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und auch seine Single „Love Religion“, Pop die gerade mit Gold ausgezeichnet wur- de. Einzige menschliche Beigabe ist die Stimme einer unbekannten Sängerin – den Rest erledigte die Rhythmusmaschi- Hits aus der Kiste ne. „Manchmal“, gibt Christensen zu, „bin ich selbst überrascht, wie einfach Die erfolgreichste Popmusik der neunziger Jahre kommt aus dem Computer, das alles ist.“ Der Erfolg von Christensens U 96 ist sie hat keine Melodie mehr und erst recht keine Botschaft. 140 Schläge pro in vielerlei Hinsicht typisch für die Pop- Minute und ein Videoclip reichen aus, einen Popstar zu machen – vor allem musik am Ende des Jahrtausends: Der Sound kommt aus dem PC, und der Deutsche profitieren vom Trend zur elektronischen Ein-Mann-Hitfabrik. steht irgendwo in Deutschland. Auf dem deutschen Musikmarkt, dem drittgrößten weltweit, dominieren die heimischen Klangerzeuger jetzt schon: Unter den Top 100 der deutschen Sin- gle-Charts waren Anfang Februar 41 na- tionale Produktionen zu finden. Gruppen wie E-Rotic, Pharao oder Centory & Turbo B. tauchen aus dem musikalischen Nichts auf, landen mit ih- ren Videos in der „Heavy Rotation“, der Dauersendeschleife beim deutschen Musik-TV-Sender Viva – und ver- schwinden nach ein, zwei Hits wieder da, woher sie gekommen waren. Auch international ist deutscher Techno-Pop der Hit dieser Jahre: Szenehelden wie der Frankfurter Disk- jockey Sven Väth (SPIEGEL 45/1993) oder die Berlinerin Marusha (SPIEGEL 22/1994) werden in New York oder Lon- don zu Höchstpreisen für Disco-Auftrit- te engagiert, Christensens „Boot“ kreuzte monatelang in den US-Charts. Zu den Frankfurter Hitproduzenten Luca Anzilotti und Michael Münzing, die unter dem Projektnamen „Snap“ weltweit erfolgreich sind (SPIEGEL 40/1994), pilgern devot Musikbosse aus den USA und England. Die Spezialisten für High-Tech-Videos werden die Stars auf der Musikmesse in Frankfurt am Main sein, die in dieser Woche beginnt. Beim angloamerikanischen Musikka-

C. KELLER / GRÖNINGER nal MTV wurden deutsche Produktio- Popstar Christensen: „Manchmal bin ich überrascht, wie einfach das alles ist“ nen noch vor ein paar Jahren mitleidig belächelt – allenfalls hob die Londoner ier also stirbt der Rock’n’Roll: In spielen“, sagt der Popstar, „und singen Europa-Zentrale entgegen den eigenen einer ehemaligen Garage in Ham- kann ich erst recht nicht.“ Geschmacksprinzipien Herbert Gröne- Hburg-Winterhude. Immerhin ist Trotzdem ist ein meyer oder Marius Müller-Westernha- der Ort dafür noch klassisch gewählt, Popstar. Der 27jährige Hamburger hat gen für den wichtigen Markt Deutsch- wohl als letzte Reminiszenz an jene in seiner erst dreijährigen Karriere über land ins Programm. Tage, in denen Popmusik handgemacht eine Million Platten verkauft und stand Doch mittlerweile sendet MTV zur war und laut und schmutzig. monatelang nahezu weltweit auf den Prime Time den Hit des Berliners Mark’ Doch diese Garage hat nichts mehr Spitzenplätzen der Hitparaden. Oh – dessen Refrain nicht mehr ist vom Charme der legendären, von ver- Alex Christensen? Die Zeiten, in de- als eine aufgedrehte Version des Mi- wegenen Menschen bevölkerten Popfa- nen Namen und Personen in der Pop- chael-Holm-Klassikers „Tränen lügen briken. Sie ist großzügig ausgebaut und musik noch wichtig waren, sind längst nicht“. mit Möbeln vollgestellt, die erst beim vorbei. Christensen ist „U 96“, eine Und den simplen, aber eingängigen unbequemen Sitzen verraten, daß sie Band, „die nirgendwo anders existiert Beat, mit dem das Düsseldorfer Label viel Geld gekostet haben müssen. als in meinem Kopf und dieser Kiste Wolfen Music den durch die Milka-Wer- Im hinteren Teil des Gebäudes ist hier“, wie der Künstler sagt. Dabei bung berühmt gewordenen 78jährigen ein Tonstudio installiert, das zumindest klopft er auf einen kleinen Computer, Schweizer Almöhi Peter Steiner zum ahnen läßt, daß hier Musik produziert der so unscheinbar aussieht, als könne Dance-Star macht, findet sogar der wird. Der Aufnahmeraum aber ist leer: man darauf gerade mal eine Einkaufsli- MTV-Moderator Ray Cokes klasse: kein Schlagzeug, kein Keyboard, keine ste tippen. „Der Schoko-Opa ist doch cool.“ Gitarren, nicht mal ein Mikrofon. Kein Doch in „dieser Kiste“ ist „Das Boot“ Innerhalb der letzten 24 Monate hat Wunder: „Ich kann kein Instrument entstanden, Christensens größter Hit, sich der Absatz der deutschen Dance-

