu- sammenhalt geredet wie nie zuvor in seiner Amtszeit. Es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ist wichtig, dass wir deutlich machen: Europa wird Men- der CDU/CSU) schen nur überzeugen, wenn es auch als Sozialgemein- schaft funktioniert. Es ist gut, dass sich in der Kommis- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sion etwas gedreht hat, dass sie dazugelernt hat und dass Das Wort hat der Kollege Herbert Frankenhauser, daher der kalte Marktradikalismus in Brüssel keine CDU/CSU-Fraktion. Chance hat. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Das Zweite. Die Verfassung lebt. Herbert Frankenhauser (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- (Zuruf von der FDP: Wo denn?) gen! Es ist nicht sehr einfach, am Ende einer Debatte, die sich Haushaltsdebatte nennt, aber vorwiegend geprägt ist Die Initiative des Außenministertreffens und des EU- durch außenpolitische Ausführungen mit sehr stark Gipfels haben das deutlich gezeigt. Es hat sich auch ge- sportpolitischen Inhalten, noch einmal zum Haushalt zu- zeigt, was die Neinsager an Alternativen haben: Sie ha- rückzukommen. ben keine. Sie haben keine konkreten Vorstellungen und sie haben keine Überlegungen, die irgendwo mehrheits- Zunächst kann ich mit Freude feststellen – wir haben fähig sein könnten, geschweige denn konsensfähig. Des- viel über Fahnen gesprochen –, Herr Außenminister, halb ist es wichtig, dass wir das in der deutschen Rats- dass wir beide heute gemeinsam noch die Farben Weiß präsidentschaft weiterdrehen und dass wir zu guten und Blau des Freistaates Bayern hier vertreten. Das kann Ergebnissen kommen. Ich glaube, das gehört genau an man auch als Symbol der Harmonie in der Koalition dieser Stelle einmal gesagt. werten. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) (D) Ein Drittes. Wir kommen mit der Parlamentarisie- Es ist darauf hingewiesen worden, dass der Haushalt rung voran. Es hat viele gute Gespräche gegeben, in die des Auswärtigen Amtes ein außerordentlich schwieriger die Obleute des Bundestages eingebunden waren und die ist. Das ist er wohl auch deswegen, weil in den zurück- sie vorangebracht haben. Es ist gut, dass sich auch die liegenden Jahren die Aufgaben des Auswärtigen Am- Bundesregierung an dieser Stelle bewegt. Ich gehe da- tes überproportional zugenommen haben, aber die dafür notwendige finanzielle Ausstattung nicht Schritt gehal- von aus, dass wir dort zu Ergebnissen kommen, die in ten hat. Es kam eine Menge von zusätzlichen Belastun- diesem Hause mit breiter Mehrheit tragfähig sind. gen insbesondere auf die Mitarbeiter zu, denen von die- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ser Stelle aus zu Recht schon gedankt worden ist. Auch wir im Haushaltsausschuss wissen, dass vieles notwen- Neben Bewegung und Änderung geht es in Europa dig oder zumindest wünschbar wäre, insbesondere wenn auch immer um Kontinuität. Ein Teil dieser Kontinuität ich an unsere Mittlerorganisationen denke, die exzellente ist der Bundesaußenminister. Frank-Walter Steinmeier Arbeit leisten. Wir würden den Wünschen gerne entspre- formuliert ja eher bescheiden; aber er spricht zu Recht chen, aber wir sind in einem gewissen Maße verpflichtet, von Selbstbewusstsein. Wir als Deutsche müssen in Eu- an der Konsolidierung des Bundeshaushalts teilzuneh- ropa und auch für Europa selbstbewusst auftreten. men, wobei ich die Auffassung teile, dass wir im Perso- nalbereich, wenn die Aufgaben beibehalten werden sol- Ich habe gerade die Ticker-Meldung aus Wien erhal- len, künftig wohl nicht mehr an der pauschalen ten: Beim EU-USA-Gipfel hat Präsident Bush angekün- Stellenkürzung teilnehmen können. digt, dass Guantanamo geschlossen werden soll. Das ist auch ein wichtiger Erfolg für Europa. Das ist ein wichti- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der ger Erfolg für unsere Politik, die heißt: Wir setzen auf FDP) die Stärke des Rechts und nicht auf das Recht des Stär- Das müssen schon die ersten Beratungen für den anste- keren. henden Haushalt 2007 zeigen. Ebenso wollen wir beim (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nächsten Haushalt unsere Koalitionsvereinbarung über des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die Stärkung der deutschen Schulen im Ausland um- setzen und diese entsprechend dotieren. Es bleibt Ihnen, Herbert Grönemeyer hat in seiner Fußball-WM- Herr Außenminister, die gütige Hilfe unseres Kollegen Hymne im englischen Text geschrieben: Koppelin, der Ihnen angeboten hat, dass Sie künftig das nötige Geld selber drucken dürfen. … never stop fighting, moving as one will still work for all. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3607

Herbert Frankenhauser (A) Es ist schon angesprochen worden, dass es eine ge- mangelnden Finanzausstattung weltweit geschlossen (C) wisse Grundskepsis der Bevölkerung gegenüber der EU werden müssen, nicht akzeptabel ist. Das ist der ver- gibt, die nicht zuletzt auch darin begründet ist, dass die kehrte Weg. Den werden wir nicht mitgehen. Leute nicht mehr erkennen können, ob mit ihren Steuer- Nach meiner festen Überzeugung hat das Goethe-In- geldern ordnungsgemäß und ordentlich umgegangen stitut zunächst endlich – nach vielen Ankündigungen – wird. Deswegen scheint mir für den Einigungsprozess eine Konzeption vorzulegen, die a) die Aufgaben bein- außerordentlich wichtig zu sein, der Bevölkerung die Si- haltet, die das Goethe-Institut als Mittlerorganisation im cherheit zu geben, dass die Steuergelder ordentlich ver- Ausland zu erbringen hat, und die b) aufzeigt, welche wandt werden. Daher bitte ich Sie, Herr Außenminister, Möglichkeiten der Umorganisation im Hause selbst vor- um Unterstützung bei der Offenlegung zum Beispiel der handen sind. Von der Sparsamkeit ist auch die Zentrale Strukturmittel des EU-Haushalts, die immerhin ein in München nicht auszunehmen, weil das Goethe-Insti- Drittel des gesamten EU-Haushaltes ausmachen, der bis tut die vornehmliche Arbeit im Ausland und nicht in der 2013 auf sage und schreibe 308 Milliarden Euro an- Zentrale in München vorzunehmen hat. wachsen soll. Ich denke, es ist im gemeinsamen Inte- resse, eine solche Offenlegung dieser Fördergelder für (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und die Landwirtschaft und für die Strukturprogramme hin- der FDP – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: zubekommen. Das muss nicht unbedingt, wie befürchtet Sehr wahr!) wird, ein Datenfriedhof werden. Wer Gelder ordentlich verwendet, braucht keine Sorge zu haben, die Daten of- Wenn diese Informationen vorliegen, wird der Haus- fen zu legen. haltsausschuss – davon bin ich überzeugt – Verständnis aufbringen und für eine vernünftige Finanzausstattung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie dieses Instituts sorgen. Ich bitte das Goethe-Institut aber des Abg. Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/ dringend, von der umgekehrten Vorgehensweise abzuse- DIE GRÜNEN]) hen. Ich möchte eine weitere Bitte an Sie, Herr Außenmi- Ich unterstütze nachdrücklich den Vorschlag des nister, richten. Es werden die Zahlungen an die Auto- Hauptberichterstatters, doch auch einmal über die Frage nomiebehörde Palästinas jetzt wieder aufgenommen, der Zuständigkeiten und der Ablehnungspraxis bei den wenn auch nicht direkt an die Regierung. Ich bitte, dafür Bauten des Auswärtigen Amtes nachzudenken. Sorge zu tragen, dass der fast ausschließlich aus EU- Geldern finanzierte palästinensische Sender PATV da- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und mit aufhört, weiterhin quasi mit unserem Geld zur Ver- der SPD) nichtung des Staates Israel aufzurufen. Das kann nicht (B) Mir schwebt in diesem Zusammenhang keine neue Bau- (D) hingenommen werden. behörde vor, sondern eine Einrichtung, die es ermög- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- licht, dass die notwendigen Botschaften im Ausland neten der SPD und der FDP) sachgerecht, schnell und unkompliziert errichtet werden, und die dafür sorgt, dass die eingesparten Mittel, zum Vieles ist wünschenswert. Sie haben zu Recht die Beispiel für Schneefanggitter in Afrika, sinnvoll ver- Sorge um die adäquate Finanzausstattung geäußert, da- wendet werden. mit sich Deutschland nicht nur personell – das ist durch die Bundeskanzlerin und das Kabinett gewährleistet – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der während der EU-Präsidentschaft darstellen kann. Das SPD und der FDP) bedeutet, dass auch das Equipment entsprechend sein soll. Ich glaube, für alle Kollegen in der Koalition spre- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: chen zu dürfen, wenn ich sage, dass dafür in ausreichen- Ich schließe die Aussprache. dem Maße vorgesorgt wird. Wir haben bereits Mittel be- Wir kommen nun zur Abstimmung über den Einzel- reitgestellt. plan 05 – Auswärtiges Amt – in der Ausschussfassung. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: In Maßen!) Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1863 vor. Wer stimmt für diesen Än- – Ich habe die besorgten Einwände des Kollegen derungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Kampeter zur Kenntnis genommen. Wir werden dafür Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, sorgen, dass diese Präsidentschaft nicht nur inhaltlich, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Fraktionen sondern insgesamt ein voller Erfolg wird. Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Gestatten Sie mir noch ein paar Anmerkungen zu der Wer stimmt für den Einzelplan 05 in der Ausschuss- Problematik Goethe-Institut. Ich denke, es muss auch fassung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der von dieser Stelle aus einmal deutlich gesagt werden, Einzelplan 05 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- dass die Maßnahmen zur Konsolidierung des Bundes- nen bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke, haushalts nicht an einem einzigen Institut – die Zentrale Bündnis 90/Die Grünen und FDP angenommen. des Goethe-Instituts befindet sich in der Bundesrepublik Deutschland – vorbeigehen können. Wenn wir das be- Zusatzpunkt 2. Wir kommen zur Abstimmung über rücksichtigen, müssen wir feststellen, dass die Vorge- den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hensweise dieses Instituts, zunächst einmal die Feuille- auf Drucksache 16/1885 mit dem Titel „Neubesetzung tons damit zu füttern, wie viele Institute wegen der des Amtes des Koordinators für die deutsch-russische 3608 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit“. Die Frak- einigermaßen den sicherheitspolitischen Anforderungen (C) tion Bündnis 90/Die Grünen verlangt namentliche Ab- entsprechen würde. stimmung. (Beifall bei der FDP) Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Herr Minister Jung, Sie haben am 29. März 2006 in vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an einer Pressemitteilung erklärt: Im Entwurf des Verteidi- den Urnen besetzt? – Sind die Schriftführer an den Ur- gungshaushaltes stehen der Bundeswehr 23,88 Milliar- nen? – Das ist der Fall. den Euro zur Verfügung. Im Vergleich zum Haus- Ich eröffne die Abstimmung. halt 2005 bedeutet dies eine Verbesserung um 150 Millionen. – Diese Behauptung ist nicht zu halten, Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine da Belastungen des Verteidigungshaushaltes von bis zu Stimme nicht abgegeben hat? – Ich glaube, jetzt haben 300 Millionen Euro durch die Finanzierung israelischer alle Mitglieder des Hauses ihre Stimme abgegeben. U-Boote und die Abgabe von Verkaufserlösen an den Fi- Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift- nanzminister nicht berücksichtigt werden. führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen (Zurufe von der FDP: Aha! – So ist das also! – Hört! Hört!) später bekannt gegeben.1) Ich bitte all diejenigen, die sich anderweitig unterhal- Tatsächlich sinkt der Verteidigungshaushalt um mehr ten wollen, ihre Gespräche außerhalb des Plenarsaals zu als 20 Millionen Euro. Auch die Kosten, die durch den führen. bevorstehenden Kongoeinsatz der Bundeswehr als zu- sätzliche Belastungen auf den Verteidigungshaushalt zu- Ich rufe Tagesordnungspunkt I.8 auf: kommen, nämlich 56 Millionen Euro plus XXL, sind Einzelplan 14 noch nicht berücksichtigt. Von Herrn Steinbrück habe ich bis heute noch nicht gehört, dass er diesen Einsatz Bundesministerium der Verteidigung aus seinen leeren Schatullen finanzieren will, wie von – Drucksachen 16/1313, 16/1324 – Herrn Minister Jung angekündigt. Dagegen werden die Auslandszulagen unserer Soldaten im Kongo zum Ge- Berichterstattung: genstand der öffentlichen Auseinandersetzung. Es ist Abgeordnete Johannes Kahrs schlimm, Herr Minister, dass Sie in der Bundeswehr Susanne Jaffke nicht für Ruhe sorgen. Bartholomäus Kalb Jürgen Koppelin (Beifall bei der FDP) (B) (D) Dr. Gesine Lötzsch Schon bei der Verabschiedung dieses Haushaltes sind Alexander Bonde die Vorgaben des Bundeswehrplanes 2006, also des Zum Einzelplan 14 liegen zwei Entschließungsan- wichtigsten Planungsdokumentes für die Bundeswehr, träge der Fraktion der FDP und ein Entschließungsantrag Makulatur. Tatsächlich wird der ermittelte Finanzbedarf der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor, über die in Höhe von 24,2 Milliarden Euro um bis zu 430 Millio- wir am Freitag nach der Schlussabstimmung abstimmen nen Euro unterschritten. Ein so massives Unterschreiten werden. der Finanzvorgabe des Bundeswehrplanes hat fatale Konsequenzen für die zukünftige Ausrüstung der Bun- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für deswehr, da diese Lücke nur durch eine weitere Runde die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich Streichen, Strecken und Kürzen geschlossen werden höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. kann. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- Die Situation im Hinblick auf den Materialerhalt, die gin Elke Hoff, FDP-Fraktion. insbesondere beim Heer bereits heute dramatisch ist, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten verschärft sich weiter und beeinträchtigt damit zuneh- der CDU/CSU und der SPD) mend die Einsatzbereitschaft, und zwar auch die der Sol- daten, die sich im Auslandseinsatz befinden. Es grenzt inzwischen an Verantwortungslosigkeit, bestehende Ein- Elke Hoff (FDP): satzverpflichtungen weiterhin zu mandatieren und Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen gleichzeitig neue Verpflichtungen einzugehen, ohne die und Kollegen! Die meisten Fachpolitiker in diesem hierfür notwendigen Mittel bereitzustellen. Hause sind sich sicherlich darüber einig, dass der jetzt vorliegende Entwurf des Verteidigungshaushaltes für das (Beifall bei der FDP) Jahr 2006 noch nicht all die Zumutungen enthält, die Die Bundesregierung muss, indem sie ihren Haushalt schon in wenigen Wochen mit dem Entwurf des vorlegt, die Frage beantworten, was ihr die Sicherheit Verteidigungshaushaltes 2007 mit voller Wucht auf uns und die internationalen Verpflichtungen unseres Landes zukommen werden. Aber schon der Haushaltsent- wert sind. Nach Bekundungen von allen Seiten darf die wurf 2006 entspricht nicht dem, was sich der Bundesver- Ausrüstung der Bundeswehr keinen Kompromissen teidigungsminister vorgenommen hat und was auch nur unterliegen. Die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz sind mit dem besten und sichersten Material auszustat- 1) Seite 3609 D ten, welches zur Verfügung steht. Eine Erhöhung der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3609

Elke Hoff (A) Anzahl geschützter Fahrzeuge, aber auch die dringend gemessenen Wege bekannt gegeben wurde, kennen in- (C) notwendige Beschaffung eines Schutzsystems gegen zwischen alle sicherheitspolitisch Interessierten dieses Sprengfallen gehören an die Spitze der Agenda. Wir Papier aus dem Hause Jung. müssen daher neue Spielräume schaffen, um die Bun- deswehr adäquat auszurüsten. Dies wird mittelfristig nur (Zuruf von der FDP: Aha!) möglich sein, wenn wir bei der Beschaffung des Euro- Nichts von dem, was darin über die Finanzierung der fighters und des A400M Abstriche machen. Bundeswehr geschrieben steht, findet sich im vorliegen- (Beifall bei der FDP) den Entwurf oder im Bundeswehrplan 2007 wieder. Sie werden weder heute noch bis zum Jahre 2009 eine Ver- Niemand in der Bundeswehr behauptet heute noch stetigung der Verteidigungsausgaben auf 10 Prozent des ernsthaft, der Kauf von 180 Eurofightern sei zwingend gesamten Bundeshaushaltes erreichen, wie dies von Ih- notwendig. rem Vorgänger, Herrn Struck, gefordert wurde, noch ist eine Erhöhung des investiven Anteils auf mindestens (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 30 Prozent in Ihrer vorliegenden Planung wiederzufin- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE den. Wir können unseren Soldatinnen und Soldaten nicht GRÜNEN) immer mehr zumuten und sie dabei materiell immer Diese Stückzahl entspricht nicht den sicherheitspoliti- schlechter stellen. Die Berufs- und die Zeitsoldaten schen Anforderungen. Was wir dagegen brauchen, ist mussten erst kürzlich schmerzhafte Einbußen beim Ur- eine Mehrrollenbefähigung des Eurofighters. Daher hat laubs- und beim Weihnachtsgeld hinnehmen. Die Dis- die FDP-Fraktion die Reduzierung des dritten Loses krepanz zwischen der Bezahlung von Soldaten und der Eurofighter sowie die Überprüfung einer Weiterveräuße- von Bediensteten auf allen anderen Ebenen des öffentli- rung von Eurofightern an Drittstaaten beantragt. Glei- chen Dienstes ist aufgrund der hohen Anforderungen an ches gilt für die Beschaffung von 60 Transportflugzeu- die Soldaten und der Gefährlichkeit ihres Einsatzes nicht gen vom Typ A400M. Die Beschaffung des A400M un- länger hinnehmbar. terliegt der Prämisse, dass er zu einer Verlegeoperation (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten fähig sein muss. Aber dazu werden selbst nach Angaben des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) des Ministeriums nur 49 Maschinen benötigt. Um finan- ziell neue Spielräume zu gewinnen, ist es deshalb aus Herr Minister Jung, führen Sie endlich eine eigene der Sicht der FDP geboten, den Umfang der Beschaf- Besoldungsordnung für Soldaten ein, die der berufli- fung des A400M auf 49 Stück zu begrenzen. Eine Redu- chen Realität gerecht wird und spürbare Verbesserungen zierung der Stückzahl ist auch deshalb nötig, weil der mit sich bringt! Andernfalls werden Sie aus den kom- (B) zeitgleiche Zulauf neuer Flugzeuge bei Weiternutzung menden geburtenschwachen Jahrgängen nicht mehr die (D) der vorhandenen zu einer Explosion der Betriebskosten jungen Menschen gewinnen können, die Sie für die Be- führt. Schon jetzt ist absehbar, dass sich die Bundeswehr wältigung der immer anspruchsvoller werdenden Aufga- nicht einmal die für die Schulung des Personals erforder- ben brauchen, ganz zu schweigen von der Motivation lichen Flugstunden leisten kann. Es ist abenteuerlich, der jetzt dienenden Soldatinnen und Soldaten. dass die Bundeswehr teures Gerät beschafft, ohne dessen Betrieb finanzieren zu können! Man kann nicht immer neue Aufgaben annehmen und internationale Verpflichtungen eingehen, die finanziellen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Rahmenbedingungen aber unberührt lassen. Anspruch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und finanzielle Wirklichkeit klaffen gerade in der Si- cherheitspolitik immer weiter auseinander. Es ist an der Ähnliche Probleme gibt es offenbar bei der Ausbildung Zeit, dieses Auseinanderklaffen endlich zu stoppen, um von Personal, das einen Auslandseinsatz vor sich hat, den, wie es Außenminister Steinmeier in der vorigen De- im Umgang mit geschützten Fahrzeugen. In Afghanistan batte betont hat, hohen internationalen Erwartungen an stehen dem Vernehmen nach geschützte Fahrzeuge zur Deutschland gerecht werden zu können. Verfügung, die, weil unsere Soldatinnen und Soldaten zu Hause nicht die Möglichkeit hatten, auf diesem Gerät Ich danke für die Aufmerksamkeit. ausgebildet zu werden, nicht eingesetzt werden können. Wenn das stimmt, wäre das ein Skandal. (Beifall bei der FDP) (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Nicht jeden Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Unfug glauben!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zurück Die Entwicklung der Bundeswehr weg von Streitkräf- zum Zusatzpunkt 2 und gebe das von den Schriftführe- ten, die vorrangig die Heimat schützen, hin zu einer Ar- rinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der na- mee im Einsatz soll nach dem Willen der jetzigen Bun- mentlichen Abstimmung über den Antrag der Fraktion desregierung fortgeschrieben werden. Daher ist es des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1885 notwendiger denn je, die sicherheitspolitischen Interes- mit dem Titel „Neubesetzung des Amtes des Koordina- sen Deutschlands, aber auch die Grenzen möglicher zu- tors für die deutsch-russische zwischengesellschaftliche künftiger Auslandseinsätze zu definieren. Obwohl der Zusammenarbeit“ bekannt: Abgegebene Stimmen 557. Ressortentwurf eines Weißbuches den Fraktionen des Mit Ja haben gestimmt 127, mit Nein haben gestimmt Deutschen Bundestages immer noch nicht auf einem an- 410, Enthaltungen 20. Dieser Antrag ist damit abgelehnt. 3610 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Endgültiges Ergebnis Klaus Ernst Krista Sager Eberhard Gienger (C) Abgegebene Stimmen: 554; Wolfgang Gehrcke Elisabeth Scharfenberg Ralf Göbel davon Diana Golze Christine Scheel Dr. Reinhard Göhner Heike Hänsel Irmingard Schewe-Gerigk Josef Göppel ja: 128 Lutz Heilmann Dr. Gerhard Schick Dr. Wolfgang Götzer nein: 406 Hans-Kurt Hill Rainder Steenblock Ute Granold enthalten: 20 Dr. Barbara Höll Silke Stokar von Neuforn Reinhard Grindel Ulla Jelpke Hans-Christian Ströbele Hermann Gröhe Ja Jan Korte Dr. Harald Terpe Michael Grosse-Brömer Katrin Kunert Jürgen Trittin Markus Grübel SPD Oskar Lafontaine Wolfgang Wieland Manfred Grund Michael Leutert Josef Philip Winkler Monika Grütters Marco Bülow Dr. Gesine Lötzsch Margareta Wolf (Frankfurt) Karl-Theodor Freiherr zu Wolfgang Grotthaus Ulrich Maurer Guttenberg Ottmar Schreiner Dorothee Menzner Nein Olav Gutting Kornelia Möller Holger Haibach FDP Kersten Naumann CDU/CSU Gerda Hasselfeldt Jens Ackermann Wolfgang Neskovic Ursula Heinen Daniel Bahr (Münster) Bodo Ramelow Ulrich Adam Uda Carmen Freia Heller Angelika Brunkhorst Elke Reinke Ilse Aigner Michael Hennrich Patrick Döring Paul Schäfer (Köln) Peter Albach Bernd Heynemann Mechthild Dyckmans Volker Schneider Thomas Bareiß Ernst Hinsken Jörg van Essen (Saarbrücken) Norbert Barthle Peter Hintze Otto Fricke Dr. Ilja Seifert Dr. Wolf Bauer Klaus Hofbauer Horst Friedrich (Bayreuth) Dr. Petra Sitte Günter Baumann Franz-Josef Holzenkamp Dr. Edmund Peter Geisen Frank Spieth Ernst-Reinhard Beck Anette Hübinger (Reutlingen) Hans-Michael Goldmann Dr. Kirsten Tackmann Hubert Hüppe Veronika Bellmann Miriam Gruß Dr. Axel Troost Dr. Peter Jahr Dr. Christoph Bergner Dr. Christel Happach-Kasan Alexander Ulrich Dr. Hans-Heinrich Jordan Otto Bernhardt Elke Hoff Jörn Wunderlich Andreas Jung (Konstanz) Carl-Eduard von Bismarck Birgit Homburger Sabine Zimmermann Dr. Franz Josef Jung Renate Blank Michael Kauch Bartholomäus Kalb Antje Blumenthal Hellmut Königshaus BÜNDNIS 90/DIE Hans-Werner Kammer Jürgen Koppelin GRÜNEN Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Steffen Kampeter (B) Harald Leibrecht Kerstin Andreae Alois Karl (D) Ina Lenke Wolfgang Börnsen Marieluise Beck (Bremen) (Bönstrup) Bernhard Kaster Sabine Leutheusser- Volker Beck (Köln) Wolfgang Bosbach Siegfried Kauder (Villingen- Schnarrenberger Cornelia Behm Klaus Brähmig Schwenningen) Michael Link (Heilbronn) Birgitt Bender Michael Brand Volker Kauder Markus Löning Matthias Berninger Helmut Brandt Eckart von Klaeden Horst Meierhofer Grietje Bettin Dr. Ralf Brauksiepe Jürgen Klimke Patrick Meinhardt Alexander Bonde Monika Brüning Julia Klöckner Burkhardt Müller-Sönksen Ekin Deligöz Georg Brunnhuber Jens Koeppen Gisela Piltz Dr. Thea Dückert Gitta Connemann Kristina Köhler (Wiesbaden) Jörg Rohde Dr. Ursula Eid Leo Dautzenberg Manfred Kolbe Frank Schäffler Hans Josef Fell Alexander Dobrindt Norbert Königshofen Marina Schuster Kai Gehring Thomas Dörflinger Dr. Rolf Koschorrek Dr. Hermann Otto Solms Anja Hajduk Marie-Luise Dött Hartmut Koschyk Dr. Max Stadler Britta Haßelmann Maria Eichhorn Thomas Kossendey Florian Toncar Winfried Hermann Georg Fahrenschon Gunther Krichbaum Christoph Waitz Peter Hettlich Ilse Falk Dr. Günter Krings Dr. Guido Westerwelle Priska Hinz (Herborn) Dr. Hans Georg Faust Dr. Martina Krogmann Dr. Claudia Winterstein Ulrike Höfken Enak Ferlemann Johann-Henrich Dr. Volker Wissing Dr. Anton Hofreiter Ingrid Fischbach Krummacher Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Bärbel Höhn Hartwig Fischer (Göttingen) Dr. Hermann Kues Martin Zeil Thilo Hoppe Dirk Fischer (Hamburg) Andreas G. Lämmel Ute Koczy Dr. Maria Flachsbarth Dr. Norbert Lammert DIE LINKE. Sylvia Kotting-Uhl Klaus-Peter Flosbach Katharina Landgraf Hüseyin-Kenan Aydin Fritz Kuhn Herbert Frankenhauser Dr. Max Lehmer Karin Binder Renate Künast Dr. Hans-Peter Friedrich Ingbert Liebing Dr. Lothar Bisky Undine Kurth (Quedlinburg) (Hof) Eduard Lintner Heidrun Bluhm Markus Kurth Erich G. Fritz Dr. Klaus W. Lippold Eva Bulling-Schröter Monika Lazar Jochen-Konrad Fromme Patricia Lips Dr. Martina Bunge Anna Lührmann Dr. Michael Fuchs Dr. Michael Luther Roland Claus Jerzy Montag Hans-Joachim Fuchtel Stephan Mayer (Altötting) Sevim Dagdelen Kerstin Müller (Köln) Dr. Peter Gauweiler Wolfgang Meckelburg Dr. Diether Dehm Winfried Nachtwei Dr. Jürgen Gehb Dr. Michael Meister Dr. Dagmar Enkelmann Brigitte Pothmer Norbert Geis Dr. Angela Merkel Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3611

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Friedrich Merz Dr. Hans-Peter Uhl Karin Evers-Meyer Dirk Manzewski (C) Laurenz Meyer (Hamm) Arnold Vaatz Annette Faße Lothar Mark Maria Michalk Volkmar Uwe Vogel Elke Ferner Caren Marks Hans Michelbach Andrea Astrid Voßhoff Gabriele Fograscher Katja Mast Philipp Mißfelder Gerhard Wächter Rainer Fornahl Markus Meckel Dr. Eva Möllring Marco Wanderwitz Gabriele Frechen Petra Merkel (Berlin) Carsten Müller Kai Wegner Peter Friedrich Ulrike Merten (Braunschweig) Marcus Weinberg Sigmar Gabriel Dr. Matthias Miersch Stefan Müller (Erlangen) Peter Weiß (Emmendingen) Martin Gerster Ursula Mogg Bernward Müller (Gera) Gerald Weiß (Groß-Gerau) Iris Gleicke Marko Mühlstein Hildegard Müller Ingo Wellenreuther Günter Gloser Detlef Müller (Chemnitz) Bernd Neumann (Bremen) Karl-Georg Wellmann Renate Gradistanac Michael Müller (Düsseldorf) Henry Nitzsche Anette Widmann-Mauz Angelika Graf (Rosenheim) Gesine Multhaupt Michaela Noll Klaus-Peter Willsch Dieter Grasedieck Franz Müntefering Dr. Georg Nüßlein Willy Wimmer (Neuss) Monika Griefahn Dr. Rolf Mützenich Franz Obermeier Elisabeth Winkelmeier- Kerstin Griese Andrea Nahles Eduard Oswald Becker Gabriele Groneberg Thomas Oppermann Rita Pawelski Matthias Wissmann Achim Großmann Holger Ortel Dr. Peter Paziorek Dagmar Wöhrl Wolfgang Gunkel Heinz Paula Wolfgang Zöller Ulrich Petzold Hans-Joachim Hacker Christoph Pries Willi Zylajew Dr. Joachim Pfeiffer Bettina Hagedorn Dr. Wilhelm Priesmeier Sibylle Pfeiffer Klaus Hagemann Florian Pronold SPD Alfred Hartenbach Beatrix Philipp Dr. Sascha Raabe Nina Hauer Ronald Pofalla Dr. Lale Akgün Mechthild Rawert Hubertus Heil Ruprecht Polenz Gregor Amann Steffen Reiche (Cottbus) Reinhold Hemker Daniela Raab Gerd Andres Maik Reichel Rolf Hempelmann Thomas Rachel Niels Annen Gerold Reichenbach Dr. Peter Ramsauer Dr. Barbara Hendricks Ingrid Arndt-Brauer Dr. Carola Reimann Peter Rauen Gustav Herzog Rainer Arnold Christel Riemann- Eckhardt Rehberg Petra Heß Ernst Bahr (Neuruppin) Hanewinckel Katherina Reiche (Potsdam) Gabriele Hiller-Ohm Walter Riester Klaus Riegert Petra Hinz (Essen) Klaus Barthel Sönke Rix Dr. Heinz Riesenhuber Iris Hoffmann (Wismar) Sören Bartol Rene Röspel Franz Romer Frank Hofmann (Volkach) Sabine Bätzing Dr. Ernst Dieter Rossmann Johannes Röring Eike Hovermann (B) Dirk Becker Karin Roth (Esslingen) (D) Kurt J. Rossmanith Uwe Beckmeyer Klaas Hübner Dr. Norbert Röttgen Christel Humme Michael Roth (Heringen) Klaus Uwe Benneter Ortwin Runde Dr. Christian Ruck Dr. Axel Berg Lothar Ibrügger Albert Rupprecht (Weiden) Brunhilde Irber Marlene Rupprecht Ute Berg (Tuchenbach) Anita Schäfer (Saalstadt) Petra Bierwirth Johannes Jung (Karlsruhe) Hermann-Josef Scharf Josip Juratovic Anton Schaaf Lothar Binding (Heidelberg) Axel Schäfer (Bochum) Hartmut Schauerte Volker Blumentritt Johannes Kahrs Dr. Hermann Scheer Dr. Annette Schavan Kurt Bodewig Ulrich Kasparick Marianne Schieder Dr. Andreas Scheuer Gerd Bollmann Dr. h.c. Susanne Kastner Ulla Schmidt (Aachen) Karl Schiewerling Dr. Gerhard Botz Ulrich Kelber Silvia Schmidt (Eisleben) Norbert Schindler Klaus Brandner Christian Kleiminger Dr. Frank Schmidt Georg Schirmbeck Willi Brase Hans-Ulrich Klose Bernd Schmidbauer Bernhard Brinkmann Astrid Klug Heinz Schmitt (Landau) Christian Schmidt (Fürth) (Hildesheim) Dr. Bärbel Kofler Carsten Schneider (Erfurt) Andreas Schmidt (Mülheim) Edelgard Bulmahn Fritz Rudolf Körper Olaf Scholz Ingo Schmitt (Berlin) Ulla Burchardt Karin Kortmann Reinhard Schultz Dr. Andreas Schockenhoff Martin Burkert Rolf Kramer (Everswinkel) Dr. Ole Schröder Dr. Michael Bürsch Anette Kramme Swen Schulz (Spandau) Bernhard Schulte-Drüggelte Christian Carstensen Ernst Kranz Ewald Schurer Uwe Schummer Marion Caspers-Merk Nicolette Kressl Frank Schwabe Kurt Segner Dr. Peter Danckert Volker Kröning Dr. Angelica Schwall-Düren Bernd Siebert Dr. Herta Däubler-Gmelin Angelika Krüger-Leißner Dr. Martin Schwanholz Johannes Singhammer Karl Diller Dr. Hans-Ulrich Krüger Rolf Schwanitz Jens Spahn Martin Dörmann Jürgen Kucharczyk Rita Schwarzelühr-Sutter Erika Steinbach Dr. Carl-Christian Dressel Helga Kühn-Mengel Wolfgang Spanier Christian Freiherr von Stetten Elvira Drobinski-Weiß Ute Kumpf Dr. Margrit Spielmann Gero Storjohann Garrelt Duin Dr. Uwe Küster Jörg-Otto Spiller Andreas Storm Detlef Dzembritzki Christine Lambrecht Dr. Ditmar Staffelt Max Straubinger Sebastian Edathy Christian Lange (Backnang) Ludwig Stiegler Thomas Strobl (Heilbronn) Siegmund Ehrmann Dr. Karl Lauterbach Rolf Stöckel Lena Strothmann Hans Eichel Waltraud Lehn Christoph Strässer Michael Stübgen Gernot Erler Helga Lopez Dr. Peter Struck Antje Tillmann Petra Ernstberger Gabriele Lösekrug-Möller Joachim Stünker 3612 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Dr. Rainer Tabillion Dr. Rainer Wend Joachim Günther (Plauen) Hans-Joachim Otto (C) Jörg Tauss Lydia Westrich (Frankfurt) Jella Teuchner Dr. Margrit Wetzel Enthalten Detlef Parr Dr. h.c. Wolfgang Thierse Andrea Wicklein Cornelia Pieper Jörn Thießen Heidemarie Wieczorek-Zeul FDP Dr. Rainer Stinner Franz Thönnes Engelbert Wistuba Carl-Ludwig Thiele Hans-Jürgen Uhl Dr. Wolfgang Wodarg Dr. Karl Addicks Rüdiger Veit Waltraud Wollf Christian Ahrendt DIE LINKE. Simone Violka (Wolmirstedt) Rainer Brüderle Jörg Vogelsänger Heidi Wright Ernst Burgbacher Dr. Gregor Gysi Dr. Marlies Volkmer Uta Zapf Ulrike Flach Inge Höger-Neuling Hedi Wegener Manfred Zöllmer Paul K. Friedhoff Monika Knoche Andreas Weigel Brigitte Zypries Dr. Norman Paech Petra Weis Dr. Heinrich L. Kolb Gunter Weißgerber Heinz Lanfermann FDP fraktionslos Gert Weisskirchen (Wiesloch) Uwe Barth Jan Mücke Gert Winkelmeier

Bevor ich dem Kollegen Kurt Rossmanith das Wort die Beschaffung als auch für die Forschung und Ent- gebe, gratuliere ich dem Kollegen Rainer Arnold recht wicklung – zu begrüßen sind. Das ist der Einklang, den herzlich zu seinem heutigen Geburtstag. wir uns in der großen Koalition vorgenommen haben. Wir wollen zukunftsorientierte Technologien fördern. (Beifall) Die Verteidigungstechnik ist sicherlich auch eine Zu- Nun hat das Wort Kurt Rossmanith, CDU/CSU-Frak- kunftstechnologie. Frau Kollegin Hoff, Sie haben das ja tion. angesprochen: Unsere Soldaten brauchen bei ihren Aus- landseinsätzen neben der besten Ausbildung natürlich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auch die beste Ausrüstung und die beste Technologie. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): der Abg. Elke Hoff [FDP]) Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Es ist schön für den Kolle- Ich habe bei Ihrer Rede mit meinem Zwischenruf (B) gen Arnold, dass er heute als Sprecher der SPD-Fraktion schon gesagt, man solle nicht jeden Unfug, den irgendje- (D) für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik seinen Ge- mand von sich gibt und den die Presse aufgreift, einfach burtstag im Plenum bei dem wunderschönen Thema die- kritiklos übernehmen. Ich habe dabei den Dingo im ses Einzelplans 14 verbringen darf. Deshalb auch von Blick. Es ist ein Märchen, das nicht einmal zu meiner Seite und vonseiten der CDU/CSU-Fraktion 1001 Nacht passen würde, dass wir Material für den Ein- noch einmal herzliche Glückwünsche! satz beschaffen und in den Einsatzgebieten bereitstellen, welches niemand bedienen kann. Ich empfehle wirklich, Der Einzelplan 14 des Haushalts hat einen Umfang dies nicht weiter zu verbreiten. von fast 23,9 Milliarden Euro, wobei die Betriebsausga- ben 17,2 Milliarden Euro betragen. Das heißt, wir haben (Elke Hoff [FDP]: Hat niemand behauptet!) den Anteil der Betriebsausgaben von über drei Viertel auf 72 Prozent zurückgeführt. In diesem Jahr haben wir 11,8 Milliarden Euro an Personalausgaben zu leisten. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Diese Zahl konnten wir in den vergangenen 15 Jahren Herr Kollege Rossmanith, gestatten Sie eine Zwi- nie erreichen. Im Verteidigungsbereich haben wir die in- schenfrage des Kollegen Stinner? vestiven Ausgaben von 5,9 Milliarden Euro im vergan- genen Jahr auf über 6 Milliarden Euro angehoben. Das Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): heißt, der Anteil am Plafond beträgt wieder über 25 Prozent. Ja. Das sind die Fakten, die man zur Kenntnis nehmen und auch würdigen sollte, weil die Mittel in unserem Dr. Rainer Stinner (FDP): Bundeshaushalt knapp sind und weil bei einer Konsoli- Vielen Dank. – Lieber Herr Kollege, sind Sie bereit, dierung des Bundeshaushalts alle Bereiche des Bundes- zur Kenntnis zu nehmen, dass ich vor drei Wochen in haushalts erfasst werden. Dennoch haben wir erreicht, Faizabad persönlich gesehen habe, dass dort vier nagel- dass wir uns bei den Ausgaben für unsere Streitkräfte im neue Dingos auf dem Hof gestanden haben, und dass mir sicherheitspolitischen und im sicherheitstechnischen Be- der Kommandeur in Faizabad persönlich gesagt hat, dass reich – im Einzelplan 14 – nur sehr behutsam an Rück- sie diese vier neuen Dingos, die dort auf dem Hof ste- führungen beteiligen. hen, nicht einsetzen können, weil sie kein Personal ha- ben, das dieses Gerät fahren kann? Ich finde, dass gerade die Steigerungen bei den In- vestitionsausgaben – das sind sowohl die Ausgaben für (Johannes Kahrs [SPD]: Nein!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3613

(A) Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Aber dass die Soldaten nicht mit einem Dingo fahren (C) Herr Kollege Stinner, ich bin bereit, zur Kenntnis zu können, ist ein Märchen, das wir so nicht weiter verbrei- nehmen, dass Sie diese Frage gestellt haben und dass Sie ten sollten. in Afghanistan waren. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Herr Kollege, Sie sind sicherlich der Überzeugung, der SPD) dass der Herr Kollege Stinner umfassend aufgeklärt ist Wenn der Kommandeur Ihnen dies wirklich so gesagt und sich hinsetzen darf. hat, dann muss ich ein sehr großes Fragezeichen hinter (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD) diesen Kommandeur setzen. Ich sage es Ihnen einmal sehr vereinfacht. Selbst ich würde mir noch zutrauen, Ich möchte gerne Ihre Redezeit weiterlaufen lassen und den Dingo zu fahren. werde das auch tun. (Peter Hintze [CDU/CSU]: Das ist die Lö- Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): sung! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Rossmanith nach Faizabad!) Frau Präsidentin, ich werde den Kollegen Stinner so weit unterrichten und ihm den Sachverhalt so lange er- Ich kenne ihn. Ich bin ein aktiver Reservist, aber nicht in läutern, wie er dies wünscht. Solange er steht, wünscht diesem Bereich. Vielleicht haben Sie den Kommandeur er sich das wohl. missverstanden. Das unterstelle ich jetzt einmal für (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD) beide Seiten. Wenn dort ein Dingo ist, dann heißt das ja nicht, dass dieser von null bis 24 Uhr bewegt werden muss. Die Dingos standen gerade zu dem Zeitpunkt Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: draußen, als Sie, lieber Kollege Stinner, sie besichtigt Herr Kollege Stinner, ich denke, Sie können jetzt haben. Vielleicht wurden sie auch extra für Sie herausge- Platz nehmen. stellt, um zu zeigen, was an Material alles vorhanden ist. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD) (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Sonst hätte Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): er sie nicht besichtigen können!) Lieber Kollege Stinner, dann diskutieren wir das an- Aber die Behauptung, niemand sei in der Lage, diese schließend mit dem Bundesminister der Verteidigung (B) Fahrzeuge zu fahren, weise ich zurück. Ich werde der weiter, da die Frau Präsidentin – dafür habe ich natürlich (D) Sache – das können wir gerne gemeinsam machen – Verständnis – meine Redezeit nicht übermäßig verlän- nachgehen; das ist gar kein großes Problem. gern will, weil die Sitzung sonst zu lange dauert. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Keine Kritik (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Bitte telefo- an der Sitzungsführung!) nisch!) Frau Kollegin Hoff, bei einer Sache bin ich mit Ihnen Wir können uns hier noch und nöcher streiten. Aber völlig einig: Wir müssen eine Lösung dafür finden, wie es wäre ein Armutszeugnis, für diese Panne die Soldaten wir diese Auslandseinsätze finanzieren. Aber 1 Milliar- verantwortlich zu machen. Ich stelle mich vor die Solda- de Euro weniger ist angesichts des relativ schmalen ten, weil ich weiß, dass sie im Einsatz eine hervorra- Budgets schon sehr viel. Wir alle wünschen uns, hier gende Leistung erbringen. Ich darf mich nicht nur für mehr Mittel zur Verfügung stellen zu können, aber die meine Fraktion, sondern – davon bin ich überzeugt – im Haushaltszwänge sind nun einmal so, wie sie sind. Hier Namen des ganzen Hauses ausdrücklich für das bedan- müssen wir – damit beschäftigen wir uns gerade – eine ken, was unsere Soldaten von A wie Afghanistan bis Z gerechte Lösung finden. Wir werden – davon bin ich wie Zaire – heute heißt es wieder Kongo – leisten und überzeugt – auch eine Lösung finden. Auslandseinsätze noch zukünftig leisten müssen. Sie machen eine großar- und Transformationsprozesse kosten nun einmal Geld. tige Arbeit. Liebe Frau Hoff und verehrte Kolleginnen und Kolle- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) gen von der FDP, der Kollege van Essen hat es sicher- heitshalber vorgezogen, heute gar nicht zu erscheinen. Ich weiß, dass sie bestens ausgebildet sind und mit dem neuesten Gerät, das ihnen zur Verfügung gestellt (Zuruf von der FDP: Doch, er war schon da!) wird, bereits hier in Deutschland vertraut gemacht wer- Ich frage mich schon, weshalb Sie auf der einen Seite den. Es mag vielleicht sein, dass die eine oder andere das schmale Budget des Verteidigungshaushaltes Gasse – lieber Kollege Stinner, da Sie dort waren, ken- nen Sie sich aus – nicht die Breite hat, wie das bei uns (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Schmales Bud- der Fall ist. Durch einige Sträßchen – da stimme ich zu – get – ich lache mich gleich weg!) passt ein Dingo nicht. Da kann man vielleicht noch mit einem Fahrrad durchfahren. beklagen – unter den gegebenen Zwängen geht das nicht anders – und auf der anderen Seite milliardenschwere (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD) Kürzungsanträge stellen. 3614 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Kurt J. Rossmanith (A) (Birgit Homburger [FDP]: Das hat sie doch hauptung der Kanzlerin und des Finanzministers, die (C) nun wirklich hinreichend erklärt!) man am Verteidigungsetat sehr schön widerlegen kann. Da es mein Vorredner von der CSU nicht getan hat, – Nein, von den Reservisten hat sie gar nichts gesagt. Ich möchte ich Sie darauf hinweisen, dass es sich dabei um weiß nicht, ob die vielen aktiven Reservisten der FDP den drittgrößten Einzelhaushalt im Bundeshaushalt han- diesen Anträgen zugestimmt haben. Dass Sie gerade in delt. Er macht fast 11 Prozent des gesamten Haushaltes dem Bereich der Reservisten, die nicht nur die Verbin- aus. dung zwischen dem zivilen und dem militärischen Be- reich schaffen, sondern sich auch an den Auslandseinsät- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!) zen aktiv beteiligen, und zwar unter Inkaufnahme persönlicher Unbill – schließlich brauchen wir Fachleute Der Verteidigungsetat hat – nach den Beratungen im und die Reservisten stellen sich gerne zur Verfügung –, Haushaltsausschuss ist der Etat noch etwas erhöht wor- einen Kürzungsantrag stellen, finde ich geradezu schä- den – ein Gesamtvolumen von 23,88 Milliarden Euro. big und völlig unangebracht. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: So viel Wahr- Sie hätten sich vielleicht informieren sollen, bevor Sie heit war selten bei der PDS!) nur deshalb einen Antrag vorlegen, weil Sie wissen, dass er ohnehin abgelehnt wird. Auch das sage ich klar und Das ist mehr, als zum Beispiel das Land Niedersachsen deutlich. insgesamt für die Erfüllung seiner staatlichen Aufgaben im Jahr 2006 zur Verfügung hat. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Auch das glauben wir Ihnen!) An den Bundesminister der Verteidigung und die ge- samte Hardthöhe gewandt, weise ich darauf hin, dass wir Der niedersächsische Landeshaushalt hat lediglich ein gemeinsam eine Konzeption zur Neuordnung des Re- Gesamtvolumen von 22 Milliarden Euro. servistenwesens erarbeiten müssen, weil wir die Reser- Herr Schäuble hat, als er noch in der Opposition war, visten dringend brauchen, und zwar nicht nur als Verbin- keine Tagung und kein Interview ausgelassen, um den dung zwischen dem zivilen und dem militärischen aus seiner Sicht bedauernswerten Zustand der Bundes- Bereich, sondern auch für den Einsatz selbst. Dabei leis- wehr zu beklagen. In den Medien wurde berichtet, dass ten die Reservisten hervorragende Arbeit. sich die Bundeswehrsoldaten in Afghanistan selbst mit Ich möchte als letzten Punkt die Kooperation mit Tchibo-Ferngläsern ausrüsten müssten, weil die Bundes- der Wirtschaft ansprechen. Auch hier müssen wir zu ei- wehr dafür kein Geld habe. (B) nem Ergebnis kommen. Wir können weder nur auf die (D) Streitkräfte noch allein auf die Wirtschaft setzen; auch Es ist immer das gleiche Spiel: Bei der Sicherheit und hierbei ist ein gemeinsames Vorgehen notwendig. Das der persönlichen Ausrüstung der Soldaten wird gespart. wird die gemeinsame Aufgabe des Haushaltsausschus- Dafür fließt das Geld üppig, wenn es um die Beschaf- ses, des Verteidigungsausschusses und des Ministeriums fung von neuen Rüstungsgütern geht, die keiner braucht. sein. Ich bin sicher, dass wir auf diesem Weg eine geeig- Wir als Linke lehnen zum Beispiel – um das etwas nete Linie finden werden und dass wir alle in diesem deutlicher zu machen – die Anschaffung des Hub- Haus – vielleicht mit Ausnahme der PDS – gut ausgebil- schraubers Tiger ab. dete Streitkräfte wollen. Wir sind stolz auf unsere Solda- tinnen und Soldaten. Deswegen bitte ich herzlich um Zu- (Beifall bei der LINKEN) stimmung zu diesem Haushalt. Er ist als zweisitziger Begleit- und Unterstützungshub- Auch mir persönlich fällt es aufgrund der Einschrän- schrauber konzipiert und soll den Panzerabwehrhub- kungen dieses Haushalts nicht leicht, ihm zuzustimmen. schrauber BO-105 ersetzen. Der Steuerzahler soll dafür Aber wir wissen, dass wir mit in der Verantwortung ste- 380 Millionen Euro bezahlen. Welche Panzer sollen hen und dass sich die Haushaltskonsolidierung über alle denn damit abgewehrt werden? Es ist vielleicht die Bereiche erstrecken muss. Technik, die begeistert; die Bundeswehr braucht sie aber nicht. Wie Sie alle wissen, werden im Rüstungshaushalt Herzlichen Dank. noch Projekte aus dem Kalten Krieg realisiert, die keine (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Antwort auf die heutigen sicherheitspolitischen Heraus- forderungen geben. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der LINKEN) Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Frak- tion Die Linke. Ich finde es erstaunlich, dass Rüstungsprojekte in der Öffentlichkeit so gut wie gar nicht diskutiert werden. (Beifall bei der LINKEN) Wie viele andere Projekte werden solche Anschaffungen von der Koalition – häufig, wie bei MEADS, mit Unter- Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): stützung der Grünen – durch den Bundestag gewunken, Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten ohne dass in den Medien davon Notiz genommen und Damen und Herren! Liebe Gäste auf der Tribüne! „Es über den Sinn oder Unsinn solcher Projekte diskutiert gibt nichts mehr zu verteilen“ lautet die Dauerfalschbe- wird. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3615

Dr. Gesine Lötzsch (A) Wie lange zum Beispiel wurde öffentlich über das Für Vielen Dank. (C) und Wider der Angleichung des Arbeitslosengeldes II Ost an das Westniveau gestritten? (Beifall bei der LINKEN – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das war keine überzeugende (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Was spricht Rede!) denn aus Ihrer Sicht gegen MEADS?) Jetzt gibt es für jeden Arbeitslosengeld-II-Empfänger im Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Osten 14 Euro mehr. Das macht insgesamt 120 Millio- Nächster Redner ist der Kollege Johannes Kahrs, nen Euro. Aber allein die Anschaffung der Tiger-Hub- SPD-Fraktion. schrauber kostet den Steuerzahler 380 Millionen Euro (Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter im Jahr 2006 und kein Mensch möchte darüber reden. [CDU/CSU]: Johannes, bleib sachlich!) (Beifall bei der LINKEN) Johannes Kahrs (SPD): Es verwundert mich, dass sich die kritischen Medien und der Bund der Steuerzahler so gar nicht für die Ver- Man kennt mich nicht anders. – Sehr geehrte Frau schwendung von Steuergeldern bei der Rüstungsbe- Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Ver- schaffung interessieren. In letzter Zeit hört man leider teidigungshaushalt gehört zu den stabilen Haushalten. auch wenig darüber, wenn es um Korruption in diesem Er hat ein Volumen von 23,88 Milliarden Euro. Unge- Bereich geht. Ich habe die Bundesregierung gefragt, wie fähr auf diesem Niveau bewegt er sich seit Mitte der hoch die Korruptionsschäden im Gesundheitswesen, bei 90er-Jahre. Das heißt, der Verteidigungshaushalt ist in der Rüstungsbeschaffung und im Bauwesen geschätzt den letzten Jahren immer stabil gewesen. Der einzige werden. War die Antwort, bezogen auf das Bauwesen, Unterschied ist, dass kein Inflationsausgleich stattgefun- noch halbwegs informativ, habe ich über Korruption bei den hat, sodass die Kaufkraft abgenommen hat. Rein der Rüstungsbeschaffung nichts erfahren. Dabei wissen zahlenmäßig ist dieser Etat allerdings stabil. wir alle doch seit den Geschäften, die die Bundesregie- Es wird viel über die berühmte Friedensdividende ge- rung Kohl mit Waffenhändlern realisiert hat, dass es hier sprochen. 1990 hatte der Verteidigungsetat ein Volumen in der Regel um sehr viel Geld geht. Wenn die Bundes- von 29,42 Milliarden Euro. Nun sind es 23,88 Milliar- wehr eine Parlamentsarmee sein soll, dann muss auch den Euro. Das heißt, die Verteidigungsausgaben sind in hier offen und ehrlich über solche Fragen geredet wer- den letzten Jahren kontinuierlich gesunken. den. Doch als Parlamentarier trifft man auf eine Mauer des Schweigens. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: So weit zu (B) den Einlassungen von Frau Lötzsch!) (D) (Beifall bei der LINKEN) Die Friedensdividende ist eingefahren worden. Aber die Wir, die Linke, fordern die Bundesregierung auf, die entscheidende Frage ist, wie viel man noch sparen kann, Heimlichtuerei endlich zu beenden und mehr Transpa- ohne die Soldaten in Gefahr zu bringen. renz bei der Rüstungsbeschaffung herzustellen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Und die Sol- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist eines datinnen!) der transparentesten Beschaffungsvorhaben überhaupt, Frau Lötzsch!) 1993 betrug der Anteil des Einzelplans 14 am Bundes- haushalt 10 Prozent. Nun sind es rund 9 Prozent. Unsere Fraktion hat in den Haushaltsberatungen Kür- zungen beim Verteidigungsetat in Höhe von 2,6 Milliar- Die FDP hat Kürzungsvorschläge mit einem Volumen den Euro vorgeschlagen. Das sind ungefähr10 Prozent von 350 Millionen Euro gemacht. Frau Kollegin Hoff, dieses Etats. Dieser Konsolidierungsbeitrag würde die vor diesem Hintergrund ist es relativ schwierig, Ihre Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in keiner Weise Rede zu begreifen; denn Sie haben eher das genaue Ge- einschränken. Leider sind alle unsere Vorschläge abge- genteil gefordert. Wir geben sehr viel Geld aus, um dem lehnt worden. Schutz der Soldaten Rechnung zu tragen. (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Gott sei es (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gedankt!) Alle Beschaffungsvorhaben der letzten Zeit dienen dazu. Deshalb werden wir gegen den Einzelplan 14 stimmen. Sie wissen das ebenfalls. Ich muss an dieser Stelle si- cherlich nicht mehr auf die Dingos eingehen. Abschließend möchte ich Ihnen klar und deutlich sa- gen, dass wir, die Linke, der begründeten Auffassung Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sind, dass die Bundeswehr die Sicherheit unseres Lan- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des des nicht zu garantieren vermag. Wer glaubt, die Sicher- Herrn Kollegen Koppelin? heit durch neue Waffensysteme zu garantieren, der hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Nur eine gerechtere Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Bekämpfung von Ar- Johannes Kahrs (SPD): mut sowie die Verhinderung bzw. die Beendigung von Der von mir geschätzte Kollege Koppelin kann im- Kriegen können uns allen mehr Sicherheit geben. mer eine Zwischenfrage stellen. 3616 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

(A) Jürgen Koppelin (FDP): wird man zu einer Lösung dafür kommen müssen. Wir (C) Vielen Dank, Herr Kollege Kahrs. – Ich greife einmal werden an dieser Stelle diskutieren müssen – das ist uns einen Kürzungsvorschlag der FDP heraus, der auch eini- bekannt –, wie die Koalition dieses Problem löst. Für ges an Geld gebracht hätte. Dazu hätte ich doch gern den Haushalt 2006 ist das noch nicht das Problem. Ihre Stellungnahme. Sind Sie nicht mit uns der Auffas- sung, dass man eigentlich zum Beispiel die Stelle des Wenn wir uns die Struktur des Haushalts anschauen, Parlamentarischen Staatssekretärs streichen könnte, der stellen wir fest, dass wir für Betriebsausgaben 17,2 Mil- sich kaum noch im Ministerium aufhält, sondern Wahl- liarden Euro vorsehen. Das sind 72 Prozent des Verteidi- kampf in Berlin macht und kaum noch Zeit für dieses gungshaushalts. Damit sind wir das erste Mal seit ewi- Ministerium zu haben scheint? gen Zeiten unter der 75-Prozent-Marke, was daran liegt, dass wir insbesondere im Personalbereich sparen. Das (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Thema „Abbau des Zivilpersonals“ kennen Sie. Der Be- NEN) trag für die Personalkosten beläuft sich auf 11,8 Mil- liarden Euro. Es gab einmal eine Deckelung auf 12,5 Mil- Johannes Kahrs (SPD): liarden Euro. Das heißt, hier geht die Koalition einen Geschätzter Kollege Koppelin, wie Sie wissen, richtigen Weg weiter. Ich glaube, dass das auch von Er- schätze ich die beiden Parlamentarischen Staatssekre- folg gekrönt sein wird. Wir haben die Personalstärke bei täre, die wir haben, sehr. Ich glaube, dass sie ihre Arbeit den Soldatinnen und Soldaten, die in der Zielstruktur hervorragend machen, so wie der Minister auch, und 2010 veranschlagt ist, jetzt schon fast erreicht. deswegen kann ich das leider nicht nachvollziehen. Beim Zivilpersonal werden wir uns in dieser Hinsicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der noch anstrengen müssen. Da gibt es die Zielmarke von CDU/CSU – Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/ 75 000, wobei diese Marke auch gern unterschritten wer- DIE GRÜNEN]: Was sagt Wowereit zu der den kann. Staatssekretär Dr. Wichert wird ein Personal- Antwort?) strukturmodell vorlegen. Wir als Fachpolitiker, als Haus- hälter werden daran mitwirken, weil das eine wichtige Zu der Rede der Kollegin Hoff möchte ich noch an- Aufgabe ist, wenn es darum geht, die Bundeswehr ver- merken, dass wir zum Schutz der Soldaten viel Geld nünftig aufzustellen. ausgeben. Wir priorisieren das, um dem ganz besonders Rechnung zu tragen. Wenn man schaut, was im Bereich Es gab bedauerliche Kürzungen; Sie haben sie aufge- des persönlichen Schutzes getan wird, stellt man fest, führt. Genauso richtig ist aber auch, dass es uns gelun- dass das sehr überzeugend ist. Uns alle eint das gemein- gen ist, das Entlassungsgeld für Wehrpflichtige zu erhal- schaftliche Bemühen, die Soldaten, die wir ins Ausland ten. Es ist nicht gestrichen worden. Das haben wir für (B) (D) schicken, vernünftig auszurüsten und auszustatten, damit besonders wichtig erachtet. Die anderen Dinge, so un- sie da nicht in Gefahr geraten. Wir haben einen eigenen schön sie sind, sind damit zu erklären, dass man sich im Etat für einsatzbedingten Sofortbedarf. Ich persönlich Bereich des öffentlichen Dienstes bewegt und die Bun- habe mich sehr dafür eingesetzt – wie meine Fraktion deswehr da keine Extraregelung bekommen kann. In und wie diese Koalition –, dass man im Notfall be- dem Fall wäre es eine Extraregelung gewesen. Das ha- stimmte Dinge auch beschleunigt, damit die Soldaten im ben wir verhindert. Einsatz das Notwendige bekommen. Dabei kann es Pro- Wenn man sich das Ganze anschaut, stellt man fest, bleme geben. Im Einzelfall muss man das dann aufklä- dass wir als Koalition im Bereich der Planstellen viel ren. Aber in der Sache ist dieser Koalition, dem Verteidi- verbessert haben. Für die Feldwebel sind schon im Re- gungsministerium und dem Minister nicht vorzuwerfen, gierungsentwurf 900 Planstellen gehoben worden. Wir, irgendetwas unterlassen zu haben. Fachpolitiker, Haushälter und Ministerium, haben in Zu- In dem Zusammenhang kann ich auf das Beispiel der sammenarbeit mit dem Bundeswehr-Verband weitere Kollegin Lötzsch mit dem Tiger eingehen. Wir hätten Verbesserungen erreicht, sodass wir hoffen, dass sich die den Tiger jetzt ganz gern in Afghanistan. Man könnte Wartezeit für die Beförderung zum nächsten Dienstgrad damit Konvois, die über lange Strecken fahren müssen, deutlich verkürzt. Der Beförderungsstau kann nicht besser schützen, wobei auch insbesondere die eigenen komplett aufgelöst werden, wir sind aber auf dem richti- Soldaten nicht so gefährdet wären. Deswegen hätten wir gen Weg. damit kein Problem. Für die Materialerhaltung geben wir 1,9 Milliarden Der 39. Finanzplan sieht eine jährliche Steigerung um Euro aus, für den sonstigen Betrieb, also Treibstoffe, circa 300 Millionen Euro ab dem Jahr 2007 vor. Das be- Bewirtschaftung der Liegenschaften und Ähnliches, deutet, dass die Preissteigerung in jedem Jahr aufgefan- 3,5 Milliarden Euro. gen wird. Das wiederum bedeutet, dass wir ein stabiles Niveau haben. Das bedeutet, dass der eingeschlagene Lassen Sie mich, was den Betrieb der Liegenschaften Weg der Transformation der Bundeswehr so weiter- angeht, noch etwas sagen. Wir haben in den letzten Jah- verfolgt werden kann. Das heißt wiederum, dass wir die ren viel Geld investiert, insbesondere in den neuen Bun- Transformationsziele auch erreichen können. desländern. Das war notwendig, richtig und gut. Gleich- zeitig ist es aber so, dass im Westen der Republik ein Es gibt bei der ganzen Sache noch ein Risiko. Das ist erhöhter Handlungsbedarf besteht. Nachdem wir nun ein die Mehrwertsteuererhöhung. Sie wird bei uns mit um feststehendes Stationierungskonzept haben, ist es wich- die 300 Millionen Euro zu Buche schlagen. Im Etat 2007 tig, dass wir insbesondere Geld in die Hand nehmen, um Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3617

Johannes Kahrs (A) die Infrastruktur, das heißt die Umgebung unserer Solda- Des Weiteren möchte ich mit den Kollegen Haushäl- (C) tinnen und Soldaten, zu verbessern und aufzuwerten. tern über die Frage der Struktur des Verteidigungs- Das muss sowohl für die Übernachtungsräume, also die haushaltes diskutieren, der als einziger Haushalt so auf- Kasernen selber, als auch für die Kantinen und anderes gebaut ist, dass alles mit allem deckungsfähig ist. Das gelten. Ich persönlich stehe dafür ebenso wie meine Kol- hat Vorteile, die wir alle kennen, nämlich dass der Haus- leginnen und Kollegen. Ich glaube, dass wir als Parla- halt sehr gut ausgeschöpft werden kann. Am Ende eines ment mit der Verbesserung des täglichen Umfeldes der Haushaltsjahres gibt es beim Verteidigungsetat fast keine Soldaten eine wichtige Aufgabe haben. Haushaltsreste. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Otto Fricke [FDP]: Das ist wahr!) Für die Betreiberlösung stellen wir 652 Millionen Das ist löblich und relativ selten. Dass alles mit allem Euro zur Verfügung. Davon gehen allein 365 Millionen deckungsfähig ist, bedeutet aber auch, dass eine parla- Euro in die Bundeswehr-Fuhrpark Service GmbH. Da mentarische Kontrolle nach dem Wahlspruch „Haus- gab es viel Kritik und am Anfang auch viele Probleme. haltswahrheit und Haushaltsklarheit“ relativ schwierig Aber wenn man jetzt mit den Kameradinnen und Kame- zu erreichen ist. raden in der Truppe darüber redet, stellt man fest, dass (Beifall des Abg. Otto Fricke [FDP]) die Begeisterung angesichts der neuen Autos doch deut- lich überwiegt; denn das ist etwas, was es vorher so nicht Dazu gehört viel Vertrauen. gegeben hat. Ich glaube, dass das eine vernünftige Maß- nahme war, die man weiter unterstützen sollte. Auch die Ich glaube, dass man sich einmal darüber unterhalten Heeresinstandsetzungslogistik GmbH, HIL, bauen wir sollte, inwieweit man einzelne Deckungskreise schaffen zurzeit auf. kann, mit denen das Gleiche, nämlich die Ausschöpfung des Etats, erreicht wird, aber auf der anderen Seite die Die verteidigungsinvenstiven Ausgaben liegen bei Möglichkeit der parlamentarischen Kontrolle erhöht circa 6 Milliarden Euro und machen ungefähr 25 Prozent wird. Frau Lötzsch hatte die Transparenz angesprochen. des Etats aus. Das bedeutet, dass wir für Investitionen Ich glaube, das würde uns allen dienen; denn dann mehr ausgeben als seit langem in der Geschichte der könnte jeder sehen, was in diesem Hauhalt passiert. Wir Bundeswehr. Das Ziel von 30 Prozent wird angestrebt; hatten zum Beispiel einen Titel von ungefähr 470 Millio- dazu haben wir auch entsprechende Vorlagen gemacht. nen Euro für den einsatzbedingten Sofortbedarf, der im Ich glaube, dass wir hier auf einem guten Wege sind. letzten Jahr nur zur Hälfte ausgeschöpft worden ist. Das Wichtig ist, dass zusätzliche Handlungsspielräume bei ist für viele Parlamentarier schwer nachvollziehbar. Ich Senkung der Betriebsausgaben erreicht werden. Das glaube, dass es für uns alle besser wäre, wenn wir diese (B) werden wir angehen. Diskussion rechtzeitig führten, um zu erleben, dass es (D) auch anders funktioniert. Das heißt, mehr Transparenz Probleme gibt es – das ist hier angesprochen worden – ist nötig; dann bekommt man das auch hin. wegen entsprechender Großvorhaben in dem Etat. Das betrifft allerdings, wenn ich mir die Bemerkung erlauben (Beifall des Abg. Otto Fricke [FDP]) darf, insbesondere den Eurofighter, der unter einer Diese Diskussion sollten wir führen. schwarz-gelben Regierungskonstellation beschlossen worden ist. Jetzt muss man sehen, wie man das vernünf- Des Weiteren sollten wir nicht nur über die Finanzie- tig regelt. Wir haben aber in der Vergangenheit immer rung, sondern auch über die Auslandseinsätze an sich hervorragende Lösungen gefunden, wobei das Verteidi- sprechen. Deren Finanzierung müssen wir einzeln aus- gungsministerium geholfen hat. weisen. Man muss einen entsprechenden Weg finden. Ich halte es für schwierig, den Haushalt des Einzel- Ich möchte jetzt einige inhaltliche Punkte ansprechen, plans 14 immer als komplett deckungsfähig anzusehen. von denen ich glaube, dass sie für die Arbeit der nächs- Das können wir bis zu den nächsten Beratungen regeln. ten Jahre wesentlich sind und über das Klein-Klein ein bisschen hinausgehen. Mir ist es insbesondere nach den Reden, die bisher gehalten worden sind, wichtig, darauf hinzuweisen, dass Wir haben schon in den Koalitionsverhandlungen da- deutlich weniger Soldaten als in den letzten Jahren im rüber gesprochen, inwieweit Art. 87 b Grundgesetz Auslandseinsatz sind. Zurzeit sind noch ungefähr noch eine Funktion erfüllt. Der darin enthaltene zwei- 6 400 Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz. gliedrige Aufbau der Bundeswehr lässt sich aus den Er- Man muss aber auch betonen – das fällt mir in diesem fahrungen des Zweiten Weltkriegs erklären. Heute müs- Hause manchmal nicht leicht –, dass die Einsätze im Ko- sen wir uns fragen, ob das nach wie vor sinnstiftend ist sovo und in Nordafghanistan keine Routine sind. Diese oder ob das zu Doppelungen bei den Strukturen führt, Einsätze sind eher gefährlicher denn friedlicher gewor- die nur Geld kosten, und ob man das anders hinbe- den. Sie sind sehr anspruchsvoll und werden unsere Auf- kommt. Ich glaube, dass wir darüber mit allen Fraktio- merksamkeit und Konzentration benötigen. Das heißt, nen und mit den Bundesländern, die wir dafür ebenfalls wir als Parlamentarier sind gefordert, uns mehr um diese brauchen, diskutieren müssen. An diese Diskussion Einsätze – insbesondere auch den Einsatz in Afghanistan – muss man ergebnisoffen herangehen. Aber wenn sich zu kümmern. dadurch Effizienzpotenziale heben ließen, wäre das ein vernünftiger Weg, den man nicht dogmatisch angehen Wir haben vor kurzem eine Diskussion über den sollte. Kongoeinsatz geführt. Meine Ablehnung, was diesen 3618 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Johannes Kahrs (A) Einsatz angeht, ist hinlänglich bekannt. Solch ein Ein- Bei allen Meinungsverschiedenheiten kann man fest- (C) satz bringt ganz eigene Probleme mit sich, die wir aus halten, dass wir alle dafür arbeiten, dass die Soldaten im anderen Einsätzen nicht kennen; das ist von Generalleut- Ausland vernünftig ausgerüstet werden und geschützt nant Viereck angesprochen worden. Dabei geht es zum sind. Es ist unser Bemühen, die Bundeswehr, wenn es Beispiel um die Frage der Kindersoldaten. Dazu gibt es notwendig und nicht vermeidbar ist, in entsprechender politische Aussagen. In der Sache ist es relativ schwie- Art und Weise in den Einsatz zu schicken. Ich möchte rig, den Soldaten diese Problematik zu vermitteln und mich bei dem zuständigen Ministerium, insbesondere sie darauf vorzubereiten. Auch das sollten wir sehr ernst beim Minister und seinen Staatssekretären, für die gute nehmen; denn es handelt sich um eine Parlamentsarmee. Zusammenarbeit bedanken. Der Einsatz im Kongo wird die Bundeswehr vor neue Glückauf! Situationen und Herausforderungen stellen. Man muss (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sich überlegen, wie das weitergehen soll. An internatio- nalen Verpflichtungen sind wir in einigen Bereichen, zum Beispiel mit der Bereitstellung von Truppen zur Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: NATO Response Force oder zu den EU-Battle-Groups, Das Wort hat der Kollege Alexander Bonde, beteiligt. Dies birgt die Gefahr, dass wir an Einsätzen Bündnis 90/Die Grünen. teilnehmen, die wir so gar nicht vorhergesehen oder ge- (Otto Fricke [FDP]: Jetzt kannst du aber nichts plant haben. Das alles kann sehr schnell gehen. Deswe- Böses mehr sagen! – Kurt J. Rossmanith gen sollte man diesem Punkt eine ganz andere Aufmerk- [CDU/CSU]: Gleich mit dem Dank anfangen!) samkeit schenken. Die kritische Diskussion über und die Vorbereitung Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zum Kongoeinsatz sind sehr wichtig gewesen. Die ge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! troffene Entscheidung müssen wir jetzt gemeinsam Es ist schwierig, nach so viel Dank an die Opposition die durchstehen, so unterschiedlich unser aller Auffassungen notwendigen Anmerkungen zu einem Einzelplan wie vielleicht waren. Die Soldaten können von uns verlan- diesem zu machen. Ich möchte die Anregung des Kolle- gen, dass wir dies tun. Was zukünftige Einsätze jenseits gen Kahrs aufgreifen, der uns alle dazu eingeladen hat, des Kongos angeht, würde ich darum bitten, sehr kritisch sehr intensiv über die Struktur dieses Haushaltes zu dis- und sehr vorsichtig vorzugehen. Denn mit Afghanistan kutieren. Ich will festhalten, dass wir mit den Koalitions- und dem Kosovo haben wir zwei offene Baustellen, die fraktionen in diesen Haushaltsberatungen in dieser Dis- uns beschäftigen werden. Ich glaube, dass der Einsatz im kussion nicht weitergekommen sind. Denn dieser (B) Kongo nicht einfach wird. Ich glaube, dass er länger Haushalt hat den Ausschuss praktisch unverändert, so (D) dauern wird, als wir alle uns das vorstellen. wie ihn uns das Ministerium vorgeschlagen hat, passiert. (Jürgen Koppelin [FDP]: Hört! Hört! – Birgit Alle Diskussionen, die wir heute in dieser Debatte, Homburger [FDP]: Bitte?) aber auch in der Debatte über den Einzelplan des Aus- wärtigen Amts, über die Veränderung von Einsatzszena- Deswegen habe ich meine Probleme mit einem Konzept, rien der Bundeswehr und über die konkreten Situationen das langfristig mehr Auslandseinsätze vorsieht als die, geführt haben, in denen sich deutsche Streitkräfte in ih- die wir jetzt kennen. Meine Bitte ist, dies vorsichtig zu ren Einsätzen befinden, finden wir in der Struktur dieses betreiben. Haushalts nicht wirklich wieder. Wenn wir bei diesem Einzelplan eine Diskussion über seine Gesamthöhe füh- An dieser Stelle möchte ich mich bei meinen Kolle- ren und uns fragen, ob er zu niedrig oder zu hoch ist, ginnen und Kollegen ganz herzlich für die gute Zusam- dann fehlt mir dabei die entscheidende Frage, nämlich: menarbeit bedanken, insbesondere bei der Kollegin Bekommen wir für das Geld, das wir bzw. die Steuerzah- Jaffke, die heute aus gesundheitlichen Gründen leider ler in diesen Einzelplan investieren, die militärischen nicht hier sein kann – ich wünsche ihr von dieser Stelle Kapazitäten und Fähigkeiten, die heute eigentlich ange- gute Besserung –, messen sind und die zu der Rolle der Bundeswehr und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie zu der Rolle der Bundesrepublik im internationalen Ge- bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- schehen passen? NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und dem Kollegen Bartholomäus Kalb. Insbesondere mit sowie bei Abgeordneten der FDP) dem geschätzten Kollegen Koppelin, der durch seine kri- Ich will in dem Zusammenhang mit einem Totschlag- tischen Einwürfe unsere Arbeit immer wieder befruch- argument aufräumen, das heute Morgen die Debatte be- tet, gab es eine hervorragende Zusammenarbeit. stimmt hat. Ich will mit Blick auf die Änderungsanträge (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) meiner Fraktion sagen: Wir haben in Bezug auf diesen Einzelplan eine Reihe von Kürzungsanträgen gestellt; Ich bedanke mich auch bei dem ehemals verbündeten jeder einzelne dieser Anträge ist umsetzbar und kein ein- Kollegen Bonde, mit dem wir immer gerne zusammen- ziger gefährdet die Soldaten in den Einsätzen. Das ist ja arbeiten, und der Kollegin Lötzsch, die wir sehr schät- ein Pappkamerad, der hier in den Debatten aufgebaut zen, was ihre konstruktiven Vorschläge und Äußerungen wird. Damit will man ausblenden, dass auch bei diesem angeht. Einzelplan die Notwendigkeit besteht, sehr genau jede Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3619

Alexander Bonde (A) Ausgabe zu prüfen und dort, wo einer Ausgabe keine Fä- wesentlich wichtiger ist als die Frage nach dem tatsächli- (C) higkeit gegenübersteht, entsprechend zu kürzen. chen Bedarf. Herr Minister, wer ein solches Projekt, das Rot-Grün zu Recht auf Eis gelegt hat, nun als Hochzeits- Ich will dafür Beispiele benennen. Ein Paradebeispiel geschenk für die deutsche Lenkwaffenindustrie wieder ist eine Sonderaktion des Bundesverteidigungsministers, hervorholt, muss sich schon fragen lassen, ob er der der über die Medien bekannt gegeben hat, er wolle, ab- große Bundeswehrreformer ist, der er sein will, oder weichend von den Plänen seines Vorgängers, 5 000 zu- doch nur das Schoßhündchen der Rüstungsindustrie. sätzliche Wehrpflichtige einberufen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Johannes Kahrs [SPD]: Das ist auch gut so!) Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Na, na! – Damit rückt er von den Planungen des Hauses ab; damit Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Starker ignoriert er die Vorschläge seines eigenen Hauses, und Tobak!) zwar an einem Punkt, bei dem es um eine ideologische Wir reden hier über ein Projekt, aus dem die europäi- Frage geht. Denn jeder weiß, dass die Wehrpflichtigen schen Partnernationen längst ausgestiegen sind, weil sie keine Hilfe für die Soldatinnen und Soldaten in den Ein- erkannt haben, dass es die Bedrohung mit Panzern aus sätzen sind, und jeder weiß, dass sie eine Belastung für dem Osten nicht mehr gibt. Wir reden über ein System, die Bundeswehr in Bezug auf ihre Struktur und die Res- bei dem jeder Schuss eine halbe Million Euro kosten sourcenplanung sind. Die ganze Operation kostet – wir wird. Knapp 400 Millionen Euro sollen für ein Projekt mussten lange bohren, um eine Zahl aus dem Ministe- ausgegeben werden, das ungefähr zu einer Zeit begon- rium zu bekommen – den Steuerzahler 80 Millionen nen wurde, als ich auf die Welt kam. Wir reden über Pan- Euro. Diese 80 Millionen findet man in diesem Einzel- zerabwehrwaffen und Bunkerbekämpfungswaffen, die plan auch gar nicht, weil sie generalstabsmäßig versteckt für keinen Einsatz gebraucht werden, den die Bundes- worden sind. Auf langes Bohren unsererseits wurde uns wehr heute durchführt. gesagt: Der Verteidigungsminister will diese Stellen fi- nanzieren, indem er Einsparungen bei den Berufs- und Dieser Einzelplan leidet darunter, dass in ihm keine Zeitsoldaten entgegen der Personalplanung und entge- politische Priorität gesetzt wird. Die alten Auftragsbü- gen dem Stellenplan des Einzelplans 14 vornimmt. cher werden von Jahr zu Jahr weitergeführt. Aber es Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit finden bei die- fehlt der politische Mut, einen Schnitt vorzunehmen. Es sem Minister also nicht statt. Wir sind gespannt, wie er fehlt ein klares Verständnis, was Priorität haben muss. gegenüber der Truppe diese Abweichung vom Plan in Außerdem fehlt die Überlegung, bei welchen Szenarien den nächsten Jahren begründen will; wir sind gespannt, wir militärische Gewalt einsetzen müssen und wie wir wie er diese Gesamtzahl haushaltsrechtlich absichern dafür unsere Soldatinnen und Soldaten verantwortungs- (B) will. voll ausrüsten können. (D) Es wären auch noch weitere Fragen zu stellen, etwa: Sie haben unsere Unterstützung, wenn es darum geht, Werden die Beschaffungsprioritäten mit Blick auf die sinnvolle internationale Einsätze unter UN-Mandat zu Einsatzszenarien richtig gesetzt? Welches Ausgangsbild organisieren und die Soldatinnen und Soldaten adäquat und welche Bedrohungslage werden unterstellt? Der auszurüsten. Aber Sie bekommen unsere Unterstützung Entwurf des Weißbuches, der auf dem Tisch liegt – auch nicht dafür, den Kalten Krieg fortzuführen, als hätte sich eine Geheimoperation des Ministers –, sorgt eher für die Welt nicht verändert. eine Verunklarung, als dass er eine klarere Priorisierung Dieser Einzelplan ist in dieser Form nicht zustim- bei der Beschaffung deutlich macht. mungsfähig. Legen Sie einen vor, der ins Jahr 2006 Ich will auf zwei dieser Beschaffungsmaßnahmen passt! Dann können wir ihn ernsthaft beraten. eingehen: Vielen Dank. Der Eurofighter wurde ja bereits genannt. Wir wis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sen alle: Keiner braucht 180 Stück. Wir wissen aber auch, dass dieser Minister nicht in der Lage ist, hier eine Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Priorisierung vorzunehmen und in Gespräche über eine Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, Stückzahlreduzierung einzutreten. Das wäre aber der Dr. Franz Josef Jung. richtige Weg. Wir sehen im Gegensatz zur FDP den rich- tigen Weg nicht in der Weiterveräußerung, sondern in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Verhandlungen zur Reduzierung der Stückzahlen. neten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi- Das nächste Rüstungsprojekt wird uns in der nächsten gung: Woche auf den Tisch gelegt werden. Es ist PARS 3, eine Frau Präsidentin! Meine sehr verehrte Damen und Panzerabwehrwaffe, die man sich Anfang der 80er-Jahre Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich will zu- ausgedacht hat, die Mitte der 80er-Jahre konzeptioniert nächst festhalten, dass mit dem Haushalt 2006 die wurde, der in den 90er-Jahren der Feind abhanden ge- Grundlage geschaffen wird, dass die Bundeswehr die Si- kommen ist und die wir nun, 2006, beschaffen sollen. cherheit und Freiheit unserer Bürgerinnen und Bürger Sie ist ein typisches Beispiel dafür, dass in diesem Haus weiterhin gewährleisten kann, dass sie ihre friedensi- die Auslastung der Kapazitäten der Rüstungsindustrie chernde Funktion in den Auslandseinsätzen wahrneh- 3620 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Bundesminister Dr. Franz Josef Jung (A) men kann und dass die Soldatinnen und Soldaten die (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das kann (C) notwendigen Rahmenbedingungen für die erfolgreiche man von ihr nicht erwarten!) Erfüllung dieser Aufträge vorfinden. Natürlich leisten wir in Afghanistan einen Stabilisie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rungs-, aber auch einen Wiederaufbaubeitrag. Natürlich neten der SPD) leistet die Bundeswehr diesen Beitrag, aber wir betrei- ben dort eine vernetzte Sicherheitspolitik. Jeden Montag Ich bin den Berichterstattern und auch der Mehrheit findet nämlich eine Schaltung zwischen Bundesaußen- im Haushaltsausschuss für die Unterstützung sehr dank- ministerium, Bundesinnenministerium, Bundesverteidi- bar. Frau Kollegin Hoff, ich habe mich aber schon sehr gungsministerium, Bundesentwicklungsministerium und gewundert, als ich Ihre Ausführungen gehört habe. Ich Bundeswirtschaftsministerium statt, um entsprechende hätte mir gewünscht, dass das, was Sie hier gesagt ha- Aktivitäten abzustimmen. Zur Frage der Sicherheitspoli- ben, auch Ihren Taten entsprochen hätte. Denn Ihre Aus- tik auch und gerade in Afghanistan gehört ja mit dazu, führungen stehen schon im Widerspruch zu den Kür- dass auch andere Bereiche entwickelt werden, sei es im zungsanträgen, die Ihre Fraktion im Rahmen dieser zivilen Bereich der Ausbau der Polizei, seien es Maß- Haushaltsberatungen gestellt hat. nahmen im Bereich der Entwicklungspolitik, sei es im Frau Kollegin Lötzsch, wenn Sie hier den Eindruck wirtschaftlichen Bereich, dass man den Bauern, die jetzt erwecken, es sei erheblich draufgesattelt worden, nur mit der Drogenszene zusammenarbeiten, Alternativen weil wir bei 27 Milliarden Euro landen, dann muss ich eröffnet, damit sie nicht zu ihrem Überleben zwingend sagen, dass Sie verkannt haben, dass es eine neue Ver- darauf angewiesen sind, Mohn und andere Drogenpflan- sorgungsregelung gibt – Herr Kollege Kampeter hat zen anzubauen. Unsere vernetzte Sicherheitspolitik ist, gestern darauf hingewiesen – und dass wegen der Be- wie ich glaube, notwendig, um einen positiven Aufbau- rücksichtigung der neuen Versorgungsbezüge der Etat- prozess in Afghanistan zu bewirken. Sie ist auch richtig, ansatz bei 27 Milliarden Euro liegt. Dieser Anstieg hat denn mit dieser Arbeit haben wir auch und gerade in den aber nichts mit einem Aufwuchs im Rüstungsbereich zu PRTs Erfolg. tun, wie Sie kritisiert haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Lassen Sie mich einen weiteren Punkt erwähnen. Wir neten der SPD – Zuruf des Abg. Winfried sind mittlerweile mit rund 6 500 Soldatinnen und Solda- Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ten in den Auslandseinsätzen tätig, sei es in Afghanis- tan, am Horn von Afrika oder auf dem Balkan. Wir stel- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte len teilweise die stärksten Kontingente. Im Rahmen der auch darauf hinweisen, dass wir gerade jetzt vor weite- (B) IFOR-Mission in Bosnien-Herzegowina stellen wir das ren Herausforderungen stehen. Es ist meines Erachtens (D) stärkste Kontingent. In Afghanistan sind wir bei einem in der Öffentlichkeit noch viel zu wenig bekannt, dass ab nicht einfachen Einsatz mit 2 800 Soldatinnen und Sol- nächsten Monat – ich wiederhole: ab 1. Juli – daten vertreten. Im Kosovo stellen wir ebenfalls ein gro- 6 600 deutsche Soldaten in der NATO Response Force ßes Kontingent. stehen. Das ist die schnelle Eingreiftruppe der NATO, die innerhalb von fünf Tagen einsatzfähig sein soll. Das Ich will einmal festhalten, dass sich unsere Soldatin- sind neue und weitere Herausforderungen, die hier auf nen und Soldaten in gefährlichen Einsätzen beispielhaft die Bundeswehr zukommen. Weiterhin steht ab 1. Januar verhalten. Deshalb möchte ich auch ihnen für diesen nächsten Jahres die EU-Battle-Group. Diskussionen, Einsatz im Rahmen friedenssichernder Missionen herz- wie wir sie etwa im Zusammenhang mit dem Kongo- lich danken. einsatz hatten, finden dann in der Art und Weise nicht mehr statt, weil wir an dieser ersten EU-Battle-Group, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP die ebenfalls innerhalb von fünf Tagen einsatzfähig sein und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) soll, mit 1 200 Soldaten beteiligt sein werden. Weil im Rahmen dieser Debatte schon viel von der (Johannes Kahrs [SPD]: Aber nicht ohne Zu- Fußballweltmeisterschaft gesprochen worden ist, stimmung des Parlaments!) möchte ich erwähnen, dass ich Jürgen Klinsmann und der deutschen Nationalmannschaft sehr dankbar bin, – Nicht ohne die Zustimmung des Deutschen Bundesta- dass am Montag auf der Pressekonferenz zu unseren Sol- ges. Aber wir sind dort, Kollege Kahrs – das sollte daten nach Afghanistan geschaltet wurde. Damit wurde fairerweise auch berücksichtigt werden –, schon Ver- ein Stück Verbundenheit mit ihnen zum Ausdruck ge- pflichtungen eingegangen, bevor ich in dieses Amt kam, bracht. Ich denke, dass unsere Soldaten dies verdient ha- und wir müssen im Rahmen der internationalen Ver- ben, wo sie doch in solch einer schwierigen Situation pflichtungen unsere Verantwortung wahrnehmen. Wir ihre Aufgabe erfüllen. können dann konkret über die einzelnen Dinge diskutie- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der ren. Darüber, dass wir für Einsätze ein Mandat brauchen, FDP) gibt es überhaupt keine Diskussion. Ich halte es aber schon für richtig, den Deutschen Bundestag und auch die Ich will noch eine Anmerkung zu dem machen, was deutsche Öffentlichkeit darauf hinzuweisen, in welchem Frau Künast heute Morgen gesagt hat. Sie hat Punkte Umfang wir internationale Verpflichtungen im Hinblick vorgetragen, die mit der Realität überhaupt nicht in Ein- auf Sicherheitspolitik eingegangen sind, damit sie sich klang stehen. darüber bewusst sind, welche weiteren Herausforderun- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3621

Bundesminister Dr. Franz Josef Jung (A) gen gegebenenfalls auf die Bundeswehr zukommen kön- für falsch. Ich glaube – nicht nur, weil ich Wehrpflichti- (C) nen, wenn solche Einsätze bevorstehen. ger war –, dass die Wehrpflicht einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet hat, wie sich die Bundeswehr (Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) heute darstellt und wie sie in unserer Gesellschaft ver- Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie wurzelt ist. mich noch einen zweiten Gesichtspunkt vortragen. Wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und leisten einmal unseren Beitrag im Rahmen von frieden- der SPD) stiftenden Missionen im Ausland. Wir leisten aber, wie ich finde, auch einen effektiven, positiven und guten Ich glaube, es ist wichtig – auch für die Entwicklung ei- Beitrag für den Schutz Deutschlands. Ich denke nur an ner Armee und im Zusammenhang mit der inneren Füh- die Handlungs- und Leistungsfähigkeit der Bundeswehr rung –, dass wir an der Wehrpflicht festhalten. Wenn ich bei der Schneekatastrophe in Bayern, an die Handlungs- aber an der Wehrpflicht festhalten will, dann muss ich und Leistungsfähigkeit bei der Bekämpfung der Vogel- auch in der Lage sein, dem Anspruch der Wehrgerech- grippe auf Rügen und an die Handlungs- und Leistungs- tigkeit bzw., wie wir sagen, Einberufungsgerechtigkeit fähigkeit beim Hochwasserschutz, der von Sachsen über nachzukommen. Sie wissen, dass beim Bundesverfas- Sachsen-Anhalt bis Niedersachsen hohe Anforderungen sungsgericht ein Vorlagebeschluss liegt. Ich möchte an die Bundeswehr gestellt hat. Oder denken Sie daran, nicht, dass wir in der Koalition sagen, dass wir an der wie leistungsfähig die Bundeswehr jetzt während der Wehrpflichtarmee festhalten wollen, dann aber nicht in Fußballweltmeisterschaft ist. Ich halte es schon für posi- der Lage sind, ausreichend viele Wehrpflichtige einzu- tiv, auf welche Art und Weise unsere Sicherheitskräfte ziehen, sodass uns dann das Bundesverfassungsgericht – da beziehe ich selbstverständlich ausdrücklich die sagt, das entspreche nicht der Wehrgerechtigkeit und wir Polizei ein – die Sicherheit bei dieser Fußballweltmeis- hätten keine Chance mehr, die Wehrpflicht aufrechtzuer- terschaft gewährleisten. Ohne sich aufzudrängen oder ei- halten. Deshalb habe ich entschieden, dass wir die Zahl nen falschen Eindruck in der Öffentlichkeit zu bewirken, der Grundwehrdienstleistenden auf 35 000 stabilisieren, wird dezent im Hintergrund Sicherheit gewährleistet. um dem Anspruch der Einberufungsgerechtigkeit Rech- Die 2 800 Soldaten, die jetzt im Einsatz sind, schaffen nung tragen zu können. also die Voraussetzungen dafür, dass diese Weltmeister- schaft in einer so fröhlichen und friedlichen Stimmung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) stattfinden kann. Das ist eine positive Leistung, die die Ich möchte noch erwähnen, dass wir etwa 60 000 Bundeswehr erbringt. Auch das wollte ich in diesem Zu- Wehrpflichtige im Jahr einziehen. Davon verpflichten sammenhang gerne erwähnen. sich 25 000 weiter, was eine gute Entwicklung ist. Inso- (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) fern wird auch die Strukturentwicklung der Bundeswehr (D) durch die Wehrpflicht positiv beeinflusst. Ich denke, das Meine sehr verehrten Damen und Herren, angesichts findet eine sehr gute Resonanz in der Öffentlichkeit. dessen, was wir von unseren Soldatinnen und Soldaten fordern, müssen wir auch daran denken, dass die sozia- (Vorsitz: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt) len Rahmenbedingungen stimmen. Ich bin dankbar da- für, dass wir im Rahmen dieses Haushaltes die Möglich- Da ich sehe, dass die vereinbarte Zeit abgelaufen ist, keit haben, jetzt beispielsweise eine erhebliche Anzahl möchte ich nur noch zusammenfassend sagen, dass ich von Beförderungen von Feldwebeln und von Soldaten denke, dass die Bundeswehr ihre Aufgaben – wir müs- mit Mannschaftsdienstgraden vorzunehmen. Ich finde sen damit rechnen, dass wir noch mehr Aufgaben wahr- nämlich schon, dass es ein Stück dazugehört, dass gute nehmen müssen; wir sehen das im Zusammenhang mit Leistung berücksichtigt und auch belohnt wird. Wenn der Mission im Kongo – gut und im Interesse der Sicher- ich es richtig sehe – auch das möchte ich in dieser De- heit unserer Bevölkerung ausübt und dadurch dazu bei- batte erwähnen –, ist die Bundeswehr die einzige Institu- trägt, dass wir unsere internationalen Verpflichtungen er- tion des öffentlichen Dienstes, in der es als Einstiegsge- füllen. Unser Ziel muss es sein, die Bundeswehr so halt die Besoldungsgruppe A 3 gibt. auszustatten, dass die deutschen Streitkräfte weiterhin ihre Aufträge erfüllen können und unser Land seinen in- (Elke Hoff [FDP]: Richtig!) ternationalen Verpflichtungen nachkommen kann, im In- teresse der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger, Das dürfen wir nicht ganz aus den Augen verlieren, aber auch im Interesse der friedenssichernden Funktion wenn wir über strukturelle Fragen sprechen. Deshalb bin der Bundeswehr. Dafür ist dieser Haushalt eine gute ich dankbar, dass wir im Rahmen dieses Haushaltes Grundlage. Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung. Möglichkeiten der Beförderung für die Mannschaften und für die Feldwebeldienstgrade haben. Besten Dank. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Bonde, Sie haben etwas kritisch ange- Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Koppelin für die sprochen, dass wir an der Wehrpflicht festhalten. Sie FDP-Fraktion. haben eine andere Einstellung zur Wehrpflicht. Das habe ich nicht zu kritisieren. Ich halte diese Einstellung nur (Beifall bei der FDP) 3622 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

(A) Jürgen Koppelin (FDP): Man darf wohl auch einmal darüber sprechen, wenn (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! man Haushaltspolitiker ist, ob es wirklich notwendig ist Der Einzelplan 14, der Haushalt des Verteidigungsminis- – ich sage nicht Ja oder Nein zur Lieferung der U-Boote ters, ist wohl der Haushalt, der mit Haushaltswahrheit an Israel –, dass der Verteidigungsminister den Anteil und -klarheit überhaupt nichts zu tun hat. Das ist kein für die U-Boote bezahlen muss, oder ob das nicht der Fi- Vorwurf an den Verteidigungsminister; das will ich aus- nanzminister im Einzelplan 60 machen muss. Das darf drücklich sagen. Darauf hätte der Finanzminister achten man ja wohl einmal fragen. müssen. (Beifall bei der FDP) Wer in der Situation des Verteidigungsministers ist, müsste ähnlich verfahren, wie es der Verteidigungs- Herr Minister, wir haben zu den Beschaffungsmaß- minister macht. Wenn Sie sich den Etat anschauen, dann nahmen Anträge gestellt. Schauen Sie sich einmal die werden Sie an vielen Kostenstellen die Bemerkung fin- letzte Etatberatung an! Die gleichen Anträge mit einem den, dass die Mittel, wenn sie nicht ausgegeben werden, Einsparvolumen von etwa 400 Millionen Euro, die jetzt dem Einzelplan 14 zufließen. Es gibt überall Spardosen. die FDP vorlegt, hat damals die CDU/CSU gestellt. Wir Warum? Wenn hier ein Auslandseinsatz beschlossen sind da gar nicht so weit voneinander entfernt. Jetzt sind wird, dann muss der Verteidigungsminister einsammeln. Sie in einer Koalition und wollen davon plötzlich nichts Und wo sammelt er ein? An diesen vielen Kostenstellen. mehr wissen. Deswegen haben wir als FDP gesagt: Wir müssen einen Sie können in diesem Haushalt noch weiter sparen. ehrlichen Haushalt aufstellen und sagen, was für jede Sorgen Sie endlich für einen radikalen Bürokratieab- Kostenstelle notwendig ist. Das Geld für Auslandsein- bau auch bei der Bundeswehr. sätze hat gefälligst der Bundesfinanzminister über den Einzelplan 60 zur Verfügung zu stellen. – Das ist Haus- (Beifall bei der FDP) haltswahrheit und Haushaltsklarheit, deswegen unsere Ich bedaure jeden Kompaniechef. Wenn Sie einen Kom- Anträge. paniechef nach seinen Vorschriften fragen, dann öffnet (Beifall bei der FDP) er seinen Schrank, der mit Vorschriften über Vorschriften gefüllt ist. Das darf doch nicht wahr sein. Die Leute wer- Die einzigen echten Zahlen in Ihrem Haushalt, Herr den von den Vorschriften erschlagen. Misten Sie dieses Minister – es tut mir Leid, das sagen zu müssen –, sind Zeug endlich aus! Dann können wir viel Geld sparen. wahrscheinlich Ihr Gehalt und die Gehälter der Staatsse- Das ist jedenfalls meine Auffassung. kretäre. Da sind wir schon auf den Gedanken gekom- men, dass man das Gehalt des Staatssekretärs Pflüger Sie hätten eine Bemerkung zu dem Vorgang um die (B) einsparen könnte. Im Ministerium würde ihn kaum einer Firma Dussmann und die Verpflegung der Bundes- (D) vermissen. wehr machen müssen, weil die FDP-Fraktion die ein- zige Fraktion war, die dies kritisiert hat. Wir als FDP ha- (Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie ben von vornherein gesagt, dass das Projekt zum des Abg. Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/ Scheitern verurteilt ist, dass der Vertrag zu lange läuft DIE GRÜNEN]) usw. Die Bundeswehr hat kräftig investiert und Das ist jedenfalls unsere Auffassung. Dussmann kündigt den Vertrag schon nach einem Jahr einseitig. Ich hätte schon ganz gerne in nächster Zeit ei- Herr Minister, ich hätte mir schon gewünscht, dass nen Bericht im Haushaltsausschuss und im Verteidi- Sie etwas zu den Beschaffungsmaßnahmen sagen. Wir gungsausschuss darüber, was uns der Spaß gekostet hat. haben 1994 den Eurofighter bestellt – damals in einer Das war eine Fehlplanung, die auch andere, zum Bei- Koalition aus CDU/CSU und FDP, mit teilweiser Zu- spiel der Kollege Bonde, zu verantworten haben. stimmung bei den Sozialdemokraten. Nach zwölf Jahren wird man solche Beschaffungsmaßnahmen ja wohl auf Sie sollten darüber nachdenken, wenn Sie zukünftig den Prüfungstand stellen dürfen. Man muss sagen kön- Geld sparen müssen – das werden Sie müssen –, ob Sie nen, ob die Zahlen noch stimmen und ob die Firma Projekte wie MEADS wirklich brauchen und ob wir in EADS ihre Verträge bisher erfüllt hat. Dazu hätte ich mir solche Projekte investieren müssen. Wir als FDP sind – das sage ich auch mit Blick auf die momentane Krise der Auffassung, dass wir das nicht brauchen. Unsere bei EADS – schon eine Bemerkung von Ihnen ge- Soldaten sollen wirklich die modernste Ausrüstung be- wünscht. kommen bei dem schweren Job, den sie machen, insbe- sondere bei den Auslandseinsätzen. Man darf ihnen aber Unsere Bundeswehr ist einer der größten Auftragge- nicht vorgaukeln, sie erhielten das Beste, während sie im ber für EADS. Ich finde, dazu kann der Verteidigungs- Ausland vor Ort feststellen müssen, dass sie doch nicht minister, der diese vielen Aufträge unterschreiben muss, das Beste zu ihrem Schutz bekommen haben. schon einmal ein Wort sagen. Wie ist es möglich, dass die Briten die Zahl ihrer bestellten Flugzeuge reduzieren Da ist einiges zu tun. Ich hätte gern noch eine Bemer- können, was früher angeblich nicht machbar war? Sie kung zur Zusammenarbeit mit der wehrtechnischen verkaufen die Flugzeuge an das Ausland und wir dürfen Industrie gehört. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir das nicht. Wir müssen uns an alle Regeln halten, aber die über eine Zusammenlegung beim Panzerbau mit den Fir- Briten machen etwas ganz anderes. In den Verträgen men reden müssen, auch damit wir zu vernünftigen Prei- stand etwas anderes. Ich finde, darüber darf man ganz sen kommen. Es kann aber nicht sein, dass wir unsere offen sprechen. wehrtechnische Industrie so im Unklaren darüber lassen, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3623