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KULTUR P. LANGROCK / ZENIT Techno-Party „Love Parade“ in Berlin: „Du bist super gut, ich bin super gut“

floor-Musik, jener schnellen, stereoty- den Wiedererkennungswert als auch auf pen Rhythmusnummern, die in den die sogenannte Tanzbarkeit ihrer angesagten Disco-Dauernächten ohne Sound-Übermalungen. Pause abgenudelt werden, verdoppelt. Daß gerade die Deutschen auf diesem Geschätzter Umsatz: rund 500 Millio- Gebiet weltweit vorne sind, erklärt nen Mark. Christensen so: „Das hat viel mit präzi- Hinter den gold- und geldträchtigen ser Fummelarbeit und Geduld zu tun“, Dance- und Techno-Produktionen ste- und das seien – „wie man so sagt“ – im- hen meistens Typen und Firmen, die mer noch deutsche Tugenden. noch vor wenigen Jahren in der Branche Außerdem gebe es hierzulande seit vollkommen unbekannt waren. Platten- den siebziger Jahren, in denen Gruppen label wie Low Spirit, das 1994 mehr als wie Tangerine Dream oder Kraftwerk zwei Millionen Platten verkaufte, oder zum erstenmal mit elektronischer Musik Zyx, das vor allem mit Zusammenstel- experimentierten, so etwas wie eine lungen („Compilations“) von Dance- Tradition künstlicher Sounds. Hits zum Branchenführer wurde, sind Auch diese Techno-Pioniere profitie- die bekanntesten unter den Dutzenden ren vom Trend zur „Krautmusic“ – sie von Klein- und Kleinstunternehmen, die erleben gerade vor allem in den USA ein kaum noch erwartetes Come- back. „Noch nie hat die Industrie Zwar bieten längst nicht alle, die sich eine Musik derzeit am Klangcomputer versuchen, die künstlerische Qualität jener Vorgän- so schnell vereinnahmt“ ger; auch ist nicht für jeden im Wirt- schaftswunderland Techno das große sich in Deutschland zur Zeit etabliert Geld drin – trotzdem rechnet sich der haben. neue Sound aus der Elektroklangma- Meist nutzen ehemalige Diskjockeys schine für die meisten: Der Preis für ein wie Väth oder Christensen Erfahrun- im heimischen Kellerstudio produziertes gen, die sie während ihrer Lehr- und Techno-Stück liegt bei ungefähr 5000 Wanderjahre in den großstädtischen Mark, nur etwa ein Zehntel von dem, Tanzschuppen gewonnen haben. „Hier was ein sehr günstig hergestellter Rock- habe ich den sofortigen Beweis, was an- song kostet. kommt oder nicht“, sagt Christensen. Solche Investitionen sind schon bei „Worauf die Leute abhotten, das ver- minimalen Verkäufen bald wieder ein- kauft sich auch gut.“ gespielt. Euphorisch bejubelte das Ma- Die Diskothek als Marktforschungsla- gazin Tempo den Billigsound aus der bor – inzwischen versuchen sich Hun- elektronischen Kiste als bedeutenden derte von ehemaligen Plattenauflegern Emanzipationsschritt, den „schon Marx als selbständige Musikproduzenten. Sie gefordert hatte – die Demokratisierung mischen mit Computerhilfe vorzugswei- der Produktionsmittel“. se alte Pophits neu ab, unterlegen sie Die Zeiten der Gründereuphorie, des mit einem schnellen, nach Schlagzeug Experimentierens und der Innovation, klingenden Beat und setzen sowohl auf die in den ersten Techno-Tagen Anfang

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der neunziger Jahre die lethargische Ju- per gut“) werden, solange sie mit stamp- gendszene aufmöbelten, sind offenbar fendem Takt daherkommen, zu Hits. schon wieder vorbei: Was als Freizeit- Szepanskis Fazit: „Noch nie hat die In- spaß der Computerkid-Generation be- dustrie eine Musik so schnell und massiv gann und in ekstatischen Tanznächten vereinnahmt.“ als konsequent autistisches Amüsement Techno- und Dance-Musik sind Main- der Single-Gesellschaft zelebriert wur- stream geworden, „autoradiokompati- de, ist ein Geschäft wie jedes andere ge- bel und hitparadenfähig“ – wie selbst die worden. biedere Neue Zürcher Zeitung resigniert Dabei ist Techno die erste Subkultur, schrieb. „Love, Peace und Unity“, die die nicht gegen den Kapitalismus rebel- Ideale, mit denen die neue Bewegung lierte. Doch nun haben die Macher an- blauäugig und voller Sehnsucht gestartet gefangen, sich ihrer ökonomischen war, dienen jetzt auch als Schlagworte Macht bewußt zu werden und erleben für die nächste Werbekampagne von deren Verführungskraft nach dem Mot- Jeans- oder Sportschuh-Herstellern. to: Leb mit ihr oder stirb. Nicht jeder der Beteiligten bedauert Große Plattenfirmen wie Sony oder das. „Bleib mir bloß mit Botschaften Polydor mischen beim Werben um die weg“, sagt Christensen, „die Zeiten sind Kaufkraft der Disco-Gänger – nicht we- endgültig vorbei.“ Trotzdem nervten niger als 6,5 Millionen jede Woche – auch ihn diejenigen, die jetzt mit „ein kräftig mit. Mit Hilfe des überraschend bißchen Technik, wenig Grips und blö- STILLS / STUDIO X Computermusik-Pioniere Kraftwerk: Vorbilder für den Billigsound

erfolgreichen deutschen Musiksenders den Texten“ das große Geld machen Viva, an dem die großen Plattenkonzer- würden. ne Deutschlands maßgeblich beteiligt Doch nun die Rückkehr zu großen sind, puschen sie ihre Dutzendware so Inhalten zu fordern hält er für „nicht lange über den Schirm, bis sie wirklich weniger schwachsinnig. Die Leute wol- für bedeutend und des Kaufes wert ge- len nur eines: Spaß“, sagt er, „und wir halten wird. geben ihnen das, was sie wollen“. Die Auch die Geschäftstüchtigen an der Kritik am künstlichen Sound läßt Chri- Peripherie der Branche sind auf den stensen nicht gelten: „Als die erste Dance-Zug aufgesprungen. Die bislang elektronische Gitarre auf den Markt letzte „Love Parade“ in Berlin, der Kar- kam, haben die Musikpuristen auch ge- nevalsumzug der Techno-Szene mit jammert.“ Der Computersound komme hunderttausend Besuchern, sponserte nun mal den Kids am nächsten. „Die der Zigarettenmulti Camel. Diverse sind mit dem schnellen und präzisen Energiedrink-Hersteller wetteifern um Medium aufgewachsen, das wollen die den Zuschlag als Hauptsponsor für die jetzt auch als Musik hören.“ erschöpfenden Tanznächte. Für alle Fälle hat Christensen aber Und die Musik selbst, die früher wil- schon in seinem Computer vorgesorgt: der und harter Rhythmus war, „ähnelt Sollte einmal wieder handgemachter heute stark der Volksmusik“, wie Pop angesagt sein, ist die entsprechen- Achim Szepanski, ein Macher der ersten de Software bereits installiert. Darin Techno-Stunde, frustriert feststellt: klingt alles „wie 1974“, ein bißchen alt, Der ewig gleiche Viervierteltakt tra- mit ein paar einprogrammierten Mak- ge nur noch „Schlager mit neuen ken: Selbst das elektronisch imitierte Sounds“. Schlagzeug hinkt wieder ein wenig hin- Selbst Schwachsinnstexte („Du bist terher – „wie bei Charlie Watts von super gut, ich bin super gut, alles ist su- den Stones“. Y

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