Jürgen Koppelin (A) was die Bundeswehr zukünftig beschaffen will. Das kommen. Allein das bedeutet für den kostenintensiven (C) wird eine Ihrer wichtigsten Aufgaben in der Zukunft Verteidigungsbereich eine Mehrbelastung in Höhe von sein. 300 Millionen Euro jährlich. Es ist durchaus ein Pro- blem, dies aufzufangen. Vielen Dank für Ihre Geduld. (Beifall bei der FDP) Die Investitionsmittel wurden ebenfalls verstetigt, und zwar bei 25 Prozent. Das ist wichtig. Rechnet man die Mittel für Forschung und Technologie hinzu, die um Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: 153 Millionen Euro auf circa 1,1 Milliarden Euro gestie- Ich erteile das Wort der Kollegin Ulrike Merten für gen sind, befinden sich Bundeswehrplanung und Finanz- die SPD-Fraktion. planung im Einklang. Zum Glück bewegen wir uns da- mit – ich glaube, darauf darf man hinweisen – auf das Ulrike Merten (SPD): Ziel von 30 Prozent für Investitionen zu. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine moderne, wirksame, ausreichende und mit Bei den Investitivausgaben treten in diesem Jahr die dem notwendigen Schutz ausgestatte Ausrüstung, die Fähigkeiten Aufklärung, Informations- und Kommuni- Einsatzorientierung im Bündnis sowie die Attraktivität kationstechnik sowie Logistik besonders hervor. Erst vor der Streitkräfte sind die wichtigsten Koordinaten dieses wenigen Tagen wurden entsprechende Verträge zu den Verteidigungshaushalts. Projekten vorbereitet, die über Betreiberverträge reali- siert werden. Gerade von dem Projekt „Herkules“ er- Die Bundeswehr ist eine Armee im weltweiten Ein- hoffe ich mir, dass kleine und mittelständische IT-Unter- satz und sie ist zugleich eine Armee im tief greifenden nehmen ihre Kompetenz weiterhin in den Dienst der Wandel. Beide eng miteinander verknüpften Entwick- Bundeswehr stellen können. lungen kennzeichnen den Weg der Streitkräfte zu einer modernen Armee des 21. Jahrhunderts. Unser Ziel muss Die andauernden Auslandseinsätze und die sich ver- es sein, trotz der gegenwärtigen Sparzwänge, die nicht ändernden Bedingungen in den Einsatzgebieten erfor- von der Hand zu weisen sind, in absehbarer Zeit noch dern in erster Linie die Fähigkeiten des Heeres. Von den bessere und einsatzfähigere Streitkräfte zur Verfügung 6 500 Soldaten der Bundeswehr in Auslandseinsätzen zu stellen, um sie im Rahmen des erweiterten Aufgaben- stellt das Heer weit über die Hälfte. Es liegt in seiner spektrums bedrohungsadäquat und wirkungsvoll einset- Struktur, dass es den Herausforderungen bei der Man- zen zu können. datserfüllung am Boden direkt ausgesetzt ist. Aufgrund der aktuellen Ereignisse in Afghanistan, wo sich Spreng- Derzeit haben wir 6 500 unserer 250 000 Soldatinnen stoffanschläge gegen deutsche ISAF-Truppenteile nicht (B) und Soldaten in acht verschiedenen Operationen auf drei erst seit der Übernahme des Kommandos über die inter- (D) Erdteilen eingesetzt. Ich glaube, darauf muss man ein- nationale Schutztruppe mehren, werden wir die Schutz- mal hinweisen, weil den meisten Menschen gar nicht komponente bei Planung und Beschaffung noch stärker klar ist, dass die Soldaten seit Jahren in so vielen Einsät- gewichten müssen. zen tätig sind. In Kürze wird der Kongoeinsatz, an dem wir uns im Rahmen der EU-Mission mit 780 deutschen Der Schutz der Soldatinnen und Soldaten ist ein ganz Soldaten beteiligen, beginnen. An dieser Stelle darf man wichtiger Punkt. Darüber hinaus kommt es aber auch den Soldatinnen und Soldaten und nicht zuletzt auch den darauf an, dass man den Soldatinnen und Soldaten, die in Zivilbeschäftigten für ihr Engagement in den Missionen ihren Einsätzen häufig einer Gefahr für Leib und Leben danken. Weil die Zivilbeschäftigten im Zusammenhang ausgesetzt sind, ein möglichst hohes Maß an Sicherheit mit den Auslandseinsätzen so gerne vergessen werden, und Verlässlichkeit hinsichtlich ihrer Berufsperspektive will ich ausdrücklich sagen: Ohne ihre Leistung wäre eröffnet. Deswegen ist es gut, dass der Bundesminister das, was die Soldaten in ihren Einsätzen leisten, nicht der Verteidigung jetzt über das Einsatzversorgungsge- möglich. setz hinaus eine Initiative, die aus dem Bereich der Ab- geordneten gekommen ist, aufgegriffen hat. Demnächst (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) dürfen Soldatinnen und Soldaten, die im Auslandsein- Der diesjährige Einzelplan 14 ist vor allem von Kon- satz verwundet wurden, sicher sein, dass sie auch nach tinuität geprägt; darauf ist bereits hingewiesen worden. ihrem Einsatz eine Beschäftigung in der Bundeswehr Wir haben ihn seit nunmehr sechs Jahren bei 24 Milliar- finden. Das wird nicht von dem Wohlwollen des jeweili- den Euro verstetigt. Damit leistet der Verteidigungshaus- gen Ministers abhängig sein, sondern dafür wird es eine halt wiederholt einen Beitrag zur notwendigen Konsoli- gesetzliche Grundlage geben. Darauf haben wir lange dierung des Bundeshaushalts. Vor dem Hintergrund der gewartet. Das ist wichtig; darauf müssen sich die Solda- schwierigen finanzpolitischen Gesamtsituation ist der ten verlassen können. Plafond eine Grundlage, die uns verlässliches Handeln (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie ermöglicht, aber auch ein hohes Maß an Kreativität ab- des Abg. Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/ fordert. Umso wichtiger ist die Verlässlichkeit der mit- DIE GRÜNEN]) telfristigen Finanzplanung bis 2009, die eine recht deut- liche Steigerung, um rund 1 Milliarde Euro, auf dann Ein wesentlicher Faktor der Transformation der Bun- 25 Milliarden Euro vorsieht. Nach dem Bundesratsbe- deswehr ist nicht zuletzt das Personalstrukturmodell schluss vom letzten Freitag wird die Erhöhung der 2010, das Minister Jung von seinem Vorgänger Peter Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte im nächsten Jahr Struck übernommen hat und konsequent weiterführt. Mit 3624 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Ulrike Merten (A) den bereits vollzogenen Strukturmaßnahmen konnten deswehr als schnelle Eingreiftruppe für das Ausland leh- (C) wir im letzten Jahr die Personalausgaben erstmals bei nen wir ab. unter 50 Prozent des Gesamthaushalts veranschlagen. Das ist wichtig, weil wir zunehmend Spielräume für die (Beifall bei der LINKEN) notwendigen Beschaffungsvorhaben brauchen. An die- Für die Aufgaben der inneren Sicherheit haben wir die ser Stelle sind wir um ein Erhebliches vorangekommen. Polizei. Allerdings dürfen wir in unseren Anstrengungen nicht nachlassen. Das fordert den Soldatinnen und Soldaten, Wir bleiben dabei: Abschaffung der Wehrpflicht, eine aber auch den Zivilbeschäftigten ein hohes Maß an Ver- Berufsarmee mit 100 000 Mann und keine Auslandsein- ständnis ab. Sie immer wieder einzubinden und ihnen sätze! Mit dem dann kleineren Etat wäre eine wirksame deutlich zu machen, dass sie sich auf das, was geplant Landesverteidigung gesichert und die freigesetzten Mit- ist, auch verlassen können, dass der Mensch im Vorder- tel könnten für eine wirkliche Entwicklungshilfe und für grund des Transformationsprozesses steht, das muss von eine langfristige Deeskalation in den betroffenen Län- hier aus unsere Botschaft sein. Ich meine, das sind wir dern eingesetzt werden. den Soldatinnen und Soldaten schuldig. Auch die Zivil- Bei Betrachtung des Verteidigungshaushalts wird beschäftigten müssen sich darauf verlassen können. auch deutlich – meine Kollegin Gesine Lötzsch hat da- Herzlichen Dank. rauf hingewiesen –, dass es eine Schere zwischen den Investitionen in Prestigeobjekte und den Arbeitsbedin- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gungen der Soldatinnen und Soldaten gibt. Hier ist ein der CDU/CSU) Ungleichgewicht entstanden; dem muss man entgegen- wirken. Die Absicherung von immer mehr und längeren Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Auslandseinsätzen geht zulasten der Ausstattung im In- Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Kunert, land. Das kann nicht so bleiben. Fraktion Die Linke. Eine Grundlage für die Erstellung des Verteidigungs- (Beifall bei der LINKEN) haushaltes müsste eigentlich der Bericht des Wehr- beauftragten sein. In ihm werden Jahr für Jahr Pro- bleme aufgelistet, die die Arbeitsbedingungen betreffen. Katrin Kunert (DIE LINKE): Der Zustand der Kasernen und der Soldatenunterkünfte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wird bemängelt. Hier besteht erheblicher Sanierungsbe- Sehr geehrte Gäste! Wäre der Bundeshaushalt ein darf. Die Versorgung im Sanitätsbereich ist grenzwertig. kommunaler Haushalt, wäre er stark genehmigungsge- Durch die vielen Auslandseinsätze kann sie nicht mehr (B) fährdet. Nur: Leider gibt es keine übergeordnete Geneh- in vollem Umfang gewährleistet werden. (D) migungsbehörde für den Bundeshaushalt. Mehrheiten ersetzen Haushaltsrecht und Mehrheiten bestimmen da- In der ersten Lesung des Haushalts haben wir bereits rüber, was für den Bund Pflicht ist und was Kür. Diese darauf hingewiesen, dass die Sozialverträglichkeit bei Haushaltspolitik ist weder seriös noch nachhaltig. der Umsetzung des Stationierungskonzeptes auch im Haushalt ihren Niederschlag finden muss. Konversions- (Beifall bei der LINKEN) programme sind von Bund, Ländern und Kommunen Der Verteidigungshaushalt, der Einzelplan 14, ist der zu entwickeln, um die Umstrukturierungsprozesse in den drittgrößte Einzelplan und rangiert noch vor dem Haus- Kommunen nachhaltig zu gestalten und den Beschäftig- halt für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, dem Be- ten eine Zukunft zu geben. reich, der eigentlich so wichtig ist für die Entwicklung (Beifall bei der LINKEN) gleicher Lebensverhältnisse in Ost und West. In der ges- trigen Debatte zum Einzelplan Finanzen hat ein Kollege Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Haushalt ist eine gesagt, dass dieser Haushalt dazu beitragen wird, dass weitere Kürzung des Weihnachtsgeldes vorgesehen. Das jetzt noch sachgerechter mit öffentlichen Mitteln umge- ist aus unserer Sicht nicht akzeptabel. Wir haben dazu im gangen wird. Nun frage ich: Wie ist denn bisher mit öf- Verteidigungsausschuss einen Antrag gestellt. Er hat lei- fentlichen Mitteln umgegangen worden und wann geht der keine Mehrheit gefunden. ein Staat sachgerecht mit öffentlichen Mitteln um? Orientiert er sich an den Aufgaben, die er erfüllen will (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das war oder muss, oder erledigt er Aufgaben nach Kassenlage? auch gut so! – Weiterer Zuruf von der CDU/ Der uns vorliegende Haushaltsentwurf orientiert sich an CSU: Gott sei Dank!) der Kassenlage; darauf weisen Sie immer wieder hin. Nach wie vor werden Soldatinnen und Soldaten aus Ost Nur beim Einzelplan 14 gibt es eine gewisse Stetigkeit. und West unterschiedlich bezahlt. Die Angleichung der Aus unserer Sicht ist dieser Etat einfach zu hoch. Tarife wird für 2009 in Aussicht gestellt. Warum erst (Beifall bei der LINKEN) 2009? Wir haben im Verteidigungsausschuss auch den Antrag gestellt, die Tarife ab 2006 anzugleichen. Die Der Kalte Krieg ist seit Jahren vorbei und so viele Be- Angleichung der Tarife der Berufssoldatinnen und -sol- drohungen können gar nicht herbeigeredet werden, um daten auf Zeit würde 33 Millionen Euro ausmachen, die diesen Etat mit rund 28 Milliarden Euro zu rechtfertigen. Angleichung der Tarife der zivilen Mitarbeiterinnen und Die klassische Aufgabenstellung der Bundeswehr ist für Mitarbeiter 36 Millionen Euro, also circa die Summe, uns nach wie vor die Landesverteidigung. Eine Bun- die der Kongoeinsatz kosten wird. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3625

Katrin Kunert (A) (Beifall bei der LINKEN – Rainer Arnold kam es in den letzten Wochen von ziviler Seite aus leider (C) [SPD]: Sie wollen mehr ausgeben, aber weni- zu einem sehr schädlichen Durcheinander. ger Geld!) Zweitens. Die Entwicklung in Afghanistan ist – nor- Auch diesen Antrag haben Sie leider abgelehnt. malerweise bin ich in meinen Bewertungen sehr zurück- An dieser Stelle möchte ich Ihnen eines ganz deutlich haltend – sehr beunruhigend, nicht nur aufgrund der Zu- sagen: Wenn Sie die Soldatinnen und Soldaten in Zu- nahme der Kämpfe im Süden und der zunehmenden kunft loben und ihnen Ihren Dank und Ihre Anerkennung Perfektionierung der Anschläge, sondern auch aus ande- aussprechen, sollten Sie daran denken, dass sich Lob, ren Gründen. Mittlerweile müssen wir einen eklatanten Dank und Anerkennung auch im Geldbeutel bemerkbar Rückschlag bei der Drogenbekämpfung befürchten. Im machen müssen. vorigen Jahr ging die Anbaufläche um ungefähr ein Viertel enorm zurück. Für dieses Jahr weisen die Pro- (Beifall bei der LINKEN – Jürgen Koppelin gnosen einen Anstieg hinsichtlich der Anbaufläche um [FDP]: Seien Sie bitte nicht immer so materia- zum Teil mehr als 50 Prozent aus, zum Beispiel in Ba- listisch! – Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Ja- dakhshan. Was den Drogenanbau betrifft, sind also wie- wohl! So funktioniert Kapitalismus!) der rapide Steigerungen zu verzeichnen. Mit Blick auf die Ausgestaltung des Verteidigungs- Woran liegt das? Im letzten Jahr wurden Versprechun- haushaltes sei mir abschließend noch eine Bemerkung gen gemacht, dass für die Betroffenen alternative Er- gestattet: Die Haushaltstitel weisen den gewünschten werbsmöglichkeiten geschaffen werden. Diese Verspre- Weg für die Bundeswehr aus. Herr Minister Jung, lassen chungen sind nicht eingehalten worden. Sie uns doch gemeinsam über die künftigen Aufgaben der Bundeswehr reden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (Jürgen Koppelin [FDP]: Wie bitte? Ich denke, der FDP) Sie wollen sie abschaffen! Oder jetzt doch nicht mehr?) Stattdessen findet eine verschärfte und aggressive Ver- nichtung der Anbaufelder statt. Die Folge ist, dass die Wie man den Zeitungen entnehmen kann, steht es um Ihr Bauern ihre Existenz verlieren. Weißbuch im Moment nicht ganz so rosig. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Es heißt ja auch Weißbuch und nicht Rosabuch! – Weitere Die Bauern suchen Schutz. Wer bietet ihnen den? Die Zurufe von der CDU/CSU) Taliban. Im Süden – das ist deutlich festzustellen – ent- (B) (D) – Hören Sie doch bitte bis zum Schluss zu! steht das, wovor wir schon vor geraumer Zeit gewarnt haben: eine Drogenvolksfront. Dadurch wird die Spirale Ich hoffe, dass sich die Genossen in der SPD wieder der Gewalt enorm angetrieben. auf die klassischen Aufgaben der Bundeswehr besinnen. Die Grundausrichtung auf eine globale Einsatztruppe Hinzu kommt, dass „Enduring Freedom“-Einsätze mit neuen Angriffswaffen, wie im Haushalt festgeschrie- vor allem im Süden und Südosten offenkundig viel zu ben, und die Ausweitung der Einsätze der Bundeswehr oft kontraproduktiv wirken. Die Folge ist, dass die inter- im Innern lehnen wir weiterhin ab. nationale Gemeinschaft und die Zentralregierung immer mehr die Herzen der Afghanen verlieren. Das ist eine Schönen Dank. sehr bedrohliche Entwicklung. Das heißt, es besteht die (Beifall bei der LINKEN) Gefahr, dass die ISAF, die internationale Sicherheitsun- terstützungstruppe, in der Wahrnehmung von immer mehr Menschen nicht mehr als Friedensunterstützungs- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: truppe, sondern als Besatzungstruppe wahrgenommen Das Wort hat nun der Kollege Winfried Nachtwei für zu werden droht. Eine Besatzungstruppe ist aber keine die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Stabilisierungstruppe mehr. Das ist eine äußerst gefährli- che Entwicklung. Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Zur Petersberg- Wir stehen kurz vor der Sommerpause. Aber in der Si- konferenz hat doch Fischer eingeladen!) cherheitspolitik wird es garantiert keine Sommerpause Die Konsequenz daraus ist, dass es bei dem Afghanistan- geben, im Gegenteil. Aus diesem Anlass und angesichts einsatz nicht um neue Konzepte gehen muss – Konzepte der vor uns liegenden Monate möchte ich etwas zu den gibt es sehr viele –, sondern darum, die Strategie, die am Bundeswehreinsätzen und zum Weißbuch sagen. Boden praktiziert wird, in den nächsten Monaten, vor Erstens. Was den Kongoeinsatz angeht, sei auf Fol- der Verlängerung der Mandate, zu überprüfen. gendes hingewiesen: Beim Kongoeinsatz und bei der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Beteiligung Deutschlands an der EU-Truppe kommt es SES 90/DIE GRÜNEN) so sehr auf Glaubwürdigkeit an, wie es bei früheren Ein- sätzen selten der Fall war. Damit meine ich Glaubwür- Zum Weißbuch. Seit einigen Wochen ist der Entwurf digkeit sowohl im Hinblick auf die eingesetzten Einhei- des Weißbuchs im Umlauf. Es soll laut Ihren Aussagen, ten als auch hinsichtlich der zentralen Botschaften. Hier Herr Minister, sicherheitspolitisch und strategisch eine 3626 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Winfried Nachtwei (A) Standortbestimmung bringen. Dieser Anspruch ist völlig (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) richtig; doch er wird mangelhaft eingelöst. neten der SPD) Erstes Beispiel: Nach mehr als zehn Jahren deutschen Krisenengagements bzw. Einsätzen der Bundeswehr ist Thomas Kossendey (CDU/CSU): es an der Zeit, zu einer systematischen und offenen Aus- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wertung dieses Teils deutscher Außenpolitik zu kom- Viele Zahlen sind heute genannt worden; manches von men. Das ist dringend erforderlich. Tätigkeitsberichte al- dem, was im Haushalt verankert werden soll, ist ange- lein reichen nicht; wir brauchen eine Auswertung. sprochen worden. Dies ist der erste Haushalt der großen Hierüber steht im Weißbuch nichts. Dabei wäre das eine Koalition. Deswegen möchte ich einige Aspekte heraus- enorme Chance. Es wäre auch zwingend notwendig, um greifen, die noch nicht erwähnt worden sind. abschätzen zu können, was Militär, was Bundeswehr an Was bleibt? Was wird anders? Was bleibt, ist die Außenpolitik leisten kann und was nicht. Das ist das wirkliche Enge in diesem Verteidigungshaushalt. Er ist erste wichtige Versäumnis. so knapp auf Kante genäht wie alle in den Jahren zuvor. Zweitens. Der Verteidigungsbegriff ist diffus formu- Wir haben allerdings – das finde ich positiv – eine Per- liert. Aber die Andeutungen gehen in Richtung einer spektive der Verlässlichkeit bekommen. Was uns in den Ausweitung des Verteidigungsbegriffes, sowohl nach in- letzten Jahren immer wieder geärgert hat, waren die nen – dass eine Terrorattacke dem Verteidigungsfall ver- unkalkulierbaren Eingriffe in den laufenden Haushalt, gleichbar sei – als auch nach außen, Ressourcenschutz (Johannes Kahrs [SPD]: Na, na! – Gegenruf usw. Dazu müssen wir kurz und knapp feststellen: Das des Abg. Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ganz bringt kein Mehr an Sicherheit, sondern eindeutig mehr ohne Quälen geht es nicht!) Unsicherheit. die eine Planungssicherheit gar nicht erst haben aufkom- Drittens. Der Anspruch umfassender und Gewalt vor- men lassen. beugender Sicherheitspolitik bleibt leider in der Ansage stecken. Herr Minister, Sie haben selbst darauf hinge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wiesen, dass die Bundeswehr in den Einsatzgebieten mit Johannes Kahrs [SPD]: Das hatten wir vorher den anderen Kräften vernetzt ist und mit ihnen gut zu- auch schon einmal!) sammenarbeitet, mit einigen Lücken zwar, aber insge- samt gut. Doch diese besondere Zusammenarbeit mit Es gibt allerdings schon jetzt zwei Punkte, die in die- den verschiedenen Kräften schlägt sich nicht im Weiß- sem Zusammenhang anzusprechen sind – der Kollege buch nieder. Johannes Kahrs hat das bereits getan –: Ohne dass wir (B) das vorher planen konnten, müssen wir aus dem Vertei- (D) Hier gibt es also ganz deutlich eine Unausgewogen- digungshaushalt den Kongoeinsatz und unseren Anteil heit der militärischen, polizeilichen und zivilen Krisen- an den israelischen U-Booten finanzieren. Beides sind managementfähigkeiten. Vorprogrammiert ist dabei Fol- wichtige Aufgaben, aber nicht jede wichtige Aufgabe, gendes: Immer mehr Bundeswehreinsätze und immer die wir in diesem Land zu lösen haben und die außenpo- längere Bundeswehreinsätze mit immer weniger Wir- litische Akzente hat, muss aus dem Verteidigungshaus- kung. halt bezahlt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: der SPD – Beifall bei der FDP) Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit! Deswegen habe ich eine sehr große Sympathie dafür, dass wir uns im Parlament, im Verteidigungsausschuss Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und auch im Haushaltsausschuss darüber verständigen, Ja, ich komme zum Schluss. – Diese Schlüsselfragen wie wir diese unwägbaren Eingriffe für die Zukunft aus- können nicht per Kabinettsbeschluss über ein Weißbuch schließen. sozusagen erlassen werden. Sie brauchen eine breite De- batte. Ob diese breite Debatte blockiert wird oder ob sie Ich will nicht wieder auf den Einzelplan 60 zurück- zustande kommt, dafür tragen Sie, Herr Minister, eine kommen, aber ein vergleichbares Verfahren wie dort sehr große Verantwortung. Ich appelliere an Sie – ich brauchen wir dringend, um eine Verlässlichkeit in der glaube, ich spreche hier, ausgesprochen oder unausge- Planung zu erreichen. Hier sollten uns auch Leertitel und sprochen, im Namen aller Kollegen –: Tragen Sie bitte globale Minderausgaben nicht helfen. Nein, wir brau- Ihren Anteil dazu bei, dass wir eine solche Debatte be- chen eine wirkliche Etatisierung von unvorhergesehenen kommen! Ausgaben, durch die der Verteidigungshaushalt weitge- hend geschützt wird. Danke schön. Verlässlichkeit ist das Thema. Ich will dazu noch ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nen Vorschlag wiederholen, den ich hier vor einigen Jah- sowie bei Abgeordneten der FDP) ren gemacht habe und der mir politisch immer noch wichtig erscheint. Wir müssen aus meiner Sicht drei Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Haushalte zusammen betrachten: den Verteidigungs- Das Wort hat nun der Kollege Thomas Kossendey für haushalt, den Haushalt für das Auswärtige und den die CDU/CSU-Fraktion. Haushalt für das Bundesministerium für wirtschaftliche Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3627

Thomas Kossendey (A) Zusammenarbeit und Entwicklung. Alle drei haben näm- – Elterngeld ist das eine, danke. Das ist eine sehr wich- (C) lich eine außergewöhnlich wichtige Ausstrahlung nach tige Perspektive. – Nehmen Sie aber einmal eine junge draußen und sind für die Bedeutung und den Stellenwert Soldatin, die Dienstzeiten hat, die eben nicht mit denen unseres Landes in der Völkergemeinschaft wichtig. Ich im öffentlichen Dienst im Allgemeinen vergleichbar denke, deshalb sollten wir versuchen, ein Agreement da- sind. Wenn sie morgens zum Dienst in die Kaserne geht, hin gehend zu schaffen, dass wir diese drei Haushalte hat noch kein öffentlicher Kindergarten offen, und wenn vor die Klammer ziehen, wenn es wieder einmal darum sie eine Übung oder abends vielleicht verlängerten geht, mit dem Rasenmäher zu kürzen, weil wir den Ruf Dienst hat, wird es ganz schwierig. Deswegen sollte sich unseres Landes nicht aus haushalterischen Gründen un- die Bundeswehr, so denke ich, in den Kommunen inten- nütz aufs Spiel setzen sollten. siv an den runden Tischen für die Familie beteiligen, da- mit wir für diese Gruppe von Soldatinnen eine Möglich- Wenn ich von Verlässlichkeit spreche, dann meine ich keit finden, ihrer Betreuungspflicht nachkommen zu den Investivbereich; insbesondere aber meine ich die können. Ich will das dem Minister sehr ans Herz legen, Menschen in der Bundeswehr, die eine Verlässlichkeit weil ich glaube, dass hier vieles zu tun ist. der Planung verdient haben. Wir haben bei diesem Haus- halt zum ersten Mal notieren können, dass der Personal- Lassen Sie mich noch einen zweiten Bereich anspre- anteil auf unter 50 Prozent gefallen ist. Das klingt zu- chen, der gerade in den letzten Wochen in der Öffent- nächst sehr gut, aber ist teuer erkauft, nämlich durch den lichkeit Aufmerksamkeit erregt hat, nämlich die Belas- Verzicht auf Zulagen, Weihnachtsgeld und anderes – und tung der Soldaten in internationalen Einsätzen, deren das in einer Zeit, da wir unsere Soldaten in den nächsten Folgen die Psychologen so wunderbar posttraumatisches Wochen in einen sehr schwierigen Auftrag schicken Belastungssyndrom oder posttraumatische Belastungs- werden. störung nennen. Ich glaube, wir sind es unseren Solda- tinnen und Soldaten, aber auch den zivilen Mitarbeite- Ich bin deswegen dankbar, dass die Frau Kollegin rinnen und Mitarbeitern, die im internationalen Einsatz Merten angesprochen hat, dass wir nach dem Einsatzver- stehen, schuldig, dass wir uns darum kümmern, dass da, sorgungsgesetz nun auch eine gesetzliche Grundlage da- wo psychische Probleme entstehen, nachgearbeitet wird. für schaffen wollen, dass Soldaten, die im Einsatz ver- letzt worden sind, mehr Möglichkeiten haben, hinterher (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der ihre berufliche Perspektive bei der Bundeswehr zu fin- SPD und der FDP) den. Was nutzt es dem Zeitsoldaten auf vier Jahren näm- Das tun wir bereits vereinzelt; es ist auch richtig und gut. lich, wenn er im Einsatz auf eine Mine tritt, ein Bein ver- Wir sollten das aber viel besser organisieren. liert und wir ihm nach vier Jahren sagen: Tschüss, das (B) war es! – Das kann nicht die Fürsorge unseres Landes Der heute schon mehrfach erwähnte Staatssekretär (D) gegenüber denjenigen sein, die für uns und in unserem Dr. Pflüger Auftrag ihr Leben riskieren. Deswegen ist das, was der Minister dort vorhat, sehr wichtig. (Zuruf von der FDP: Wo ist er eigentlich?) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP hat im Verteidigungsausschuss dazu einen sehr intensi- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) ven Bericht vorgelegt, den ich dringend zur Beratung in diesem Ausschuss empfehle. Ich meine, wir sollten in Wir müssen uns auch noch mehr als bisher um die unsere Überlegungen auch diejenigen einbeziehen, die Motivation und die Attraktivität des Dienstes in der in internationalen Einsätzen entsprechende Störungen Bundeswehr kümmern. Der Erfolg eines Einsatzes hängt davongetragen haben und zwischenzeitlich aus dem in einer Zeit, in der ein Einsatz in internationalen Gebie- Dienst ausgeschieden sind. Eine so verstandene Fürsor- ten eigentlich der tägliche reale Dienst ist, nicht nur von gepflicht kann möglicherweise in der Einrichtung eines der Zahl der Soldatinnen und Soldaten, sondern auch Rehazentrums ihren Ausdruck finden. von der Motivation der Soldatinnen und Soldaten ab. Es ist viel wichtiger als vieles andere, was wir in der Bun- Wenn ich von den Menschen bei der Bundeswehr deswehr zu beobachten haben, dass wir diesen Dienst spreche, dann bleiben die Zivilbediensteten sozusagen attraktiv gestalten; denn in absehbarer Zeit wird die etwas im Schatten. Die Zahl von 75 000 Zivilbedienste- Bundeswehr mit vielen anderen Arbeitgebern um Nach- ten, die wir bis 2010 erreichen wollen, ist aus haushalte- wuchs kämpfen müssen. Wenn dann der Dienst nicht at- rischen Gründen festgelegt worden. Ihr lag keine Struk- traktiv ist und der Verdacht besteht, dass wir unsere Für- tur zugrunde, liebe Frau Kollegin Merten. Ich bin sorgepflicht nicht ernst nehmen, dann wird es schwer dankbar, dass Staatssekretär Dr. Wichert diese Struktur werden, diejenigen zu finden, die wir bei der Bundes- bis zum Jahresende schafft. Denn nur mit einer Struktur, wehr brauchen. die bis zum letzten Standort ausgeplant ist, können wir den Menschen, die versetzt werden müssen, helfen, Al- Ich will hier ein Stichwort ansprechen, das mir sehr ternativen im Bereich der Bundeswehr zu finden. Dann am Herzen liegt. Wir haben fast 7 500 weibliche Solda- hört endlich das Elend auf, dass keine Stelle mehr nach- ten. Das SOWI hat untersucht, dass 75 Prozent dieser besetzt wird und die Menschen nur um den Preis von Frauen ihren Dienst bei der Bundeswehr mit einem Kin- Zeitverträgen bei der Bundeswehr beschäftigt werden. derwunsch angetreten haben. Was tun wir eigentlich für Das kann nicht richtig sein. diese Frauen? Deswegen ist meine dringende Bitte, Herr Minister: (Katrin Kunert [DIE LINKE]: Elterngeld!) Sorgen Sie dafür, dass der Bericht über die Struktur 3628 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Thomas Kossendey (A) möglichst schnell erscheint und dass wir zügig umset- kosten um 4 Prozent senken können. Das ist gut. Es gibt (C) zen, was wir mittlerweile in die Kern- und Nichtkern- uns Raum für Investitionen. Wir müssen dringend identi- aufgaben der Bundeswehr aufgeteilt haben! Wann be- fizieren, wo Investitionen notwendig sind. Der strategi- kommen wir zum Beispiel eine Übersicht, welche sche Lufttransport ist einer der wichtigsten Punkte in Liegenschaft aus militärischen Gründen dringend not- diesem Zusammenhang. Aber, Herr Minister, nehmen wendig ist und welche vielleicht in die Verwaltung der Sie bitte Kontakt mit den Damen und Herren von EADS BImA abgegeben werden kann? Wir brauchen dabei auf! Ich befürchte angesichts der aktuellen Ereignisse, Klarheit, um auch für das Personal eine Perspektive zu dass unser Flugzeug A400M, das von diesem Unterneh- schaffen. men gebaut wird, unter Umständen ins Hintertreffen ge- rät. Lassen Sie mich noch etwas zum Thema Dussmann ausführen, das vom Kollegen Koppelin angesprochen (Beifall bei der FDP) worden ist. Mich ärgert es sehr, dass der Versuch in München in die Hose gegangen ist, weil Dussmann den Denn die Ingenieurkapazitäten, die EADS braucht, um Vertrag gekündigt hat. beim Airbus umzusteuern, werden unter Umständen bei der Produktion des A400M fehlen, was zu einer Zeitver- (Zuruf von der SPD: Mich auch!) zögerung führen könnte. Das sollten wir auf jeden Fall Es ärgert mich deswegen, weil ich nach wie vor glaube, verhindern. dass die Übertragung von Aufgaben, die bislang inner- Denken Sie im Investivbereich auch an die Materialer- halb der Bundeswehr erledigt wurden, an Private eine haltung! Nach Aussagen des Bundeswehrplans 2007 bis Perspektive bieten kann, die sowohl für die Soldaten gut 2010 werden ungefähr 1 Milliarde Euro fehlen, die not- als auch hinsichtlich des Haushalts richtig sein kann. wendig sind, um das vorhandene Material instand zu (Beifall des Abg. Alexander Bonde [BÜND- halten. Diese Unterdeckung müssen wir nicht einfach NIS 90/DIE GRÜNEN]) hinnehmen; wir müssen vielmehr genau überprüfen, was wir im Bereich der Materialerhaltung selber machen Das von uns festgestellte Unvermögen eines Auftrag- können und was von anderen durchgeführt werden muss. nehmers, den Auftrag zur Zufriedenheit der Soldaten Wir müssen aber auch kritisch auf den Prüfstand stellen, auszuführen, mit welchem Stückzahlgerüst wir unser Material erhal- (Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist eine sehr ein- ten wollen. seitige Darstellung! – Birgit Homburger (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des [FDP]: Vielleicht gab es auch einen Grund da- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) für!) (B) Und schließlich müssen wir darauf achten, dass wir im (D) darf nicht dazu führen, dass wir das Thema grundsätz- Bereich der Luftwaffenwerften und des Marinearsenals lich von der Tagesordnung nehmen. Wir müssen sehr ge- eigene Kompetenz und Expertise erhalten, damit wir nau prüfen, wo die Gründe für das Versagen lagen. Wir nicht den Preisen, die uns die Wirtschaft diktiert, wahl- müssen prüfen, ob sie einseitig bei dem Unternehmer la- los ausgeliefert sind. gen oder ob vonseiten der Verwaltung oder des Ministe- riums Vorgaben gemacht wurden, die nicht umzusetzen Lassen Sie mich zum Schluss noch auf das Weißbuch waren. zu sprechen kommen. Ich habe selten eine solche Dis- kussion über ein noch nicht veröffentlichtes Buch und Ich glaube, wenn wir uns in diesen Tagen über den solche detaillierten Forderungen erlebt, wie es beim Fall aufregen, der 13 Küchen betrifft, dann sollten wir Weißbuch der Fall ist. Ich glaube, dieses Weißbuch hat auch berücksichtigen, dass allein bei den Küchen der schon jetzt einen wichtigen Teil seiner Aufgabe erfüllt. Bundeswehr, die wir noch selber verwalten, ein Investi- Das vom Bundespräsidenten angesprochene wohlwol- tionsbedarf in Höhe von 300 Millionen Euro besteht, um lende Desinteresse, das der Bundeswehr in der Öffent- sie so weit instand zu setzen, dass ein Veterinär sie bei lichkeit entgegenschlägt, ist einer engagierten Diskus- einer Inspektion nicht gleich schließt. Das müssen wir sion gewichen. Was kann einem Weißbuch Besseres im Haushalt berücksichtigen. passieren, als dass darüber schon vor seiner Veröffentli- An dem Standort in meinem Wahlkreis Oldenburg chung so intensiv diskutiert wird? Das halte ich für gibt es drei Truppenküchen. Alle drei Küchen sind vom wichtig. Veterinär geschlossen worden, weil der bauliche Zustand Wir haben in Deutschland drei Sicherheitsbereiche: es nicht zuließ, Essen zu kochen, das für den menschli- die soziale Sicherheit, die innere Sicherheit und die äu- chen Verzehr bestimmt ist. Die Luftlandebrigade 31 ßere Sicherheit. Über die soziale Sicherheit diskutieren – eine der Brigaden, die wir als erstes in den Einsatz wir jeden Tag. Die innere Sicherheit liegt uns deswegen schicken wollen – wird, weil kein Geld für eine neue am Herzen, weil uns die Menschen fragen, was wir ei- Küche vorhanden ist, in den nächsten fünf Jahren aus ei- gentlich tun. Aber die äußere Sicherheit hat längst nicht ner containerisierten Küche in Zelten verpflegt werden. den gleichen Stellenwert. Ich wünsche mir, dass das Das ist keine Fürsorge, wie wir sie uns vorstellen. Weißbuch dafür sorgt, dass die äußere Sicherheit wieder (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) den Stellenwert in der öffentlichen Diskussion bekommt, den sie verdient. Lassen Sie mich noch etwas zum Thema Material und Investitionen ausführen. Wir haben die Betriebs- Vielen Dank. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3629

Thomas Kossendey (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von Ihnen, Herr Minister, vorgelegte Konzept rasch dis- (C) neten der FDP – Steffen Kampeter [CDU/ kutieren, damit wir für alle Klarheit über die tatsächliche CSU]: Begeisterung bei der FDP!) Entwicklung schaffen. Die Wehrverwaltung ist 16 Jahre lang nicht immer ausreichend an die Realitäten ange- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: passt worden. Dabei brauchen wir eine Wehrverwaltung, Das Wort hat nun für die SPD-Fraktion der Kollege die in die Transformation der Streitkräfte unmittelbar Andreas Weigel. eingebettet ist. Wir haben das Problem in den letzten Jahren unter Minister Struck sehr intensiv angepackt. (Beifall bei der SPD) Diesen Weg müssen wir weitergehen. Ähnliche Fragen stellen sich bei der Kooperation Andreas Weigel (SPD): der Bundeswehr mit der Wirtschaft, dem zweiten Be- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! reich, den ich hier kurz ansprechen möchte. Maßgeblich Der von mir sehr geschätzte Kollege Alexander Bonde für unsere Bemühungen muss die Konzentration der hat in seiner Rede die Frage gestellt, ob wir für das in- Bundeswehr auf die Kernfähigkeiten und Kernaufgaben vestierte Geld das Optimum bekommen. Ich will diese sein. Wir haben hierbei bemerkenswerte Fortschritte er- Frage aufgreifen. Entscheidend ist, wie wir das Opti- reicht. Das Potenzial ist allerdings noch nicht ganz aus- mum definieren. Das ist eine sehr subjektive Bewertung. geschöpft. Das Optimum kann sein, dass der Einzelplan 14 an drit- ter Stelle steht, was ja von der PDS kritisiert wird. Das Die Partnerschaft mit der Wirtschaft, sei es in Form Optimum kann sein, dass alles drin ist, was wir auf der von Betreibermodellen oder Kooperationsmodellen im großen „Wünsch dir was“-Liste aufgeführt haben. Das engeren Sinne, ist ein zentraler Bestandteil der Transfor- Optimum kann aber auch sein, dass die Einsatzbereit- mation. Dass es auf der militärischen Seite erhebliche schaft und die Sicherheit der Truppe gewährleistet sind. Skepsis gegenüber PPP-Vorhaben gibt, ist kein Geheim- Ich glaube, dass der heute zur Diskussion stehende nis. Die Sorge, die mit dieser kritischen Haltung verbun- Einzelplan 14 dieses Kriterium auf alle Fälle erfüllt. Ver- den ist, nämlich dass die Leistungen nicht in der richti- ehrter Herr Kollege Kossendey, wir stehen damit in der gen Qualität und Menge erbracht werden, darf nicht guten Kontinuität der Haushalte in den vergangenen Jah- einfach ignoriert werden. Die Vertragskündigung durch ren und sorgen für Verlässlichkeit. Die Einsatzbereit- die Firma Dussmann, die wir derzeit diskutieren, ist ein schaft und die Sicherheit der Truppe sind gewährleistet. Thema, das wir wirklich sehr sorgfältig und ausführlich im Verteidigungsausschuss beraten müssen. Wir müssen (Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter aufpassen, dass wir dabei nicht das Kind mit dem Bade [CDU/CSU]: Da glaube ich eher Herrn ausschütten. (B) Kossendey!) (D) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Als letzter Redner in dieser Debatte will ich kurz drei des Abg. Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/ Themen ansprechen, die nicht nur den hier zur Beratung DIE GRÜNEN]) anstehenden Haushalt betreffen, sondern auch die kom- menden Haushalte. Das sind die Themen Anpassung der Privatisierungsprojekte sind wichtig. Wir alle gemein- Bundeswehrverwaltung an die Herausforderungen der sam müssen sicherlich aus dem, was wir derzeit erleben, Transformation, die Kooperation der Bundeswehr mit lernen und unsere Lehren für weitere Projekte ziehen. der Wirtschaft und die Kooperation im Rüstungsbereich Wir müssen darüber hinaus überlegen, ob wir im Be- auf europäischer Ebene. reich der Kameralistik und des Rechnungswesens zu Veränderungen kommen. Sparen muss sich lohnen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, 17 Prozent Dienstbereichs- und dienststellenbezogene Globalhaus- des Verteidigungsetats, ungefähr 4 Milliarden Euro, halte müssen Standard werden. Flexible Budgetierung in nimmt Jahr für Jahr die Finanzierung des Zivilpersonals der Verantwortung und Zuständigkeit des jeweiligen mi- der Bundeswehr in Anspruch. Ungefähr 250 000 Solda- litärischen und zivilen Leiters sollte in Zukunft die Norm ten – einschließlich der Wehrpflichtigen – stehen annä- werden. Sie sollte für alle Anreize bieten. hernd 120 000 Zivilbeschäftigten gegenüber. Wir haben uns das Ziel gesetzt, bis 2010 die Zahl der Zivilbeschäf- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tigten auf 75 000 zu reduzieren. Aber wir werden dieses Ziel – ich glaube, das bestreitet niemand ernsthaft – Schließlich werden wir im Bereich der Streitkräfte wohl nicht erreichen. Was bedeutet das und was folgt neue Wege gehen müssen. Die Festlegung auf Kernfä- daraus? higkeiten und die Bereitschaft zur Integration auf euro- päischer Ebene sind hier wichtige Stichworte. Das Wir kommen in der Haushaltsplanung nicht darum muss wesentlich stärker als bislang seinen Niederschlag herum, die Betriebskosten zu reduzieren und Zivilperso- auch im Haushalt finden. Die Bundeswehr ist als Bünd- nal sozialverträglich abzubauen. Der jetzige Zustand ist nisarmee konzipiert und die europäischen Streitkräfte für das Zivilpersonal in vielerlei Hinsicht unbefriedi- wachsen zusammen. Deshalb ist es geboten, über neue gend. Jeder weiß, dass es Veränderungen geben wird. Formen einer verstärkten gemeinsamen europäischen Aber niemand weiß, wie sie sich auswirken werden. Die Finanzierung nachzudenken. Dies könnte mit dem Aus- Zivilbeschäftigten sorgen sich um ihre Arbeitsplätze und bau der Europäischen Verteidigungsagentur zu einem ihre berufliche Zukunft. Die mittelfristige Entwicklung wesentlichen Instrument bei der Vernetzung europäi- ist ungeklärt. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir über das scher Streitkräfte gekoppelt werden. 3630 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Andreas Weigel (A) Die Bundesregierung geht hier mit gutem Beispiel lateral, europäisch, multilateral – zueinander stehen? (C) voran. Ich glaube, dass wir in Europa auf einem guten Wie sollen wir heute, frage ich Sie, liebe Kolleginnen Weg sind. Wir sollten das im nächsten Haushalt, den wir und Kollegen, verantwortlich über einen Haushalt befin- sehr bald diskutieren werden, berücksichtigen. den, aus dem ein großer Teil der Mittel in ein diffuses Umfeld abfließen soll, bei dem wir kaum Möglichkeiten Ich glaube, dass der vorliegende Haushalt es wert ist, der Einflussnahme oder der Kontrolle haben? mit Zustimmung bedacht zu werden. Und wann – das wäre eine weitere Frage an Sie, Frau Ich danke. Ministerin – werden wir, das Parlament, in die Erörte- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) rung über die zukünftige Struktur der Durchführungsor- ganisationen eingebunden? Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei der FDP) Ich schließe die Aussprache. Ich hoffe, es ist kein schlechtes Omen, dass das von Ih- Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- rem Haus in Auftrag gegebene Gutachten hierzu justa- plan 14 – Bundesministerium der Verteidigung – in der ment kurz vor Beginn der parlamentarischen Sommer- Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? – Wer ist dage- pause vorgelegt werden soll. Ich will nicht hoffen, dass gen? – Enthaltungen? – Dann ist der Einzelplan 14 mit wir dann nach der Sommerpause vor vollendete Tatsa- den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- chen gestellt werden. Das wäre sehr ärgerlich. Sie alle men der Fraktionen von FDP, Bündnis 90/Die Grünen wissen: Organisation und Struktur sind gelebte Politik; und Die Linke angenommen. das brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Sie können auch Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.9 auf: den Kollegen Struck fragen; der spricht immer davon. Einzelplan 23 Noch dringlicher allerdings erwarten wir – zweitens – von Ihnen, Frau Staatssekretärin, und im Übrigen auch Bundesministerium für wirtschaftliche Zu- vom Bundesfinanzminister eine Stellungsnahme zum sammenarbeit und Entwicklung Europäischen Entwicklungsfonds. Ich habe das in – Drucksachen 16/1319, 16/1324 – meinem Beitrag zur ersten Lesung schon einmal gesagt. Dass und warum wir Liberale dem Fonds kritisch gegen- Berichterstattung: überstehen, können Sie dort nachlesen. Wir zahlen in die Abgeordnete Alexander Bonde Nachsorge kolonialer Sünden unserer Partner, teilweise Jochen Borchert sogar in die Infrastruktur der Überseegebiete von EU- (B) Iris Hoffmann (Wismar) Mitgliedstaaten. Das ist doch sehr erstaunlich; ich (D) Jürgen Koppelin glaube, kaum einer weiß das. Das sollten wir bei anderer Michael Leutert Gelegenheit noch einmal erörtern, übrigens auch, warum Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die wir dort mit 23,36 Prozent am meisten einzahlen. Ge- Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu klärt werden muss ebenso, warum wir es immer noch keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. hinnehmen sollen, dass es hierfür keinerlei parlamentari- sche Kontrolle gibt. Ich eröffne die Aussprache. Bevor ich das Wort dem Kollegen Hellmut Königshaus für die FDP-Fraktion (Beifall bei der FDP) gebe, bitte ich darum, dass die Gespräche nicht hier im Ich erwarte von Ihnen aber vor allem eine Stellung- Plenum, sondern vor dem Saal geführt werden, damit nahme zu den dort angehäuften Haushaltsrisiken. Ich wir dem Redner aufmerksam zuhören können. – Herr hatte Sie danach in der ersten Lesung gefragt, habe aber Kollege Königshaus. bis heute noch keine Antwort erhalten. Es geht dabei um namhafte Beträge, die der EEF in der Vergangenheit Hellmut Königshaus (FDP): nicht abgerufen hat. Diese summieren sich mittlerweile, Ich bedanke mich sehr herzlich, Frau Präsidentin! – wenn wir richtig gerechnet haben, auf insgesamt Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, ich 9,9 Milliarden Euro; der deutsche Anteil beläuft sich auf könnte es mir leicht machen und meine Rede zur ersten rund 2,4 Milliarden Euro. Lesung des Einzelplans hier noch einmal wiederholen; Sie haben diese nicht abgeflossenen Mittel großzügig denn am Sachverhalt hat sich leider nichts geändert. in die bilaterale finanzielle Zusammenarbeit umgeleitet, Wenn wir deshalb nachher – was Sie wahrscheinlich also ausgegeben. Nun hat es aber in den vergangenen nicht sehr überraschen wird – Ihren Haushalt ablehnen Jahren erstmals Nachforderungen bezüglich der damals werden, können Sie die Gründe dort nachlesen. aufgelaufenen Rückstände gegeben, im vergangenen Ich will mich auf zwei Kernpunkte konzentrieren, die Haushaltsjahr beispielsweise in Höhe von 97 Millionen mir besonders dringlich erscheinen. Mein Kollege Euro. Darunter ist Ihr Haushalt fast zusammengebro- Dr. Addicks wird nachher noch einiges ergänzen. chen. Erstens zur politischen Konzeption. Frau Ministerin, Welche Konsequenzen hat die Koalition daraus gezo- wann erhalten wir von Ihnen ein klares und nachvoll- gen? Haben Sie mit dem EEF, mit der Kommission ge- ziehbares Konzept, in welchem Verhältnis die verschie- sprochen? Und wie soll es denn nun weitergehen? Was, denen Felder unserer Entwicklungszusammenarbeit – bi- wenn die Kommission die in den vergangenen Jahren Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3631

Hellmut Königshaus (A) aufgelaufenen Mittel vollständig nachfordert? Können Gesamtinvestitionen des Bundes kann in diesem Jahr si- (C) Sie das ausschließen? Wenn ja, haben Sie das schrift- gnifikant gesteigert werden. lich? Was also, Frau Staatssekretärin, ist mit dem ver- bleibenden Risiko von 2,4 Milliarden Euro? Das sind ja Von dieser Erhöhung profitiert natürlich insbesondere keine Peanuts. Das wären acht weitere Monate Eltern- der Europäische Entwicklungsfonds. Sein Baransatz geld oder 500 Kilometer neue Autobahnen. Sie könnten steigt um 126 Millionen Euro. Hier gerieten im Übrigen auf die Erhöhung der Versicherungsteuer verzichten oder die verspäteten Haushaltsberatungen zu einem Vorteil: drei Jahre lang kostenlos Kitas anbieten. Der Titel musste nicht wie in den Vorjahren geschätzt werden, sondern konnte anhand der konkreten Be- (Beifall bei der FDP) schlüsse der EU-Kommission vom Dezember 2005 ver- Ich will diese Anliegen nicht gegeneinander ausspielen, anschlagt werden. Dadurch wird in diesem Bereich meine Damen und Herren. Aber ich bin schon verwun- höchstwahrscheinlich kein abrufbedingter Mehrbedarf dert über die Leichtigkeit, mit der hier über solche Risi- anfallen. Das ist insbesondere für die Kreditanstalt für ken gesprochen oder, genauer gesagt, nicht gesprochen Wiederaufbau ein Vorteil, da die Mehrbedarfe im Rah- wird. Deshalb erwarten wir hier von Ihnen eine Antwort. men des Europäischen Entwicklungsfonds im vergange- nen Jahr aus Mitteln der bilateralen finanziellen Zusam- Solange wir über solche Unsicherheiten reden müs- menarbeit gedeckt werden mussten. sen, solange diese nicht einfach aufgeklärt werden kön- nen, ist die Haushaltsplanung nicht seriös. So lange kön- Die anderen Ansätze im Rahmen der multilateralen nen wir Ihrem Haushalt nicht zustimmen. Entwicklungszusammenarbeit, wie der für die Vereinten Nationen, der für die Weltbank, aber auch der für die Re- Danke schön. gionalbanken, steigen maßvoll um circa 34 Millionen (Beifall bei der FDP – Hartwig Fischer [Göt- Euro. tingen] [CDU/CSU]: Das sind Stammtisch- Der zweite Haushaltstitel, der maßgeblich von der parolen!) Mittelerhöhung profitiert, ist die Wiederaufbauhilfe für die vom Seebeben bzw. vom Tsunami im Indischen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ozean betroffenen Regionen. In diesem Verstärkungsti- Das Wort hat nun für die SPD-Fraktion die Kollegin tel sind 150 Millionen Euro veranschlagt worden, von Iris Hoffmann. denen das Ministerium 108 Millionen Euro direkt be- wirtschaftet. Der Rest verteilt sich auf verschiedene an- Iris Hoffmann (Wismar) (SPD): dere Ressorts. Die Tsunamimittel fließen überwiegend in Vorhaben der bilateralen staatlichen und nicht staatli- (B) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (D) Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Fast das ge- chen Entwicklungszusammenarbeit, die ansonsten in samte öffentliche Leben steht im Moment im Zeichen etwa auf dem Niveau des Vorjahres fortgeführt wird. der Fußballweltmeisterschaft. Viele der Länder, deren Bei den beiden großen staatlichen Durchführungsor- Nationalteams zurzeit bei uns zu Gast sind, sind unsere ganisationen KfW und GTZ wurden die Verpflichtungs- Partner im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit ermächtigungen gekürzt, um die vorhandenen Barmittel- und Entwicklung. Ich denke beispielsweise an Ghana, lücken abzubauen und künftigen Barmittelproblemen die Elfenbeinküste, an Ecuador oder Paraguay, aber auch vorzubeugen. Allerdings sind im Gegenzug beim Tsuna- an Serbien-Montenegro oder die Ukraine. mititel neue Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von Diese Länder bauen nicht nur während der Fußball- 125 Millionen Euro ausgebracht worden. weltmeisterschaft auf unsere Zusammenarbeit und Un- Meine Damen und Herren, insgesamt sind in diesem terstützung. Deshalb freut es mich, dass die wirtschaftli- Haushalt für die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit che Zusammenarbeit und die Entwicklungspolitik einen im weiteren Sinne Barmittel in Höhe von rund 2,5 Mil- bedeutenden Stellenwert in der Arbeit der Bundesregie- liarden Euro vorgesehen, während für die multilaterale rung einnehmen. Das wird auch in der Mittelausstattung Entwicklungszusammenarbeit gut 1,5 Milliarden Euro des Einzelplans 23 sehr deutlich. veranschlagt wurden. Prozentual ist bei der multilatera- Ich möchte Sie nicht mit zu vielen Zahlen nötigen. len Entwicklungszusammenarbeit im Vergleich zu 2005 Aber in einer Haushaltsdebatte kommt man natürlich die Steigerung in etwa doppelt so hoch wie bei der bila- nicht umhin, die wichtigsten Eckpunkte und Entwick- teralen. Diese Zahlen veranschaulichen natürlich die Dy- lungslinien des Etatentwurfs zu skizzieren. Der Haus- namik, die sich in den letzten Jahren zugunsten der mul- haltsansatz des Bundesministeriums sieht Gesamtausga- tilateralen Entwicklungszusammenarbeit entwickelt hat. ben von rund 4 Milliarden Euro vor. Lässt man die Ohne sie hierbei abwerten zu wollen, sind wir uns in den Dezentralisierung der Versorgungsausgaben, also die Koalitionsfraktionen sehr wohl darin einig, dass diese Pensionen, einmal außen vor, beträgt die Steigerung im Dynamik sich nicht weiter zuungunsten der bilateralen Vergleich zu 2005 circa 300 Millionen Euro. Zusammenarbeit entwickeln darf. Ich finde aber, noch bedeutender als der nominale In diesem Zusammenhang möchte ich an den beste- Aufwuchs ist die Tatsache, dass der Einzelplan 23 damit henden Beschluss des Haushaltsausschusses erinnern prozentual wesentlich deutlicher wächst als der Gesamt- – ich glaube, er stammt aus dem Jahre 1994 –, nach dem haushalt. Auch der Anteil der Mittel für die Entwick- die Mittel des Einzelplans 23 im Verhältnis zwei Drittel lungszusammenarbeit am Bundeshaushalt und an den zu einem Drittel zwischen der bilateralen und der multi- 3632 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Iris Hoffmann (Wismar) (A) lateralen Entwicklungszusammenarbeit aufgeteilt wer- anderem durch eine deutliche und nachhaltige Stärkung (C) den. Wir sollten in der Tat gemeinsam versuchen, in den des Einzelplans 23 ermöglicht werden. Damit man mich kommenden Haushaltsjahren zu dieser Aufteilung zu- nicht falsch versteht: Ich bewerte den vorliegenden rückzukehren. Haushalt insgesamt sehr positiv und denke, dass er ein großer Schritt in die richtige Richtung ist; es werden Um ein politisches Zeichen zu setzen, haben die aber noch viele weitere Schritte folgen müssen. Haushälter der großen Koalition im Rahmen der diesjäh- rigen Etatberatungen einige Umschichtungen vor allen (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dingen zugunsten der zivilgesellschaftlichen bilateralen NEN]: Es müssen größere Schritte werden!) Zusammenarbeit vorgenommen. Die Gegenfinanzie- In 2005 hat die Bundesrepublik nach den vorläufigen rung wird hier vom Europäischen Entwicklungsfonds er- Zahlen ihre ODA-Zusage sogar übererfüllt. Auch in die- bracht. sem Jahr werden wir das Ziel mit allergrößter Wahr- Es ist wichtig, zu erwähnen, dass der Mittelansatz für scheinlichkeit erreichen. Es ist kein Geheimnis, dass uns den reinen Verwaltungsbereich im Einzelplan 23 ge- dies nicht zuletzt aufgrund eines Schuldenerlasses gelun- genüber dem Vorjahr um 8 Millionen Euro zurückgeht. gen ist bzw. gelingt. Das ist legitim; man muss sich dafür Das ist viel Geld für ein vergleichsweise kleines Minis- nicht schämen. terium. Das Haus erbringt also weiterhin seinen Beitrag (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: zur Konsolidierung. Allerdings kann man die kritische Das ist aber nicht der richtige Weg!) Frage stellen, inwieweit dies angesichts eines, wie wir alle hoffen, insgesamt weiterhin steigenden Etats und ei- Dieses Instrument, ODA zu generieren, wird jedoch in nes entsprechend erhöhten Arbeits-, Koordinierungs- zukünftigen Jahren nur noch eingeschränkt zur Verfü- und Kontrollaufwandes in den kommenden Jahren sinn- gung stehen. voll ist. Bis 2010 fehlen nach heutigem Stand etwa 7 Milliar- Einige Worte zu den Kürzungen bei den Verpflich- den Euro, um das zugesagte ODA-Zwischenziel von tungsermächtigungen. Mir ist bewusst, dass wir – ich 0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens zu errei- habe das bereits erwähnt – vor allen Dingen bei der tech- chen. Was ich mir persönlich in diesem Zusammenhang nischen Zusammenarbeit eine Barmittellücke aufgebaut wünsche, ist ein abgestimmtes und in sich tragfähiges haben, weil in früheren Haushalten mehr für Verpflich- Gesamtkonzept der Bundesregierung im Hinblick auf tungsermächtigungen veranschlagt wurde, als schluss- die Frage, in welchen Schritten und mit welchen Mitteln endlich durch Barmittel abgedeckt werden konnte. Auch die ODA-Zusage bis zum Jahr 2015 erfüllt werden soll. mir ist klar, dass diese Lücke geschlossen werden muss. Ich denke, der Haushalt 2006 des Bundesministeri- (B) (D) Mir ist es wichtig, die politische Intention aufzuzeigen, ums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- die hinter den damaligen Erhöhungen der Verpflich- lung lässt sich mit einem Fußballvergleich auf den Punkt tungsermächtigungen stand: Die erhöhten Verpflich- bringen: Die Vorrunde ist erfolgreich überstanden, aber tungsermächtigungen sollten mittelfristig mit ebenfalls bis zum Titel ist es noch ein weiter Weg. Doch wenn wir höheren Barmitteln unterfüttert werden. Das ist nicht ge- alle in der Entwicklungszusammenarbeit als Team agie- schehen. Nun haben wir die Barmittellücke und die Ver- ren, können wir hierbei einen großen Schritt vorankom- pflichtungsermächtigungen werden gekürzt. men. In der momentanen Situation mag das haushalterisch Ich danke Ihnen. völlig richtig und sinnvoll sein. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht zukunftsorientiert!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nach meiner Meinung ist aber eine Reduzierung der Das Wort hat nun die Kollegin Heike Hänsel für die Verpflichtungsermächtigungen bei der bilateralen Zu- Fraktion Die Linke. sammenarbeit das falsche politische Signal. Theoretisch (Beifall bei der LINKEN) hätte man die Höhe der Barmittellücke und die der Ver- pflichtungsermächtigungen dadurch in Einklang bringen können, dass man die Barmittel stärker erhöht, anstatt Heike Hänsel (DIE LINKE): die Verpflichtungsermächtigungen selbst zu reduzieren. Danke, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern, am 20. Juni, war der Tag des Flücht- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der lings. Frau Wieczorek-Zeul hat eine Presseerklärung CDU/CSU) dazu herausgegeben. Sie hat darin vor allem auf die Si- Ich weiß, dass dies angesichts der Gesamthaushalts- tuation der Flüchtlinge in Darfur hingewiesen. Das halte lage schwer zu realisieren und damit illusorisch ist. ich für sehr wichtig; denn die Situation ist für sehr viele Menschen katastrophal. Mia Farrow war gestern eben- (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: falls anwesend und hat darüber sehr eindrücklich berich- Ach!) tet. Ich begrüße diese Initiative. Wenn die Bundesregierung ihre internationalen Ver- Allerdings vermisse ich, dass Sie am Tag des Flücht- pflichtungen ernst nimmt – davon bin ich überzeugt – lings kein Wort zu den Flüchtlingen gesagt haben, die und die ODA-Zusage erfüllen möchte, muss dies neben Tag für Tag an den Außengrenzen der Europäischen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3633

Heike Hänsel (A) Union ankommen, und dass Sie sich nicht dazu geäußert Die Antwort ist der freie Markt, mit dem anscheinend (C) haben, wie wir mit diesen Flüchtlingen umgehen. Wie alle Probleme gelöst werden können. Aber er verursacht reagiert die EU auf diese Flüchtlinge? Wir schicken jetzt immer mehr Probleme, und das längst nicht mehr nur in sogar mobile Eingreiftruppen auf die Kanarischen In- den armen Ländern des Südens, sondern mittlerweile seln. Man muss sich das einmal vorstellen: Wo Touristen auch in unserer Region. Daher wollen wir an Alterna- ihren Urlaub verbringen, werden Flüchtlinge mit Schif- tiven anknüpfen, die es in vielen anderen Ländern gibt. fen abgefangen, um sie dann in ihr Heimatland zurück- Dazu werde ich gleich noch etwas sagen. zubringen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die zunehmende Es gab vor kurzem einen sehr guten und eindrückli- weltweite Militarisierung. Die Entwicklungspolitik chen Bericht in der „tageszeitung“ über die Situation von muss sich die Frage stellen, ob sie sich dafür instrumen- Kleinfischern im Senegal, deren Existenzgrundlage zu- talisieren lässt. Ganz aktuell stellt sich die Frage nach nehmend bedroht ist. Sie haben keine Einnahmequellen der zivil-militärischen Zusammenarbeit. Trotz der Ver- mehr, weil große EU-Fischereiflotten für eine enorme schärfung der Situation in Afghanistan gibt es weiterhin Überfischung im Hoheitsgebiet dieses Landes sorgen eine sehr enge Verknüpfung zwischen zivilen und militä- und schwimmende Fischfabriken in dieser Region Tag rischen Aufgaben. Ich sehe darin eine sehr große Ge- für Tag Fisch verarbeiten. fährdung der dort arbeitenden Menschen und außerdem besteht die Gefahr, dass die Interessen der Entwick- Was unternehmen diese Fischer nun? Sie vermieten lungspolitik instrumentalisiert werden. Dem müssen wir ihre Boote, mit denen sie früher Fisch gefangen haben, eine ganz klare Absage erteilen. an Flüchtlinge für die Überfahrt Richtung Europa. Damit kommen Menschen an unseren Außengrenzen an. Was (Beifall bei der LINKEN) ist unsere Antwort darauf? Zunehmend haben wir darauf eine militärische Antwort parat. Da stellt sich die Frage, Wir müssen uns auch mit dem dahinterstehenden Si- warum wir Entwicklungspolitikerinnen und Entwick- cherheitsbegriff auseinander setzen. Auch das wurde lungspolitiker keine andere Antwort haben und warum heute mehrmals erwähnt. Wir müssen den Sicherheitsbe- wir vor allem keine grundsätzlichen Debatten führen. griff erweitern, ohne militärische Aspekte einzubringen. Es wird nämlich weltweit keine militärische Sicherheit (Beifall bei der LINKEN) geben, wenn es keine Weiterentwicklung der sozialen Si- cherheit gibt. In diese Sicherheit müssen wir viel mehr Es stellt sich außerdem die Frage nach den Strukturen investieren. Aber wenn wir uns den Haushalt anschauen, unserer Wirtschaftsordnung. Wir haben auch heute ge- dann können wir erkennen, dass er das überhaupt nicht hört, dass wir sie im Zuge der EU-Verfassung weiterent- hergibt. (B) wickeln wollen. Das neoliberale Modell soll ausgebaut (D) werden, obwohl es sehr viele Probleme verursacht, für (Beifall bei der LINKEN) die wir keine Lösungen haben. Trotzdem entwickeln wir diese Politik konsequent weiter. Ein aktuelles Beispiel ist der Kongo. Wir schicken 1 500 Soldaten in den Kongo. Wir entsenden aber nur Wir müssen uns weiterhin die Frage stellen: Kann mit 200 zivile Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter der jetzigen Weltwirtschaftsordnung das durch die Ver- dorthin. Das ist eine völlige Verkehrung der Aufgabe, einten Nationen verbriefte Recht der Menschen auf Ent- die wir dort haben. So wird eine völlig falsche Gewich- wicklung gewährleistet werden? Die Antwort lautet ganz tung vorgenommen. klar Nein. Deshalb müssen wir grundsätzliche Alterna- tiven dazu entwickeln. Da ich nicht sehe, dass von der auswärtigen Politik Antworten in diesem Bereich gegeben werden, ist es die (Beifall bei der LINKEN) Aufgabe von Entwicklungspolitikerinnen und Entwick- lungspolitikern, sich für den Aufbau neuer Instrumente Bei dieser und bei der letzten Debatte ist mir aufgefal- der zivilen Konfliktlösung einzusetzen, sowohl auf in- len, dass wir die Millenniumsziele, die wir verabschie- ternationaler Ebene, also auf UNO-Ebene, als auch na- det haben, überhaupt nicht thematisieren. Den ganzen tionaler Ebene. Wir selbst haben uns für die Erhöhung Tag über gab es kein Wort dazu, wie die Armutsbekämp- der Mittel für den zivilen Friedensdienst eingesetzt. Eine fung angegangen werden soll. Was sind unsere Antwor- deutliche Aufstockung wäre angebracht; diese hat es lei- ten und wo setzen wir der Armut etwas entgegen? der nicht gegeben. Es konnte gerade der Status quo bei- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir diskutie- behalten werden. Gleichwohl wäre es von entscheiden- ren doch gerade darüber!) der Bedeutung, viel mehr in diesen Bereich zu investieren, weil so ganz andere Möglichkeiten für Kon- – Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen. Aber fliktlösungen entwickelt werden könnten. halten Sie sich ansonsten bitte zurück! Zum Haushalt möchte ich noch ganz kurz Folgendes (Beifall des Abg. Volker Schneider [Saarbrü- sagen: cken] [DIE LINKE] – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie haben jetzt vielen aus dem (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist ja Herzen gesprochen! – Dr. Gesine Lötzsch auch eine Haushaltsdebatte!) [DIE LINKE]: Das stimmt!) Erster Punkt. Es ärgert mich schon, dass bei der – Ja, genau. ODA-Quote Entschuldungsmaßnahmen und die 3634 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Heike Hänsel (A) Tsunamihilfe angerechnet wurden. Das halte ich nicht (Beifall bei der LINKEN) (C) für seriös. (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Was?) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun der Kollege Jochen Borchert für die Es handelt sich um Extraposten, die nicht dafür benutzt CDU/CSU-Fraktion. werden dürften, die ODA-Quote zu erhöhen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aber selbst- neten der SPD) verständlich!) Statt sie durch einmalige Zahlungen zu erhöhen, müss- Jochen Borchert (CDU/CSU): ten vielmehr feste Ausgabeposten im Haushalt einge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! plant werden. In dieser Frage gibt es auch überhaupt Der Bundeshaushalt 2006 steht im Zeichen der Konsoli- kein Gegenargument; das räumt selbst die Ministerin dierung einerseits und notwendiger Reformen anderer- ein. seits. Das Ziel ist klar: Wir müssen und wir wollen die Maastrichtkriterien und gleichzeitig die Vorschriften des Zweiter Punkt ist, dass keine neuen Finanzierungsme- Art. 115 des Grundgesetzes einhalten. chanismen wie zum Beispiel die Flugticketabgabe, de- ren Einführung auch wir unterstützen, vorgesehen wer- (Zuruf der Abg. Ute Koczy [BÜNDNIS 90/ den. Frau Ministerin, wenn Sie sich dafür einsetzen, DIE GRÜNEN]) sichere ich Ihnen unsere Unterstützung zu. Ich finde, die – Sie müssen etwas lauter zwischenrufen; ich habe Sie Flugticketabgabe ist längst überfällig. nicht verstanden. – Dabei steht der Einzelplan 23 als in- Ein aus unserer Sicht interessanter Punkt ist es, dass vestiver Einzelplan in einer besonderen Verantwortung; es in Ländern auf anderen Kontinenten Alternativen denn neben der Konsolidierung des Bundeshaushaltes gibt. Ich denke da zum Beispiel an Lateinamerika. Es haben wir uns im Koalitionsvertrag auch auf eine Erhö- gab den EU-Lateinamerika-Gipfel. Dort haben wir uns hung der ODA-Quote verständigt. Das bedeutet, dass im dafür engagiert, dass kein Freihandelsabkommen zu- Jahr 2010 0,51 Prozent unseres Bruttonationaleinkom- stande kommt. Wir glauben nämlich, dass es in Latein- mens für Entwicklungsaufgaben aufgewendet werden amerika nun vermehrt zu selbstbestimmter Entwicklung sollen. Meine Damen und Herren, das ist unser Anteil an kommt. Wir halten zum Beispiel die Verstaatlichung der der Armutsbekämpfung, das ist unser Anteil zum sozia- Erdgas- und Erdölreserven in Bolivien für einen der bes- len Frieden und das ist unsere internationale Zusage. ten Beiträge zur Entwicklungspolitik der letzten Jahre. Es galt für die Bundesregierung, schon in diesem (B) (D) (Beifall bei der LINKEN – Steffen Kampeter Haushalt Zeichen zu setzen. Dies ist, wie ich denke, ein- [CDU/CSU]: Sie haben ja keine Ahnung!) drucksvoll gelungen. Für das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bringt – Es gibt dort weitere neue Ansätze, von denen Sie keine dies eine Erhöhung des Etats um 320 Millionen Euro mit Ahnung haben. Sie beziehen mittlerweile völlig altba- sich. Das entspricht einer Erhöhung von fast 8,2 Prozent ckene Positionen, weil Sie in keiner Weise für eine im Vergleich zum Vorjahresetat. Damit werden die Bun- selbstbestimmte Entwicklung eintreten. desregierung und die Koalitionsfraktionen, wie ich denke, ihrer Verpflichtung aus der ODA-Zusage gerecht. (Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer Das stärkt auch das Ministerium bei der Bewältigung der [Göttingen] [CDU/CSU]: Was reden Sie wachsenden Aufgaben. Wir setzen diese Erhöhung – da- denn?) mit halten wir unsere Zusage ein – in einem Haushalt Sie sitzen hier im Parlament, machen schlaue Sprüche, durch, in dem zugleich intensiv gespart wird. aber sind nicht bereit, in Gesellschaften zu investieren, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- um neue Prozesse anzustoßen. neten der SPD) (Gabriele Groneberg [SPD]: Das stimmt doch Die nächsten Ziele lauten: eine ODA-Quote von überhaupt nicht!) 0,51 Prozent im Jahr 2010 und 0,7 Prozent im Jahr 2015. Beispielsweise über regionale Integration wird anderswo Bevor ich einen Ausblick gebe, wie wir dieses Ziel versucht, neue Antworten zu geben. gemeinsam erreichen wollen, lassen Sie mich noch ei- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: nige Worte zu den Haushaltsberatungen dieses Jahres sa- Das haben wir letzte Woche in Darfur gese- gen. Nach der parlamentarischen Beratung hat der hen!) Einzelplan 23 knapp 320 Millionen Euro mehr in diesem Haushaltsjahr. Diesen Aufwuchs benötigen wir auf der – Das ist eine andere Frage. – Was Sie machen, ist im einen Seite für unsere Verpflichtungen im Europäischen Grunde genommen überholt. Sie kommen mit alten Ant- Entwicklungsfonds und auf der anderen Seite, um unsere worten, obwohl es neue Ansätze gibt. An diese wollen Zusagen für die vom Tsunami betroffenen Regionen er- wir anknüpfen. Wir werden die Menschen in Lateiname- füllen zu können und diese Regionen nachhaltig zu un- rika unterstützen und sehen uns als Teil einer Bewegung, terstützen. die für die Umsetzung solcher Ansätze in Europa eintritt. Herr Kollege Königshaus, wir haben den Anforderun- Herzlichen Dank. gen aus dem EEF natürlich mit Erhöhungen Rechnung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3635

Jochen Borchert (A) getragen. Wir haben aber auch – mit Zustimmung der des Schuldenerlasses fortführen. Es hat sich gezeigt, (C) FDP – im Haushaltsauschuss beschlossen, dass dem dass hier bei verantwortungsvollem Einsatz weitere Ent- Haushaltsausschuss in Zukunft vor internationalen Zusa- wicklungspotenziale unserer Partner freigesetzt werden gen frühzeitig – ehe die Bundesregierung Verpflichtun- können. gen eingeht – entsprechende Informationen vorgelegt werden, damit wir die Auswirkungen auf kommende (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut!) Haushalte genau überprüfen können. Das heißt, wir le- Zweitens wird es eine besondere Herausforderung für gen Wert darauf, dass hier in Zukunft keine Risiken auf- das Ministerium, für die Durchführungsorganisationen wachsen. Ich denke, wir werden in den nächsten Jahren und für uns sein, neue kreative Finanzierungsinstru- mit den Verpflichtungen im EEF den Zusagen gerecht mente zu entwickeln. Ich denke, da sind wir alle gefor- und werden das auch umsetzen können. dert. Drittens geht es darum, die vorhandenen Mittel Mit den 150 Millionen Euro für die vom Tsunami be- möglichst effizient einzusetzen. troffenen Regionen unterstützen wir vor allen Dingen Das Thema Effizienz ist nicht nur vor dem Hinter- bilaterale Partner in der deutschen Entwicklungszusam- grund der ODA-Quote eine große Herausforderung für menarbeit. Sie können ihr Engagement vor Ort nachhal- uns. Der DAC-Bericht für Deutschland hat gezeigt, dass tig fortführen. Die Stärkung unserer deutschen Partner in wir in Sachen Harmonisierung und Effizienz mehr leis- der Entwicklungszusammenarbeit ist uns ein besonderes ten können, wenn wir die Strukturen der Entwicklungs- Anliegen. Daher war in den Haushaltsberatungen die zusammenarbeit verbessern. Diese Aufgabe müssen wir Umschichtung zugunsten bilateraler Entwicklungszu- entschlossen und schnell umsetzen. Herr Kollege sammenarbeit, soweit dies in diesem Etat möglich war, Königshaus hat darauf hingewiesen, dass hierzu eine für uns wichtig. Wir konnten dies auch mit großer Mehr- Studie über die Zusammenarbeit der TZ und der FZ in heit im Haushaltsausschuss beschließen. Auftrag gegeben worden ist. Ich stimme Ihnen zu, dass Vor allem die politischen Stiftungen und die Kirchen wir über diese Studie parlamentarisch sehr intensiv dis- profitieren von dieser Umschichtung. So kann auch dem kutieren und daraus gemeinsam die richtigen Konse- Koalitionsvertrag Rechnung getragen werden, der den quenzen ziehen müssen. Über diese Studie muss mit Stiftungen, aber auch den Kirchen eine besondere Rolle dem Parlament und den beteiligten Organisationen in- bei der Entwicklungszusammenarbeit zuweist. tensiv diskutiert werden. So unterschiedlich die Positio- nen einzelner Akteure in dieser Diskussion, die nicht neu Dies gilt auch für die internationale Agrarfor- ist, sondern die uns seit langem begleitet, sind, unter schung. Gerade unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit ist dem Strich muss eine deutliche Verbesserung der Effi- es wichtig, unseren Partnerländern das erforderliche zienz stehen. (B) Wissen zur Verfügung zu stellen, damit sie selbstständig (D) Ernährungssicherung durchsetzen und selbstständig Ar- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) mutsbekämpfung betreiben können. Ich sehe in der Un- Um dies zu erreichen, müssen wir unsere Kriterien terstützung der internationalen Agrarforschung nicht nur und Maßnahmen immer wieder überprüfen. Für den Be- einen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung des Hun- reich der Steigerung der Barmittel heißt das, dass mit gers und dadurch zur Armuts- und Krankheitsbekämp- steigenden Mitteln die Evaluierung immer wichtiger fung, sondern auch einen wesentlichen Beitrag zum wird, und zwar sowohl im staatlichen als auch im nicht- Schutz der natürlichen Ressourcen. Ich denke, dies gilt staatlichen Bereich. Für den Bereich der Entlastung der für alle Bereiche der Land-, Forst- und Fischereiwirt- Staatshaushalte der Partnerländer über den Schulden- schaft. Diese Bereiche wollen wir auch in Zukunft inten- erlass oder auch über die Gewährung neuer Mittel muss siv unterstützen. dies bedeuten, dass wir klare Konditionen an den Schul- Meine Damen und Herren, in den letzten Wochen ist denerlass und an die Budgethilfe binden, auf deren Ein- viel darüber diskutiert worden, dass deutliche Zeichen haltung wir achten und drängen müssen. Für den Bereich gesetzt werden müssen. Die Bundesregierung und die der innovativen Finanzierungsinstrumente muss das hei- Koalition haben das Ziel der Erhöhung der ODA-Quote ßen, dass wir auch nach 2015 ein verlässlicher Partner in auf 0,51 Prozent bis 2010 bzw. auf 0,7 Prozent bis 2015 der Entwicklungszusammenarbeit sind. ernst genommen. Eine Etaterhöhung um 8,2 Prozent ist Wir brauchen eine Debatte darüber, welche Länder hier ein richtiger und wichtiger Schritt und ein deutliches wir im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit auch Zeichen. in Zukunft unterstützen wollen. Bei den am wenigsten Die deutliche Steigerung der Barmittel hat auch einen entwikkelten Ländern wird diese Frage selten oder gar positiven Nebeneffekt, auf den die Kollegin Hoffmann nicht gestellt. Was bedeutet dies aber für Partnerländer, bereits hingewiesen hat: Damit kann die Barmittellücke die an der Schwelle zum Industrieland stehen, Länder, in diesem Jahr abgebaut werden. Wir werden dann im deren Wachstum das der Bundesrepublik übertrifft? Dür- nächsten Jahr über die Erhöhung der VE und der Barmit- fen wir uns von dort zurückziehen? Ist in solchen Län- tel diskutieren können. dern die Armut überwunden, der Frieden gesichert, die Umwelt geschützt und die Nachhaltigkeit gesichert? Um die ODA-Quote zu steigern, werden wir neben Sind Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschen- der Barmittelsteigerung noch über andere Instrumente rechte in diesen Ländern verwirklicht? Wenn wir über der Finanzierung der Entwicklungszusammenarbeit Schwellenländer diskutieren, müssen wir diese Punkte diskutieren müssen. Erstens werden wir das Instrument sachlich überprüfen. Wir müssen die wirtschaftliche Zu- 3636 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Jochen Borchert (A) sammenarbeit mit einem Schwellenland mit anderen ohne mich beim Bundesministerium für wirtschaftliche (C) Schwerpunkten fortführen als die Hilfe für die am we- Zusammenarbeit und Entwicklung sowie den Mitarbei- nigsten entwickelten Länder. Bei Schwellenländern kön- tern des Hauses nachdrücklich für die gute Zusammen- nen wir unsere Hilfe auf eine Beratungsleistung in den arbeit bei den diesjährigen Haushaltsberatungen zu be- Bereichen Demokratisierung, Umwelt- und Ressourcen- danken. Ich bedanke mich auch sehr herzlich bei den schutz oder in anderen Bereichen konzentrieren. Berichterstattern für die gute Zusammenarbeit bei den Beratungen im Haushaltsausschuss. Ich darf Sie bitten, Nehmen wir das Beispiel China. Wir hören häufig dem vorgelegten Haushalt zuzustimmen. die Forderung, die Entwicklungszusammenarbeit mit China einzustellen. Prüfen wir aber die oben genannten Herzlichen Dank. Ziele der Entwicklungspolitik aus dem Koalitionsver- trag, wird schnell deutlich, dass China Unterstützung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) und wirtschaftliche Zusammenarbeit braucht. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das Wort hat nun der Kollege Alexander Bonde für NEN]: Das ging jetzt an Ihre Fraktion!) die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. – Das ging auch an Ihre Adresse. – Niemand bestreitet, dass die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung in Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): China immens ist. Gerade erst wurde aber das Weißbuch Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zur Umweltsituation in China vorgestellt. Es deckt er- Als Hauptberichterstatter zu diesem Einzelplan möchte schreckende Mängel auf. 200 Milliarden US-Dollar kos- auch ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bun- tet die Umweltzerstörung pro Jahr. Das entspricht einem desministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit großen Teil des Bruttosozialprodukts und frisst damit und Entwicklung sowie den Kolleginnen und Kollegen fast das gesamte Wirtschaftswachstum dieses Landes meinen Dank aussprechen. Die Beratungen sind in einer auf. sehr sachlichen und freundschaftlichen Atmosphäre ver- (Zuruf des Abg. Steffen Kampeter [CDU/ laufen. Gleichwohl ist es geboten, dass wir uns in der CSU]) Sache über diesen Einzelplan streiten. – Herr Kollege Kampeter, die deutsche Entwicklungs- Frau Ministerin, in den vergangenen Jahren haben hilfe setzt genau da ein, um diese Umweltschäden zu Ihre und meine Fraktion gemeinsam sehr intensiv für die vermeiden. Einhaltung der Millenniumsziele gekämpft. Wir haben uns um die Schaffung von Kapazitäten bemüht, damit (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der EU-Stufenplan, nach dem die ODA-Mittel im Jahr (D) DIE GRÜNEN) 2015 bei 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens lie- Ich bin gerne bereit, Ihnen das in einem Vieraugenge- gen sollen, tatsächlich eingehalten wird. spräch intensiv zu erläutern. Gleichwohl komme ich zu einer ganz anderen Bewer- (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tung dieses Einzelplans als die Rednerinnen und Redner NEN]: Gesprächsbedarf in der CDU!) der Koalition. Es bedarf einer enormen Anstrengung, da- mit man überhaupt in die Nähe dessen kommt, was der Die Umweltsünden dieses Landes sind nicht nur für Stufenplan vorgibt. China, sondern weltweit eine Bedrohung, der wir uns stellen müssen. Deshalb muss die Zusammenarbeit mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) China fortgesetzt werden und es müssen Konzepte ge- Wir erkennen ausdrücklich an, dass in diesem Jahr funden werden, die nachhaltig den Energiebedarf des ebenso wie im letzten Jahr zusätzliche Mittel in den Etat Landes gewährleisten, aber gleichzeitig die Umwelt und eingestellt wurden. Wir bedauern aber, dass die Kolle- die natürlichen Ressourcen schonen. ginnen und Kollegen der anderen Fraktionen nicht die (Beifall des Abg. Alexander Bonde [BÜND- Möglichkeit genutzt haben, über die Erhöhungen, die der NIS 90/DIE GRÜNEN]) Finanzminister im Kabinettsentwurf zugelassen hat, hi- nausgehend etwas zu tun. Ich will aber deutlich sagen: – Ich bedanke mich besonders für diesen Beifall. Um das Ziel, das wir hier gemeinsam propagieren, zu er- reichen, ist das, was hier vorgelegt wird, viel zu wenig. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Von der Lin- ken kann kein Beifall kommen! Die hören (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht zu!) Ich will das an drei Punkten sehr deutlich machen. – Das ist nicht so wichtig. – Es entspricht unserer globa- len Verantwortung, dass wir uns nicht aus dieser Ent- Erstens. Das 0,7-Prozent-Ziel erreicht man nicht – das wicklungszusammenarbeit zurückziehen. ist der zentrale Punkt – durch eine Einmalzahlung. Sie bewirkt lediglich eine leichte Korrektur des Prozent- Die Bundesregierung hat mit dem vorgelegten Ent- bzw. des Promillesatzes. Man muss vielmehr langfristig wurf ein deutliches Zeichen in Richtung der ODA-Quote Kurs halten. Die zentrale Frage in diesem Zusammen- von 0,7 Prozent gesetzt. Dies ist ein erster, ein wichtiger hang sind die Verpflichtungsermächtigungen. Es geht Schritt in einer schwierigen Haushaltssituation. Ich also um die Gelder, die man in den Folgejahren für Pro- möchte diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen, jekte tatsächlich einsetzen kann. Es geht um die Gelder, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3637

Alexander Bonde (A) die für eine langfristige Finanzierung von Entwicklungs- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ (C) maßnahmen erforderlich sind. In diesem Einzelplan hat DIE GRÜNEN) sich diesbezüglich nichts zum Positiven verändert. Im Gegenteil: In diesem Bereich werden die Mittel um Ich finde, diese Blockade des Finanzministeriums ge- 20 Prozent abgesenkt, was in vielen Bereichen dazu genüber dem BMZ steht in einer Kontinuität, die zeigt, führt, dass keine neuen Projekte angestoßen werden kön- wie in dieser Regierung der Entwicklungsbereich ange- nen. fasst wird, welche Priorität er hat. (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir stocken Das ist schlecht!) den doch gerade auf, Herr Kollege!) Zweitens. Sie wissen alle, dass es zur Erreichung der Man hat manchmal den Eindruck, dass es kein völliger ODA-Ziele nicht ausreichen wird, wie bisher Haushalts- Zufall ist, dass das Entwicklungsministerium auf der Re- mittel umzuschichten oder mit dem manchmal auch gierungsbank in die dritte Reihe gerückt ist. Denn in den fragwürdigen, bisher eingesetzten Mittel des Schul- politischen Feldern spielt sich das häufig auch so ab. denerlasses zu operieren, sondern dass wir neue Finanz- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ihr instrumente brauchen. sitzt nicht einmal in der letz- (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Das haben Sie ten Reihe!) in den letzten Jahren nie gesagt! – Steffen Ich will einmal aktuelle Debatten aufgreifen und da- Kampeter [CDU/CSU]: Das ist eine Haltet- ran erinnern, was wir gerade in der Debatte mit dem den-Dieb-Rede! Herr Bonde, Sie haben über Bundesverteidigungsminister erlebt haben. Wir erleben, alles mitentschieden!) dass der Bundesverteidigungsminister in den großen po- litischen Linien all das, was wir, Frau Wieczorek-Zeul, Insofern freue ich mich, dass in den Reihen der Koali- gemeinsam als Rot-Grün im Zusammenhang mit dem er- tionsfraktionen die Frage zusätzlicher Finanzierungsinst- weiterten Sicherheitsbegriff entwickelt haben – den Stel- rumente thematisiert wird. Gleichzeitig müssen wir an lenwert, den Entwicklungszusammenarbeit auch in der dieser Stelle aber sagen, dass diese neue Koalition auch Sicherheitskonzeption und politisch für die Regierung auf diesem Gebiet nichts auf die Reihe bringt. Was ist hatte –, in seinem Weißbuch abräumt. In diesem Grund- mit dem französischen Vorschlag der Ticket-Tax? Wenn satzdokument für deutsche Sicherheitspolitik fällt kein man genau hinhört, erkennt man in der Regierung ein Wort mehr zur Entwicklungszusammenarbeit. Sämtliche Stimmengewirr, hört aber keine klaren Bekenntnisse. präventive Maßnahmen werden an den Rand gedrückt. Teilweise herrschte auch ein peinliches Schweigen bei (B) Die Remilitarisierung des Sicherheitsbegriffes wird in (D) den Auftritten auf internationalen Konferenzen. Sie wis- dieser Koalition zur Sicherheitsdoktrin. sen, dass meine Fraktion hierzu klar positioniert ist. Wir erahnen, dass auch Sie, Frau Ministerin, klar positioniert Frau Ministerin, wir kennen Sie nicht als sehr sind. Eine klare Position der Bundesregierung und der schweigsame Ministerin. Wir warten noch darauf, dass Koalitionsfraktionen zu dieser Frage steht aber noch aus in Verteidigung der gemeinsamen rot-grünen Position in wie bei so vielen Dingen. dieser Koalition endlich einmal ein Aufschrei kommt, der diesem Zurückdrängen von Entwicklungszusam- Drittens. Man fragt sich, mit welcher Strategie das menarbeit, diesem Zurückdrängen von konfliktpräventi- immer wieder propagierte Ziel, das von uns ausdrücklich ven Maßnahmen und von zivilen Maßnahmen endlich unterstützt wird, umgesetzt werden soll. Auch dazu ein Ende setzt. Denn das ist eine Frage des Selbstver- herrscht im Ministerium Schweigen. ständnisses von Entwicklungspolitik in dieser Regierung Spätestens ab 2008, wenn der Schuldenerlass keine und in dieser Koalition. Wirkung mehr zeigt, steht die Antwort auf die Frage an, Wenn ich das alles zusammennehme, dann kann ich wie die große Koalition das Ziel eigentlich ernsthaft ver- sagen, dass wir uns über leichte Erhöhungen freuen, uns folgen will, ob die Festlegung im Koalitionsvertrag mehr aber nicht sicher sind, ob diese wirklich vom Herzen ge- als ein Lippenbekenntnis ist. Wir sind sehr gespannt. tragen sind. Unsere Fraktion hat bei den Haushaltsverhandlungen (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: An unserem belegt, dass man im Rahmen dieses Einzelplans mehr für großen Herzen sollten Sie nicht zweifeln, Herr die Entwicklungszusammenarbeit tun kann. Wir haben Bonde!) unsere Vorschläge gegenfinanziert und haben belegt, wie man bereits in diesem Haushalt 100 Millionen Euro In den großen Linien der Koalition findet Entwicklungs- mehr in den Bereich der ODA-Mittel hätte umschichten politik nicht statt. Wir warten gespannt auf die Stimmen können, und zwar sowohl im Bundesministerium für aus der Koalition, die in diese Debatten eingreifen. Bis- wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit wie her herrscht, wenn es zum Schwur kommt, noch immer auch im Auswärtigen Amt oder anderen beteiligten Mi- das Schweigen. Sie protestieren hier nun schon so laut- nisterien. Wir haben vor allem belegt, wie man 445 Mil- stark. Wir warten mit Spannung darauf, dass Sie Ihrem lionen Euro an Verpflichtungsermächtigungen hätte um- Protest Taten folgen lassen. Erste selbstkritische Anmer- schichten können. Sie als Koalition haben sich dazu kungen aus den Koalitionsreihen in dieser Debatte neh- nicht durchringen können. men wir mit Wohlwollen entgegen. 3638 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Alexander Bonde (A) (Zurufe von der CDU/CSU: Danke sehr! zum Jahr 2015, mit diesem Haushalt und mit unserer (C) Danke sehr!) Entwicklungspolitik erreichen. Denn nach wie vor ster- ben pro Tag 30 000 Kinder an den Folgen von Hunger Wenn dem nun auch Zustimmung zu unseren Ände- und Armut. Das ist für uns Ansporn genug, etwas zu un- rungsanträgen gegenüberstünde, wäre unser Wohlwollen ternehmen. noch viel größer. Aber darauf werden wir wohl noch eine Weile warten müssen. Letztlich zahlen sich Investitionen in die Bekämpfung von Armut auch für uns immer aus. Wir müssen uns vor Vielen Dank. Augen führen, dass wir in vielen Ländern der Welt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – zum Beispiel in Afghanistan, im Irak, im Kongo und im Sudan – oft im Rahmen sehr teurer Militärmissionen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: das reparieren, was man präventiv durch Entwicklungs- zusammenarbeit hätte verhindern können. Wenn man die Nun hat das Wort der Kollege Dr. Sascha Raabe für entsprechenden Zahlen gegenüberstellt, wird man fest- die SPD-Fraktion. stellen, dass die Militär- und Rüstungsausgaben pro Jahr weltweit 1 000 Milliarden Euro betragen, dass aber nur Dr. Sascha Raabe (SPD): ungefähr ein Zehntel dieses Betrages für die Entwick- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen lungszusammenarbeit zur Verfügung gestellt wird. Es und Kollegen! Lieber Herr Kollege Bonde, Sie haben wäre besser, dieses Verhältnis umzukehren und den das angebliche Schweigen beklagt. Manchmal ist es so: Schwerpunkt bei der Entwicklungszusammenarbeit zu Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Ihre Rede bietet setzen. dafür ein ganz gutes Beispiel. Denn es geht nicht darum, wer hier am lautesten redet, wie die Kollegin Hänsel, (Beifall des Abg. Alexander Bonde [BÜND- oder wer am lautesten Beifall klatscht, wie die Kollegin NIS 90/DIE GRÜNEN]) Koczy. Dann hätten wir viel erreicht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Herr Raabe, ma- Wir wollen nicht an unseren Worten, sondern an unseren chen Sie einen Schritt!) Taten gemessen werden. Die können sich beim Haushalt – Dieser Haushalt, Frau Hänsel, ist ein wichtiger Schritt 2006 mit über 300 Millionen Euro Steigerung sehen las- in diese Richtung. Immerhin haben wir eine fast 10-pro- sen. zentige Steigerung zu verzeichnen. Das wollen wir in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den nächsten Jahren mit dem ODA-Stufenplan fortfüh- (B) der CDU/CSU – Widerspruch beim BÜND- ren. (D) NIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es fällt Ihnen ja auch erkennbar schwer, diesen Haus- der CDU/CSU) halt wirklich sachlich schlechtzureden. Aber natürlich muss die Erhöhung der Mittel für die (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Entwicklungszusammenarbeit von der Gesellschaft mit- NEN]: Wir wollen ihn gar nicht schlechtre- getragen werden. In diesem Zusammenhang werden wir den!) sicherlich noch über andere Instrumente diskutieren müssen. Herr Bonde, Sie haben zum Beispiel die Flug- Wenn Sie selbst einräumen müssen, dass wir mit über ticketabgabe angesprochen. Wir werden den Menschen 8 Prozent Steigerung und einer historischen Steigerung erklären müssen, warum sie noch mehr Geld für die Ent- der ODA-Quote von 0,28 Prozent im Jahr 2004 auf wicklungszusammenarbeit aufbringen sollen. 0,35 Prozent im letzten Jahr einen Riesenaufwuchs für Ich glaube, dass die Menschen in Deutschland bereit Entwicklungspolitik und -zusammenarbeit gehabt ha- sind, Geld für die Ärmsten auf der Welt auszugeben; das ben, dann kann ich schon verstehen, dass Sie dann da- haben sie beim Tsunami und in anderen Fällen bewiesen. rauf zurückgreifen müssen, zu sagen: Na ja, diese Aber sie müssen das Gefühl haben, dass es wirklich den 300 Millionen Euro kommen vielleicht nicht von Her- Ärmsten zugute kommt. Deswegen legen wir großen zen. Also, den Menschen in Afrika und Lateinamerika Wert auf gute Regierungsführung und setzen einen ist es egal, ob das Geld von Herzen kommt oder nicht, Schwerpunkt unserer Arbeit bei Antikorruptionspro- sondern ihnen ist wichtig, dass sie durch das Geld ein grammen und Demokratisierungsprozessen. Es darf kein selbstbestimmtes Leben führen können. Das ist für die Pardon mit Despoten und korrupten Eliten in den Ent- Menschen wichtig. Wir sind stolz darauf, dass wir einen wicklungsländern geben. Haushalt mit solchen Steigerungsraten vorgelegt haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU) Aber die Forderung, die Entwicklungszusammenar- Es geht bei der finanziellen und technischen Zusam- beit mit jedem Land, das nicht ganz lupenrein arbeitet, menarbeit nicht um Almosen, sondern es geht um Hilfe einzustellen – wahrscheinlich wird Herr Addicks das zur Selbsthilfe. Wir wollen die Millenniumsentwick- gleich ansprechen –, lungsziele, die die Vereinten Nationen gesetzt haben, un- ter anderem die Halbierung von Hunger und Armut bis (Lachen des Abg. Dr. Karl Addicks [FDP]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3639

Dr. Sascha Raabe (A) ist natürlich auch problematisch. Wir müssen schon da- Möglichkeiten, die Effizienz zu erhöhen. Bevor wir das (C) rauf achten, dass wir die treffen, die die Mittel verant- nicht getan haben, können wir diesem Haushalt leider wortungslos in den Sand setzen, dass wir aber nicht die nicht zustimmen. Ärmsten der Armen treffen. Deshalb werden wir auch (Beifall bei der FDP – Jochen-Konrad weiterhin differenziert vorgehen, wenn es um die Zu- Fromme [CDU/CSU]: Schade!) sammenarbeit mit nicht staatlichen Organisationen und um die anderen Instrumente im Hinblick auf die staatli- Der gute Zweck allein heiligt nicht die Mittel. Sie verlet- chen Institutionen geht. zen die Stabilitätskriterien, Sie türmen einen giganti- schen Schuldenberg auf, Sie ziehen die Steuerschraube Wir brauchen gute Regierungsführung nicht nur in immer weiter an; gerade haben wir wieder etwas von ei- den Entwicklungsländern, sondern auch in den Indus- ner Ticketsteuer gehört. Erstens sind das alles schlechte trieländern. Oft ist es leider so, dass viele Industrieländer Beispiele für unsere Partnerländer und zweitens würgen durch ihre Agrar- und Handelspolitik das kaputtma- wir damit das Wirtschaftswachstum ab, das wir brau- chen, was sie zuvor im Rahmen der Entwicklungszu- chen, wenn wir eine substanzielle Zusammenarbeit auf sammenarbeit aufgebaut haben. Deswegen brauchen wir Dauer finanzieren wollen. beim Welthandel gerechtere Regeln. Es muss Schluss sein mit den zerstörerischen Agrarsubventionen welt- (Beifall bei der FDP) weit. Aber zurück zur EZ – ich habe hier nur drei Minuten Auch die Schaffung eines besseren Marktzugangs und muss haushalten; deshalb komme ich lieber wieder für die Entwicklungsländer ist sehr wichtig. Hier müssen zum Thema – und gleich zu den MDGs: Von den acht wir gute Regierungsführung beweisen. Unsere Regie- MDGs beziehen sich drei auf den Gesundheitsbereich. rung bzw. unsere Ministerin hat bei der WTO schon oft Aids ist dort namentlich genannt worden. Jeder von uns gute Initiativen auf den Weg gebracht, um zum Beispiel kennt die verheerenden Auswirkungen, die Aids auf die den Baumwollfarmern in Westafrika, aber auch anderen Entwicklung gerade der Länder Afrikas hat, wo die Seu- Kleinbauern auf aller Welt Chancen zu geben. In der che am allerschlimmsten wütet: Ganze soziale Gefüge nächsten Woche wird sich auf der Mini-Ministerkonfe- kommen durch diese Krankheit ins Wanken. Im entwick- renz der WTO in Genf zeigen, ob auch die EU und die lungspolitischen Teil der Koalitionsvereinbarung kommt USA zu guter Regierungsführung bereit sind. das Wort „Profilschärfung“ zweimal vor, das Wort „Aids“ aber kein einziges Mal, nicht einmal unter dem Wir haben schon früh als Kernbestandteil unserer Oberbegriff „Gesundheit“. Ich weiß nicht, wie so etwas Entwicklungszusammenarbeit erkannt, dass Entwick- auf unsere Partner wirkt. Vielleicht ist es ja vergessen lungspolitik auch globale Strukturpolitik ist. Deshalb ist worden. Das hätten wir gutmachen können, wenn Sie (B) (D) der Einzelplan 23 auch in Kohärenz zu den Haushalten wenigstens unserem Änderungsantrag zugestimmt hät- anderer Ministerien zu sehen. Aber auch der Haushalt ten, für die Bekämpfung von Aids Mindestmittel anzu- insgesamt macht Mut, dass es möglich ist, auf der Welt setzen. Aber auch das haben Sie nicht getan. Dabei hät- bessere und gerechtere Bedingungen zu schaffen. Des- ten wir hier ein Signal setzen können, wie wichtig uns wegen sollte das Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ die Bekämpfung von Aids ist. auch nach der WM gelten. Wir wollen für die Welt gute Freunde sein und allen Menschen ein selbstbestimmtes (Beifall bei der FDP) und gerechtes Leben ohne Hunger und Armut ermögli- Nach dem, was uns bisher an Daten vorliegt, wird ausge- chen. rechnet bei der Aidsbekämpfung das Haushaltsziel 2006 Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. nicht erreicht. Könnte mir das bitte jemand erklären? Wir müssen unsere Anstrengungen noch viel mehr, als (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) wir das bisher getan haben, auf die Bekämpfung von Aids, Malaria und Tbc richten; denn bei der Gesundheit Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: fängt die Entwicklungszusammenarbeit an. Wie effektiv Nächster Redner ist nun der Kollege Dr. Karl Addicks ist die Prävention, wenn wir erfahren müssen, dass in für die FDP-Fraktion. manchen Ländern Afrikas 75 Prozent aller 15- bis 25-Jährigen immer noch nicht wissen, wie Aids übertra- Dr. Karl Addicks (FDP): gen wird? Thailand hat hier große Erfolge vorzuweisen; wir sollten versuchen, dies auf Afrika zu übertragen. Danke, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehrten Da- Wie effektiv ist die Behandlung von HIV-Infizierten, men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wenn wir erfahren müssen, dass gerade einmal fällt mir wirklich nicht ganz leicht, einen Haushalt für 20 Prozent aller Infizierten in den Genuss einer Behand- EZ abzulehnen. Denn das Thema Entwicklungszusam- lung kommen, wenn wir erfahren müssen, dass pro menarbeit eignet sich nicht für einen deftigen Haushalts- Mann und Jahr ganze vier Kondome zur Verfügung ste- streit. Deutschland hat nun einmal bindende Zusagen ge- hen? Was stimmt nicht am deutschen Konzept, wenn genüber der Völkergemeinschaft abgegeben. Aber ich zum Beispiel in Südafrika, dem am schlimmsten betrof- habe ein kleines Problem damit, die ODA auf Pump zu fenen Land, Präventionsmethoden abenteuerlichster Art finanzieren, auch wenn es für einen guten Zweck ist. Ich selbst von Ministern propagiert werden? frage Sie, ob wir nicht erst einmal die Wirkungen und die Qualität unserer EZ verbessern sollten, bevor wir Meine Damen und Herren, je länger wir in diesem nach immer mehr Geld rufen. Ich denke, es gibt einige wichtigen Bereich der Entwicklungszusammenarbeit mit 3640 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Dr. Karl Addicks (A) entschlossenem Handeln warten, desto schwieriger wird Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen weitere (C) es werden: Was wir heute nicht leisten, das können wir wichtige Schritte. Schauen Sie sich nur die Abwasser- in Zukunft selbst mit der zwei- bis dreifachen Anstren- entwicklung in den Megastädten der verschiedenen gung nicht erreichen. Deshalb mein Appell an Sie: Be- Kontinente an! vor wir den EZ-Haushalt auf Pump weiter aufblähen, bitte noch einmal genau prüfen, wie man die knappen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mittel wirkungsvoller einsetzen könnte! All diese Punkte sind Teil der wichtigen entwick- Ich danke Ihnen. lungspolitischen Aufgaben, denen wir uns multilateral und bilateral stellen müssen. Mit diesem Haushalt leisten (Beifall bei der FDP) wir einen Beitrag dazu, gerade auch, um die Durchfüh- rungsorganisationen in die Lage zu versetzen, zu han- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: deln, und auch den NGOs Planungssicherheit zu geben. Nun hat das Wort der Kollege Hartwig Fischer für die Bad Governance, also schlechte Regierungsführung, CDU/CSU-Fraktion. fehlende Rechtsstaatlichkeit, Korruption, keine funktio- nierenden Verwaltungsstrukturen, keine Finanz- und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) keine Sozialsysteme – das sind oft Hemmnisse für eine positive Entwicklung. Mit diesem Haushalt tragen wir Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): dem Rechnung, weil unseren Stiftungen – zum Beispiel Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! beim Rechtsstaatsdialog, beim Aufbau der Wirtschafts- Auch in Zeiten, in denen wir vor der Herausforderung kreisläufe und auch im humanitären Bereich –, den stehen, unseren eigenen Haushalt zu konsolidieren, ste- Durchführungsorganisationen und den Kirchen dadurch hen wir gleichzeitig in der Verantwortung für viele Men- Möglichkeiten gegeben werden. schen anderer Kontinente; auch dies liegt im deutschen Kriege, Armut und Perspektivlosigkeit sind Auslöser Interesse. Deutschland hat sich dem Ziel der Völkerge- für Flüchtlingsströme – auch nach Europa. Darauf meinschaft verschrieben, die Armut bis 2015 zu halbie- wurde eben hingewiesen. Täglich erreichen uns Bilder, ren. Jochen Borchert hat aufgezeigt, wie wir multilateral was sich auf Schiffen im Mittelmeer abspielt. Kriege, Verpflichtungen eingehen und ihnen nachkommen und Armut und Perspektivlosigkeit können aber auch Nähr- wie wir bilateral Schwerpunkte setzen können; er hat boden für Fundamentalisten und Terroristen und damit gleichzeitig klare Aussagen zu den Schwellenländern kurz-, mittel- und langfristig auch für unsere Sicherheit gemacht. Im Zeitalter der Globalisierung kommt nach- bedeutsam sein. Das heißt, wir handeln hier in unserem haltiger Entwicklungszusammenarbeit eine entschei- eigenen Interesse. (B) dende Rolle zu, wenn wir eine Weiterentwicklung der ar- (D) men Länder erreichen wollen. Wir werden das Elend, das es in Teilen dieser Welt gibt, nicht allein in Deutschland und auch nicht in Sauberes Wasser ist Lebensgrundlage, doch 1,1 Mil- Europa bewältigen können. Wir werden es mittelfristig liarden Menschen verfügen nicht über sauberes Wasser. nur gemeinsam durch eine nachhaltige Entwicklungs- Die Menschen müssen sich eigenverantwortlich Ernäh- arbeit in den betroffenen Ländern überwinden können. rungsquellen schaffen können, wenn wir den Hunger be- kämpfen wollen. Bildung für Mädchen wie für Jungen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ist der Schlüssel für die Lösung der Probleme der armen neten der SPD und der FDP) Länder, sie versetzt sie in die Lage, ihre Zukunft eigen- In diesem Zusammenhang habe ich eine Bitte, die ich verantwortlich zu gestalten. 785 Millionen Menschen insbesondere an die Tribüne der Journalisten richte, die können weder lesen noch schreiben. 100 Millionen Kin- heute Abend nicht besetzt ist: Auch über die Entwick- der haben keine Chance, eine Schule zu besuchen. Dabei lungspolitik brauchen wir eine nachhaltige Bericht- ist Bildung auch die Grundlage für die Bekämpfung von erstattung, um in der Bevölkerung eine höhere Akzep- Aids. An Unterstützung bei Gesundheitsvorsorge und tanz für die Entwicklungspolitik zu erreichen. Lassen Gesundheitsversorgung besteht in den Entwicklungs- Sie uns gemeinsam dafür arbeiten. ländern dringender Bedarf. Diese Länder brauchen Chancen für ihre Infrastruktur, um Güter, insbesondere (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Nahrungsmittel, in Eigenversorgung herzustellen oder, bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- wenn möglich, auf dem Weltmarkt zu verkaufen. NISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr von Klaeden hat vorhin in der außenpolitischen Ich möchte das aufgreifen, was Herr Raabe eben ge- Debatte deutlich gemacht, dass der Aufbau einer formel- sagt hat. Es geht darum, was im Bewusstsein unserer Be- len, transparenten und rationalen Nutzung von Rohstof- völkerung nicht vorhanden ist. Als es beim Tsunami fen notwendig ist – und zwar nicht nur im Kongo –, da- 300 000 Tote gab, war die Weltbevölkerung entsetzt mit sie in die Wertschöpfung der jeweiligen Haushalte über diese Naturkatastrophe und die Spendenbereitschaft der Länder einfließen kann. Meine Damen und Herren, war unglaublich. Meine Damen und Herren, in dieser gerade um die Lebensgrundlagen nicht nur für die Men- Stunde der Debatte sterben 1 250 Kinder von Millionen schen in ihrem eigenen Land zu erhalten, sondern auch, Kindern dieser Welt, die leiden, weil sie eine mangelnde weil dies Auswirkungen auf unsere Lebensbedingungen, Ernährung, kein sauberes Wasser und eine mangelnde auf das Großklima in unserer Welt und auf das Wasser Gesundheitsversorgung haben und Kriege mitmachen hat, brauchen wir in Bezug auf die Biodiversität und die müssen. 1 250 sterbende Kinder in einer Stunde bedeu- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3641

Hartwig Fischer (Göttingen) (A) tet, dass 30 000 Kinder an einem Tag und 10,5 Millionen schaffen werden, den Stufenplan der Europäischen (C) Kinder im Jahr sterben. Das ist so viel, als wenn die Ge- Union zur Erhöhung der Mittel für die Entwicklungszu- samtbevölkerung von Niedersachsen und Schleswig- sammenarbeit auf 0,51 Prozent des Bruttoinlandspro- Holstein innerhalb eines Jahres von der Landkarte ver- dukts bis zum Jahr 2010, den wir mit unterstützt haben, schwinden würde – und das jedes Jahr. in den kommenden Jahren zeitgerecht umzusetzen. Das sind wir den Kindern und den Menschen, die in Elend Deshalb bitte ich um Verständnis dafür, dass ich Fol- und Armut leben und ihre Hoffnungen in uns setzen, gendes heute auch einmal sage: Wir sprechen in schuldig und wir werden es auch schaffen. Deutschland manchmal über Armut – ich weiß, dass es Armut durch Vereinsamung gibt und dass nicht alle auf (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) der Sonnenseite des Lebens leben –, aber Armut in An Herrn Königshaus gewandt, möchte ich feststel- Deutschland ist nicht mit dem täglichen Kampf ums len, dass wir es ihnen schuldig sind, auch bei uns Effi- Überleben, um sauberes Wasser und um Ernährung zu zienz zu praktizieren. Wir werden in diesem Jahr noch vergleichen. Deshalb bitte ich, dass wir unser politisches viele Reformen auch im Inneren durchführen. Das ist Koordinatensystem bei manchen Diskussionen einmal notwendig. zurechtrücken. Ich sage ausdrücklich zu, dass das in Auftrag gege- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bene Gutachten den Obleuten in den zuständigen Aus- der Abg. Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE schüssen dargestellt wird. Wir werden im Herbst – so GRÜNEN]) viel Zeit muss sein – die verschiedenen Optionen disku- Ein Euro sichert eine ganze Tagesration Noternährung tieren. Denn es ist wichtig, dass über diese Fragen eine für ein hungerndes Kind. Diskussion stattfindet und eine möglichst breite Zustim- mung erzielt wird. (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Aber eben nicht in Deutschland! Was Lassen Sie mich angesichts der kurzen Redezeit ein sind das für Vergleiche!) paar Punkte ansprechen, die mir besonders am Herzen liegen. Manche sind bereits von meinen Vorrednern er- Acht Euro genügen, um eine Hirseernte für eine ganze wähnt worden. Familie zu sichern. Acht Euro für zwei imprägnierte Moskitonetze helfen, dass Kinder vor Malaria geschützt Einer der Punkte ist Lateinamerika. Dabei handelt es werden. 9 Euro kosten 1 000 Tabletten, um in einem sich mittlerweile um die demokratischste Entwicklungs- Krisengebiet 5 000 Liter Wasser zu entkeimen. region der Welt. (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Was?) (B) Ich bin dankbar, dass es nach Jahren der Stagnation (D) einen klaren Aufwuchs in der Entwicklungspolitik gibt. – Ja, die lateinamerikanischen Länder haben die Diktatu- Ich setze darauf, dass diese Koalition, die meine Kolle- ren überwunden. ginnen und Kollegen und ich gewollt haben, den Auf- wuchs so fortsetzt, dass wir uns den Millenniumzielen (Hellmut Königshaus [FDP]: Und Venezuela?) nicht nur rhetorisch, sondern auch materiell verpflichtet Es ist wichtig, dass wir den Ländern, die soziale Gerech- fühlen. tigkeit und Beteiligungsrechte für die Menschen wollen, Ich danke Ihnen. europäische Unterstützung und unsere Partnerschaft an- bieten. Europa und Lateinamerika sind aus meiner Sicht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie natürliche Bündnispartner. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Eines der in unserem Haushalt enthaltenen Ziele ist, auch in unserem Interesse dazu beizutragen, dass die Biodiversität in dieser Region erhalten bleibt, indem wir Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: die Zusammenarbeit fortsetzen und verstärken. Das gilt Das Wort hat nun für die Bundesregierung die Bun- im Übrigen auch für die Energieeffizienz und die erneu- desministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und erbaren Energien, die wir gerade mit Blick auf Latein- Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul. amerika entsprechend ausweiten werden. (Beifall bei der SPD) Ich möchte abschließend aus zeitlichen Gründen nur noch zwei Punkte ansprechen – ich denke, zum Thema Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für China hat Herr Borchert das Notwendige gesagt –, die wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: mir auch unter dem Gesichtspunkt der aktuellen Ent- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wicklung besonders am Herzen liegen. Ich freue mich Ich bedanke mich bei allen, die sich an den Beratungen über den Soforthilfefonds der Europäischen Union für beteiligt haben, aber auch bei allen, die in den Ausschüs- die Menschen in den Palästinensischen Gebieten. sen – vor allem im Haushaltsausschuss – dazu beigetra- Wenn er in die Praxis umgesetzt wird, dann wird endlich gen haben, dass die Mittel in einem solchen Umfang er- ein Beitrag dazu geleistet, der wachsenden Armut entge- höht werden konnten. Mit über 300 Millionen Euro ist genzuwirken und zu verhindern, dass Kinder weiter in das der höchste Aufwuchs, den wir in den letzten Jahren elende Verhältnisse abrutschen, in denen sie dann leben erreicht haben. Ich verspreche Ihnen – das gilt insbeson- müssen. Denn mit der Armut wächst das Elend und die dere für diejenigen, die daran zweifeln –, dass wir es Radikalisierung nimmt zu. Deshalb haben wir ein großes 3642 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) Interesse daran, dass auch bezogen auf die Palästinensi- Dr. Claudia Winterstein (FDP): (C) schen Gebiete den Menschen geholfen wird. Es wird Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und einen europäischen Fonds geben, an dem sich die Bun- Herren! Die Gesundheitsreform gilt als der entschei- desrepublik Deutschland mit 20 Millionen Euro beteili- dende Indikator dafür, ob die Koalition überhaupt zu gen wird. grundlegenden Reformen fähig ist. Bislang sieht es nicht so aus. Dabei stehen wir vor massiven Problemen. Bei Der letzte Punkt betrifft Darfur. Die Situation der den gesetzlichen Krankenkassen stehen die nächsten 2 Millionen Flüchtlinge, die in dieser Region leben, hat Beitragserhöhungen vor der Tür. Jedenfalls hat die Mi- sich – Herr Hartwig Fischer, Sie haben es heute nicht an- nisterin das bereits für unausweichlich erklärt. Neben sprechen können; aber wir haben bereits darüber gespro- einer höheren Mehrwertsteuer und höheren Rentenbei- chen – drastisch verschlechtert. Mein Appell ist: Wir trägen sind also höhere Krankenkassenbeiträge zu er- dürfen uns mit der Vertreibung dieser Menschen nicht warten. abfinden. Anderenfalls hätte die sudanesische Regierung das erreicht, was sie sich vorgenommen hat, nämlich auf Das Modell des Gesundheitsfonds, auf das sich nun Dauer die Menschen zu vertreiben. Das dürfen wir nicht beide Koalitionspartner zubewegen, stellt keine grundle- zulassen. gende Reform dar, sondern ist ein Etikettenschwindel. Es ist nämlich eine Einigung, die nur darauf abzielt, (Beifall im ganzen Hause) nichts zu entscheiden und sich alle Wege offen zu halten. Es ist wichtig, dass die Hilfe die Flüchtlinge auch er- (Beifall bei der FDP) reicht. Aber ich plädiere nachdrücklich für ein neues UN-Mandat für diese Region; denn die internationale Diesen Eindruck konnte die Bundeskanzlerin auch heute Gemeinschaft muss die Sicherheit der dort lebenden früh nicht widerlegen. Das soll der notwendige Reform- Menschen garantieren. Sonst werden wir keine Hilfe schritt sein, der das Gesundheitswesen für die nächsten leisten können. Wir dürfen Vertreibungen weder in Jahrzehnte sattelfest macht? Meine Damen und Herren Europa noch in anderen Regionen zulassen. von der Regierungskoalition, das ist keine seriöse Poli- tik. Das einzig klare Ergebnis der bisherigen Reformde- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. batte ist: Für die Bürger wird es teurer, ohne dass dabei das System zukunftsfest wird; denn es werden keine (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Rücklagen gebildet. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider wahr!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Aber nur ein System mit Rücklagen kann die künftigen (B) (D) Ich schließe die Aussprache. Ausgabensteigerungen auffangen, die durch die Bevöl- kerungsentwicklung und den medizinischen Fortschritt Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- auf uns zukommen. plan 23 – Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam- Frau Ministerin, Sie haben in der ersten Lesung des menarbeit und Entwicklung – in der Ausschussfassung. Haushaltes eine Reform sowohl der Finanzierungsseite Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – als auch der Strukturen in Richtung mehr Wettbewerb, Dann ist der Einzelplan 23 mit den Stimmen der Koali- mehr Transparenz und Vertragsfreiheit angekündigt. Das tionsfraktionen bei Gegenstimmen von der FDP-Frak- sind die richtigen Kriterien. Sie legen dafür aber leider tion, der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der die falschen Instrumente vor. Der Fonds löst die Finanz- Fraktion Die Linke angenommen. probleme nicht und sorgt nicht für die notwendigen Ich rufe den Tagesordnungspunkt I. 10 auf: Strukturveränderungen. Er ist nur der kleinste gemein- same Nenner der Koalition. Einzelplan 15 (Beifall bei der FDP) Bundesministerium für Gesundheit Mehr Wettbewerb, mehr Transparenz und Vertragsfrei- – Drucksache 16/1324 – heit, das alles kann mit dem FDP-Modell, das Ihnen schon lange bekannt ist, erreicht werden. Unser Vor- Berichterstattung: schlag orientiert sich an diesen entscheidenden Krite- Abgeordnete Ewald Schurer rien. Norbert Barthle Dr. Claudia Winterstein Ich nenne noch einmal die Hauptpunkte: Die Gesund- Dr. Gesine Lötzsch heitskosten müssen von den Arbeitskosten abgekoppelt Anja Hajduk werden. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich Solms) höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- Das System muss mit Altersrückstellungen arbeiten. Der sen. Leistungskatalog muss konzentriert werden. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Was wollen Kollegin Dr. Claudia Winterstein von der FDP-Fraktion. Sie ausgrenzen?) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3643

Dr. Claudia Winterstein (A) Die Kernforderung aus liberaler Sicht ist: Wenn der Bür- dem Präventionsgesetz. Das Gesetz gibt es aber noch gar (C) ger für seine Gesundheitsversorgung künftig mehr zah- nicht. Es ist auch überhaupt noch nicht in Sicht. len muss, dann muss er auch mehr Gestaltungsfreiheit bekommen, (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Der Zeit voraus!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sehr richtig!) Diese 3,6 Millionen Euro für die Präventionskampagne nämlich freie Entscheidung für alle Bürger darüber, ob sind in Wahrheit Gelder, die unter „Öffentlichkeits- sie sich in der gesetzlichen oder in der privaten Kranken- arbeit“ verbucht werden müssten, versicherung versichern lassen wollen; (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!) (Beifall bei der FDP – Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Aber zu den gleichen Bedingungen die Sie in diesem Jahr einfach auch sparen könnten. bitte!) Hinzu kommen in diesem Haushalt die Kosten, die freie Entscheidung über den Umfang des Versicherungs- durch die Neustrukturierung von Arbeits-, Wirtschafts- schutzes, Pflicht zur Versicherung nur für den Grundleis- und Gesundheitsministerium entstehen. Das Gesund- tungskatalog; freie Wahl des gewünschten Tarifs, zum heitsministerium hat es doch tatsächlich geschafft, als Beispiel mit oder ohne Selbstbehalt; mehr Transparenz einziges dieser drei Häuser eine deutliche Stellenver- im System durch Rechnungen. mehrung vorzunehmen. (Elke Ferner [SPD]: Das verringert den Ver- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!) waltungsaufwand enorm!) 2002, als das Haus den gleichen Zuschnitt hatte wie Wir wollen, dass die Patienten wissen, was Gesundheits- jetzt, waren es 462 Stellen, jetzt sind es 499 Stellen. leistungen kosten, und wir wollen auch, dass die Ärzte (Zurufe von der FDP: Oh!) für ihre Leistungen feste Preise bekommen. Der Haushalt des Gesundheitsministeriums wird den Der Fonds kann das alles nicht leisten. Ich zitiere das Notwendigkeiten nicht gerecht. Urteil des Vorsitzenden der Wirtschaftsweisen, Bert Rürup: (Frank Spieth [DIE LINKE]: Das hat die Kol- legen sicherlich überrascht!) Der Fonds ist ein „Reform-Alibi, das vor allem der Gesichtswahrung der beiden politischen Partner Die Arbeit der Gesundheitsministerin wird den Notwen- dient“. digkeiten ebenfalls nicht gerecht. Mit dem von der Ministerin verfochtenen Gesundheitsfonds betrügen Sie (B) (Beifall bei der FDP) die Bevölkerung um die nötige Sicherung der Gesund- (D) Weiter sagt er: heitsversorgung in der Zukunft. Die „Zeit“ hat es in der letzten Woche auf den Punkt gebracht: Diese „Gesund- Wenn man nicht mehr zustande bringt als den heitsreform hilft der großen Koalition, nicht aber den Fonds, sollte man die Strukturreform lieber abbla- Versicherten“. sen... Vielen Dank. (Frank Spieth [DIE LINKE]: Wohl wahr!) (Beifall bei der FDP – Wolfgang Zöller [CDU/ Da der Haushalt des Gesundheitsministeriums 2006 CSU]: Was der großen Koalition hilft, hilft knapp 4,6 Milliarden Euro umfasst und 4,2 Milliarden auch den Versicherten!) Euro davon als Zuschuss für die gesetzliche Krankenver- sicherung bestimmt sind, fallen die restlichen Ausgabe- posten mit circa 382 Millionen Euro im Vergleich be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: scheiden aus. Das heißt aber noch lange nicht, dass in Das Wort hat jetzt der Kollege Ewald Schurer von der diesem Haushalt alles in Ordnung wäre. Zu viel fließt in SPD-Fraktion. gewohnte Strukturen. Unseren Antrag, einen von zwei (Beifall bei der SPD) Parlamentarischen Staatssekretären abzuschaffen, haben Sie abgelehnt. Ewald Schurer (SPD): (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aber er ist Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der heute schon nicht mehr hergekommen!) Einzelplan 15 – Gesundheit – steht natürlich im Zeichen Zu viel fließt in die Selbstdarstellung. Unseren An- der vor uns liegenden Gesundheitsreform; keine Frage. trag, die Mittel für Öffentlichkeitsarbeit zu kürzen, ha- Ich möchte damit starten, dass ich auf Folgendes ver- ben Sie abgelehnt. Im Gegenteil, Sie erhöhen diesen weise: 1994 hat die „Süddeutsche Zeitung“ in München Posten in Ihrem Etat um 20 Prozent auf 6,1 Millionen in einem Leitartikel zu den damaligen Reformbemühun- Euro. Da lässt sich die 10-prozentige Kürzung, die die gen in der Gesundheitspolitik von einem „verminten Koalitionshaushälter jetzt tatsächlich beschlossen haben, Feld“ gesprochen. Die Autorin wies darauf hin, dass sich natürlich leicht hinnehmen. Ganz schön trickreich. Kassen, Kassenärztliche Vereinigungen, Pharmaindus- Aber nicht nur das. Frau Ministerin, Sie geben in die- trie, Apotheker und die weiteren Akteure unversöhnlich sem Haushalt außerdem noch 3,6 Millionen Euro für gegenüberstünden. Ich denke, „vermintes Feld“ war ein eine Präventionskampagne aus. Sie begründen das mit bisschen übertrieben. Aber auch heute stellen wir noch 3644 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Ewald Schurer (A) fest, dass gewisse Akteure Schwierigkeiten haben, über eine Tatsache, der sich die Politik stellen muss. So waren (C) Interaktion und Kommunikation zusammenzufinden. 1995 noch 28,2 Millionen Menschen sozialversiche- rungspflichtig beschäftigt; im Jahr 2005 waren es nur Damals wurde unterstellt, dass man nicht in der Lage noch 26,5 Millionen Menschen. Wenn aber die versiche- sei, das System strukturell – die Kollegin Winterstein hat rungspflichtige Beschäftigung – ein Stück weit leider es gerade vorweggenommen – zu reformieren, dass man auch aufgrund der hohen Produktivität und des Ersatzes stattdessen nach mehr Geld im System suchen oder mit menschlicher Arbeitskraft durch Maschinentechnik – einer zweiten Variante den Versuch machen würde, die wegbricht, führt das dazu, dass alle Sozialsysteme mas- Kosten zu deckeln. Soweit die Analyse der Situation sive Probleme auf der Einnahmeseite haben. 1994 als Rückblick auf vergangene Gesundheitsdebatten in Deutschland. Wir stehen – dazu hat sich die Frau Kollegin schon ausgelassen – vor der ökonomischen Notwendigkeit, Heute, zwölf Jahre später, können wir feststellen, dass künftig neben dem Faktor Arbeit einen weiteren Faktor die Frontstellung der Akteure im Gesundheitswesen in das Gesundheitswesen einzubringen, um die Entwick- nach wie vor existiert, wenn auch vielleicht nicht mehr lung im medizinischen Bereich ergänzend zu finanzie- ganz so ausgeprägt wie damals. Ganz aktuell geht es um ren. Das heißt für mich, dass wir den Faktor Arbeit als eine echte Strukturreform im deutschen Gesundheitswe- Grundlage der solidarischen Finanzierung im Kern bei- sen. Ich denke, dass es zwischen allen Fraktionen den behalten, diesen aber künftig um einen Faktor X ergän- Minimalkonsens gibt – auch wenn sich Frau Winterstein zen, um die Entwicklung im Gesundheitswesen finan- hier sehr negativ und nicht überzeugt geäußert hat –, ziell abzusichern. dass wir eine nachhaltige Reform brauchen, die über den Charakter einer Finanzreform hinausgehen und eine Das ist der Grund für den Diskurs über einen Gesund- wirkliche Strukturreform darstellen sollte. heitsfonds, den wir hier führen. Ich bin überzeugt, dass die koalitionären Verhandlungspartner diese Aufgabe, (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da sind wir wie immer am Ende die Ausgestaltung des Fonds ausse- aber gespannt!) hen wird, bewältigen werden. Die Gespräche befinden Man muss dazusagen, liebe Kolleginnen und Kolle- sich jetzt, anders als teilweise öffentlich dargestellt, auf gen: Die Menschen haben eine Erwartung. Die Debatte einer konstruktiven Ebene. zum Thema Gesundheit ist wichtig angesichts des Ver- Als Hauptberichterstatter für den Einzelplan 15 und trauens der Bürgerinnen und Bürger in die Fähigkeit des Haushaltspolitiker fasse ich die zweite These zusammen: Staates, die Sozialsysteme im Sinne von Leistungsfähig- Die volkswirtschaftliche Wertschöpfung in diesem keit und Solidarität zu reformieren. Das ist die Erwar- Lande ist groß genug, um das solidarische Gesundheits- tungshaltung von Menschen, die ein Leben lang lernen, (B) wesen auch künftig im Kern durch den Faktor Arbeit zu (D) leisten und Beiträge zahlen. finanzieren, ergänzt durch einen zusätzlichen Faktor in (Beifall bei der SPD) der Finanzierung. Deswegen steht die Koalition in einer riesigen Verant- Meine dritte These lautet – das wissen natürlich wir wortung. Ich bin überzeugt, dass wir dieser Verantwor- alle –, dass im Zuge der Mehrwertsteuererhöhung für die tung gerecht werden. Arbeitnehmerhaushalte, die kleinen und mittleren Be- triebe und die Selbstständigen die Belastungsgrenze er- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Die Hoffnung reicht ist. Wir wissen, dass wir den Menschen nicht mehr stirbt zuletzt!) beliebig finanzielle Zusatzbelastungen im Rahmen der Meine erste These heißt: Ausgangsposition ist die Gesundheitsreform zumuten können. volkswirtschaftliche Wertschöpfung. Dieses Land hat (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Birgitt trotz Stagnation bei den binnenwirtschaftlichen Zuwäch- Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wa- sen in den letzten Jahren und bei einem weltmeisterli- rum diskutieren Sie dann über eine neue?) chen Export eine volkswirtschaftliche Wertschöpfung entwickelt, die so groß ist wie nie zuvor. Als Gesund- Wir wissen, dass es keine Alternative dazu gibt, gezielt heitsökonom kann man da, wenn man ideologische Ver- an die Ineffizienzen im System heranzugehen. Ich sage: satzstücke einmal weglässt, nur feststellen: Die volks- Es gibt keine Alternative für uns. wirtschaftliche Wertschöpfung ermöglicht es durchaus, Wir müssen dafür sorgen, dass die integrierte Ver- die Finanzierung eines solidarischen Gesundheitssys- sorgung, also eine bessere Verzahnung des Vorhaltens tems ohne Wenn und Aber auch künftig sicherzustellen ambulanter und stationärer medizinischer Leistungen, und zu garantieren. Das ist ein wichtiger Punkt. vorangebracht wird. Die integrierte Versorgung zwi- Meine zweite These ist: Dieses Land ist trotz aller schen den niedergelassenen Ärzten und den Kliniken in wirtschaftlichen Probleme ein hochproduktives Land. In Deutschland ist für mich ein ganz wichtiger Punkt. Sie Industrie, Gewerbe und Dienstleistung sind wir, was die muss künftig ganz gezielt entwickelt werden, weil in Produktivität angeht, Weltspitze. Das brachte allerdings diesem Bereich Reserven in Milliardenhöhe stecken. unter anderem das Problem mit sich, dass aufgrund der (Beifall bei der SPD) technischen Systeme immer weniger Menschen immer mehr produzieren und deswegen bei uns die versiche- OECD-Gutachten besagen seit Anfang der 90er-Jahre, rungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse in den dass diese Schnittstelle, dieses doppelte Vorhalten von letzten zehn Jahren leider zurückgegangen sind. Das ist medizinischen Leistungen in Deutschland weder von der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3645

Ewald Schurer (A) Leistungsseite noch von der finanziellen Darstellung her Die Partner der Union mögen es mir verzeihen, wenn (C) zu rechtfertigen ist. Das müssen wir beachten; das ist ich meine, bei all den Überlegungen, die wir in Bezug von großer Bedeutung. auf einen möglichen Gesundheitsfonds anstellen, sind Zuschläge der Patienten an die Kassen nicht wünschens- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Das müssen Sie wert und nicht vermittelbar, weil dies zu einer Belastung jetzt regeln!) der Menschen führen würde, die nicht darstellbar ist. Auch der Pharmabereich darf nicht tabuisiert wer- In einer fünften und letzten These möchte ich die den. Ich erkenne an, dass die Pharmaindustrie gerade im volkswirtschaftliche Bedeutung des Sektors Gesund- mittelständischen Bereich eminente Leistungen in Wis- heit darstellen. In der öffentlichen Diskussion wird im- senschaft und Forschung erbringt. Aber ich sehe über- mer so getan, als ginge es bei der Gesundheit nur um haupt keine Rechtfertigung dafür, dass wir in Deutsch- Kosten. Das ist eine völlige Verkennung der objektiven land einen Pharmamarkt haben, in dem teilweise ein ökonomischen Tatsachen. Das Gesundheitswesen in Drittel oder sogar 40 Prozent höhere Marktpreise für Deutschland beschäftigt als mittlerweile größter volks- Medikamente bzw. Arzneimittel als im europäischen wirtschaftlicher Arbeitsmarktsektor – je nach Art der Durchschnitt verlangt werden. Wir liegen bei diesen Rechnung – zwischen 4,2 und 4,5 Millionen Menschen, Preisen sogar signifikant höher als das nicht arme Nach- viel mehr als die Automobilindustrie und die Elektroin- barland Schweiz. Das kann man so nicht lassen. Ich bin dustrie. Das vergessen viele. überzeugt davon, dass mit einer Gesundheitsstrukturre- form – in Ergänzung zum Gesetz zur Verbesserung der Der Gesundheitsmarkt ist ein absoluter Wachstums- Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung, das markt. Während wir noch im Jahr 1970 6,2 Prozent des wir erst kürzlich, nämlich am 17. Februar 2006, verab- Volkseinkommens für Gesundheit ausgegeben haben, schiedet haben – die Situation im pharmazeutischen Be- waren es im Jahr 2004 bereits 11,3 Prozent. Führende In- reich deutlich verbessert werden muss. stitute sagen voraus, dass im Jahr 2015 13 Prozent des Volkseinkommens im Bereich Gesundheit ausgegeben Meine vierte These lautet – das ist bei aller fachlichen werden. Das heißt, dass der Anteil des Gesundheits- Liebe zu diesem Thema für einen Haushälter der SPD- markts am Bruttoinlandsprodukt binnen zehn Jahren von Fraktion, aber auch für die Haushälter der CDU/CSU- einem Neuntel auf ein Achtel steigen wird. Das bedeutet Fraktion, so denke ich, nicht verwunderlich –, dass das für die Gesellschaft: Der Gesundheitsmarkt ist ein riesi- Nachschießen von frischem Geld in das Gesundheits- ger Wachstumsmarkt und ein riesiger Arbeitsmarkt. system – das klingt ein bisschen polemisch; das gebe ich zu – ohne ein gleichzeitiges Nutzen der in Milliarden- Noch ein Vorurteil, mit dem aufgeräumt werden höhe vorhandenen Reserven schlicht und einfach nicht muss: Es ist definitiv falsch – oft wird es so dargestellt –, (B) goutiert werden kann. Wenn wir künftig versuchen, in zu glauben, dass die demografische Entwicklung nur (D) Ergänzung zum Faktor Arbeit über einen Fonds entspre- etwas mit Kostensteigerungen in der Gesellschaft zu tun chend Geld bereitzustellen, dann müssen wir auch die in hätte. Wenn die Menschen länger leben, birgt dies ein Milliardenhöhe vorhandenen Reserven nutzen. Dies ist zusätzliches Potenzial für die Gesellschaft. Die Gesund- meine Meinung zu diesem Bereich. Das heißt ganz kon- heitskosten am Ende des Lebens sind zwar signifikant kret: Zusätzliches Steuergeld sollte nur unter der Bedin- hoch; die sinkende Sterblichkeit der Menschen führt gung einer höheren Effizienz, also bei Nutzung der aber auch dazu, dass lebenslang lernende Menschen sehr Reserven und nach Einführung eines stärkeren Wettbe- viel für die Gesellschaft leisten können, entweder durch werbs im Gesundheitssystem zur Verfügung gestellt bürgerschaftliches Engagement oder durch Teilnahme werden. am regulären Arbeitsleben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn man mit einem richtigen Ansatz für mehr Prä- vention sorgt, können die Kosten im Alter deutlich be- Die Zielmarke ist, dadurch auch weiterhin ein solida- grenzt werden. Natürlich ist es richtig, dass älter wer- risches Gesundheitssystem zu garantieren, zu dem ganz dende Menschen einen ganz speziellen Bedarf an bewusst Junge und Alte, Gesunde und Kranke und zusätzlichen Gesundheitsleistungen haben. Aber auch – jetzt kommt es – gesetzlich und privat Versicherte darin liegt eine riesige Chance, entsprechend qualifi- ihren sozial gerechten Anteil leisten. Meine Lieblings- zierte, neue Arbeitsplätze zu schaffen, die wiederum zur vorstellung ist immer noch, dass auch die privat Ver- volkswirtschaftlichen Wertschöpfung beitragen. sicherten – man möge es mir verzeihen – mit in den Risikostrukturausgleich eingebunden werden, um die Es ist klar: „Entscheidender Wachstumstreiber für den Solidarität im System entsprechend hoch zu halten. Gesundheitsmarkt ist der medizinisch-technische Fort- schritt“ – so die Deutsche Bank Research. Es ist die ent- (Beifall bei der SPD) scheidende Größe. Der Markt der medizinischen Mög- lichkeiten, das Machbare im medizinischen Bereich wird Wir müssen mit dieser Strukturreform dazu kommen, sich auch in den nächsten zehn bis 20 Jahren gewaltig dass wir auf der Kostenseite effizient werden. In ein- ausdehnen. schlägigen Gutachten steht dazu, wir seien in Deutsch- land, was eine effektive medizinische Versorgung an- In der Zusammenfassung heißt das: Für die ökonomi- gehe, Weltspitze. Wir seien aber auf der Kostenseite sche Entwicklung des Landes bergen die Medizin und nicht effizient genug. Wir sollten versuchen, die guten der Sektor Gesundheit gewaltige Chancen. Wenn wir Leistungen kostenmäßig effizienter darzustellen. den demografischen Wandel richtig gestalten, die künf- 3646 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Ewald Schurer (A) tige Medizintechnik mit ihren Potenzialen richtig einset- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) zen und die Wirtschaftlichkeitsreserven gezielt heben, Das ist jetzt die vierte Schlussbemerkung. haben wir alle Chancen, in den nächsten Jahren einen Strukturprozess im Gesundheitswesen voranzutreiben, Ewald Schurer (SPD): der ebendiesen Namen verdient. – möchte ich mich, wie es üblich ist, bei den Bericht- Zum Schluss: Die Ausgaben im Gesundheitsmarkt in erstattern und bei den Vertretern der beiden Ministerien, Deutschland betrugen in den Jahren 2003 und 2004 des Finanzministeriums und des Gesundheitsministeri- 240 Milliarden Euro. Daran hat allein die GKV einen ums, für die gute Kooperation und für ihre Geduld sowie Anteil von rund 144 Milliarden Euro. In der gesetzlichen bei Ihnen für die Aufmerksamkeit ganz herzlich bedan- Krankenversicherung sind 70,5 Millionen Menschen ken. versichert, während die privaten Versicherungen gut (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 8 Millionen Menschen betreuen. der CDU/CSU) Ich denke, der Einzelplan 15 des Haushalts 2006 des Bundes ist, wie die Kollegin schon gesagt hat, relativ Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: übersichtlich. Die Mittel in Höhe von 4,58 Milliarden Das Wort hat der Kollege Frank Spieth von der Frak- Euro beinhalten die so genannte GKV-Pauschale in tion Die Linke. Höhe von 4,2 Milliarden Euro, mit der die Aufwendun- gen der Krankenkassen für versicherungsfremde Leis- (Beifall bei der LINKEN) tungen abgegolten werden. Die Pauschale wird, wie wir wissen, entsprechend der Koalitionsvereinbarung vom Frank Spieth (DIE LINKE): Herbst 2005 auf null zurückgeführt. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war schon beeindruckend, wie Herr Schurer eben als Haus- Damit sind wir wieder beim Thema Gesundheitsre- hälter das Thema Gesundheit sachkundig bearbeitet hat. form. Wir wissen, dass aufgrund der Erhöhung der Mehrwertsteuer und der abnehmenden GKV-Pauschale (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ute die Gefahr droht, dass die Krankenkassen ihre Beiträge Kumpf [SPD]: Da sehen Sie einmal, was für um 1 Prozentpunkt anheben. Das können wir uns nicht gute Leute wir haben!) leisten, weil es Belastungen für die Haushalte mit sich Ich muss sagen: Respekt. Viele Thesen, die Sie hier vor- brächte, die wir vermeiden wollen. getragen haben, kann ich als Abgeordneter der Linken Für den eigentlichen Bereich verbleiben im Haushalt auch im Namen meiner Fraktion dick unterstreichen: (B) 382 Millionen Euro, womit das Gesundheitsministerium wenn es um Solidarität, um neue Versorgungsformen (D) und seine fünf nachgelagerten Behörden bzw. Institute, und um bessere Qualität im Gesundheitswesen geht. darunter das hoch reputierte Robert-Koch-Institut – in (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: So etwas habe letzter Zeit wegen der Pandemiegefahr in aller Munde –, ich geahnt!) bedient werden müssen. Ich denke, wir Berichterstatter haben es geschafft, in sehr kollegialer Weise die vorhan- – Sie werden noch Anlass für weitere Ahnungen haben, denen Mittel effizient in den Titeln zu disponieren. Herr Bahr. – Ich habe aber Bedenken, dass hier genau wieder das geschieht, was wir in den letzten Monaten Zum Schluss möchte ich sagen, dass die Aufstellung ständig erleben mussten: Sie blinken links und biegen des Haushalts 2007 sicherlich eine sehr spannende Auf- anschließend in der großen Koalition mit der CDU/CSU gabe werden wird; denn er wird entlang der Ergebnisse, nach rechts ab. die die Gesundheitsstrukturreform mit sich bringt, er- stellt werden müssen. Es handelt sich also nicht um eine (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr vernünftig!) isolierte Veranstaltung. Ich habe daher hinsichtlich dessen, was Sie in Bezug auf Ich bin überzeugt, dass wir es mit Sachverstand und den Gesundheitsfonds angedeutet haben, große Beden- mit dem politischen Kalkül von Union und SPD schaffen ken. werden, eine tragfähige Gesundheitsreform hinzube- Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die kommen, die zum 1. Januar 2007 in Kraft tritt und mit Gesundheitspolitik nimmt in den Zeiten der großen Ko- der den Menschen gezeigt wird, dass eine Reform in die- alition dramatisch ab. Das ist das Ergebnis einer aktuel- sem Bereich funktionieren kann. len Studie des Kölner Marktforschungs- und Beratungs- Ganz zum Schluss möchte ich sagen, dass ich realis- instituts psychonomics AG, die vom April bis zum Mai tisch optimistisch bin. 1 500 Bundesbürger befragt hat. Nicht einmal ein Drittel der Befragten, genau nur 29 Prozent, traut der Bundesre- gierung noch zu, die gesundheitliche Versorgung der Be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: völkerung langfristig sicherstellen zu können. Das ist ein Das ist jetzt schon die dritte Schlussbemerkung, Herr dramatisches Testat. Kollege Schurer. Dieses Ergebnis hat übrigens seine Ursachen. Unter Willy Brandt war Reform das Schlüsselwort für Demo- Ewald Schurer (SPD): kratisierung. Menschen mit geringem Einkommen haben Werter Präsident, ganz zum Schluss – damit die Hoffnung verbunden, am sozialen Staat und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3647

Frank Spieth (A) am gesellschaftlichen Reichtum auch durch Umvertei- im Gesundheitssystem werden dann zukünftig nicht (C) lung beteiligt zu werden. Aber diese Zeiten sind lange mehr von den Arbeitgebern mitfinanziert, sondern sie vorbei. Dieser Anspruch ist schon unter Rot-Grün unter werden alleine von den Versicherten zu zahlen sein, die die Räder geraten und wird durch die gegenwärtigen ge- dann zukünftig mit 8 Prozent und wie auf einer nach of- sundheitspolitischen Planspiele der großen Koalition fenen Richterskala bei allen zukünftigen Kostensteige- quasi wie mit der Dampframme unter die Erde ge- rungen alleine zusätzlich belastet werden. Darüber hi- stampft. naus wollen Sie die Einführung einer Kopfpauschale unterstützen, Keine Wählerin und kein Wähler der Union werden sich darüber wundern, dass die CDU/CSU getreu ihrem (Jella Teuchner [SPD]: Das ist falsch!) Bundestagswahlprogramm den Weg über den Gesund- die von den Krankenversicherten alleine finanziert wer- heitsfonds mit Elementen der Kopfpauschale bis zur den soll. endgültigen Privatisierung des Gesundheitsrisikos be- schreitet. Die Wählerinnen und Wähler der SPD werden Das bisschen zusätzliche Steuerfinanzierung ist sich allerdings an den Kopf fassen angesichts des zentra- nicht mehr als eine Beruhigungspille, die dazu dient, den len Wahlversprechens der Sozialdemokraten. Sie wollten Eindruck zu vermitteln, es ginge gerecht zu. Tatsächlich die Einführung der Bürgerversicherung. Jetzt aber ma- wollen Sie aber die bislang beitragsfreie Kindermitversi- chen Sie einen Gesundheitsfonds, aller Voraussicht cherung über Steuern finanzieren. nach verbunden mit einer Kopfpauschale. (Elke Ferner [SPD]: Wer denn?) In Ihrem Aufruf zur Bundestagswahl 2005 haben Sie Einerseits ermöglicht das nach Bekunden der Sachver- unter der Überschrift „Vertrauen in Deutschland – ständigen eine Beitragsreduzierung um 1,4 Prozent- Gerhard Schröder muss Kanzler bleiben!“ unter anderem punkte, andererseits führt das aber dazu, dass der Entlas- gesagt: tungseffekt von 7 Milliarden Euro ausschließlich bei den Wir kämpfen auch für die kommende Legislaturpe- Unternehmen wirksam wird – eine erneute und aus mei- riode für eine sozialdemokratisch geführte Bundes- ner Sicht perfide Umverteilung von unten nach oben. regierung. Doch wir wollen mehr: 1. Wir sind be- (Beifall bei der LINKEN) reit, unsere Fehler einzugestehen. Das einseitige Setzen auf die Senkung der Lohnnebenkosten hat Außerdem machen Sie damit den Privatversicherten ein den Menschen vieles zugemutet: die Rentenreform, Geschenk, indem Sie deren Beiträge für die Kinderkran- die Gesundheitsreform und auch die Arbeits- kenversicherung den Steuerzahlern und damit wiederum marktreform werden in der Bevölkerung primär als im Wesentlichen den Arbeitnehmern aufdrücken. (B) (D) sozial ungerecht wahrgenommen – auch weil diese (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Stimmt doch Reformen nicht in der Lage waren, dem Arbeits- gar nicht!) markt die dringend notwendigen Impulse zu geben. Mit Ihrem Gesundheitsfonds errichten Sie nur eine Damit hatten Sie absolut Recht. Diese Selbsterkenntnis neue Geldverteilungsmaschine ganz nach der Methode: hat dann anschließend offenkundig bei den Bürgern Ein- Wenn ich kein Ziel habe, dann ist jeder Weg der richtige. druck gemacht und dazu geführt, dass Sie ein überra- Wenn Sie schon nicht zu einer sozial gerechten Gesund- schend gutes Wahlergebnis einfahren konnten. heitsreform in der Lage sind, dann machen Sie wenigs- Sie haben den Bürgerinnen und Bürgern versprochen tens Ihre Hausaufgaben, indem Sie das für 2007 zu er- – ich zitiere noch einmal wörtlich –: wartende Finanzdebakel in der GKV angehen. Die Finanzprobleme und die Strukturprobleme im Gesund- Wir führen die solidarische Bürgerversicherung in heitswesen werden durch Errichtung einer neuen Büro- der Gesundheitspolitik ein. Vergleichbar soll die kratie nicht gelöst, sondern vergrößert. Lösung bei der Pflegeversicherung sein. Wer leis- tungsfähig ist, muss auch stärker zur Solidarität bei- Sie haben durch die von Ihnen zu verantwortende tragen. Das gilt in den sozialen Sicherungsystemen Politik Verschiebebahnhöfe geschaffen, die zu erhebli- und in der Steuerpolitik. chen Einnahmeverlusten bei den Krankenkassen füh- ren: Die Absenkung der Beiträge für Arbeitslose, die Es ist Ihnen gelungen, mit dem Hinweis auf Ihre ur- Verkürzung der Anspruchszeiten beim Arbeitslosengeld, sprünglichen Fehler bei den Wählern den Eindruck zu die nun geplante Abschaffung der durch die Tabaksteuer vermitteln, ab sofort werde wieder sozialdemokratische finanzierten Mutterschaftsleistungen, die Verpflichtung Politik gemacht. der Kassen zur Entschuldung bis zum Dezember 2007, die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte so- Ich kann Ihr Versprechen allerdings nicht in der Ko- wie die Mehrwertsteuererhöhung sind unter anderem mit alitionsvereinbarung und schon gar nicht in der derzeiti- dafür verantwortlich, dass wir nach unserer Einschät- gen Gesundheitspolitik wiederfinden. Sie beantworten zung im kommenden Jahr in der gesetzlichen Kranken- mit den bisher bekannt gewordenen Vorschlägen zum versicherung ein Finanzloch von mindestens Gesundheitsfonds keine der strukturellen Fragen, die 15 Milliarden Euro haben werden. Selbst mein geschätz- sich bezüglich der gesetzlichen Krankenversicherung ter Kollege Lauterbach spricht davon, dass im kommen- stellen. Sie wollen zwar weiterhin die Arbeitgeber zur den Jahr über 10 Milliarden Euro fehlen werden. Wir Beitragszahlung heranziehen, aber nur noch mit einem halten es deshalb für dringend erforderlich, dass Sie gedeckelten Satz von 6 Prozent. Die Kostensteigerungen zunächst einmal zur Sicherstellung der Krankenversi- 3648 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Frank Spieth (A) cherungsleistungen unverzüglich ein Vorschaltgesetz zur Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C) Gewährleistung der Gesundheitsversorgung der Bevöl- Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Barthle von kerung einbringen. der CDU/CSU-Fraktion. Die sozialen Sicherungssysteme, meine Damen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Herren, sind dazu da, im Bedarfsfall frei von Diskrimi- neten der SPD) nierung und sozialer Ausgrenzung Versicherten in jeder Lebensphase alle erforderlichen Leistungen bereitzustel- len. Dazu wurden sie geschaffen. Dies gilt insbesondere Norbert Barthle (CDU/CSU): für die gesetzliche Krankenversicherung. Mir erzählte Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten kürzlich eine Frau bei einer Veranstaltung in Hannover, Damen und Herren! Wir beraten hier heute abschließend dass eine Ultraschalluntersuchung, die in ihrem Fall er- den Etat des Gesundheitsministeriums. Zieht man die forderlich war, nur gemacht wurde, weil sie diese privat Zuschüsse zur Krankenversicherung ab, dann verbleiben bezahlte. Am Montag dieser Woche erzählte mir ein noch ganze 381 Millionen Euro oder auch schlanke Rentner auf einer Veranstaltung in Dresden, dass er zum 1,5 Promille des Gesamtetats – ein, wie ich immer sage, Ende des Quartals regelmäßig zur privaten Finanzierung kleiner, aber feiner Etat, dessen Volumen in krassem Ge- von Medikamenten aufgefordert werde, weil das Budget gensatz zur gesellschaftlichen Bedeutung dieses Res- erschöpft sei. Eine Arbeitslosengeld-II-Empfängerin in sorts steht. Weimar schilderte mir vor einigen Tagen an ihrem Bei- spiel auf bedrückende Art und Weise, dass sie schon Dass man aber auch über die richtige Ausgabe von mehrfach vor der Entscheidung gestanden habe – hören 381 Millionen Euro konstruktiv nachdenken und beraten Sie gut zu –, für sich und ihre Tochter entweder Lebens- kann, haben die Berichterstattergespräche gezeigt. Ich mittel zu kaufen oder die Eintrittsgebühr beim Arzt zu will deshalb an dieser Stelle, gleich zu Anfang, allen Be- zahlen. Dies sind Einzelbeispiele, die man beliebig er- teiligten aus Opposition und Koalition und vor allem gänzen könnte. auch Ihnen, Frau Ministerin, und Ihrem Hause ganz Es kann nicht sein, dass durch Zuzahlungen, durch herzlich für diese Beratungen und deren konstruktiven Leistungsausgrenzungen, durch Eintrittsgebühren bei Verlauf danken. Ärzten, durch Sonderbeiträge (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Jetzt kommt FDP) Ihr Vorschlag!) Wir Großkoalitionäre, mein Kollege Ewald Schurer und – jetzt offenkundig beabsichtigt – durch endgültige und ich, waren uns einig, dass es auch mit diesem klei- (B) Abschaffung des Krankengelds und die Abschaffung der nen Etat durchaus möglich ist, Schwerpunkte zu setzen. (D) Versicherung privater Unfälle die Versicherten immer Bereits zu Beginn dieses Jahres erschreckte uns das weniger Leistungen erhalten, dafür aber zusätzlich zur Thema Vogelgrippe und machte uns darauf aufmerk- Kasse gebeten werden, wie Frau Merkel heute Morgen sam, dass Deutschland auf eine Pandemie vielleicht gesagt hat. doch nicht ganz so gut vorbereitet ist, wie wir alle ange- Die Grundprinzipien der gesetzlichen Krankenversi- nommen haben. Bislang ist das Virus zwar noch nicht cherung, nämlich Solidarausgleich, Parität, umfassende derart mutiert, dass es von Mensch zu Mensch über- Sachleistungen, Umlageverfahren und Kontrahierungs- springen kann, aber wir sollten uns nicht nur mit dem zwang haben sich nach unserer Auffassung bewährt. Sie Ob, sondern auch mit dem Wenn beschäftigen. finden in der Bevölkerung eine breite Akzeptanz. Arbeit- Auch das Thema HIV/Aids bedarf wieder verstärkt nehmer, Arbeitslose, Rentnerinnen und Rentner sowie unserer Aufmerksamkeit; denn auch wenn die Zahl der bisher beitragsfrei mitversicherte Angehörige erwarten von uns, dass wir ein Gesundheitssystem anbieten, mit Infizierten in Deutschland auf einem erfreulich niedrigen dem die vorgenannten Ansprüche erfüllt werden können. Niveau liegt, macht es uns doch besorgt, dass die Zahl der Neuinfektionen binnen eines Jahres um 20 Prozent Die Bürgerversicherung findet in der Bevölkerung gestiegen ist. Also fragen wir uns: Stimmt die Aufklä- große Zustimmung. rungskampagne noch? Erreichen wir die entsprechenden (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Weil die nicht Zielgruppen? Müssen wir nicht unsere Anstrengungen in wissen, was sich dahinter verbirgt!) diesem Bereich verstärken? Die Wählerinnen und Wähler haben bei ihrer Stimm- Wir haben uns als große Koalition auf die Fahnen ge- abgabe auch eine parlamentarische Mehrheit für diese schrieben, die Haushaltskonsolidierung als oberstes Ziel Bürgerversicherung geschaffen. Die Linksfraktion, die zu verfolgen. Deshalb müssen alle Mehrmittel, die wir Fraktion der Bündnisgrünen und die Sozialdemokraten, einsetzen wollen, sauber gegenfinanziert sein. Wir wa- die sich eindeutig dafür ausgesprochen haben, haben, ren uns da einig, dass die Öffentlichkeitsarbeit ein mög- wenn sie es wollen, die Mehrheit in diesem Haus, als licher Bereich ist. Aber nachdem sich der Haushaltsaus- einzig notwendige und richtige Reformalternative eine schuss darauf geeinigt hat, dass wir rund 10 Millionen Bürgerversicherung einzuführen. Wir werden Sie dabei Euro als globale Minderausgabe im Einzelplan 60 reali- unterstützen. Nehmen Sie das Angebot ernst! sieren wollen, die eigentlich schwerpunktmäßig über Öf- fentlichkeitsarbeit erbracht werden soll, blieb für diese Danke. Gegenfinanzierungsmöglichkeit kein Spielraum. Des- (Beifall bei der LINKEN) halb sage ich an dieser Stelle: Das wird eine Aufgabe für Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3649

Norbert Barthle (A) die kommenden Jahre sein. Frau Kollegin Winterstein, 14 Prozent stark übergewichtig sind, dann bin ich mir si- (C) ich verspreche Ihnen: Wir bleiben am Ball. cher, dass im Bereich der Prävention noch erheblicher Handlungsbedarf herrscht. Wir müssen feststellen, dass die Spielräume sehr eng sind. Im Einzelplan 15 sind 140 Millionen Euro des (Zuruf von der CDU/CSU: Anwesende ausge- Etats alleine für Personalausgaben vorgesehen. Ich frage schlossen!) mich manchmal schon, ob zum Beispiel das Robert- Koch-Institut mit der bestehenden Mittel- und Perso- Wer hier mit spitzer Feder kürzt, der handelt falsch. Was nalausstattung die Aufgaben tatsächlich bewältigen die Anwesenden anbelangt, so trifft diese Analyse sicher kann. auch auf diese zu. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Lassen Sie mich eine zweite Kritik aufgreifen, die bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE von der Opposition immer wieder vorgetragen wird: Sie GRÜNEN) betrifft die Kürzung der Zuschüsse für die GKV. Natür- lich ist es richtig, dass wir in Zukunft einen größeren Wir haben im Koalitionsvertrag mit guten Gründen for- Teil der Kosten unserer Sozialsysteme über das Steuer- muliert: system finanzieren wollen. Die gesundheitspolitische Schlüsselstellung des (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha!) Robert-Koch-Instituts insbesondere im Hinblick auf die wachsenden potentiell erheblichen Gesund- Anders werden wir die notwendige Trendwende am Ar- heitsgefährdungen der Bevölkerung … soll ausge- beitsmarkt nicht realisieren können. Das ist vollkommen baut und institutionell gefördert werden. klar. Aber die reine Umschichtung zur Steuerfinanzie- rung ergibt keinen Sinn. Das haben wir aus der rot-grü- Wenn ich bedenke, dass bei diesem Institut seit dem nen Rentenreform gelernt; denn die Mittel aus der Öko- Jahr 2000 mehr als 20 Prozent der etatisierten Stellen ab- steuer sollten die Rentenbeiträge auf Dauer stabilisieren. gebaut wurden, dann haben wir noch eine Menge Arbeit Das Ganze hielt nur sehr kurze Zeit. Anschließend versi- vor uns. Andererseits sind wir Haushälter immer darauf ckerten die Mittel in einem Fass ohne Boden. bedacht, Aufwüchse bei den Personalkosten zu vermei- den und Einsparungen vorzusehen. Deshalb wird es für (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- uns alle eine schwierige Aufgabe sein, einen entspre- NEN]: Ohne Ökosteuer wären die Beiträge hö- chenden Weg zu suchen. her!) Lassen Sie mich kurz auf das „Sparbuch“ der FDP Da wir aber alle kluge Menschen sind – jedenfalls die in (B) eingehen. Ich gehe davon aus, dass wir damit auch in der Koalition –, haben wir aus den Fehlern gelernt. Des- (D) den kommenden Jahren wieder traktiert werden sollen; halb wird es die angekündigte Umsteuerung ohne eine denn das Austauschen und Fortschreiben von Zahlen ist echte Strukturreform nicht geben. nicht besonders schwer, auch wenn die Idee an sich Damit bin ich bei der aktuellen Gesundheitsreform, schon ziemlich abgegriffen ist. zu der ich mich nicht im Detail äußern will. (Dr. Claudia Winterstein [FDP]: Wir geben Anregungen, auf die Sie selber nicht kom- (Dr. Claudia Winterstein [FDP]: Das hätte men!) mich auch gewundert!) Das Ganze wirkt etwas antiquiert wie ein abgegriffenes Dafür haben wir unsere Experten, die mit großer Sach- Telefonbuch. Vielleicht können Sie Herrn Westerwelle kunde und mit großem Enthusiasmus zu Werke gehen. den Rat geben, er möge eine CD vorlegen, wenn Sie eine Ich will nur zwei Punkte ansprechen, die aus meiner moderne Partei sein wollen. Dann müssen die Kollegin- Sicht wichtig sind. Einerseits sollten wir die Ausgaben- nen und Kollegen nicht immer das schwere Buch herum- seite mutig angehen. Wenn in einem Bereich 240 Mil- tragen. liarden Euro jährlich ausgegeben werden, dann ist das wie eine Mine, in der noch so manche Goldreserve (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Haben wir! schlummert. Da sind noch Milliardenbeträge zu heben, Das können Sie sich unter www.fdp.de an- wenn man mit dem notwendigen Mut an das System he- schauen!) rangeht und für zusätzliche Effizienz sorgt. Effizienz heißt wirtschaftlicher Einsatz der vorhandenen Mittel Frau Kollegin, Sie selbst haben die Kürzung der Ausga- und steht nicht im Gegensatz zu einer bedarfsgerechten ben für die Prävention um mehr als die Hälfte angespro- Versorgung. Das hat nichts mit Rationalisierung oder gar chen. Ich bleibe dabei: Jeder Euro, den wir für Präven- Rationierung zu tun. tion ausgeben, ist gut angelegtes Geld. Wir können hinterher bei der Behandlung von Erkrankungen gar Andererseits muss jede Gesundheitsreform, die ihren nicht so viel einsparen wie vorher durch eine wirksame Namen wirklich verdient, eine zentrale Frage beantwor- und gezielte Prävention. ten, nämlich wie wir die steigenden Gesundheitskosten (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem auffangen können, ohne die Arbeitskosten zu belasten. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich bin dankbar, dass unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel diese Tatsache heute früh mit großer Ehrlichkeit Wenn ich zum Beispiel im aktuellen Mikrozensus lese, angesprochen und auf den Punkt gebracht hat. Sie hat dass jeder zweite Deutsche übergewichtig ist und sogar den Dreiklang benannt: Mit mehr Transparenz, mehr 3650 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Norbert Barthle (A) Effizienz und mehr Konkurrenz wäre dieses Problem zu wesen wird sie die Kraft haben, sich gegen die versam- (C) lösen. melten Lobbyisten durchzusetzen. Ach, meine Damen und Herren, wenn es doch nur so wäre! (Frank Spieth [DIE LINKE]: Und mehr Belas- tung! – Gegenruf der Abg. Annette Widmann- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie werden Mauz [CDU/CSU]: Bei Ihnen kommt das Geld sich noch wundern!) vom Himmel oder wie?) Vorhin haben wir von dem Kollegen Haushälter, dem Lassen Sie mich noch auf das viel diskutierte Thema Kollegen Schurer, eine zutreffende Problembeschrei- GKV und PKV eingehen und dazu ein schönes Bild an- bung des Gesundheitswesens gehört. Er hat einen Pfad führen: Wenn man die GKV als einen leckgeschlagenen mit möglichen Lösungswegen aufgezeigt. Nur, der sitzt Tanker betrachtet, dann sind die PKVen die schwimmfä- nicht am Verhandlungstisch. Was hören wir stattdessen higen Rettungsboote. Es macht schlicht keinen Sinn, die von denen, die eben dort sitzen, von den politischen Rettungsboote noch enger an den Tanker zu ketten; denn Spitzen der Koalition? Hören wir da etwas von mehr dann würden sie durch den Strudel mit in die Tiefe geris- Wettbewerb auf der Anbieterseite und den Wegen dahin? sen. Ich bin mir sicher und sehr zuversichtlich, dass die großkoalitionären Verhandlungsführer den Mut aufbrin- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ja! Sie müssen gen, sich an das Schließen des Lecks im Tanker zu ma- auch seriöse Zeitungen lesen!) chen, und dabei die Rettungsboote schwimmfähig erhal- – Herr Zöller, hören wir etwas von mehr Effizienz, und ten. Das ist, so denke ich, der richtige Weg. Alles andere davon, was man tun könnte, um sie zu erreichen? führt auf Dauer zu einem Unglück für beide. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ja!) (Beifall bei der CDU/CSU) Hören wir etwas davon, wie eine nachhaltige Finanzie- Deshalb wünsche ich mir, dass die großkoalitionären rung all dieser möglichen Wege aussähe? Verhandlungsführer – ich spreche ihnen Mut zu – tat- sächlich an das Thema Eigenverantwortung herange- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ja!) hen. Eine gesunde Lebensführung, eine Lebensführung, die Gesundheitsrisiken vermeidet, muss letztendlich be- Aber nein! Sie reden lediglich über eine neue Behörde. lohnt und darf nicht bestraft werden. Das muss der Dreh- Vielleicht nennen Sie sie Bundesagentur für Gesundheit und Angelpunkt aller Überlegungen sein, bei denen es oder so ähnlich. Die Behörde hat einen unglaublichen darum geht, mehr Eigenverantwortung zu realisieren. Es Vorteil: Die einkommensabhängigen Beiträge, die die kann nicht angehen, dass man nur einzelne Risikoberei- SPD vorsieht, gehen vorne rein und die Kopfpauschale che benennt und womöglich wieder auf die berühmten der CDU kommt hinten raus. Da kommt bei den Koali- (B) (D) Risikosportarten, die auch sehr umstritten sind, zu spre- tionsfraktionen Freude auf, weil alle sehen, sie haben et- chen kommt. Es ist wesentlich sinnvoller, zu sagen: Wer was realisiert. durch eigenverantwortliches Handeln zu einer gesunden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lebensführung beiträgt, der soll auch entsprechend be- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) lohnt werden. Das muss der Weg sein. Einzelne Bereiche dürfen nicht ausgegrenzt werden. Was haben Sie damit aber geschaffen? Eine „Reform- attrappe“, wie „Die Zeit“ zuletzt zu Recht schrieb. Ich In diesem Sinne herzlichen Dank und gute weitere füge hinzu: eine Reformattrappe, die viel Bürokratie Beratungen. nach sich zieht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das wird es neten der SPD) nicht geben! – Ewald Schurer [SPD]: Sie sind einfach zu pessimistisch, ohne überhaupt das Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ergebnis zu kennen!) Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender von Bündnis 90/Die Grünen. Von der Bundeskanzlerin mussten wir heute früh leider erfahren, dass Sie sich tatsächlich darauf geeinigt haben. Das ist der Stand der Dinge. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war Nun geht es noch um die Ausgestaltung im Einzelnen, schon die Rede davon, dass nach einer aktuellen Um- zum Beispiel um die Frage, wie die Beteiligung der pri- frage nur noch 29 Prozent der Bevölkerung der Regie- vaten Krankenversicherung aussieht. Ich werde gele- rungskoalition zutrauen, die strukturellen Probleme des gentlich gefragt, wie es eigentlich mit dem Einfluss der Gesundheitswesens zu lösen. Lobbyisten im Gesundheitswesen sei. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wenn ihr noch (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ein bisschen redet, werden es noch weniger!) NEN]: Gute Frage! – Zurufe von der CDU/ CSU) Ich füge hinzu: Im letzten Jahr waren es noch 37 Prozent. Wie das wohl kommt?! Im letzten Jahr war – Wenn ich mir die Union so anhöre, muss ich feststel- in den Medien des Öfteren zu lesen, eine große Koalition len, dass das ein gutes Beispiel ist. Das ist in den Sprech- sei das, was das Land braucht. Eine große Koalition werkzeugen der Politik schon angekommen, jedenfalls kann große Probleme lösen und gerade im Gesundheits- auf der Unionsseite. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3651

Birgitt Bender (A) Herr Barthle, wenn die PKV das Rettungsboot ist, Diese Frage müssen Sie mir wirklich einmal beantwor- (C) dann lassen Sie die Boote doch zu Wasser und setzen Sie ten. Ich finde, manchmal ist es ganz gut, wenn das Ge- die PKV dem Wettbewerb aus! schwätz von gestern auch heute noch etwas gilt. (Frank Spieth [DIE LINKE]: Und zwar unter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – gleichen Bedingungen!) Ewald Schurer [SPD]: Er hat das definitiv nirgends gesagt!) Aber gerade das tun Sie nicht, weil Sie sich weigern, den einheitlichen Versichertenmarkt einzuführen. Das wäre – Es ist doch nachzulesen, dass er das in eurer Sitzung doch der richtige Weg, wenn Ihr Bild stimmen würde. des Parteirats und ich weiß nicht wem vorgetragen hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Elke Ferner [SPD]: Das stimmt überhaupt Ich sage Ihnen: Wenn Sie das nicht machen, wenn die nicht! Ich war dabei! – Ewald Schurer [SPD]: PKV völlig ungeschoren hinter ihrem Schutzzaun bleibt, Sie fabulieren!) dann wird es wieder so sein, dass die Gesunden und die Nächste Diskussion: Sie wollen den Arbeitgeberbei- Einkommensstarken von dieser Reform, die größere Be- trag einfrieren. Wenn Sie den auf 6 Prozent reduzieren lastungen mit sich bringen wird, nicht berührt werden. – gegenwärtig zahlen die Arbeitgeber im Durchschnitt Ich sage Ihnen: Solidarität ohne die Stärksten – das hält 6,65 Prozent –, dann bedeutet das schon einmal mehr als kein Sozialsystem auf Dauer aus. ein halbes Prozent, das von den Versicherten zusätzlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – getragen werden muss. Das Einfrieren bedeutet auch, Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wissen Sie, wer dass jede zusätzliche Belastung im Gesundheitswesen, in der PKV versichert ist?) wie auch immer sie entstehen wird, einseitig zulasten der Versicherten geht. Das nenne ich eine soziale Schieflage. – Ja, das weiß ich recht gut, Herr Zöller. Viele von uns hier zum Beispiel. (Ewald Schurer [SPD]: Reine Spekulation! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Auch wieder (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Dann dürften falsch! Beides einfrieren!) Sie nicht zu solchen Schlüssen kommen!) Ich weiß nicht, was eine große Koalition bewegt, dies Wir könnten etwas dazu beitragen, dass Solidarität ge- tun zu wollen. stärkt wird, anstatt Schutzzäune zu erhalten. Nächste Frage: Steuerfinanzierung im Gesundheits- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – wesen. Davon ist oft die Rede. Nun kann man unter- Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie tun so, als (B) schiedlicher Meinung sein, wie wichtig der Schritt wäre, (D) seien da nur Besserverdiener drin!) tatsächlich mehr Steuern für die Sozialversicherung auf- Nächste Frage, über die Sie diskutieren: die so ge- zubringen. Gerade wurde das Beispiel Ökosteuer ge- nannte kleine Kopfpauschale. nannt. Das ist, wie ich finde, ein erfolgreiches Beispiel. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wer? Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – diskutieren!) Widerspruch bei der FDP) Wenn die zusätzlich zu den Beiträgen erhoben wird, Hinsichtlich des Gesundheitswesens bin ich eher etwas dann ist das erstens eine erhebliche Wettbewerbsverzer- skeptisch. Wenn etwas meine Skepsis befördert hat, rung zulasten der Kassen, die viele kranke Menschen dann ist es der jüngste Schritt der großen Koalition. Sie versorgen. Das ist schon Grund genug, sie nicht einzu- haben sich daran gemacht, die 4,2 Milliarden Steuerzu- führen. Zweitens belastet eine Kopfpauschale Gering- schuss, die wir gemeinsam verabredet hatten, erst einmal verdiener mehr als Gutverdienende. Deswegen ist sie so- wieder einzukassieren. Da sieht man, wie es mit den zial ungerecht. Steuern gehen kann. Jetzt muss mir einmal jemand von der SPD eine Frage Aber wenn man das jetzt einmal ernst nimmt und beantworten. sagt, dass Steuern ein Teil dieser Finanzierung sein sol- len, dann braucht man dafür ein Konzept. Ich sage nur: (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Warum Diskutiert wird immer über 15 Milliarden Euro für die schauen Sie dann in unsere Richtung? – Frank Finanzierung der Gesundheitsversorgung der Kinder. Spieth [DIE LINKE]: Keine Chance!) Wo ist denn die Gegenfinanzierung dafür? Ich habe gele- Wir, Rot-Grün, haben im letzten Jahr die kleine Kopf- sen – das steht übrigens auch in der Zeitung; das sage ich pauschale für den Zahnersatz in Höhe von 5 bis 8 Euro, an die Adresse der SPD –, der sozialdemokratische Par- die uns die Union aufgedrückt hatte, gekippt. Warum? teivorsitzende sei der Meinung, dass 30 bis 45 Milliar- Weil wir gesagt haben, dass sie sozial ungerecht sei. den Euro Steueranteil in der Krankenversicherung eine Kann mir jetzt jemand erklären, warum der sozialdemo- gute Sache seien. kratische Parteivorsitzende Beck die kleine Kopfpau- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie sollten auf schale, die bis zu 40 Euro betragen soll, für sozial ver- die Fanmeile gehen, da gibt es bessere Infor- träglich hält? mationen! – Frank Spieth [DIE LINKE]: Da (Elke Ferner [SPD]: Hat er überhaupt nicht müsste man die Steuern aber ordentlich erhö- gesagt, Frau Bender!) hen!) 3652 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Birgitt Bender (A) Dazu kann ich nur sagen, Herr Spieth: Wenn die PDS so Wollen Sie uns vielleicht noch einmal sagen, (C) etwas vorschlagen würde, wie groß die Mehrbelastung dadurch gewesen wäre? – Ewald Schurer [SPD]: Wo bleibt Ihr (Frank Spieth [DIE LINKE]: Dann würden wir Modell?) als Vaterlandsverräter bestraft!) – Frau Widmann-Mauz, die einzige Meinungsverschie- dann würden hier alle sagen, dass die PDS glaube, das denheit, die es bei Ihnen noch gibt, betrifft die Frage, bei Geld komme aus der Steckdose, und dass sie mit einem wem das meiste Geld zu holen ist. solchen Vorschlag zeige, dass sie nicht regierungsfähig ist. Wie nennt man dann so etwas bei der großen Koali- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Ja, ja! tion? Sie wussten das ja schon!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Die einen denken, dass dies bei den Geringverdienern Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Jetzt kommt Ihr der Fall ist, weil sie durch die Kopfpauschale am meis- Vorschlag!) ten belastet werden. Sie haben gleich am Anfang zwei große Fehler ge- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ein macht. Sie haben das 5-Milliarden-Euro-Loch selbst Schwachsinn!) geschaffen. Die Steuerzuschüsse in Höhe von 4,2 Mil- liarden Euro haben Sie herausgenommen und die Mehr- Dann sagen die anderen: Holen wir das Geld doch bei wertsteuer erhöht. Dadurch haben Sie für Zusatzbelas- den Gutverdienern, und zwar durch eine höhere Bei- tungen von 900 Millionen Euro gesorgt. Zur Verdeckung tragsbemessungsgrenze! Hier möchte ich Ihnen ironisch dieser Missetat – als Juristin weise ich darauf hin, dass empfehlen: Kombinieren Sie doch beides; die Verdeckungsabsicht im Strafrecht straferhöhend (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das wirkt – hat die Kanzlerin in schöner Eintracht mit der alles haben Sie ja schon gemacht!) Gesundheitsministerin gesagt: Gesundheit wird teurer. Als Gründe wurden die Alterung der Bevölkerung und dann sind Sie alle wieder glücklich. der medizinische Fortschritt angeführt. Aber Gesundheit (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ich bin ja mal wird nur teurer, weil Sie selbst dieses Milliardenloch ge- gespannt, wann Ihr Vorschlag kommt!) schaffen haben. Ich komme zum Ende. Gelegentlich heißt es, wenn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Reform nicht zustande kommt: Der Berg kreißt und sowie bei Abgeordneten der LINKEN) gebiert eine Maus. Ich würde sagen: Hier kreißen zwei Die Alterung unserer Bevölkerung führt nicht not- Berge mit zahlreichen Untergipfeln. Was dabei heraus- (B) (D) wendigerweise dazu, dass Gesundheit teurer wird; denn kommt, ist eine Maus mit Schwimmflossen, mit der nie- die Menschen haben die Chance, gesünder alt zu wer- mand etwas anfangen kann. Anders gesagt: Die große den. Auch der medizinische Fortschritt hat nicht notwen- Koalition ist nicht reformfähig. Das schätzt die Bevölke- digerweise die Folge, dass sie teurer wird; denn eine In- rung völlig richtig ein. novation wie zum Beispiel die Schlüssellochchirurgie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bietet auch Potenzial zum Sparen. Der medizinische sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Fortschritt kann also auch in dieser Richtung wirken. Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Was haben Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) jetzt eigentlich vorgeschlagen? Das Einzige war doch, dass Sie ein Glas Wasser mitgenom- Sie haben gesagt: Gesundheit wird mehr Geld kosten. men haben!) Wozu hat das geführt? Dadurch haben Sie bei allen, die ihr Geld im Gesundheitswesen verdienen, die Hoffnung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: geweckt, dass es frisches Geld gibt und dass bald Schluss ist mit den lästigen Diskussionen über Struktur- Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Ulla reformen. Wie können Sie das nun wieder rückgängig Schmidt. machen? Gar nicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Frank Spieth [DIE LINKE]: Überhaupt nicht! der CDU/CSU) Richtig!) Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit: Sie müssen erst einmal frisches Geld organisieren. Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen Hier haben die Versicherten, so fürchte ich, nichts Gutes und Kollegen! Liebe Kollegin Bender, ich habe gedacht: zu erwarten. Denn wenn man Ihre Diskussionen ver- Mein Gott, was schreibt man sich nur auf, wenn man folgt, kommt man zu dem Ergebnis: Demnächst zahlen nicht weiß, worüber man spricht. die Versicherten erstens einkommensabhängige Bei- träge, zweitens eine Kopfpauschale und drittens noch (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der höhere Steuern. Alles wird also teurer, ohne dass da- SPD und der CDU/CSU) durch auch nur ein einziges strukturelles Problem des Sie haben sich an jegliche Kritik angeschlossen, die der- Gesundheitswesens gelöst würde. zeit in diesem Lande geäußert wird. Wir haben immer (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wie gesagt, dass wir die Eckpunkte zu Beginn des Sommers, war das denn bei Ihrer Bürgerversicherung? also Anfang Juli, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3653

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gerecht werden, damit eines gesichert ist – das ist die (C) NEN]: Das ist aber bald! – Ute Kumpf [SPD]: Grundlage unserer Verhandlungen –: Alle Menschen in Heute ist Sommeranfang! – Frank Spieth [DIE diesem Lande müssen unabhängig von ihrem Portemon- LINKE]: Dann erzählen Sie uns mal was!) naie eine gute gesundheitliche Versorgung bekommen, alle müssen unabhängig von ihrem Portemonnaie am vorlegen. Dieser Termin liegt noch vor uns. Da können medizinischen Fortschritt teilhaben können und für alle Sie noch so lange fragen, welche Vorschläge vorliegen. Menschen in unserem Lande müssen, egal ob sie in Auch Sie selbst haben einmal an solchen Verhandlun- Brandenburg, in Mecklenburg-Vorpommern, in Sachsen- gen teilgenommen. Anhalt, in Sachsen, in Thüringen, im Bayerischen Wald, in Niedersachsen oder anderswo leben, Medizinerinnen (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und Mediziner da sein, die sie versorgen, sowie Men- NEN]: Ja! Ich habe aber nur drei Wochen ge- schen, die in der Pflege tätig sind – das sicherzustellen, braucht! – Gegenruf der Abg. Annette ist unsere Aufgabe. Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das war damals aber auch keine Jahrhundertreform, Frau Kol- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – legin!) Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Dazu brauchen wir aber keine Gesund- Wir werden die Präsentation der Ergebnisse erst machen, heitsreform! – Frank Spieth [DIE LINKE]: wenn alles vereinbart ist. Ich kann verstehen, dass Sie Das ist das Einzige, worüber wir uns einig neugierig sind. sind!) (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man kann dabei über vieles reden. Ja, genau!) Ich kann auch verstehen, dass Sie sehr ungeduldig sind. Herr Kollege Spieth, Sie sind doch für eine AOK ver- Allerdings heute – das sei ganz nebenbei erwähnt – habe antwortlich, ich kein einziges Konzept, wie man die Probleme im Ge- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Auch!) sundheitswesen lösen kann, gehört, doch das bereitet Ihnen schon genügend Probleme. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) weder von der Linken noch von der FDP noch von Ih- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der nen, Frau Bender. SPD und der CDU/CSU – Frank Spieth [DIE LINKE]: Die Sie uns bereitet haben!) Aber es scheint üblich zu sein, dass man, ohne zu wis- (B) sen, worüber man redet, sagt: Wir sind dagegen. – Es ist Ich sage Ihnen: Auf dem Posten, den ich jetzt im sechs- (D) ja immer gut, gegen etwas zu sein. Da befinden Sie sich ten Jahr innehabe, würden Sie es keine einzige Woche in guter Gesellschaft mit den Verbänden, mit verschiede- aushalten! Sie würden kein einziges Problem lösen kön- nen Organisationen und mit Professoren, die beleidigt nen; da können Sie sicher sein. sind, weil sie nicht beteiligt wurden, und deswegen alle (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vorschläge für falsch halten. NEN]: Das zur GKV! – Frank Spieth [DIE Ihnen haben die Wählerinnen und Wähler keinen Re- LINKE]: Sie setzen Ihre eigenen Gesetze nicht gierungsauftrag erteilt. Sie haben so gewählt, dass die um und wundern sich dann, wenn die AOK ins große Koalition den Auftrag bekommen hat, die entspre- Trudeln gerät!) chenden Reformen auf den Weg zu bringen und die Pro- Wenn wir darüber reden, wie wir die Finanzierung der bleme in diesem Land zu lösen. Gesundheitsversorgung sichern können und wie die (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Strukturen im Gesundheitssystem aussehen müssen, NEN]: Dann tun Sie doch etwas! – Dr. Thea dann sind das zwei Seiten einer Medaille. Wir werden Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, die Strukturveränderungen, die wir mit der Gesundheits- aber wo sind denn Ihre Vorschläge? – Frank reform 2003 begonnen haben, konsequent fortsetzen: Spieth [DIE LINKE]: Aber keine Transforma- Wir werden die integrierte Versorgung weiterentwickeln, tion!) wir werden die medizinischen Versorgungszentren fördern, wir werden die starre Grenze zwischen dem am- Zur Prävention gehört auch, sich nicht immer so auf- bulanten und dem stationären Sektor überwinden, wir zuregen. Warten Sie doch einfach ab, bis wir Ihnen das werden die Patientenbeteiligung und die Prävention aus- Konzept vorlegen, und lassen Sie uns, nachdem Sie es bauen und wir werden für mehr Wettbewerb im System gelesen haben, in aller Ruhe Stück für Stück darüber re- sorgen – weil wir eines wissen: Ehe neues Geld in dieses den, ob diese Vorschläge geeignet sind, den wachsenden System fließt, muss der Topf wasserdicht gemacht wer- Herausforderungen der demografischen Entwicklung den, damit das Geld nicht irgendwo unnütz eingesetzt und der Veränderung der Erwerbsbiografien zu begeg- wird, wo es für die Versorgung von Patientinnen und Pa- nen. Herausforderungen entstehen aber auch durch den tienten gar nicht nötig ist. Das ist der erste Punkt. medizinischen Fortschritt; dabei geht es darum, zu ent- scheiden, was zur Bekämpfung von Krankheiten tatsäch- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der lich nutzt bzw. was die Lebensqualität der Menschen CDU/CSU – Frank Spieth [DIE LINKE]: Da wirklich erhöht. Wir müssen diesen Herausforderungen sind wir uns einig!) 3654 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) Der zweite Punkt ist: Wir wissen, dass die Bindung halten. Das ist der erste Schritt und das ist eine wesentli- (C) der Beiträge an sozialversicherungspflichtige Beschäf- che Vereinfachung gegenüber dem, was heute ist. tigungsverhältnisse die Achillesferse unseres Gesund- heitssystems bleibt. Diese Bindung trägt nicht mehr, Der zweite Schritt ist, dass wir von dort ausgehend weil wir in den letzten Jahren – leider – einen großen klären, wie wir die unterschiedlichen Krankheitsrisiken Abbau von sozialversicherungspflichtigen Beschäfti- ausgleichen können. Deswegen gehört zu einem 100- gungsverhältnissen hatten. Auch wenn ich froh bin, dass prozentigen Einkommensausgleich ein zielgenauer, an das jetzt gestoppt ist und wir langsam wieder einen Zu- den Krankheitsrisiken orientierter Risikostrukturaus- wachs haben, weiß ich sehr wohl, dass diese Bindung gleich. Ich sage Ihnen: Viele Kassen, die heute Probleme auf Dauer nicht ausreicht. Schon in den letzten 20 Jahren haben, weil sie viele ältere und kränkere Menschen ver- ist die Entwicklung der Beitragseinnahmen um 31 Pro- sichern, würden mit einer solchen Lösung sehr viel bes- zent hinter der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts ser gestellt, als sie es heute sind, und wären endlich in zurückgeblieben. der Lage, ihre Aufgaben innerhalb des Wettbewerbs wahrzunehmen. Ich bitte Sie alle: Gehen Sie doch ein- (Frank Spieth [DIE LINKE]: So ist das!) mal mit einer anderen Sichtweise heran, springen Sie einmal über die Hürden, nehmen Sie Ihr Herz in die Darauf brauchen wir eine Antwort. Jetzt reden wir über Hand und lassen Sie uns die Zukunft diskutieren. den Fonds, Herr Kollege Spieth. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Frank Spieth [DIE LINKE]: Genau das ist jetzt die Frage!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: – Das ist klar. Frau Ministerin, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hajduk zulassen? (Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring- Eckardt) Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit: Für die Kritikaster in diesem Land – ich habe sie eben Nein. schon genannt –, die immer nur darüber reden, wie schlecht alles ist, ist schon, dass es ein neues Wort gibt, Ein weiterer Punkt, warum wir eine Reform brau- Grund genug, erst einmal Nein zu sagen. chen. Wir haben zwar ein gutes Gesundheitswesen, aber es lässt uns keine Ruhe, dass eine zunehmende Anzahl (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der von Menschen in diesem Land nicht versichert ist. CDU/CSU) (Dr. [FDP]: Das wird immer (B) Hier könnte sich einmal etwas positiv verändern; doch teurer!) (D) das würde vieles erfordern. Gehen Sie doch mit einer an- deren Sichtweise an diesen Fonds heran – auch Sie von Auch dafür, dass alle Menschen in diesem Land versi- der FDP – und überlegen Sie, wie wir – Herr Spieth, Sie chert sind, soll dieser Fonds dienen. Wir müssen dafür als AOKler müssten das kennen – das, was in § 1 Satz 1 sorgen, dass jede Kasse und jede Krankenversicherung des Sozialgesetzbuches V steht – die Krankenkassen als in diesem Land jeden versichern muss. Wir wollen Solidargemeinschaft –, umsetzen können. Schluss damit machen, dass die großen Risiken bei den gesetzlichen Krankenkassen abgeladen werden und sich Wenn wir einen Fonds hätten – wir reden gerade über die Privaten auf Dauer aussuchen können, wen sie auf- ihn und seine Ausgestaltung –, in den die Beiträge der nehmen. Wir wollen einen Weg finden, dass jede Versi- Arbeitgeber, der Versicherten, der Rentner und der Ar- cherung jeden aufnehmen muss. Das ist ein Riesenfort- beitslosen sowie Gelder der Bundesagentur für Arbeit schritt gegenüber dem, was wir heute haben. und Steuern einfließen, dann könnten wir sagen: In die- sem Land findet ein 100-prozentiger Einkommensaus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gleich statt. Herr Kollege Barthle, das wird vielleicht dazu führen, (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Haben wir dass die Rettungsboote ihrer Bestimmung nach einge- doch!) setzt werden. Es gehört zu diesem System, dass man je- den rettet, der eine solche Rettung nötig hat, und nicht – Haben wir nicht, es sind 92 Prozent. manche außen vor lässt. (Frank Spieth [DIE LINKE]: Das haben wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD) doch jetzt schon mit dem Risikostrukturaus- gleich! – Gegenruf des Abg. Wolfgang Zöller Neben den notwendigen Strukturreformen werden wir [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Sie auch dafür sorgen – das ist mir ein ernstes Anliegen –, kennen Ihre eigenen Anträge nicht!) dass nicht nur die Ärzte und Ärztinnen, sondern auch die Menschen, die Tag für Tag in nicht ärztlichen medizini- – Herr Kollege Spieth, wir wollen nicht, dass es für eine schen Berufen arbeiten und für kranke Menschen und Krankenkasse einen Unterschied macht, ob dort ein Menschen, die Hilfe benötigen, da sind, eine Perspektive Empfänger von Arbeitslosengeld II oder ein Bankdirek- erhalten. Wir wollen zu einer angemessenen und gerech- tor versichert ist. Wir wollen, dass alle Krankenkassen in teren Finanzierung kommen, als das heute der Fall ist; diesem Land den gleichen Anteil je Versicherten an den denn ich sage Ihnen eines: Wir reden nicht nur über das Gesamteinnahmen aller gesetzlichen Krankenkassen er- nächste Jahr, sondern wir müssen uns heute schon Ge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3655

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) danken darüber machen, wie wir dafür sorgen können, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) dass junge Menschen wieder eine Perspektive in Pfle- der CDU/CSU) geberufen und auch in ärztlichen Berufen haben. Auch das wollen wir mit dieser Reform anpacken. Deswegen haben wir entschieden, Aids zu einem der Hauptthemen während der deutschen EU-Ratspräsident- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der schaft im kommenden Jahr zu machen und uns endlich FDP – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Nur zu! damit auseinander zu setzen, wie durch die Verantwor- Ich warte auf die Vorschläge!) tung der Politik und der Zivilgesellschaft dafür gesorgt werden kann, dass die notwendigen Strukturen für eine Ich finde es sehr gut und es spricht für die Qualität der nachhaltige Aidspolitik geschaffen werden. deutschen Mediziner und Medizinerinnen, dass sie auch im Ausland gefragt sind. Wir möchten aber auch, dass Ich bin dankbar, wenn Sie das alles mit unterstützen. sie hier bleiben und hier ihre Arbeit machen. Wir werden Ich glaube, dass das Thema unterschätzt wird. Es ist aber uns darum kümmern. eines der wichtigen Themen der Menschheit, das mehr Menschen betrifft als die, die wir zum Beispiel durch Frau Kollegin Winterstein, wir sehen Perspektiven in Maßnahmen zur Bekämpfung einer Pandemie schützen unserem Land und wir gehören nicht zu denen – so, wie zu müssen glauben. Deshalb muss der Kampf gegen Ihre Partei –, die immer glauben, dass die Probleme bes- Aids unser gemeinsames Anliegen sein. ser lösbar sind, wenn man alles dem internationalen Ka- pitalmarkt aussetzt. Meine Redezeit nähert sich dem Ende. Ich kann leider nicht näher auf andere Themen eingehen. Wir werden (Dr. Konrad Schily [FDP]: Das stimmt doch aber die Pflege reformieren und das Präventionsgesetz gar nicht!) auf den Weg bringen. Wir werden unseren Kampf gegen legale und illegale Drogen fortsetzen. Wir glauben zum Beispiel, dass die Rentnerinnen und Rentner in diesem Land, die ihr Leben lang in die solida- Insofern werden wir auch in den kommenden Wochen rische Kasse eingezahlt haben, auch einen Anspruch da- und Monaten noch sehr viel Gelegenheit haben zu strei- rauf haben, im Alter Solidarität zu genießen. Auch da- ten. In zwei Wochen sind wir etwas weiter. Dann reden rum werden wir uns kümmern. wir nicht nur darüber, wie die Dinge heißen, sondern auch mehr über Inhalte. Lassen Sie mich noch ein Thema ansprechen, das mir wichtig ist. Wir haben heute schon viel über Aids, Vielen Dank. Aidsprävention und unsere Aufgaben in diesem Zusam- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) menhang gehört. Wir werden auf Dauer mehr tun müs- (B) sen als bisher und wir werden auch mehr Mittel in den (D) Haushalt einstellen müssen. Darüber werden wir in den Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: kommenden Haushaltsberatungen diskutieren. Die Kol- Das Wort hat der Kollege Daniel Bahr, FDP-Fraktion. legen Barthle und Schurer haben es bereits angespro- chen. Daniel Bahr (Münster) (FDP): Aids ist nicht nur ein gesundheitliches, sondern auch Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol- ein soziales, gesellschaftspolitisches und ökonomisches legen! Sie von der schwarz-roten Koalition verhalten Problem. Die internationale Staatengemeinschaft wie sich drollig: Sie debattieren hier und wenn die Opposi- auch die Europäische Union würden sehr schlecht daran tion Kritik übt, regen Sie sich auf, frei nach dem Motto tun, dieses Thema nicht als globales Problem zu behan- „Wir wissen noch nicht, wo es hingeht, also hat auch die deln. Es geht um viel mehr als das, was unser Land be- Opposition kein Recht, das zu kritisieren“. Ein Realist, trifft. In unserem Land müssen wir in die Prävention in- der die Probleme benennt, ist aber noch lange kein Mies- vestieren, weil sie das einzige Mittel ist, mit dem Aids macher. Es ist auch nicht so, dass die Vorschläge, die in bekämpft werden kann. Wir haben aber auch die Verant- den Medien kursieren, aus dem luftleeren Raum kom- wortung, in einem geeinten Europa – dazu gehört auch men. Sie sind doch von Teilnehmern aus der Verhand- Osteuropa – dafür zu sorgen, dass Menschen Zugang zur lungsgruppe gezielt an die Medien gegeben worden. Es Behandlung erhalten. Es ist ein Skandal, wenn von welt- werden doch gezielt Papiere aus den Ministerien an weit über 40 Millionen infizierten Menschen nur gut Journalisten weitergegeben, um sie in der Öffentlichkeit 1,3 Millionen Zugang zur Behandlung haben. zu debattieren. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem Es ist insofern notwendig, dass wir hier über die an- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LIN- geblich in der Verhandlungsgruppe behandelten Vor- KEN) schläge diskutieren, die derzeit kursieren. Es ist doch das gute Recht der Opposition, sich mit Vorschlägen ausei- Das ist nicht nur ein entwicklungspolitisches Thema, nander zu setzen. sondern es geht uns alle an. (Beifall bei der FDP) Aids ist zunehmend ein Armutsproblem. Es steht in Ich finde Ihr Verhalten übrigens zutiefst beschämend einem engen Zusammenhang mit der Armutsbekämp- für den Parlamentarismus. fung, dem Zugang zur Bildung und ganz massiv mit dem Kampf um Menschenrechte und Frauenrechte. (Ute Kumpf [SPD]: Was?) 3656 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Daniel Bahr (Münster) (A) Am heutigen Abend – es ist jetzt 20.08 Uhr – soll das Nun kommen Sie auf die Idee, die Löcher kurzfristig (C) große Thema Gesundheit mit einem der größten Etats im durch mehr Steuergelder zu stopfen. Das ist laut „Zeit“ Haushalt beraten werden. Dass die Vorschläge unter dem jedenfalls der Vorschlag von Herrn Beck. Das wird Sie Deckmantel der Fußball-WM-Euphorie aber auch nicht weiterbringen. Das wird die Demo- grafieprobleme mitnichten lösen. Ähnliches haben wir (Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD) bereits bei der Rentenversicherung, der Pflegeversiche- klammheimlich noch vor dem Endspiel in die Öffent- rung, der Arbeitslosenversicherung und beim Bundeszu- lichkeit gelangen und dass diese Debatte quasi unter schuss für die Krankenversicherung erlebt. Erstens. Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet, zeigt doch nur, Steuerzuschüsse sind sehr unsicher; denn der Finanzmi- dass Sie Angst vor der Reaktion der Öffentlichkeit und nister und der Haushaltsausschuss können jedes Jahr damit der Wählerinnen und Wähler haben. Sie werden es aufs Neue darüber entscheiden, ob der Zuschuss gesenkt aber noch bereuen, wenn die Öffentlichkeit davon er- werden soll. Zweitens. Damit wird das Problem der De- fährt. mografieanfälligkeit von den Krankenkassen auf den Bundeshaushalt verlagert. Dort werden Sie die Lasten (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der den kommenden Generationen aufbürden, genauso wie CDU/CSU und der SPD) mit der Ausweitung der Umlagefinanzierung. – Dass Sie sich so aufregen, zeigt nur, dass ich einen Die nun diskutierte Erhöhung der Beitragsbemes- wunden Punkt getroffen habe. sungsgrenze ist nichts anderes als eine verkappte Bei- (Lachen bei der CDU/CSU und der SPD) tragserhöhung für eine bestimmte Einkommensgruppe. Das hat die langsame Austrocknung des Demografievor- Es war richtig, was eben gesagt wurde: Wer sich aufregt, sorge betreibenden Systems der privaten Krankenversi- schadet seiner Gesundheit. cherungen zur Folge. Ist das mehr Freiheit wagen, wenn Ich teile viele Kritikpunkte der Kollegin Bender. Man immer weniger Menschen die Wahl haben, sich privat zu darf aber nicht vergessen, dass die letzte große Gesund- versichern? Nein, das ist es nicht! heitsreform einer vermeintlich großen Koalition noch (Beifall bei der FDP) gar nicht so lange her ist. Im Sommer 2003 sollte eine Jahrhundertreform auf den Weg gebracht werden, die Wir fordern: Schaffen Sie die Versicherungspflicht- das Gesundheitswesen stabilisieren und zu sinkenden grenze ab! Geben Sie den Bürgerinnen und Bürgern Beitragssätzen führen sollte. Nach Ihren Versprechun- doch die freie Wahl, sich gesetzlich oder privat zu versi- gen, Frau Schmidt, müsste der durchschnittliche Bei- chern! Wir brauchen aufgrund der steigenden Gesund- tragssatz heute bei 13,0 Prozent liegen. Tatsächlich liegt heitskosten im Alter eher mehr Privatversicherte und (B) er bei 14,2 Prozent. nicht ein Austrocknen der privaten Krankenversiche- (D) rung. Lassen Sie die Bürgerinnen und Bürger selber ent- (Beifall bei der FDP) scheiden! Damit betreiben Sie Vorsorge! Ich vertraue Ihren Aussagen und der großen Koalition Die Streichung des Bundeszuschusses, die Senkung im Gesundheitswesen nicht mehr, genauso wenig wie der Beiträge für Arbeitslosengeld-II-Bezieher und die die Versicherten. Erhöhung der Mehrwertsteuer, die ab dem nächsten Jahr bei den Arzneimittelkosten zu einer Belastung in Höhe Nun spricht Herr Beck, der SPD-Vorsitzende, schon von 800 Millionen Euro und in der stationären Versor- nicht mehr von einer Jahrhundertreform. Vielmehr sagt gung zu einer Belastung in Höhe von 500 Millionen er, sie solle 15 Jahre halten. Damit geht er schon ein biss- Euro führen wird, all das sind hausgemachte Probleme, chen realistischer an die Sache heran. Ich sage Ihnen vo- die Sie von der schwarz-roten Koalition zuallererst sel- raus, dass Ihre geplante Reform möglicherweise noch ber zu verantworten haben. Das wird im nächsten Jahr nicht einmal die ganze Legislaturperiode halten wird. Zu zu einem enormen Beitragssatzdruck in der gesetzlichen diesem Schluss bin ich gekommen, als ich mich mit Ih- Krankenversicherung führen. ren Vorschlägen auseinander gesetzt habe. (Beifall bei der FDP) Frau Bundeskanzlerin Merkel hat gesagt: „Wir wer- den es grundlegend anders machen, damit es grundle- Zu Ihrem Gesundheitsfonds: Der Begriff hört sich gend besser wird.“ Nach dem, was ich bislang gehört prima an. Ich habe extra im Duden nachgeschlagen, was habe, muss ich feststellen, dass es teurer wird, ohne bes- ein Fonds eigentlich ist. Die erste Erklärungsvariante ser zu werden. Sie machen es grundlegend anders und es lautet: Geld- oder Vermögensreserve für bestimmte wird grundlegend teurer. Die Kanzlerin hat sicherlich Zwecke. Dem würden wir zustimmen. Aber ich kann Recht, wenn sie sagt, dass das Gesundheitssystem in den nicht erkennen, dass Ihr Gesundheitsfonds dazu dient, nächsten Jahrzehnten aufgrund der alternden Bevölke- Reserven bzw. Rücklagen für steigende Kosten zu bil- rung tendenziell teurer wird. Aber ich kann nicht erken- den. Im Gegenteil: Ihr Fonds ist nichts anderes als eine nen, dass die Fragen betreffend die Nachhaltigkeit und gigantische Geldsammelstelle, die allein – darin bin ich die Demografieanfälligkeit des Umlageverfahrens in der durch die eben gemachten Vorschläge bestätigt worden – gesetzlichen Krankenversicherung überhaupt eine Rolle der stärkeren Umverteilung und der zunehmenden staat- in Ihren Verhandlungen spielen. Zumindest ist das bis- lichen Reglementierung im Gesundheitswesen dient. lang nicht festzustellen. Die zweite Erklärungsvariante lautet: Gesamtheit der (Beifall bei der FDP) im gesellschaftlichen Interesse verwendbaren materiel- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3657

Daniel Bahr (Münster) (A) len und finanziellen Mittel eines sozialistischen Betrie- Ich bin mir sicher: Wir werden noch vor Jürgen (C) bes. In Klammern wird auf die sozialistische Planwirt- Klinsmann und seinen Jungs im Finale stehen. Herr schaft hingewiesen. Bahr, wir wollen auch nicht bis zur Reiter-WM warten. Es ist doch gut, wenn wir uns anstrengen, vor dem WM- (Heiterkeit und Beifall bei der FDP) Finale fertig zu sein. Der Gesundheitsfonds ist also nichts anderes als der Ein- stieg in die Planwirtschaft im Gesundheitswesen. Des- So wie unser Team im Fußball sind auch wir mit der wegen lehnen wir eine solche gigantische Geldsammel- Zeit zu einem konzentrierten Team, zu einer Mannschaft stelle ab. Sie wird kein einziges Struktur- und zusammengewachsen. Finanzproblem im Gesundheitswesen lösen. Sie haben (Ute Kumpf [SPD]: Wer ist unser Odonkor?) in den Verhandlungen noch Gelegenheit, sich davon zu trennen und stattdessen für mehr Wettbewerb, Transpa- Jetzt liegen noch zwei anstrengende Beratungswochen renz und Eigenverantwortung zu sorgen. Nutzen Sie die vor uns. Dann werden wir Anfang Juli Eckpunkte prä- letzten Tage, an denen Sie noch verhandeln! sentieren. Wir haben ein konstruktives Gesprächsklima. Deshalb sind wir auch zuversichtlich, die schweren Bro- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. cken, die noch vor uns liegen, insbesondere die Ausge- (Beifall bei der FDP) staltung der Finanzierungsreform, im Zeitplan abschlie- ßen zu können. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen, worauf Das Wort hat die Kollegin Annette Widmann-Mauz, es der Union bei der Neugestaltung der Einnahmeseite CDU/CSU-Fraktion. ankommt. Das dringendste Problem stellt doch nach wie vor die Situation auf dem Arbeitsmarkt dar. Um eine (Beifall bei der CDU/CSU) weitgehende Entlastung des Faktors Arbeit zu erreichen und die Wirtschaft wieder anzukurbeln, ist es notwendig, Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): auch in der Gesundheitspolitik Anreize zu setzen, die auf Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- eine weitgehende Entlastung der Arbeitskosten über alle gen! Herr Kollege Bahr, auch wenn Sie mit dem Duden Wirtschaftsbereiche hinweg zielen. Immer mehr Men- in der Hand, in dem Sie sonst, glaube ich, nicht so häufig schen beklagen, dass ihnen von ihrem Gehalt netto im- nachschlagen – er sieht noch so ungebraucht aus –, mer weniger in der Tasche bleibt. Hinter dieser Klage (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ich kann steckt der Wunsch, wieder über mehr Geld in der Lohn- Rechtschreibung!) tüte zu verfügen, aber vor allem auch der Wunsch, selbst (B) entscheiden zu können, wofür sie ihr Geld ausgeben. (D) viel kritisieren, sich viel mit Begriffen auseinander set- Das schließt den Wunsch ein, mehr Gestaltungsmöglich- zen – Sie haben sich gerade als Realist bezeichnet –, keiten, mehr Einfluss auf die Absicherung des Krank- muss ich sagen: Problemlöser waren Sie am heutigen heitsrisikos zu haben. frühen Abend wieder einmal nicht. Auch die Arbeitgeber wollen mehr Freiraum haben. (Beifall bei der CDU/CSU) Wie können wir in einer Welt, in der die Globalisierung Das trägt nicht dazu bei, dass wir über die gesetzliche das wirtschaftliche Leben bestimmt, den Betrieben, den Krankenversicherung den Menschen in unserem Land Unternehmen noch zumuten, sich in einem System mit Schutz bieten. freiem Zugang der Versicherten zu jeder Kasse mit der Hälfte des Beitrags zum Beispiel einer besonders teuren Dass Sie vor Kameras beklagen, dass wir um diese Kasse zu beteiligen, wenn der Versicherte auch die Mög- Uhrzeit debattieren, ist schön; lichkeit hätte, in eine preiswertere Kasse einzutreten? (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Die sind ja gar Deshalb müssen wir Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht an!) von den Gesundheitskosten entlasten und Voraussetzun- nur da, wo Sie es hätten tun müssen – im Ältestenrat hät- gen dafür schaffen, dass der Versicherte bei einem An- ten Sie widersprechen und fordern müssen, dass wir die- bieter seiner Wahl einen soweit als möglich auch nach ses wichtige Thema und diesen wichtigen Etat zu ande- seinen Maßstäben individualisierbaren Versicherungs- rer Zeit debattieren –, haben Sie geschwiegen. schutz erhält. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sind Sie im Mit einem freiheitlich organisierten Versicherungs- Ältestenrat, Frau Widmann-Mauz? Das ist mir schutz können wir mehr Wachstumsimpulse setzen, die neu!) dann auch Beschäftigungspotenziale im Innovations- und Dienstleistungssektor Gesundheit erschließen. Das So kann man Politik nicht betreiben. haben Sie auf dieser Seite des Hauses mittlerweile er- Das Fußballfieber in unserem Land steigt von Spiel kannt. zu Spiel. Wie unsere Mannschaft so kommen auch wir Angesichts der Dynamik des medizinischen Fort- bei den Gesundheitsreformgesprächen von Runde zu schritts und des demografischen Wandels muss mit der Runde dem Finale näher. Finanzierungsreform auch ein Beitrag zur Nachhaltig- (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: keit und damit zur Demografieresistenz in der gesetzli- Aber Weltmeister werdet ihr nicht!) chen Krankenversicherung geleistet werden. 3658 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Annette Widmann-Mauz (A) (Beifall bei der CDU/CSU – Daniel Bahr [Müns- heitswesens die notwendigen Investitionen in zukunfts- (C) ter] [FDP]: Aha! Wie soll das gehen?) fähige Strukturen tätigen zu können. Der Wandel der Erwerbsbiografien – ich denke nur an Eine Steuerfinanzierung der Sozialkosten würde die die Erwerbstätigkeit der Frauen, Beschäftigungsunter- Kosten für die Gesundheit deutlicher machen und den brechungen durch Schwangerschaft, Arbeitslosigkeit, Wettbewerb zwischen der gesetzlichen Krankenversi- geringfügige Beschäftigungsverhältnisse oder Selbst- cherung und der privaten Krankenversicherung, aber ständigkeit – und die abnehmende Bedeutung von Er- auch innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung werbseinkommen als Ausdruck der wirtschaftlichen intensivieren. Deshalb sind einzelne Aussagen in den Leistungsfähigkeit führen zu Veränderungen in der Medien über eine angebliche Zurückhaltung der Koali- Struktur der Einkommen und damit eben der Einnahme- tion in Sachen Wettbewerb absoluter Blödsinn. Schon basis der gesetzlichen Krankenversicherung. ein Prämienmodell, wie es die Union vorgeschlagen hat, setzt den Wettbewerb geradezu voraus, und zwar sowohl (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der aufseiten der Kassen als auch aufseiten der Leistungser- LINKEN: Sie tragen durch Absenkung der bringer. Beiträge dazu bei!) Damit Wettbewerb nämlich überhaupt stattfinden Wir beobachten seit Jahren, dass die Schere zwischen kann, müssen die Versicherten doch einen Anreiz haben, den Einnahmen und den Ausgaben immer weiter ausein- zwischen den verschiedenen Kassen zu wählen. Diesen ander klafft. Die Lösung dieser Problematik erfordert Anreiz haben sie in der Krankenversicherung wie auch eine stärkere Berücksichtigung der wirtschaftlichen sonst im täglichen Leben über den Preis der Leistung. Leistungsfähigkeit. Dies ist im Hinblick auf zukünftige Ein Fonds – oder ein Pool, wenn Sie sich darunter mehr Generationen per se schon ein wichtiger Beitrag zur vorstellen können; Sie können ja auch nachschlagen – Nachhaltigkeit. könnte die Wechselbereitschaft erhöhen und damit zur (Beifall bei der CDU/CSU) Belebung des Wettbewerbs beitragen. Starke Schultern müssen sich stärker an der Finanzie- (Beifall bei der CDU/CSU) rung der Solidarlast beteiligen als schwache. Eine bes- Mit einem solidarischen Beitragsguthaben würde der sere Abbildung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Versicherte selbst entscheiden, zu welchen Konditionen lässt sich am einfachsten und ohne größeren bürokrati- er seinen garantierten Leistungsumfang absichern will schen Aufwand über das Steuersystem organisieren. und ob und inwieweit er zusätzliche Leistungen erhalten Deshalb begrüße ich, dass in der Führung der SPD, wenn will. Zwar garantieren freier Zugang zu jeder Kasse und man einem Bericht der „Zeit“ Glauben schenken darf, der Kontrahierungszwang schon heute ein hohes Wech- (B) (D) die Einsicht gewachsen ist, dass die Solidarlasten aus sel- und Wettbewerbspotenzial. Dieses kann aber mit ei- dem Steuersystem zu finanzieren sind. nem Pauschalbeitrag, der einen Preisvergleich wirklich (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- erlaubt, viel besser erreicht werden, als das mit prozentua- NEN) len Beiträgen, wie Frau Nahles sie heute wieder gefor- dert hat, geschehen kann. Denn nur so haben am Ende Denn die größte Solidargemeinschaft ist die Gemein- die Kassen einen wirklichen Anreiz, ihren Versicherten schaft der Steuerzahler. Dabei können auch privat Versi- differenzierte Tarife und Leistungsangebote anzubieten. cherte durchaus mit einbezogen werden, ohne dass das Das ist der grundlegende Unterschied zu der derzeitigen auf verfassungsrechtliche Hindernisse stößt. Finanzierungs- und Angebotsform in der gesetzlichen Wenn es der SPD-Vorsitzende mit der Finanzierung Krankenversicherung. über das Steuersystem ernst meint, dann müsste er In einem wettbewerblichen System müssen die Gestal- auch einen zweiten Schritt machen und die Gesundheits- tungsmöglichkeiten für die einzelnen Kassen erweitert kosten von den Sozialkosten trennen. Das tut die SPD werden. Die Kassen müssen die Möglichkeit erhalten, aber nicht. Wenn sie es nicht tut, dann droht die Steuerfi- Verträge zu besseren Konditionen als ihre Konkurrenten nanzierung wie bei der Rente zu einer ausschließlichen abschließen zu können. Preisverhandlungen müssen da- Subventionsspritze zu werden. Hier haben wir Vorbe- bei auch mit der Perspektive geführt werden, mit Leis- halte. tungserbringern, die zum Beispiel den hohen Qualitäts- standards nicht genügen, keine Verträge abzuschließen. Wir wissen nun, dass eine Steuerfinanzierung der ge- Nur dann kann die Nachfrage in einen Preisdruck umge- setzlichen Krankenversicherung in dem Haushalt, den münzt werden. Diesen brauchen wir; denn nur so ist Wett- wir heute beraten, nicht zu realisieren ist. Vielmehr wird bewerb um Qualität und Leistung zu realisieren. im Haushalt 2007 der Zufluss aus der Tabaksteuer auf 1,5 Milliarden Euro gekürzt und im Jahre 2008 wohl (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. gänzlich gestrichen werden. Ewald Schurer [SPD]) Wir, die Gesundheitspolitiker der Unionsfraktion, So wie der Wettbewerb bei den Beiträgen schon heute sind über diese Entwicklung alles andere als erfreut. Das nach bestimmten Regeln abläuft, muss dies in Zukunft gehört zur Ehrlichkeit dazu. Ebenso gehört zur Wahrheit, auch beim Wettbewerb um Qualität und Leistung ge- dass wir den Bundeshaushalt erst konsolidieren müssen, schehen. Auch dieser muss nach bestimmten Regeln er- um wieder Handlungsfähigkeit und Gestaltungsfähigkeit folgen. Dabei dürfen zum Beispiel Art und Umfang des zu erlangen und damit auch auf dem Feld des Gesund- Wettbewerbs nicht zur Entsolidarisierung oder gar zur Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3659

Annette Widmann-Mauz (A) Risikoselektion führen. Das heißt, insbesondere der Zu- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Das sollte man (C) gang zu medizinischer Versorgung und Mindeststan- jetzt gemeinsam machen! Das wäre eine tolle dards müssen gewährleistet bleiben. Daneben findet der Sache!) Wettbewerb seine Grenzen im Wettbewerbs- und Kar- Für Schnellschüsse ist die Reform nicht geeignet. tellrecht. Das heißt, es darf weder ein Nachfragemono- pol zum Beispiel einer in einer Region dominierenden Kasse noch ein Monopol eines großen Anbieters, zum Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Beispiel eines Krankenhausriesens, geben. Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen; an- sonsten geht das noch mehr auf Kosten Ihrer nachfolgen- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Wollt ihr nun die den Redner. Kostenpauschale oder nicht?) Die Mitglieder der Unionsfraktion und auch die Mit- Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): glieder unserer Verhandlungsdelegation sind der Auffas- Wir werden über die Sommerpause die notwendigen sung, dass wir mehr Freiheit im System der gesetzli- Maßnahmen beraten und vorbereiten. chen Krankenversicherung brauchen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Nur Mut, Frau Widmann-Mauz!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das dauert aber Aus Sicht der Versicherten bedeutet dies klar mehr lange, bis da ein Kompromiss gefunden ist!) Wahlmöglichkeiten hinsichtlich des Leistungsumfangs. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sehr gut!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir brauchen nämlich keine paternalistische Zwangsbe- Das Wort hat der Kollege Max Straubinger, CDU/ glückung, CSU-Fraktion. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Gut!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Jetzt kommt die CSU-Meinung!) sondern attraktive Angebote für mündige Versicherte. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Max Straubinger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Aus Sicht der Leistungsanbieter und der Kostenträger Für alle Schlechtredner in diesem Land und vielen Un- bedeutet dies, mehr Vertragsfreiheit zu haben und damit kenrufen zum Trotz möchte ich vorausschicken: Unser mehr Verantwortung zu übernehmen. In den Verhand- (B) Land verfügt über ein großartiges und modernes Ge- (D) lungen drängen wir auf die Durchsetzung gerade dieser sundheitssystem. Punkte. Intransparente Strukturen werten Leistungsan- strengungen ab und befördern damit mangelndes Kos- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tenbewusstsein. Sie schwächen geradezu die Wahrneh- neten der SPD) mung der jeweiligen Verantwortung. Dies darf nicht Dies sollte wieder einmal in Erinnerung gerufen werden. sein. Ich glaube, das gerät ob der Diskussionen, die darüber Ich erwähne diese Punkte, um deutlich zu machen, geführt werden, vielfältigst aus dem Blickwinkel. worauf es bei der anstehenden Gesundheitsreform an- In punkto Versorgungsqualität und -intensität ist kommt. Wir wollen nicht nur eine weitere Kostendämp- Deutschland absolute Weltspitze. Viele Menschen im fungsmaßnahme betreiben, das heißt, nicht lediglich not- Ausland würden es sich wünschen, dieses System in An- wendige Verbesserungen auf der Ausgabenseite erzielen, spruch nehmen zu können, ein System, in dem unabhän- um uns dann mit dem Stopfen der Löcher zu beschäfti- gig von Alter, Geschlecht, sozialer Herkunft und Ein- gen, die wir selbst hineingerissen haben. Dies ist keine kunftslage alle Bürgerinnen und Bürger behandelt nachhaltige und zielgerichtete Politik. werden. Darauf können wir alle stolz sein. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Weil wir nicht nur in Zeiten der WM, sondern auch Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. kurz vor der Urlaubssaison sind: Ich weiß, dass viele Menschen in Deutschland, wenn sie in ferne Länder rei- sen und dort krank werden oder einem Unglück anheim Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): fallen, so schnell wie möglich wieder zu Hause sein wol- Ich komme dann auch zum Schluss. len, weil sie im deutschen Gesundheitssystem versorgt werden wollen. Auch dies ist ein wichtiger Punkt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte gleich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Dieses qualitativ hochwertige Gesundheitswesen hat Wir dürfen nicht ständig Ausgaben bejammern, wenn seinen Preis. Wir alle profitieren von moderner Diagnos- wir nicht bereit sind, Kosten, die auf uns zukommen, zu tik, modernen Therapien, pharmazeutischer Forschung vermeiden. Ich nenne nur das Stichwort „Nichtraucher- und modernster Medizintechnik. Unsere steigende Le- schutz“. Auch diesen nehmen wir sehr ernst. benserwartung wäre ohne diese Fortschritte – sie ist ein 3660 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Max Straubinger (A) sichtbares Zeichen dafür – nicht denkbar. Wer meint, Für uns, die große Koalition, ist entscheidend: Wir (C) dass diese Errungenschaften und Herausforderungen zu- wollen weiterhin am Ziel festhalten, dass alle Menschen künftig ohne Steigerungen der Kosten für die Bürgerin- auch zukünftig unabhängig von Alter, Krankheit, Ein- nen und Bürger zu bewältigen sind, streut den Bürgern kommensverhältnissen und sozialer Herkunft an der Sand in die Augen. Hochleistungsmedizin, am medizinischen Fortschritt teilhaben können. Ich versuche, die Worte des Kollegen Bahr und die Debatte des Tages insgesamt zu verinnerlichen. Die FDP (Beifall bei der CDU/CSU) fordert auf der einen Seite steuerliche Erleichterungen, Weil ich aus einem ländlichen Bereich komme, weise was natürlich zu Einnahmeverlusten führen würde. Auf ich auch auf eines hin: Wir wollen auch, dass es eine flä- der anderen Seite beklagt die FDP, dass der Zuschuss aus chendeckende Versorgung gibt. Es ist entscheidend, dem Bundeshaushalt, der an die gesetzlichen Kranken- dass es in erreichbarer Entfernung ein Krankenhaus der versicherungen gezahlt wird, abgesenkt und langfristig Grundversorgungsstufe gibt. Was nützt mir der beste gestrichen werden soll. Facharzt, wenn ich beispielsweise 150 Kilometer anrei- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das stimmt sen muss? Wir stehen zur Notwendigkeit einer flächen- doch nicht!) deckenden Versorgung. Man kann nicht alles haben: einerseits den Zuschuss, an- Deshalb müssen wir – die Kollegin Widmann-Mauz dererseits den Abbau von Steuern, der zu niedrigeren und die Frau Gesundheitsministerin haben darauf hinge- Einnahmen im Bundeshaushalt führt. Es ist meines Er- wiesen – mit der Gesundheitsreform neue Wege be- achtens wichtig, darauf hinzuweisen. schreiten. Bei der Diskussion müssen wir uns manchen Fragen zuwenden, insbesondere im Hinblick auf die Sieht man von der Bürgerversicherung ab, wurden Leistungen: Gehören Surf- oder Kletterunfälle zu den heute kaum Vorschläge gemacht. Es wurde weder von Problembereichen? Kann man die damit verbundenen den Kolleginnen und Kollegen von den Grünen noch Gefahren im Finanzierungssystem anders absichern? vom Kollegen Spieth von der PDS, von der Linken oder wie Sie sich gerade nennen, verdeutlicht, wie eine Bür- Wir müssen uns auch mit den Fragen der Generatio- gerversicherung aussehen soll. nengerechtigkeit befassen, die uns gerade junge Bei- tragszahler stellen: Ist es auf Dauer angemessen, dass die (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Frank Spieth Rentner, wie es heute der Fall ist, durch ihre Beiträge nur [DIE LINKE]: Das kann ich Ihnen gerne noch 40 Prozent der durch den eigenen Leistungsbezug verur- schriftlich zukommen lassen!) sachten Kosten tragen? (B) Diese Partei steht in der Tradition eines staatlichen Ge- (Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Wie soll es denn (D) sundheitssystems, sonst gehen? – Ute Kumpf [SPD]: Die haben doch in ihrer aktiven Zeit die anderen finan- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Wir diskutieren ziert! – Frank Spieth [DIE LINKE]: Sollen die heute doch auch nicht mehr über die Harzbur- noch mehr zahlen? Jetzt sind Sie aber auf dün- ger Front!) nes Eis gegangen!) das bis zum Gehtnichtmehr marode war. Dieses sozialis- Vor 20 Jahren waren es noch 70 Prozent. Diese Fragen tische Gesundheitssystem war Ausdruck einer Zweiklas- werden natürlich von der jungen Generation an uns he- senmedizin: Die Funktionäre hatten Medikamente aus rangetragen. dem Westen zur Verfügung; die anderen Bürgerinnen und Bürger darbten in dieser Hinsicht. Es ist entschei- Ich möchte betonen: Die ältere Generation hat trotz dend, dass die große Koalition es schafft, ein modernes, der steigenden Lebenserwartung die größten Vorteile hochwertiges Gesundheitssystem, das auch die Bürge- aufgrund des medizinischen Fortschritts. Ich weiß das rinnen und Bürger im Osten kennen und schätzen gelernt aus eigener Erfahrung; denn es trifft auf meine Mutter haben, weiterzuentwickeln und zukunftsfest zu gestal- zu. Wenn sie ihre Krankheit vor 20 Jahren bekommen ten. hätte, dann würde sie heute möglicherweise nicht mehr leben. Durch modernste Medizintechnik ist es möglich, (Beifall bei der CDU/CSU – Frank Spieth den Patienten die bestmögliche Versorgung zu geben. Es [DIE LINKE]: Mit solchen Argumenten schaf- ist wichtig, dies den Bürgerinnen und Bürgern darzule- fen Sie die Weltmeisterschaft nicht!) gen und darüber mit ihnen zu diskutieren. Die solidarische Finanzierung der gesetzlichen Es stellt sich auch die Frage, was insgesamt gesehen Krankenversicherung ist für uns eine weitere Heraus- sozial ist. Wir erheben den Anspruch, dass alle Men- forderung. Trotz aller Kostendämpfungsmaßnahmen in schen an unserem Gesundheitssystem teilhaben können, der jüngeren Vergangenheit sieht sich die GKV der Ent- unabhängig von ihrer Herkunft, von ihrem Einkommen wicklung eines ansteigenden Defizits gegenüber. Selbst und von ihrem Gesundheitszustand. In Zuge der vergan- unter Ausnutzung der vielen Wirtschaftlichkeits- und Ef- genen Gesundheitsreform haben wir Instrumente mit fizienzreserven ist derzeit wahrscheinlich nicht glaub- Lenkungswirkung wie die Praxisgebühr und wie Ei- haft darzulegen, dass mit der jetzigen Form die Finanzie- genbeteiligung in einzelnen Bereichen eingeführt. Mit rungsbasis dauerhaft gesichert ist. Wir haben das auch der Einführung einer Überforderungsklausel haben wir im Koalitionsvertrag dargelegt. für eine sozial ausgewogene Ausgestaltung gesorgt: Es Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3661

Max Straubinger (A) gibt die 2-Prozent-Regelung für die chronisch Kranken Norbert Barthle (C) und die 1-Prozent-Regelung für anderweitig Kranke. Jürgen Koppelin Roland Claus (Frank Spieth [DIE LINKE]: Da war Blüm Alexander Bonde aber schon weiter!) Zum Einzelplan 06 liegen zwei Änderungsanträge der Es ist sozial verantwortbar, unter Umständen eine Fraktion Die Linke und ein Änderungsantrag der Frak- stärkere Eigenbeteiligung einzufordern; denn damit tion des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Über den zuletzt können wir den Menschen gewährleisten, auch zukünf- genannten Änderungsantrag soll namentlich abgestimmt tig von der Spitzenmedizin zu profitieren. Alles andere werden. würde zu einer Rationierung führen, was wir letztendlich nicht wollen. Ich rufe außerdem den Zusatzpunkt 3 auf: Ich möchte nur noch folgenden Punkt ganz kurz an- Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst sprechen. Wir legen Wert darauf, dass die private Kran- Burgbacher, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, kenversicherung auch weiterhin im Wettbewerb beste- Gisela Piltz, weiterer Abgeordneter und der Frak- hen kann. In vielen Diskussionen wird die private tion der FDP Krankenversicherung als die Versicherung der Reichen abgetan. Das ist aber beileibe nicht so. Nur 20 Prozent Konsequenzen ziehen aus dem Urteil des Eu- der privat Krankenversicherten verdienen über der Bei- ropäischen Gerichtshofs vom 30. Mai 2006 zur tragsbemessungsgrenze. 80 Prozent liegen mit ihrem Weitergabe europäischer Fluggastdaten an die Verdienst darunter. Sehr viele, die eine Ich-AG gegrün- Vereinigten Staaten von Amerika det haben und sich privat krankenversichert haben, ver- – Drucksache 16/1876 – fügen über kein hohes Einkommen. Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Max Straubinger (CDU/CSU): Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wir müssen auch Solidarität mit Beitragszahlern üben, die nur über ein geringes Einkommen verfügen. Zwischen den Fraktionen ist verabredet, eine Stunde zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Unter diesem Gesichtspunkt wird die große Koalition Dann ist so beschlossen. (B) – davon bin ich überzeugt – die kommenden Aufgaben (D) sehr zielorientiert angehen. Es ist wie immer vor Weih- Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der nachten: Viele können es nicht erwarten. Aber Sie kön- Kollegin Gisela Piltz, FDP-Fraktion. nen sicher sein: Bis zur Sommerpause werden die Eck- punkte stehen. Sie müssen nur noch ein wenig darauf Gisela Piltz (FDP): warten. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Besten Dank. Ich glaube, die Stimmung im Lande kann man am besten mit der Abwandlung einer früheren Überschrift einer (Beifall bei der CDU/CSU – Daniel Bahr großen Boulevardzeitung zusammenfassen: „Wir sind [Münster] [FDP]: Ich fürchte nur, das wird die WM!“. Das ist es, was nach unserer Ansicht Millio- keine schöne Bescherung!) nen im Moment dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie Fähnchen schwenken, entsprechende Hüte aufsetzen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: oder schwarz-rot-goldene Girlanden um den Hals tragen. Ich schließe die Aussprache. Das hat nichts mit übersteigertem Nationalismus zu tun, sondern das ist einfach Ausdruck der Freude darüber, Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 15, dass ein solches Ereignis hier in Deutschland stattfindet. Bundesministerium für Gesundheit, in der Ausschuss- fassung. Wer möchte diesem Einzelplan zustimmen? – (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Einzel- DIE GRÜNEN) plan mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen. Wenn das infrage gestellt oder wie von der GEW zum Anlass genommen wird, über die Nationalhymne zu de- Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.11 auf: battieren Einzelplan 06 (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Haben die doch schon zurückgenom- Bundesministerium des Innern men!) – Drucksachen 16/1306, 16/1324 – – ich weiß, dass sie es schon zurückgenommen hat –, Berichterstattung: sehe ich mich schon veranlasst, zu fragen, wer alles in Abgeordnete Bettina Hagedorn diesem Lande etwas sagen darf und wie lange manche Dr. Michael Luther brauchen, etwas Unpassendes zurückzunehmen. 3662 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Gisela Piltz (A) (Bettina Hagedorn [SPD]: Und das von der – Man kann das ja auch als Ansporn nehmen, dass diese (C) FDP! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/ in 30 Jahren wieder hier bei uns stattfindet. Aber so DIE GRÜNEN]: Wir hören Ihnen doch auch lange wollen wir nicht warten. zu! Sie als Liberale sind doch wohl für Mei- nungsfreiheit! – Weitere Zurufe von der SPD) Zum THW lässt sich nur sagen, dass wir froh sind, dass es gelungen ist, den entsprechenden Etat um – Entschuldigung, wir debattieren hier nicht über Bil- 20 Prozent zu steigern. Wir bedauern aber die Kürzung dung; aber wenn sich die Lehrergewerkschaft in einer der für die Feuerwehren relevanten Mittel, die unverän- solchen Art und Weise äußert, dann darf man auch ein- dert vorgesehen ist. Wir glauben, dass sozusagen nicht mal sagen, dass man das nicht für akzeptabel hält, wenn nur die „Blauen“, sondern auch die „Roten“ mehr Mittel die Lehrer unsere Kinder in einem solchen Geist erzie- brauchen. Deren Arbeit geschieht vornehmlich ehren- hen. Darüber brauchen Sie sich gar nicht aufzuregen. amtlich. Wir hoffen, dass dies auch in Zukunft berück- sichtigt wird. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- rufe von der SPD) (Beifall bei der FDP – Gerold Reichenbach [SPD]: Es sind Ihre Landesinnenminister, die Mehr als die Hälfte der Spiele haben wir jetzt vor dem dafür zuständig sind!) Fernseher oder im Stadion gesehen. Mein besonderer Dank gilt heute insbesondere denen, die dazu beitragen, Weiterhin bedauern wir, dass wir uns beim Punkt dass diese Spiele so friedlich und erfolgreich verlaufen. Integrationskurse nicht durchsetzen konnten. Hier war Ich danke nicht nur der Elf von Jürgen Klinsmann, son- die Bundesregierung nämlich nicht bereit, sich zu bewe- dern vor allen Dingen den Polizistinnen und Polizisten, gen. Die vorgesehenen Kürzungen in diesem Bereich dem THW, dem Roten Kreuz und vielen anderen ehren- sind nicht nachvollziehbar. amtlichen Helfern, (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Unglaublich!) (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Bundes- wehr auch!) – Herr Wiefelspütz, wenn Sie das für so unglaublich hal- ten, hätten Sie sich einmal durchsetzen sollen, statt aus ohne die das überhaupt nicht möglich wäre. der zweiten Reihe Zurufe zu machen. – Das durch diese Entscheidung gegebene Signal ist aus unserer Sicht völ- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der lig falsch. Meine Damen und Herren aus den Koalitions- SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- fraktionen, Ihre eigene Integrationsbeauftragte, Frau SES 90/DIE GRÜNEN) Professor Böhmer, die ja hier auch anwesend ist, hat mit Es zeigt sich aber auch, dass der Einsatz der Bundes- Datum vom 3. Mai 2006 ausführlich ihre Eckpunkte zur (B) wehr im Innern nicht nötig gewesen wäre und die ganze qualitativen Verbesserung der Integrationskurse vorge- (D) Debatte nur eine Scheindebatte darstellte. Die FDP kann stellt: mehr Stunden, bessere Finanzausstattung und zum hier und heute nur nochmals bekräftigen: Wir haben den Beispiel auch kostenlose Teilnahme von Bedürftigen. Einsatz der Bundeswehr im Innern immer abgelehnt, wir (Dr. Max Stadler [FDP]: Sehr gut so!) lehnen ihn auch heute ab und werden das auch in Zu- kunft tun. Warum tun Sie da nichts, nachdem Ihre Integrationsbe- auftragte das schon eindeutig festgestellt hat? Warum (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten warten Sie bis zum nächsten Haushalt? des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Weil das Geld Wir sind froh, dass die beiden Panzer am Sowjetischen in diesem Jahr ausreicht, Frau Kollegin, wie Ehrenmal an der Fanmeile hier in Berlin die einzigen Sie ganz genau wissen!) Panzer sind, die in der Nähe von Orten stehen, an denen man sich in Deutschland die Fußball-WM anschaut. Machen Sie es jetzt. Das wäre überhaupt kein Problem. (Ute Kumpf [SPD]: Haben Sie etwas anderes Migration und Integration sind wichtige Themen. gedacht?) Deshalb erneuern wir noch einmal unsere Forderung, in dieser Legislaturperiode dazu eine Enquete-Kommission Bei der Fußball-WM fällt einem noch ein anderes einzusetzen. Wir hoffen, dass Sie dabei alle an unserer Stichwort ein, nämlich BOS-Digitalfunk. Herr Minister, Seite sind; ich denke, das dürfte die Zustimmung des Sie können nichts dafür, dass Ihr Vorgänger, der andere ganzen Hauses finden. Schily – Kollege Schily, verzeihen Sie mir das –, uns im- mer wieder versprochen hat, dass bis zur Fußball-WM (Beifall bei der FDP) der BOS-Digitalfunk eingeführt sein wird. Sie werden uns fragen, woher denn das Geld dafür kom- (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Es geht auch men soll. Das ist aus unserer Sicht wie immer auch eine ohne!) Frage der richtigen Verteilung. Nach dem 11. September Wir hoffen, dass er jetzt zügig eingeführt wird und wir wurden zum Beispiel die Tabak- und die Versicherung- nicht bis zur nächsten Fußball-WM warten müssen, son- steuer erhöht, um mehr Mittel zur Bekämpfung des Ter- dern dass dieses Vorhaben jetzt zeitnah umgesetzt wird. rorismus ausgeben zu können. Der Bürger glaubt, er sei jetzt geschützt. Im ersten Jahr haben Sie auch einen Be- (Beifall bei der FDP – Max Straubinger [CDU/CSU]: richt über die Mittelverwendung vorlegen können. Aber Bis zur nächsten WM in Deutschland!) auf unsere Kleine Anfrage haben Sie dann geantwortet Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3663

Gisela Piltz (A) – ich darf zitieren –: Die finanziellen Auswirkungen des Zum Abschluss: Die Vorgänge zum BND werden im (C) Gesetzes zur Finanzierung der Terrorbekämpfung kön- Untersuchungsausschuss ausführlich behandelt werden. nen ex post nicht aus dem Kassenaufkommen hergeleitet Die Diskussionen haben aber doch ergeben, dass das werden. Die Vielzahl an Einflussfaktoren, die auf das Verfahren des PKGr überarbeitungswürdig ist. Von da- kassenmäßige Steueraufkommen wirken, wie zum Bei- her bitten wir auch um Ihre Unterstützung für eine Re- spiel die dreistufige Tabaksteuererhöhung ab dem form des PKGr; denn ich glaube, was jetzt passiert, hat Jahr 2004, macht es uns unmöglich, die Effekte der ein- gezeigt, dass das dringend notwendig ist. zelnen gesetzlichen Maßnahmen zu separieren. Zum Abschluss mein Dank – – Wenn das Ihre Antwort auf eine Steuererhöhung ist – nach vier Jahren wissen Sie nicht, wo das Geld her- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: kommt und wo es hingeht –, dann habe ich ganz Zum Abschluss müssen Sie jetzt bitte kommen. schlimme Ahnungen, was mit den 3 Prozent Mehrwert- steuererhöhung passiert, die Sie uns allen als Bürger Gisela Piltz (FDP): jetzt aufbrummen. Das ist keine solide Kassenführung. Ja. – Zum Abschluss mein Dank an die Haushaltsab- Das ist, finde ich, eine Unverschämtheit. teilung des Ministeriums, die immer guten Willens war. Sie hat zwar nicht alle meine Fragen beantwortet, aber (Beifall bei der FDP) wenn es nicht ging, hat sie wenigstens nett gesagt: Es Sie könnten aus meiner Sicht auch beim Innenminis- geht nicht. Zum Abschluss auch mein Dank an alle Be- terium einsparen, nämlich beim Neubau. Es wird ge- richterstatter. Das war immer eine freundliche Zusam- plant und geplant – dafür wird bereits Geld ausgegeben. menarbeit, auch in Zeiten der großen Koalition. Sie haben einen teuren Mietvertrag und Sie planen einen Meine Damen und Herren, das, was Sie hier zeigen, teuren Neubau. Im Innenausschuss ist gesagt worden, ist mehr Bürokratie, ist mehr Staat und sind mehr Schul- das sei zusammen wirtschaftlich. Wenn Sie das hinbe- den. Deshalb werden wir diesen Haushalt ablehnen. kommen, also wenn es wirklich so wäre, dass ein Neu- bau und der bestehende Vertrag wirtschaftlich vertretbar Vielen Dank. wären, müssten wir uns um den Haushalt keine Sorgen (Beifall bei der FDP) machen. Ich kann das nicht erkennen. Von daher hoffe ich, dass Sie da etwas ändern. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Aber es gibt natürlich auch Sachen, die Sie nichts Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Luther, CDU/ kosten würden und die Sie locker tun könnten. Das be- CSU-Fraktion. (B) (D) trifft zum einen die Frage, wie wir mit dem Datenschutz (Beifall bei der CDU/CSU) umgehen. Wir haben hier heute einen Antrag betreffend die Weitergabe der Passagierdaten an die USA einge- Dr. Michael Luther (CDU/CSU): reicht. Wir erwarten, dass Sie die Kommission daran hindern, diese Daten weiterhin unmittelbar zu übertra- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und gen. Wir brauchen eine Diskussion in den Landesparla- Kollegen! Hinter uns liegen arbeitsreiche Wochen der menten zu diesem Thema. Wir sind im Übrigen auch der Haushaltsberatungen. Gleich am Anfang möchte ich mich bei Minister Schäuble und seinem gesamten Haus Ansicht, dass seit 2003 genügend Zeit verstrichen ist, um sowie insbesondere natürlich beim Haushaltsreferat für das Ganze jetzt zu evaluieren. So etwas darf man nicht die gute Zusammenarbeit bedanken. durchpeitschen, so etwas muss man diskutieren. Ge- nauso müssen wir aus unserer Sicht das Bundesdaten- Unser Bundestagspräsident Norbert Lammert sprach schutzgesetz dringend überarbeiten. Es ist weder in der in seiner Antrittsrede im vergangenen Oktober davon, Praxis für den Verbraucher noch was neue Technologien dass das Parlament nicht Vollzugsorgan, sondern Auf- angeht einigermaßen nachvollziehbar. Deshalb setzen traggeber der Regierung sei. Insbesondere in Zeiten ei- wir uns für eine Überarbeitung ein. ner großen Koalition bedürfe es daher eines selbstbe- wussten Parlaments. Wir sind ein selbstbewusstes (Beifall bei der FDP) Parlament. Das hat gerade das Innenministerium wäh- rend der Haushaltsberatungen gespürt. Ich danke daher Zur Pressefreiheit. Dabei geht es nicht nur um die recht herzlich für die Geduld, die man mit uns hatte. Durchsuchung von Büros von Journalisten. Dabei geht es auch darum, was wir uns bei der Pressefreiheit eigent- (Beifall der Abg. Bettina Hagedorn [SPD]) lich leisten und wie wir dieses Thema behandeln. Wenn – Gut. Die Insider wissen Bescheid. ein Beamter eine Information weitergibt und dafür be- straft wird, dann ist das eine Sache. Die andere aber ist: Ein wichtiges Ziel der Haushaltsberatung war näm- Wie gehen wir mit dem Journalisten um, der diese Daten lich, einen Teil der globalen Minderausgabe aufzulö- verwertet? Herr Minister, Sie haben in einem „Spiegel“- sen, die im Einzelplan 06 immerhin 132 Millionen Euro Interview vor einigen Wochen dazu Stellung genommen. ausmachte. Was ist ein Haushalt mit einer solch hohen Die FDP hat dazu einen Gesetzentwurf eingebracht. Sie globalen Minderausgabe wert? Die einzelnen Haushalts- haben das zumindest inhaltlich positiv begleitet. Wir titel versprechen Geld und im Haushaltsvollzug führt würden uns freuen, wenn Sie uns auch bei diesem Ge- dann die Auflösung der globalen Minderausgabe dazu, setzentwurf weiterhin positiv begleiten könnten. dass das versprochene Geld im Endeffekt nicht fließt. 3664 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Dr. Michael Luther (A) Letztendlich handelt es sich also nur um eine Ankündi- senden von Polizeibeamten und – aus unserer Sicht – (C) gungspolitik. Wir wollen damit Schluss machen. Ich ganz besonders der Bundespolizei und dem Bundeskri- glaube, dass diese GMA das Budgetrecht des Parlamen- minalamt gilt unser Dank für die hohe Einsatzbereit- tes aushebelt. Deshalb haben wir die GMA um schaft, die sie in diesen Tagen zeigen. 50 Prozent reduziert. Das ist im Etat des Innenministe- riums nicht ganz so einfach. Man kann das nicht einfach (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) auf zwei oder drei Haushaltstitel umlegen. Es hat sich Sicherheit ist nicht selbstverständlich. Die Bundespo- vielmehr gezeigt, dass es einer generellen Überarbeitung lizei und das BKA sind nicht nur im Rahmen der Fuß- des Haushaltes bedurfte. Der Beleg dafür sind die ball-WM unabdingbar. Sie sind wichtig im Kampf gegen 160 Änderungsanträge, die wir als Koalition in den Kriminalität, bei der Terrorismusabwehr oder bei der Si- Haushaltsberatungen erarbeitet und letztendlich be- cherung der EU-Außengrenzen. Wir als Parlament unter- schlossen haben. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, bis stützen die Bundespolizei, damit sie auch in Zukunft 2008 die GMA ganz zurückzuführen. Das wird schwie- dieser Aufgabe gerecht werden kann. Meines Erachtens rig werden, weil es dazu struktureller Veränderungen im ist es sehr wichtig, dass der Dienst in der Bundespolizei Haushalt und geänderter Schwerpunktsetzungen bedarf. attraktiver wird. Deshalb beinhaltet auch der Bundes- Herr Minister, ich als Haushälter gebe Ihnen an dieser haushalt 2006 Mittel für die Fortsetzung des Attraktivi- Stelle die Zusage, dass wir Sie bei dieser schwierigen tätsprogramms der Bundespolizei. Arbeit unterstützen werden. Das Bundesministerium des Innern ist auch das Ich will noch eine Bemerkung zu den Einsparvor- Sportministerium des Bundes. An dieser Stelle will ich schlägen machen, die die FDP in Form einer dicken Bi- einen persönlichen Dank formulieren. Das Bundesminis- bel vorgelegt hat. Ich habe die Zahlen nachgerechnet. Die terium des Innern kümmert sich seit 1990 auch um den FDP hat für das Innenressort Kürzungen in Höhe von Ausbau der Sportinfrastruktur in den neuen Bundes- rund 90 Millionen Euro vorgeschlagen. Diese 90 Mil- ländern. Hierbei gab es, beginnend mit der Regierung lionen Euro reichen nicht aus, um die globale Minderaus- Helmut Kohl bis heute, eine große Kontinuität. Deshalb gabe von 132 Millionen Euro aufzuheben. Allerdings ha- können wir heute auf sanierte Stadien in Berlin und ben Sie sie in Ihrer Sparbibel aufgelistet. Es wäre seriös, Leipzig zurückgreifen. Eine Fußballweltmeisterschaft in wenn Sie in diesem Buch, das Sie verfasst haben, we- Deutschland könnte nicht in ganz Deutschland stattfin- nigstens diese Sparvorschläge von 90 Millionen Euro den, wenn dies nicht gemacht worden wäre. Sie findet streichen würden. halt nicht nur bei den großen Vereinen in den alten Bun- desländern, zum Beispiel in Hamburg oder München (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) statt, sondern eben auch in Berlin und Leipzig. Das finde (B) Wir haben in den Haushaltsberatungen strukturelle ich sehr gut. Dafür meinen recht herzlichen Dank! (D) Schwerpunkte gesetzt. Dazu will ich einige Stichpunkte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nennen. Erstens. Sehr wichtig ist für uns die Einführung neten der SPD) des BOS-Digitalfunks – davon wurde schon gespro- chen – für Polizei, Feuerwehr und viele andere. Diese Ein weiteres Themenfeld war für uns das Technische Einführung ist längst überfällig. Ich bin Minister Hilfswerk, das zum Gelingen der Fußballweltmeister- Schäuble sehr dankbar, dass er dieses Thema nach dem schaft ebenfalls maßgeblich beiträgt. Tausende freiwil- Regierungswechsel konsequent weiter verfolgt und da- lige Helfer kümmern sich in ihrer Freizeit ohne finanziel- bei auf die existierenden Unterlagen zurückgreift und len Ausgleich darum, dass die Spiele gut ablaufen. Das nicht etwa etwas Neues anfängt. Wir als Parlament wer- machen sie nicht nur jetzt – das ist ein aktueller Anlass –, den ihn auf diesem Weg unterstützen. 2006 stehen für sondern auch bei vielen anderen Gelegenheiten. Ich die Einführung des Digitalfunks rund 100 Millio- denke zum Beispiel an den Tsunami oder das Hochwas- nen Euro zur Verfügung. Sollte dieses Geld 2006 aber ser in Sachsen. Diese Ereignisse liegen noch nicht allzu nicht in Gänze abgerufen werden können, so haben wir lange zurück. Sie sind wirklich sehr aktiv. als Haushälter sichergestellt, dass es auch 2007 noch zur Verfügung steht. Das THW verfügt über eine ehrenamtliche Basis von circa 41 000 Helfern. Ich bin der festen Überzeugung, Zweitens. Der Slogan lautet: Die Welt zu Gast bei dass es sich nicht lohnt, um Ehrenamtler zu werben, Freunden. Die Fußballweltmeisterschaft ist bislang in wenn wir nicht in der Lage sind, sie ordentlich auszubil- zweifacher Hinsicht ein voller Erfolg. In sportlicher Hin- den, adäquat auszurüsten und einsatzfähig zu halten. sicht freue auch ich mich, dass die deutsche National- Deshalb haben wir innerhalb des Etats des Bundesinnen- mannschaft so gut spielt und erfolgreich ist. Ich freue ministeriums Mittel zugunsten des THW umgeschichtet, mich allerdings auch, dass sich Zehntausende von Fuß- das heißt, mehr Geld für Aus- und Fortbildung sowie für ballfans aus der ganzen Welt in Deutschland wohl und die Ortsverbände zur Verfügung gestellt. sicher fühlen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) neten der SPD – Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dem Kata- Das heißt, dass neben dem FIFA-Organisationskomitee, strophenschutz haben Sie es weggenommen!) das hervorragende Arbeit leistet, insbesondere die Si- cherheitskräfte unseres Landes, die des Bundes und der Noch ein Wort zu dem Antrag, der zur namentlichen Länder, ihren Beitrag zur Sicherheit leisten. Den Tau- Abstimmung gestellt wird, zum Thema Integration. Wir Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3665

Dr. Michael Luther (A) sind uns alle einig, dass Integration ein wichtiges Thema (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) ist. Die jüngsten Vorgänge, wie zum Beispiel die an der neten der SPD) Berliner Rütli-Schule, haben uns gezeigt, dass Sprache und Sprachförderung von entscheidender Bedeutung Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sind, wenn Integration gelingen soll. Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Linke. GRÜNEN]: Die haben da vor allem soziale (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Probleme!) Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Repressions- Nun wird kritisiert, dass dafür im vorliegenden Haus- apparat! Das Repressionsopfer Jelpke!) halt weniger Mittel als 2005 eingestellt sind. Ulla Jelpke (DIE LINKE): (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Allerdings!) Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Auf den Repressionsapparat werde ich noch zu sprechen Fakt ist: Die Mittel für Integration wurden im vergange- kommen. Keine Angst. nen Jahr nicht in vollem Umfang abgerufen. Über die Ursachen dafür kann man philosophieren. Es macht aber (Beifall bei der LINKEN – Heiterkeit bei Ab- keinen Sinn, Geld in den Haushalt einzustellen, das vo- geordneten der CDU/CSU) raussichtlich wieder nicht abgerufen wird. Die Integrationspolitik ist eine der größten Aufga- ben, vor denen die Bundesrepublik steht. Wenn wir aber (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Politik der Bundesregierung in Sachen Integration NEN]: Wer sagt denn das?) anschauen, dann kann man eigentlich nur feststellen, Unser Haushaltsansatz für die Sprachförderung ist dass sie darauf ausgerichtet ist, keine Angebote zu ma- seriös und bezieht sich auf die Zahlen, die sich in diesem chen und vor allen Dingen zu schikanieren.So wird re- Jahr anzeigen. gelmäßig die Bedeutung von guten Deutschkenntnissen beschworen. Doch die meisten Kurse sind so überfüllt, (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE dass auf die individuelle Ausgangssituation der Teilneh- GRÜNEN]: Wo Sie sich doch gleichzeitig be- mer nicht eingegangen werden kann. Die Kritik, die die schweren, dass zu wenige die Kurse besu- Träger der Kurse an der schon bestehenden Unterfinan- chen!) zierung üben, Herr Luther, stößt bei der Bundesregie- Außerdem haben wir für alle Eventualitäten einen Haus- rung auf taube Ohren. Vollmundig wurde versprochen, (B) haltsvermerk eingebracht, der sicherstellt, dass bei ei- keine Kürzungen bei den Mitteln für Sprachkurse vorzu- (D) nem eventuellen finanziellen Mehrbedarf das entspre- nehmen. Doch genau diese Kürzungen sind weiter im chende Geld auch zur Verfügung steht. Haushalt vorgesehen. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Im Juli will die Bundeskanzlerin einen Integrations- GRÜNEN]: Das ist eine Frage der Qualität!) gipfel abhalten. Herr Faruk Sen, der Leiter des Zentrums für Türkeistudien, hat dazu erklärt, diese Veranstaltung Damit ist ausreichend Vorsorge getroffen. illustriere lediglich die Konzeptionslosigkeit der Integra- Wir wollen die Integrationsmaßnahmen verbessern. tionspolitik der Bundesregierung. Eine fundierte Vorbe- reitung habe es nicht gegeben, Migrationsorganisationen (Sevim Dagdelen [DIE LINKE]: Ohne Geld?) seien weitgehend nicht repräsentiert. Faruk Sen kommt zu dem Schluss, der Gipfel habe nur eine Feigenblatt- Wenn das geschehen ist, folgt dem auch das Geld. Ein- funktion. Ich muss ihm da leider Recht geben. fach nur Geld zu fordern, ohne konkrete Planungen vor- zulegen und die entsprechenden Rahmenbedingungen zu Integrationspolitik – das können die Minister der schaffen, ist aus meiner Sicht nichts weiter als billiger Kanzlerin bestellen – erschöpft sich eben nicht darin, Populismus. Das bringt die Integration nicht voran. Einwanderer unter Strafandrohung in überfüllte Deutschkurse zu zwingen. Sprache zu erlernen, ist wich- (Beifall bei der CDU/CSU) tig; das betone ich hier. Aber eine gescheiterte Integra- tion können Sie nicht nur auf fehlende Sprachkenntnisse Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zurückführen. Lieber Kollege, ich nehme an, Sie kommen zum (Beifall bei der LINKEN und der FDP) Schluss. Sie nehmen hier eine, gelinde gesagt, unterkomplexe Be- Dr. Michael Luther (CDU/CSU): trachtung vor. Migranten sind in vielen Bereichen unse- Ein letzter Satz von mir. – Der Innenausschuss des rer Gesellschaft benachteiligt. Der letzte Bericht zur Bundestages tagt zu dem Einzelplan heute aus aktuellem Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland Anlass unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Ich bedanke hat gezeigt: Von den negativen Entwicklungen am Ar- mich dafür, dass Sie mir trotzdem aufmerksam zugehört beitsmarkt und in der Sozialpolitik sowie von der zuneh- haben. menden sozialen Selektion im Bildungssystem sind Menschen mit Migrationshintergrund besonders betrof- Schönen Dank. fen. 3666 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Ulla Jelpke (A) Gute Integrationspolitik ist unserer Auffassung nach Gruppe „Freikorps Havelland“ einen ganzen Landstrich (C) in erster Linie eine gute Sozialpolitik. Für diese Bundes- mit Brandanschlägen überzogen. Da kommt es in Berlin, regierung sind freilich beides Fremdworte. Sie be- Rheinsberg, Magdeburg, Dortmund und in vielen ande- schränkt sich in beiden Politikbereichen darauf, noch ren Städten in Ost und West regelmäßig zu Übergriffen mehr Kürzungen, noch mehr Repressionen und noch mit Verletzten und Toten. Da gibt es Zonen, in die sich mehr Kontrollen einzuführen. In die Zukunft weisende Menschen, vor allen Dingen Menschen mit ausländi- Vorstellungen hat sie leider nicht. scher Herkunft, nicht mehr trauen. Das ist der alltägliche Terror, den Neofaschisten ausüben. Aber der Innenmi- Das gilt insbesondere, aber leider nicht nur für nister erklärt in gespielter und dreister Ahnungslosigkeit, Edmund Stoiber, den Prokonsul aus München. Als Si- es gebe keine Angstzonen – offensichtlich, weil es sie gnal für eine ernst gemeinte Integrationspolitik will er nicht geben darf. Machen Sie doch einmal die Augen jetzt den so genannten Gotteslästerungsparagrafen, auf, Herr Schäuble! § 166 des Strafgesetzbuches, verschärfen. Auf eine He- rausforderung der modernen Gesellschaft reagiert er mit Werte Kollegen, ich begrüße es, dass unsere Proteste dem Rückgriff auf einen Zensurparagrafen des Kaiser- zumindest dazu geführt haben, dass weitere Kürzungen reichs. Das zeigt exemplarisch die Ratlosigkeit der Re- der Mittel für die Bundeszentrale für politische Bil- gierungsparteien. Das zeigt aber auch, was Sie unter dung verhindert werden konnten. Leitkultur verstehen: Repression statt Freiheit. (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Bitte keine Dass Migranten von der Bundesregierung im Kampf Selbstüberschätzung! Es gibt immer noch gegen den Terrorismus als Bedrohung beschrieben wer- Dinge, die wir ganz alleine entscheiden kön- den, hat fatale Folgen. In den letzten Wochen häufen nen! – Weiterer Zuruf von der SPD: Wie bitte? sich gewalttätige Angriffe auf Menschen, die ihren Pei- Dafür haben wir Sie nun wirklich nicht ge- nigern nicht weiß und nicht deutsch genug sind. Der Ver- braucht!) fassungsschutz gibt an, dass die Zahl der rechtsextremis- tischen Gewalttaten um 23,5 Prozent und die der – Nehmen Sie meine Kritik trotzdem zur Kenntnis! – Straftaten insgesamt sogar um 27,5 Prozent gestiegen Der Haushaltsansatz für die Bundeszentrale für politi- ist. Die Zahlen sind erschreckend. Sie sind eine Heraus- sche Bildung verharrt allerdings auf niedrigem Niveau. forderung für die Demokratie. Die Stärkung des demokratischen Bewusstseins erreicht man nicht durch Repression und durch den Abbau von Auch hier fehlt der Bundesregierung jedes Konzept. Grundrechten im Kampf gegen die vermeintlichen oder Sie will den Verfassungsschutz umbauen und die Abtei- echten Feinde der Demokratie. Das ist genau der falsche lung für den so genannten Linksextremismus mit der Weg. (B) Abteilung für Rechtsextremismus zusammenlegen. (D) Dazu fällt mir nur ein: Wenn zwei Dumme sich zusam- Wir brauchen eine detaillierte Analyse der Bedro- mentun, sind sie auch nicht schlauer als vorher. hungen der Demokratie und der Grundrechte. Die Frak- tion Die Linke fordert deswegen die Einrichtung einer (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE unabhängigen Beobachtungsstelle für Rechtsextremis- GRÜNEN]: Was wollen Sie uns damit sagen? – mus, Rassismus und Antisemitismus, die vom Bundes- Zuruf von der SPD: Das Zitat ist gefährlich!) tag im Übrigen schon einmal beschlossen wurde. – Sie können sich gerne darüber aufregen. Aber ich kann (Beifall bei der LINKEN) die Einseitigkeit, die hier immer wieder zur Schau getra- gen wird, wenn es um den so genannten Extremismus geht, wirklich nicht anders bezeichnen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Jelpke, kommen Sie bitte zum Schluss. Die Unzulänglichkeit des Verfassungsschutzes ist schon eine Legende. Er fasst in seinem Bericht lediglich Ulla Jelpke (DIE LINKE): Daten zusammen, die wir im Übrigen bereits durch das Bundeskriminalamt kennen. Vor allen Dingen fordern wir, dass Projekte wie die „Opferperspektive“ und die „Mobilen Beratungsteams“ Der Bundesverfassungsschutz malt ständig das Ge- weiterhin, also auch im Jahre 2007, finanziert werden. spenst vom Linksextremismus an die Wand und bezeich- net Friedensgruppen und Überlebende des NS-Regimes (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- als Verfassungsfeinde. NEN]: Wo bleibt der Repressionsapparat?) Auf der anderen Seite kann man im Verfassungs- Im Übrigen möchte ich auf eines aufmerksam ma- schutzbericht 2005 lesen, wie sehr verharmlost wird. Der chen: Bericht betont – ich zitiere – „die grundsätzlich vorhan- dene Gewaltaffinität der Szeneangehörigen“. Es seien Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wiederholt Waffen gefunden worden, auch fände para- Frau Jelpke, Sie müssen zum Ende kommen. militärisches Training statt. Aber Anhaltspunkte für ter- roristische Absichten von Rechtsextremisten lägen nicht Ulla Jelpke (DIE LINKE): vor. Wenn die Bundesregierung durch ihre Politik endlich Da werden also Waffen und Sprengstoff gefunden. Da dafür sorgen würde, dass deutsche Polizisten die Nazis werden Wehrsportübungen durchgeführt. Da hat die auf der Straße nicht mehr schützen müssten, dann wären Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3667

Ulla Jelpke (A) wir, was die Bekämpfung der Übergriffe und Angriffe Land trotz aller Sparbemühungen Schwerpunkt unserer (C) von Neonazis angeht, schon viel weiter. Arbeit bleibt. (Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Wieland (Beifall bei der SPD sowie des Abg. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wie Dr. Michael Luther [CDU/CSU]) schaffen wir das?) Zum Thema Beamte, zu den Personalkosten und den Pensionen. Wie wir im Koalitionsvertrag vereinbart ha- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ben, hat der öffentliche Dienst allein in diesem Jahr mit Das Wort hat die Kollegin Bettina Hagedorn, SPD- 500 Millionen Euro zu den Sparbemühungen beizutra- Fraktion. gen; davon betroffen sind 372 000 aktive Beamte und Soldaten und 710 000 Pensionäre. Angesichts dieser Bettina Hagedorn (SPD): Zahlen kann sich jeder ausmalen, dass die Pensionslas- Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen! Liebe Kol- ten für den Bundeshaushalt kein Pappenstiel sind. Sie legen! Als zuständige Hauptberichterstatterin kann ich betragen genau 8,5 Milliarden Euro; das ist mehr als heute feststellen: Die Schularbeiten sind gemacht. doppelt so viel wie der gesamte Haushalt des Bundes- innenministeriums. Man muss nicht mit besonders viel (Patrick Döring [FDP]: Auch von der GEW? – Fantasie ausgestattet sein, um sich vorstellen zu können, Weiterer Zuruf von der FDP: Die Hausarbeiten dass diese Pensionslasten angesichts der demografi- aber nicht!) schen Entwicklung künftig beängstigend steigen wer- Stärker, als es in anderen Etatbereichen der Fall war, ha- den. ben wir Abgeordnete in den letzten Wochen den Haus- Bisher waren die Pensionslasten im Einzelplan 33, für haltsentwurf des Bundesinnenministeriums gestaltet und den ich auch zuständig bin, zentral veranschlagt. Diese verändert. Dabei haben wir als Koalitionsfraktion im zentrale Veranschlagung hat natürlich in allen Ministe- Haushaltsausschuss sage und schreibe – ich habe nach- rien weder bei der Personaleinstellung noch bei der Be- gezählt – 180 Anträge gestellt und über sie abgestimmt. willigung von Frühpensionierungen oder Altersteilzeit Zum Teil haben wir unpopuläre Einsparungen durchge- zu einem Problembewusstsein beigetragen, welche Kon- setzt, dabei Druck erzeugt und ausgehalten. Das war für- sequenzen solche pensionsrelevanten Entscheidungen wahr oft keine vergnügungssteuerpflichtige Aufgabe. haben. Insbesondere die Tatsache, dass im Regierungsent- (Zuruf: Leider wahr!) wurf dieses Haushalts, der ohne Versorgungslasten ins- gesamt eine Größenordnung von gut 4 Milliarden Euro Deshalb bin ich besonders stolz, dass wir es im Haus- (B) hat, pauschal eine globale Minderausgabe von 132 Mil- haltsausschuss in diesem Frühjahr – nach jahrelanger (D) lionen Euro veranschlagt war, von der wir um der Haus- Diskussion und gegen erheblichen Widerstand aller Res- haltswahrheit und -klarheit willen immerhin die Hälfte sorts – endlich geschafft haben, den Einzelplan 33 prak- auflösen und damit gut 66 Millionen Euro einsparen tisch aufzulösen und zu veranlassen, dass die Pensions- wollten, stellte uns vor schwierige Herausforderungen. lasten künftig dezentral, in den Haushalten der einzelnen Bundesministerien, veranschlagt werden müssen. Da mehr als die Hälfte des gesamten Etats, nämlich über 2,1 Milliarden Euro, allein für Personal, nämlich (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie für circa 54 000 Mitarbeiter, aufgewendet wird, konnten des Abg. Otto Fricke [FDP]) wir die Einsparung in Höhe von 66 Millionen Euro nicht Allein für das Ministerium des Innern bedeutet dieser erbringen, ohne auch im Personalbereich zu kürzen. Schritt zu veranschlagende Mehrkosten von gut 298 Mil- Kein Bereich und keine der 18 Verwaltungsbehörden des lionen Euro. Zusätzlich richten wir einen Pensionsfonds Bundesinnenministeriums blieben davon verschont. Das ein, in den künftig durch die Ministerien Einzahlungen ist die schlechte Nachricht. zu leisten sind, damit die Versorgungslasten nicht länger Uns ist bewusst, dass die beim Personal vorgenom- allein auf die Schultern künftiger Generationen geladen menen Einsparungen in Höhe von 20 Millionen Euro, werden. Das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Rich- die vom Ministerium dauerhaft erbracht werden sollen, tung. nur durch strukturelle Änderungen zu erreichen sind. Wir Berichterstatter erwarten gespannt die Konzepte, die 18 Verwaltungsbehörden gehören zum Bundesinnen- das Ministerium dazu entwickeln wird. ministerium; die meisten von ihnen spielen in der Si- cherheitsarchitektur unseres Landes eine zentrale Rolle. Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Im Schwer- Dazu gehört natürlich insbesondere die Bundespolizei, punktbereich der inneren Sicherheit, bei der Bundes- die mit über 2 Milliarden Euro allein die Hälfte des Ge- polizei, wird es im mittleren Polizeivollzugsdienst trotz- samtetats ausmacht. Rund 87 Prozent des Gesamtetats dem 1 190 neue Planstellen geben. Bereits 2002 werden für diese 18 Verwaltungsbehörden verausgabt. beschloss die damalige Bundesregierung im Rahmen des Deswegen konnte bei unserer Kürzung um 66 Millionen Antiterrorpakets die Einstellung und Ausbildung dieser Euro keine dieser Behörden ein Tabu sein. Dennoch ha- Anwärter für den Polizeivollzugsdienst. Sie sind nun mit ben wir Parlamentarier den finanziellen Bedarf wichtiger ihrer Ausbildung fertig und werden 2006 fest in den Politikbereiche anders eingeschätzt als das Bundesin- Dienst übernommen. Den Bürgerinnen und Bürgern ge- nenministerium und deshalb in den überaus harten Haus- ben wir damit das klare Signal, dass die Sicherheit im haltsverhandlungen an den politisch entscheidenden 3668 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Bettina Hagedorn (A) Stellen gegenüber dem Regierungsentwurf kleine, aber lionen Euro gegenüber 2005 gestrichen werden. Das (C) wirkungsvolle Korrekturen vorgenommen. wäre eine Kürzung um fast 30 Prozent gewesen und war nach Auffassung der SPD völlig unakzeptabel. Gerade Im Ergebnis setzen wir mit diesem Haushalt einerseits junge Menschen profitieren von den unglaublich breit klar auf Haushaltskonsolidierung durch strukturelle Ein- gefächerten Informationsangeboten. Bundesweit nutzen sparungen. Andererseits ist er ein Bekenntnis zu wichti- die Schulen die kostengünstig zur Verfügung stehenden gen gesellschaftlichen Schwerpunkten. Schriften, die eine aktuelle Ergänzung nicht nur für den Mein Kollege Michael Luther hat das Beispiel gesellschaftspolitischen Unterricht darstellen und durch „THW und Katastrophenschutz“ schon angesprochen. kein Schulbuch abgedeckt werden. Das ist Aufklärung, Auch dieser Bereich konnte von Einsparungen nicht völ- Information und Prävention, wie wir sie in Deutschland lig ausgenommen werden. Aber es gibt eindeutig einen angesichts steigender Politikverdrossenheit, Wahlmüdig- Gewinner im Bereich des Katastrophenschutzes. Das ist keit und – schlimmer noch – des Abdriftens von Jung- das Ehrenamt, das sind die Helferinnen und Helfer, das wählern nach rechts und in die Gewalt dringend brau- sind die Ortsverbände, wo die erfolgreiche und wichtige chen. Ich bin glücklich, dass es in einem Kraftakt Jugendarbeit geschieht. Das THW schreibt gerade in der gelungen ist, die vorgesehene Kürzung von 18,4 auf Jugendarbeit bereits seit Jahren eine Erfolgsstory: Die 13,4 Millionen Euro komplett rückgängig zu machen. Anzahl der freiwilligen jugendlichen THWler ist seit 5 Millionen Euro in diesem Schwerpunktbereich „on 2002 von über 12 300 auf jetzt über 15 000 angestiegen; top“, das ist wahrlich eine gute Nachricht. das ist ein Plus von 22 Prozent. Das verdient einerseits unseren Beifall und andererseits unsere massive finan- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zielle Unterstützung. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich muss allerdings zugeben, dass mich eine schlechte der CDU/CSU und der FDP) Nachricht bedrückt: Die Mittel für den wichtigen Be- reich der Sprachkurse für Zuwanderer werden gegen- Die verbesserte Grundlage haben wir jetzt geschaffen, über dem Soll von 2005 faktisch um 67 Millionen Euro, indem die zuständigen Ortsverbände und die Helferver- also um ein Drittel des Gesamtetats, auf 140 Mil- einigung des THW insgesamt 3,6 Millionen Euro mehr lionen Euro gekürzt. Mein Kollege Luther ist darauf ein- als im Regierungsentwurf vorgesehen erhalten. Zusätz- gegangen: Das Innenministerium hat auf unseren lich haben wir die Mittel für die Aus- und Fortbildung Wunsch hin mehrfach Berichte vorgelegt, aus denen des- um 1,5 Millionen Euro erhöht. Den Ortsverbänden des sen Prognose hervorgeht, dass das Geld angesichts der THW stehen damit 23,5 Millionen Euro zur Verfügung. Erfahrungen aus dem Vorjahr im Jahre 2006 reichen Das ist ein Aufwuchs um satte 14,5 Prozent. Das ist (B) wird. Der Innenausschuss ist dieser Kalkulation mehr- (D) wahrlich eine gute Nachricht. heitlich gefolgt. (Beifall bei der SPD) Ich persönlich fürchte aber, dass wir aufgrund der im Anlässlich der Fußballweltmeisterschaft werden die Vorjahr verspätet angelaufenen Sprachkurse kurz nach Ehrenamtlichen des THW zahlreiche zusätzliche Ein- In-Kraft-Treten des Zuwanderungsgesetzes, aufgrund sätze in erheblichem Umfang absolvieren und damit zur verzögerter Abrechnungen der Träger bis in dieses Jahr Sicherheit der Sportereignisse beitragen. In den letzten hinein und aufgrund der viel zu langen Fristen von bis zu Jahren hat sich die Zahl der Einsätze des THW vor allem zwei Jahren für das Einlösen der Berechtigungsscheine in Katastrophengebieten im Ausland massiv erhöht. Wa- in Wahrheit eine Bugwelle an nicht absolvierten Sprach- ren es 2004 noch 42 Einsätze, so kam das THW 2005 kursen für Zuwanderer aus 2005 vor uns herschieben, schon 71-mal zu Hilfe. Bei dieser Arbeit hat sich das für die dringend zusätzliche Mittel zur Verfügung stehen THW weltweit einen ausgezeichneten Ruf erworben. müssen. THWler sind vorbildliche Botschafter Deutschlands. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜND- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Innenministerium versicherte uns, dass Mehrausga- Auch die Zahl der Einsätze der Bereitschaftspoli- ben durch einen vorsorglichen Haushaltsvermerk ge- zeien der Länder steigt bundesweit an. Auch sie haben deckt würden und dass in diesem Jahr kein integrations- im Moment mit Urlaubssperren und explodierenden williger Zuwanderer und kein Träger Abstriche beim Überstundenkonten zu kämpfen. Die Mittel für die Fahr- Angebot von Sprachkursen machen muss. zeugbeschaffung im Regierungsentwurf wurden gegen- über den Vorjahren dennoch gekürzt. Ich bin froh, dass (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- es im Haushaltsausschuss auch in diesem Bereich ge- NEN]: Was noch zu beweisen wäre!) lang, eine Erhöhung von 1,5 Millionen Euro durchzuset- zen, um dringend notwendige Modernisierungen im Darauf, Herr Minister, werde ich pochen. Fahrzeugpark vorzunehmen; denn klar ist: Wir wollen Der geplante Integrationsgipfel wäre ein zahnloser die Polizisten in ihrer oft schwierigen Arbeit durch ver- Tiger, wenn die Mittel für eine verbesserte Integration in stärkte Investitionen in ihre Ausstattung unterstützen. Deutschland nicht kassenwirksam zur Verfügung stehen. Bei der Programmarbeit der Bundeszentrale für po- Im Zuwanderungsgesetz vorgesehene Spezialkurse zum litische Bildung sollten laut Regierungsentwurf 5 Mil- Beispiel für Frauen mit Betreuungsangeboten für ihre Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3669

Bettina Hagedorn (A) Kinder, für Jugendliche und für Analphabeten wurden gesperrt. Welchen Effekt wir durch die 6 Milliarden (C) bisher bundesweit noch viel zu wenig angeboten. Euro auf Bundesebene erzielen können, will ich am Bei- spiel des BMI-Haushalts verdeutlichen. Ich freue mich, dass eine kleine Gruppe in meiner Heimat, im deutsch-dänischen Grenzland in Schleswig- Holstein, bereits in diesem Jahr von einer wichtigen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Kurskorrektur profitiert. Dabei handelt es sich um den Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen. Bund der Nordschleswiger. Immerhin konnten wir die vorgesehene Kürzung in Höhe von 100 000 Euro zu- Bettina Hagedorn (SPD): rücknehmen, Herr Bergner. Wie Sie wissen, hat das im Ich komme zum Schluss. – Aus den 20 Millio- Norden zu großer Zufriedenheit geführt. nen Euro, die allein 2006 etatisiert sind, und den Auch in einem anderen Bereich hat eine vergleichs- 80 Millionen Euro bis 2009 könnten nämlich insgesamt weise kleine Summe große Wirkung erzielt. Dem 480 Millionen Euro für Bildung und Forschung werden, Abraham-Geiger-Kolleg stehen als jüdischer Bildungs- wenn die Bundesländer und die Wirtschaft ihre Zusagen einrichtung mit Sitz an der Universität Potsdam 2006 an dieser Stelle einhalten. 73 000 Euro mehr zur Verfügung. Das ist ein Signal in (Beifall bei der SPD) Anerkennung der Leistungen der ersten Rabbinerausbil- dungsstätte in Deutschland. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der SPD, der FDP und dem Frau Kollegin, Sie müssen jetzt dringend zum Schluss BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kommen. Zum Schluss möchte ich noch auf das 6-Milliarden- Euro-Programm für mehr Forschung und Entwick- Bettina Hagedorn (SPD): lung und das im Koalitionsvertrag festgelegte Ziel ein- Ich möchte mich bei meinen Mitberichterstattern für gehen, diese Ausgaben bis 2009 auf 3 Prozent des Brut- die kollegiale Zusammenarbeit und bei Innenminister toinlandsproduktes zu steigern. Das ist für mich eines Dr. Schäuble und seinen Mitarbeitern für die vielfache der Kernziele dieser großen Koalition. Ich gehöre zu Unterstützung bedanken. Ich glaube, wir haben eine gute denjenigen, die schon in der Vergangenheit mit ganzer Arbeit geleistet und können zufrieden auf diese Haus- Seele für die Aufstockung der Mittel für Bildung und haltsberatungen zurückblicken. Forschung gekämpft haben. Ich hätte mir schon in der letzten Wahlperiode gewünscht, dass der Bundesrat die Ich danke Ihnen. (B) Abschaffung der Eigenheimzulage zugunsten des Bil- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) dungs- und Forschungsbereiches nicht, wie geschehen, der CDU/CSU) blockiert hätte; denn dann wären wir in Deutschland in diesem Bereich vielleicht schon weiter. Aber den Blick nicht zurück, sondern nach vorne zu richten, soll auch Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: meine Parole sein. Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland, Bünd- nis 90/Die Grünen. Ich freue mich, dass das Bundesinnenministerium an dem 6-Milliarden-Euro-Programm der Bundesregierung Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): teilhaben wird. Allein 2006 sind 20 Millionen Euro zu- sätzlich für fünf Projektbereiche vorgesehen. Bis 2009 Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst sollen insgesamt 80 Millionen Euro Bundesmittel bereit- möchte auch ich mich als Fachpolitiker bei den Kollegin- gestellt werden. nen und Kollegen aus dem Haushaltsausschuss, insbeson- dere bei den Berichterstatterinnen und Berichterstattern, Dennoch muss ich gestehen, dass die Haushälter diese bedanken. Ich füge aber hinzu, dass die Schlussdebatte Mittel vorerst komplett gesperrt haben. Ich will gerne nach meinem Verständnis eher eine Stunde der politi- kurz den Grund dafür erläutern. Ich erinnere an die schen Auseinandersetzung als der Buchhalter sein sollte. Worte der Bundeskanzlerin bei der ersten Beratung des Es sollte eher eine Stunde der Generalabrechnung mit der Haushaltes im März. Sie sagte damals, dass die Frage politischen Linie der Regierung sein. Hier fängt unsere – ich zitiere –, „an welcher Stelle wir diesen Betrag in Schwierigkeit an. Wo ist eigentlich die Linie der großen Höhe von 6 Milliarden Euro ausgeben müssen, damit am Koalition im Bereich des Innern? Was man sieht, lieber Ende der Legislaturperiode Deutschland insgesamt Kollege Wiefelspütz, ist eine Art Waffenstillstandslinie 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Forschung und zwischen SPD und CDU/CSU, die sich ständig ändert. Entwicklung ausgibt“, noch genau geklärt werden Oder um es in der Sprache des Fußballs auszudrücken, müsse. Diese Sache sei „noch nicht in trockenen damit Sie es verstehen: Zu sehen ist eine Mannschaft, die Tüchern, weil auf jeden Euro der öffentlichen Hand gegeneinander spielt, in der der eine Teil stürmt – die 2 Euro privater Investitionen der Wirtschaft folgen müs- CDU/CSU stürmt immer gegen Bürgerrechte und rechts- sen“. Ich gebe der Kanzlerin ausdrücklich Recht. Weil es staatliche Fundamente an –, während ein großer Teil der noch keine Gesamtstrategie gibt und weil es vor allem SPD verteidigt und einige an der Außenlinie irrlichtern noch keine Zusagen der Bundesländer und der Wirt- und nicht wissen, ob sie stürmen oder verteidigen sollen. schaft gibt, ihren jeweiligen Anteil zur Steigerung der Das ist ziemlich amüsant anzusehen, aber Weltmeister F-und-E-Mittel beizutragen, bleiben diese Mittel vorerst wird eine solche Mannschaft nicht. 3670 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Wolfgang Wieland (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – darüber freuen wir uns; diese Projekte haben Sie be- (C) Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sie verstehen stimmt nicht vergessen; Sie warten nur auf den richtigen den modernen Fußball nicht! Sie haben keine Zeitpunkt, sie umzusetzen –, veränderten die Sicher- Ahnung!) heitsarchitektur in diesem Land. Es wäre eine Architek- tur, die uns das Grausen lehrte. Eigentlich müsste der Trainer, der Bundesminister des Innern, sagen, welchen Kurs die Regierung steuern will. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Er hat ja eine unnachahmliche Art. Er kommt ohne Ma- Clemens Binninger [CDU/CSU]: Gruselig ist nuskript oder legt es beiseite, schüttelt dann Grundsätzli- nur Ihre Rede!) ches aus dem Ärmel und sagt im Plauderton, wie er denkt, dass sich die Innenpolitik entwickeln sollte. So – Es ist schön, wenn Sie sich gruseln. Dann hat sie ihren hat er es auch im Innenausschuss gemacht, als er sein Sinn erfüllt. Vierjahresprogramm vorlegen sollte und zu der Eva- (Lachen bei der CDU/CSU) luation der Sicherheitsgesetze, der Nutzung von Auto- bahnmautanlagen zu Fahndungszwecken, der Heraufset- Da sich hier die Redezeit reziprok proportional zu den zung des Nachzugsalters von Ehegatten und dem Einsatz Inhalten verhält, die die Rednerinnen und Redner vortra- der Bundeswehr im Innern, seinem Steckenpferd, Stel- gen, möchte ich ohne Hader noch ein deutliches Wort zu lung genommen hat. Auf die Frage, ob das alles mit dem den Integrationskursen sagen. Das ist wirklich ein Koalitionspartner abgesprochen sei, ob das wirklich Re- Stück aus dem Tollhaus. Der Kollege Grindel hat eine gierungspolitik wird, antwortete er nicht und schaute Bildungsreise zu einem solchen Kurs gemacht. Als er zu- stattdessen wie ein Auto nach dem Motto „Dann hätte rückkam, sagte er im Innenausschuss – Reisen bildet –: ich hier doch gar nichts sagen können“. In der Pädagogik Das muss anders gemacht werden. Hier ist eine Binnen- gibt es den unterforderten bzw. den sich unterfordert differenzierung notwendig. Eine Analphabetin darf nicht fühlenden Schüler. Bei diesem Innenminister habe ich neben einer Studentin sitzen. Zudem müssen wir das Ho- ständig den Eindruck, dass wir nun den sich unterfordert norar heraufsetzen und die Zeiten verlängern. – Das alles fühlenden Innenminister erleben, der eigentlich gerne et- ist richtig. Gleichzeitig war man sich einig, dass nicht nur was ganz anderes machen möchte, aber tatsächlich nur die Neuzuzügler, sondern auch die so genannten Be- dasitzt und die Welt beobachtet, genauso wie im Augen- standsausländerinnen solche Kurse besuchen sollten. blick. Gleichzeitig sagte uns das Statistische Bundesamt bei der Vorstellung des Mikrozensus 2005: Wir haben in diesem (Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Es Land 15,3 Millionen Menschen mit Migrationshinter- gibt nichts Schöneres, als Ihnen zuzuhören! – grund. – Das ist fast ein Fünftel der Bevölkerung. Gleich- Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der (B) zeitig sagt der ebenfalls Ihnen zugeordnete Leiter des (D) CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Bundesamts für Migration und Flüchtlinge: Das Geld GRÜNEN) wird nicht reichen. – Sie wollen die Kurse verbessern, wir – Danke für das Kompliment. wollen das auf Bestandsausländerinnen und -ausländer ausdehnen und dann werden die Gelder um ein Drittel Lieber Herr Schäuble, Sie wählen die passive Rolle, gekürzt. Das passt nicht zusammen. Deswegen haben wir und zwar auch bei der Föderalismusreform, obwohl zu unserem Änderungsantrag eine namentliche Abstim- Sie als Verfassungsminister für die Beziehungen zu den mung gefordert. Ihnen zuliebe, den Kollegen zuliebe, die Ländern und – last, but not least – für die Angelegenhei- nicht da sind – die können Fußball gucken –, wollen wir ten der Beamten zuständig sind. Selbst bei dieser als die Abstimmung darüber nicht jetzt. So freundlich sind Jahrhundertwerk titulierten Reform haben Sie nur die wir. Rolle eines Zaungastes gespielt. Sie haben lediglich ei- nen Anstandsbesuch am ersten Tag der Anhörungen ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) macht. Sie haben aber nicht in die Debatte eingegriffen. Aber wir erwarten als Gegenleistung, Kolleginnen und Sie haben nichts dazu gesagt, dass das Versammlungs- Kollegen der SPD, dass Sie Ihren Worten hier Taten fol- recht auf 16 Bundesländer aufgeteilt und so zersplittert gen lassen und zustimmen. werden soll, genauso wenig wie zu der geplanten BKA- Allzuständigkeit. Das ist sicherlich ganz in Ihrem Sinne. Abschließend zum Thema Integration. Weil so gern Aber eine aktive Politikgestaltung sieht anders aus. Wer über Fußball geredet wird, will ich noch sagen: Wir ha- Sie noch aus Ihrer ersten Amtszeit kennt – ich nenne als ben in den letzten Tagen gerade in Berlin erfreut festge- Beispiele nur das Ausländergesetz, an dem Ihr Vorgän- stellt – als Innenpolitiker soll man den Tag nie vor dem ger, Herr Zimmermann, gescheitert ist, und die Verhand- Abend loben; das weiß ich –, dass die WM bisher ein lungen über den Einigungsvertrag –, der hat einen Ma- fröhliches Fest war. Wir hoffen, dass es so bleibt. cher in Erinnerung, der wirklich herangeht. (Zuruf von der SPD: Trotz der Grünen!) Was aber passiert heute? Morgen und übermorgen wird Politik gemacht; so lauten die Versprechungen. Erfreulich war auch, dass viele junge Türken hier in Ber- Man ist fast versucht, zu sagen: Vielleicht ist es gut, dass lin mit der Deutschlandfahne durch die Straßen gelaufen Sie diese Form der Arbeitsverweigerung zurzeit noch an sind und sich entsprechend bemalt haben. den Tag legen; denn Ihre Langzeitprojekte, die Ver- schmelzung von Militär und Polizei sowie von Polizei Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: und Geheimdiensten – auf die Auseinandersetzungen Herr Kollege! Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3671

(A) Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Wieland, machen Sie sich keine Sorge (C) Das ist mein letzter Satz. – Das ist ein Signal. Sie im Hinblick auf Unterforderung oder Arbeitsverweige- wollen dazugehören. Sie wollen mit dabei sein. Das soll- rung. Diese Sorge brauchen Sie nicht zu haben. Im Übri- ten wir ernst nehmen gen habe ich nicht verstanden: Wollen Sie nun mehr oder weniger von mir? (Zuruf von der CDU/CSU: Das tun wir auch!) (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP – und in Zukunft sagen: Bei der Integration brauchen wir Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einen Quantensprung und keine Mittelkürzung. NEN]: Die richtigen Schritte! Das ist ambiva- lent!) Vielen Dank. Da müssen Sie sich irgendwie entscheiden. Aber es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) macht ja Spaß.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Meine Aussage, dass es nichts Schöneres gibt, als Ih- nen zuzuhören, war natürlich nur eine Aussage für die Das Wort hat der Bundesminister des Innern, Gegenwart. In dem Moment, in dem Sie gesprochen ha- Dr. Wolfgang Schäuble. ben, hat es für mich nichts Schöneres gegeben, als Ihnen aufmerksam zuzuhören. Aber das Ende der Redezeit ist Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des In- dann auch wieder schön. Jetzt ist es schön, dass Sie mir nern: zuhören. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will zunächst einmal eine Bemerkung zu Ih- Aber Spaß beiseite. Ich möchte in diesem Zusammen- nen machen, Herr Kollege Wieland. Natürlich müssen hang eine Bemerkung zum Thema BOS machen, das wir über die Sache der Innenpolitik intensiv diskutieren. mehrfach, angefangen bei Frau Piltz, erwähnt worden Aber wer die sorgfältige Wahrnehmung des Budget- ist. Ich finde, dieses Thema zeigt beispielhaft – das rechts des Parlaments als Buchhalterei bezeichnet, verrät möchte ich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, mit al- ein unzureichendes Verständnis von der Notwendigkeit, lem Nachdruck sagen –, dass es in diesem Land, unab- mit knappen Steuergeldern verantwortungsvoll umzuge- hängig davon, wer welche Mehrheit hat, wahnsinnig hen. schwierig ist, Entscheidungen zustande zu bringen und umzusetzen. Das Thema BOS hat ja eine lange Leidens- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der geschichte. Bis die nächste Fußballweltmeisterschaft in FDP – Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Das Deutschland stattfindet, sind Sie wahrscheinlich nicht (B) war Watschen Nr. 1! – Ute Kumpf [SPD]: So mehr Mitglied des Innenausschusses und ich bin vermut- (D) sind die Berliner!) lich nicht mehr Mitglied des Deutschen Bundestages. Ich will mich in der gebotenen Konzentration zu- (Gisela Piltz [FDP]: Ich dachte, Sie trauen nächst beim Haushaltsausschuss und bei den Bericht- Franz Beckenbauer mehr zu!) erstattern herzlich für die intensive Beratung bedanken; – Es wird auf jeden Fall eine Zeit lang dauern. Frau Kollegin Hagedorn hat es gerade beschrieben. Wir haben seit Beginn der Haushaltsberatungen gestern Mor- Ich füge hinzu: Ich fürchte, dass die Haushaltsvor- gen darüber geredet, dass dieser Haushalt ein Stück weit sorge – bisher steht im Haushalt eine Verpflichtungs- ein Haushalt des Übergangs ist. Wir haben im Einzel- ermächtigung – nicht ganz ausreichen wird. Wir brau- plan 06 – gewissermaßen als Erblast – eine relativ hohe chen sie aber dringend. Ich mache zurzeit Druck, dass globale Minderausgabe vorgefunden. Die ist nicht jetzt keine überzogenen Anforderungen gestellt werden; aber entstanden. Die Probleme bei ihrem Abbau und die Kon- wir müssen eine funktionsfähige Regelung haben. Wir sequenzen daraus haben Sie liebenswürdigerweise sehr müssen übrigens berücksichtigen, dass wir bei jedem präzise beschrieben; ich brauche das gar nicht zu wieder- Handeln im Bereich der inneren Sicherheit – davon bin holen. Ich bin jedenfalls dankbar dafür, dass wir sie ab- ich im Grundsatz sehr überzeugt – auf die Zusammenar- bauen; ich unterstütze das ausdrücklich. beit mit den prioritär verantwortlichen und zuständigen Bundesländern angewiesen sind. Das macht die Einfüh- Insbesondere bei Frau Hagedorn und Herrn Luther rung des BOS-Digitalfunks noch komplizierter. Es ist sowie den anderen Berichterstattern bedanke ich mich aber gesamtstaatlich richtig. Ich bekenne mich als Bun- dafür, dass wir einen großen Schritt vorangekommen desinnenminister und Verfassungsminister zur föderalen sind, sowie auch für die Bereitschaft, zu akzeptieren, Ordnung. Deswegen befürworte ich die prioritäre Zu- dass wir diese globale Minderausgabe nicht in einem ständigkeit der Bundesländer, wo sie gegeben ist. Schritt abbauen können, sondern dass wir zwei Schritte brauchen und dass wir das auf die nächsten Haushalts- Ich habe übrigens auch als Mitglied der Bundesregie- jahre bis 2008 verteilen müssen; sonst kommen wir rung großen Respekt vor den Verfassungsorganen Bun- überhaupt nicht zurande. Ich sage Ihnen zu, das mit destag und Bundesrat, Herr Kollege Wieland. Deswegen Nachdruck zu unterstützen und meinen Beitrag dazu zu weise ich als Mitglied des Bundestages die Kritik zu- leisten. Ich bedanke mich so, wie Sie sich bei den Mitar- rück. Der Deutsche Bundestag hat die Kommission zur beitern des Hauses für die Zusammenarbeit bedankt ha- Reform des Föderalismus vor vier Jahren zu seiner ei- ben. Ich sehe auch gar keine grundsätzlichen Meinungs- genen Sache gemacht. Da waren doch auch Sie dabei. unterschiede. Entstanden ist eine gemeinsame Kommission von Bun- 3672 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble (A) destag und Bundesrat. Da können Sie doch jetzt nicht sa- mögliche zu tun, um Defizite, die es in diesem Land (C) gen, die Bundesregierung hätte dafür sorgen sollen, dass ganz sicher gibt, abzubauen. Man kann ja auch daraus Bundestag und Bundesrat nicht das umsetzen, was sie lernen und es besser machen. selber in schwierigsten Verhandlungen als richtig er- arbeitet haben! Entweder – oder! Sie sollten der Bundes- Was die Integrationskurse anbetrifft: Wir alle sollten regierung nicht Respekt vor dem Parlament vorwerfen. mit den Einbürgerungskursen seriös umgehen. Sie sind letztes Jahr eingeführt worden. Wir haben eine Evaluie- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rung in Auftrag gegeben. Das Bundesamt für Migration NEN]: Nein! Teilnahme an den Diskussionen und Flüchtlinge, das übrigens jenseits aller parteipoliti- und der Anhörung!) schen Zuordnung weitgehend gelobt wird und eine wirk- lich gute Arbeit leistet, hat Aufträge – auch extern – ver- – Wir haben uns an den Beratungen intensiv beteiligt. geben, um diese Kurse zu evaluieren. Aber da Sie ja das Gefühl haben, ich sei unterfordert, werde ich Ihnen bei Gelegenheit einmal meinen Tages- Wir wissen, dass die Mittel hierfür in diesem Jahr ablauf schildern. ausreichen. Wir befinden uns übrigens in der Mitte des Eine Bemerkung zur Fußballweltmeisterschaft. Es Jahres und haben keine vergleichbaren Zahlen von 2005; herrschen große Freude und Erleichterung, dass – jeden- so viel zur Bugwelle, die wir angeblich vor uns herschie- falls bis jetzt – alles so gut läuft; wir befinden uns wirk- ben. Es spricht alles dafür, dass das, was ich im Innen- lich am oberen Rand jeder denkbaren Erwartung. Wenn ausschuss gesagt habe, eintreten wird, nämlich dass die die Weltmeisterschaft zu Ende ist, werden wir viel Mittel ausreichen. Im Übrigen gilt die Zusage, dass kein Grund haben, uns bei den Zehntausenden von Polizeibe- Kurs, sollte ein Mangel an Mitteln eintreten, daran schei- amtinnen und -beamten, bei den Helferinnen und Hel- tern wird. Ob wir die Mittel für das nächste Jahr erhöhen fern der Hilfswerke, des Technischen Hilfswerks – ich müssen, werden wir in den nächsten Haushaltsberatun- bedanke mich übrigens für das hier geäußerte große Lob gen seriös und intensiv beraten. für das THW – und bei vielen anderen sehr für den tollen Wie wir die Kurse ändern und welche Erfahrungen Einsatz zu bedanken. Das gilt auch für die vielen ehren- wir machen, evaluieren wir seriös. Deswegen haben wir amtlichen Helfer und die Bevölkerung insgesamt, die ein entsprechende Aufträge vergeben. Wenn man eine Eva- großes Maß an Gastfreundschaft und Aufnahmebereit- luation in Auftrag gibt, dann kennt man das Ergebnis schaft gezeigt hat. Unsere ausländischen Gäste sind ein- nicht, bevor der Bericht über die Evaluation vorliegt. fach begeistert von diesem Land. Am Ende glauben wir Wenn es anders wäre, würde sie keinen Sinn machen. selber noch, dass wir gar nicht so schlecht sind. Dann wäre es rausgeschmissenes Geld. (B) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (D) FDP) GRÜNEN]: Dann fragen Sie mal Ihre Integra- Trotzdem füge ich in dieser Stunde auch der Erleich- tionsbeauftragte! Die hat schon Dutzende Vor- terung darüber, dass bisher alles gut gelaufen ist, hinzu: schläge vorgelegt!) Hätten wir nicht einen so ungeheuer großen präventiven – Die sind leider so, dass ich den Haushaltsausschuss Sicherheitsaufwand betrieben, bitten müsste, die Mittel für diesen Bereich nicht nur (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: So ist es!) marginal zu erhöhen, sondern zu verdoppeln. Wir haben einmal nachgerechnet, was deren Umsetzung kostet. würde es vielleicht nicht so gut laufen. Deswegen darf aus den Erfahrungen dieser Fußballweltmeisterschaft um Von der Opposition habe ich übrigens gestern und Himmels willen nicht abgeleitet werden, dass wir die heute Kritik dazu gehört – ich habe der Haushaltsdebatte Anforderungen an die innere Sicherheit in Zukunft nicht in weiten Teilen aufmerksam zugehört –, die Verschul- mehr so ernst zu nehmen brauchen. dung sei zu hoch. Sie können nicht den ganzen Tag die Verschuldung als zu hoch kritisieren, dann ständig mehr Ich füge hinzu: Wir werden auch in Zukunft dringend Geld ausgeben wollen und nicht sagen, woher es kom- leistungsfähige Nachrichtendienste brauchen, weil wir men soll. Das geht nicht. sonst in der Prävention, in der Gefahrenabwehr verraten und verkauft und nicht in der Lage sind, unserer Verant- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – wortung gerecht zu werden. Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Wir haben auch Gegenfinanzierungsvorschläge ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) macht!) Auch diese Bemerkung mache ich mit großem Ernst und mit aller möglichen Eindringlichkeit. Wir müssen bei begrenzten Mitteln die Effizienz ver- stärken. Deswegen muss erst einmal evaluiert werden. Ich will zu dem Thema Integration in aller Kürze et- Wenn eine Sache erst ein Jahr in Kraft ist, macht es kei- was sagen. Was den Integrationsgipfel anbelangt, warten nen Sinn, blind etwas Neues zu sagen. Man muss viel- Sie ihn doch erst einmal ab! Lassen Sie ihn erst einmal mehr bereit sein, unvoreingenommen zu prüfen, wo es stattfinden, bevor Sie ihn schlechtreden! Ich jedenfalls Verbesserungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten gibt. höre bei den betroffenen Bevölkerungsgruppen positive Wenn es welche gibt, dann setzen wir diese auch um. Reaktionen und erkenne durchaus die Bereitschaft, da Dies aber vorher zu wissen, ist ideologisches Handeln mitzumachen. Wir sind entschlossen, das Menschen- und keine verantwortliche Politik. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3673

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble (A) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Kriminalität nur mit einer bestmöglichen Vernetzung (C) GRÜNEN]: Das findet auch in Ihrer Fraktion und einem effektiven Informationsaustausch zu leisten öffentlich statt!) sind. Das wollen wir voranbringen, aber unter Beach- tung der Trennung von Polizei und Geheimdiensten und Deswegen meine Bitte: Lassen Sie uns im Ausschuss unter der Maßgabe einer klaren Kontrolle. Die jüngste oder wo auch immer über die Fragen dieser Politik inten- Debatte über die Geheimdienste bestärkt uns darin. siv diskutieren! Heute ist die Stunde der Beratung des Einzelplans – im Rahmen der begrenzten Redezeit, die (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef wir für Haushaltsberatungen festgelegt haben. Ich be- Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- danke mich dafür, dass wir bei insgesamt begrenzten NEN]) Mitteln mit diesem Haushalt das Notwendige für die prio- Wir werden darauf achten – und haben dies auch im ritären Aufgaben im Geschäftsbereich des Bundesminis- Koalitionsvertrag festgehalten –, dass die grundgesetzli- ters des Innern zur Verfügung gestellt bekommen. Ich che Trennung zwischen polizeilichen und militärischen bedanke mich für die gute Zusammenarbeit und bitte Aufgaben gewahrt bleibt. Sie, dem Einzelplan 06 zuzustimmen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Verschränkung von innerer und äußerer Sicherheit Das Wort hat der Kollege Gerold Reichenbach, SPD- bedeutet, dass unsere Polizei – die Bundespolizei, das Fraktion. BKA, aber auch die Landespolizeien – verstärkt interna- tionale Verantwortung wahrnimmt. Schon heute spielen (Beifall bei der SPD) wir international eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, in Krisenregionen eine verlässliche und rechts- Gerold Reichenbach (SPD): staatliche Polizei aufzubauen. Der Wert dieses Beitrags Frau Präsidentin, ich möchte mir außerhalb der Rede- zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus und zeit, solange das Rednerpult hochfährt, eine kurze Infor- der internationalen Kriminalität kann nicht hoch genug mation erlauben: Das Spiel Argentinien gegen Italien eingeschätzt werden. Wir Sozialdemokraten werden uns steht 0 : 0. auch in Zukunft der Verantwortung stellen. Lassen Sie mich an dieser Stelle den Männern und Frauen bei der (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Polizei, die dafür vor Ort den Kopf hinhalten, danken. GRÜNEN]: Das wissen wir! – Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Argentinien gegen (Beifall bei der SPD) (B) (D) Niederlande!) Wir werden unsere Sicherheitsarchitektur dort, wo – Entschuldigung, Niederlande. Für den Überblick ha- wir Mängel erkannt haben, weiterentwickeln. Dabei ha- ben wir ja einen Innenminister. ben Sozialdemokraten Impulse gesetzt. Wir wollen, dass das Bundeskriminalamt auch bei der Bekämpfung des Terrorismus die Möglichkeit erhält, selbstständig im Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Vorfeld Ermittlungen zu tätigen. Das ist insbesondere Die Mitglieder des Sportausschusses sind nicht da; dann wichtig, wenn es darum geht, Hinweisen von aus- vielleicht lag daran Ihr Versehen. ländischen Stellen vertieft nachzugehen. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das kommt (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Hört! Hört!) davon, wenn man der Toskanafraktion ange- hört! – Heiterkeit im ganzen Hause) Auch an anderer Stelle halten wir eine Weiterentwick- lung unserer Sicherheitsarchitektur für notwendig. Ich Gerold Reichenbach (SPD): meine hier den Schutz der Bevölkerung. Grundsätzlich Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! haben wir ein gutes Notfallversorgungssystem. Ich freue Wir Sozialdemokraten haben uns bereits in den letzten mich sehr, dass wir mit dem Mittelaufwuchs für das beiden Legislaturperioden als Garant von Sicherheit und THW dort, wo der Bund Verantwortung trägt, ausdrück- Freiheit in diesem Lande begriffen. Dies werden wir in lich den Einsatz der ehrenamtlichen Helfer würdigen der neuen Konstellation fortsetzen. und sie unterstützen. Für den Fall von länderübergreifen- den Katastrophen und Terroranschlägen fehlt es dem Der Etat, der heute zur Verabschiedung ansteht, ist Bund aber an Möglichkeiten, korrigierend und steuernd davon getragen. Wir haben das Notwendige getan. Wir einzugreifen. Die Flutkatastrophe an der Elbe und das werden es auch weiterhin tun, um in unserem Lande ein Versagen der FEMA in den USA haben uns das deutlich Höchstmaß an Sicherheit gegenüber den neuen Heraus- aufgezeigt. Wir wollen diese Sicherheitslücke beseiti- forderungen zu bieten. Wir werden dabei aber auch da- gen. Wir brauchen eine gesetzliche Grundlage dafür, rauf achten, dass die Freiheitsrechte der Bürger und die dass der Bund in solchen Fällen tätig werden kann. Grundentscheidung unserer Verfassungsväter nicht unter Die Fußball-WM hat in der Vorbereitungsphase die Räder kommen. Der Satz: „Freiheit ohne Sicherheit wichtige Impulse für den Sicherheitsbereich gegeben, ist nichts“ ist richtig; aber er gilt auch umgekehrt. auf denen wir aufbauen werden. Ich möchte mich aus- Wir wissen, dass insbesondere die Prävention und die drücklich dem Dank an diejenigen anschließen, die nach Bekämpfung des Terrorismus und der internationalen intensiver Vorbereitung rund um die Uhr im Einsatz 3674 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006

Gerold Reichenbach (A) sind, um eine sichere WM zu gewährleisten: den Polizis- Wie Menschen, gerade junge Menschen, reagieren, (C) tinnen und Polizisten, den Helfern vom THW, von der wenn sie keine Chance erhalten – egal ob es sich um Feuerwehr und den Rettungsdiensten sowie den anderen Ausländer oder Inländer handelt –, ist bekannt: Perspek- ehrenamtlichen Helfern. Sie alle leisten tolle Arbeit. tivlosigkeit ist auch eine Quelle von Gewalt und letztlich Danke! von Terrorismus. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir zeigen in diesen Tagen ein weltoffenes Deutsch- Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. land. Junge Menschen ziehen mit Fahnen durch die Ge- gend, nicht, wie im Vorfeld befürchtet, mit Baseball- Gerold Reichenbach (SPD): schlägern. Das überlassen sie den Spielern der New York Ich komme zum Ende. Yankees. (Beifall des Abg. Clemens Binninger [CDU/ Wir Sozialdemokraten wollen, dass das sichere und CSU]) weltoffene Bild, das unser Land in diesen Tagen der Weltöffentlichkeit zeigt, auch im Alltag von Dauer ist. Menschen aus allen Erdteilen werden offen und vorur- Mit dem Haushalt soll ein Beitrag dazu geleistet werden. teilsfrei empfangen; ihre Teams werden auch von den Ich bitte um Ihre Unterstützung. einheimischen Schlachtenbummlern unterstützt. Wir werden alles dafür tun, dass dies so bleibt, dass Frem- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten denfeindlichkeit in unserem Land keine Chance hat. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deswegen werden wir unsere Anstrengungen bei der Be- kämpfung von Rechtsradikalismus fortsetzen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich schließe die Aussprache. DIE GRÜNEN) In Übereinstimmung mit den Parlamentariergruppen, Wir wollen Zukunftsperspektiven für das Zusammen- die für die Niederlande und Argentinien zuständig sind, leben mit den Menschen, die als Migranten zu uns ge- wurde zwischen den Fraktionen vereinbart – das ist wahr- kommen sind – auch mit denen, die schon länger mit uns scheinlich auch mit Rücksicht auf die Sicherheitskräfte leben –, aufzeigen. Zum Thema Integrationskurse ist ge- geschehen, die das Viertelfinale betreuen werden –, die nügend gesagt worden. Integration bedeutet mehr: Sie Abstimmungen zu diesem Tagesordnungspunkt, auch die umfasst auch Bildungschancen, Arbeit und Wohnen. Wir (B) namentliche Abstimmung, auf morgen früh zu Beginn der (D) können zu Recht fordern, dass Migranten die Werte un- Sitzung zu vertagen. Ich gehe davon aus, dass Sie damit seres Grundgesetzes akzeptieren. Wir müssen ihnen aber einverstanden sind. – Dann ist das so beschlossen. im Gegenzug die Chance zur gesellschaftlichen Teilhabe eröffnen. Um im Bild dieser Tage zu bleiben: Wir dürfen Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- die Menschen nicht auf den Elfmeterpunkt stellen und ordnung. ihnen dann den Ball vorenthalten. Es nutzt nichts, mit Platzverweis zu drohen, wenn sie nicht auf das Tor Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- schießen können. Wir müssen ihnen Chancen und destages auf Donnerstag, den 22. Juni 2006, 9 Uhr, ein. Perspektiven eröffnen. Genießen Sie die gewonnenen Einsichten und den (Beifall bei der SPD) Rest des Abends. Das betrifft auch die rund 300 000 Menschen, die von Die Sitzung ist geschlossen. Kettenduldungen betroffen sind. Auch sie benötigen eine Perspektive; sonst gibt es keine Integration. (Schluss: 21.51 Uhr) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Juni 2006 3675

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Adam, Ulrich CDU/CSU 21.06.2006* Raidel, Hans CDU/CSU 21.06.2006**

Bär, Dorothee CDU/CSU 21.06.2006 Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 21.06.2006

Bätzing, Sabine SPD 21.06.2006 Schily, Otto SPD 21.06.2006

Barnett, Doris SPD 21.06.2006* * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Bartsch, Dietmar DIE LINKE 21.06.2006 ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der NATO Bollen, Clemens SPD 21.06.2006

Deittert, Hubert CDU/CSU 21.06.2006* Anlage 2 Erklärung Dreibus, Werner DIE LINKE 21.06.2006 der Abgeordneten Ulla Burchardt (SPD) zur Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 21.06.2006 namentlichen Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 21.06.2006 Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung Joseph DIE GRÜNEN des Bundeshaushaltsplans für das Haushalts- jahr 2006 (Haushaltsgesetz 2006); hier: Einzel- (B) Fischer (Karlsruhe- CDU/CSU 21.06.2006* plan 04 – Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin (D) Land), Axel E. und des Bundeskanzleramtes (Tagesordnungs- punkt I.6) Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 21.06.2006 Ich habe versehentlich mit Nein gestimmt. Mein Götz, Peter CDU/CSU 21.06.2006 Vo tu m l a u te t J a .

Haustein, Heinz-Peter FDP 21.06.2006 Anlage 3 Herrmann, Jürgen CDU/CSU 21.06.2006** Erklärung Hilsberg, Stephan SPD 21.06.2006 des Abgeordneten Dr. Hermann Scheer (SPD) Hirsch, Cornelia DIE LINKE 21.06.2006 zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus- Höfer, Gerd SPD 21.06.2006* schusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte Hörster, Joachim CDU/CSU 21.06.2006* an der EU-geführten Operation EUFOR RD CONGO zur zeitlich befristeten Unterstützung Dr. Hoyer, Werner FDP 21.06.2006** der Friedensmission MONUC der Vereinten Nationen während des Wahlprozesses in der Kolbow, Walter SPD 21.06.2006 Demokratischen Republik Kongo auf Grund- lage der Resolution 1671 (2006) des Sicherheits- Dr. Lamers (Heidelberg), CDU/CSU 21.06.2006** rates der Vereinten Nationen vom 25. April 2006 Karl (37. Sitzung, Tagesordnungspunkt 3 a)

Niebel, Dirk FDP 21.06.2006 In der Ergebnisliste ist mein Name nicht aufgeführt. Mein Votum lautet Ja. Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44 ISSN 0722-7980