Antisemitismus in Deutschland

Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze

Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus Antisemitismus in Deutschland

Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze

Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus Inhalt

I. Antisemitismus – Kontext und Defi nition 4

1. Einleitung: Auftrag, Selbstverständnis und Arbeitsweise des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus 4 2. Antisemitismus – Begriffsbestimmung und Erscheinungsformen 10

II. Bestandsaufnahme 14

1. Antisemitismus im Rechtsextremismus – externe und interne Funktionen, formale und ideologische Varianten 14 2. Antisemitismus und Linksextremismus. Eine Analyse zur Israel- und Kapitalismuskritik im öffentlichen Diskurs 23 3. Exkurs: Zur Prüfung von Antisemitismusvorwürfen gegenüber der globalisierungskritischen Bewegung und dem Netzwerk „Attac“ 30 4. Antisemitisch motivierte Straftaten 35 5. Antisemitismus im Islamismus 42

III. Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft 54

1. Antisemitische Einstellungen in Deutschland – Befunde der Meinungsforschung 54 2. Antisemitismus im politischen Diskurs, in Kultur und Alltag 66 3. Migrationshintergrund und Antisemitismus 78 4. Tradierung antisemitischer Stereotype durch gesellschaftliche Sozialisationsinstanzen 84 5. Klischees, Vorurteile, Ressentiments und Stereotypisierungen in den Medien 98 Antisemitismus in türkischsprachigen Medien 109 Antisemitismus in arabischsprachigen islamistischen Fernsehsendern: „Al-Manar-TV“ und „Al-Aqsa-TV“ 118 Deutschsprachige iranische und mit dem iranischen Regime sympathisierende Medien 123 6. Präsenz und Wahrnehmung von Antisemitismus in der Gesellschaft 127 7. Internationales Engagement gegen Antisemitismus und Befunde aus anderen europäischen Ländern 137

IV. Präventionsmaßnahmen 146

V. Fazit – die wichtigsten Ergebnisse des Berichts 176

VI. Empfehlungen 184

Die Mitglieder des unabhängigen Expertenkreises 190

Abkürzungsverzeichnis 192

Literaturverzeichnis 194

3 Antisemitismus – I. Kontext und Definition

1. Einleitung: Auftrag, ■ Aycan Demirel, Mitbegründer und Leiter der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, Selbstverständnis und Berlin Arbeitsweise des unab- ■ Dr. Olaf Farschid, Islamwissenschaftler und hängigen Expertenkreises wissenschaftlicher Referent bei der Senats- Antisemitismus verwaltung für Inneres, Berlin ■ Elke Gryglewski, Haus der Wannseekonferenz, Auftrag Berlin

Auf Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP ■ Prof. Dr. Johannes Heil, Leiter der Hochschule und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des geson- für Jüdische Studien Heidelberg derten identischen Antrags der Fraktion „Die Linke“ fasste der Deutsche am 4. No- ■ Prof. Dr. Peter Longerich, University of London, vember 2008 den Beschluss, „Den Kampf gegen Holocaust Research Center Antisemitismus zu verstärken und jüdisches Leben in Deutschland weiter zu fördern“.1 Der Deutsche ■ Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber, Politikwissen- Bundestag forderte die Bundesregierung auf, ein schaftler und Soziologe an der Fachhochschule Expertengremium aus Wissenschaftlern und des Bundes, Brühl Praktikern einzusetzen, das in regelmäßigen Abständen einen Bericht zum Antisemitismus in ■ Dr. Martin Salm, Vorstandsvorsitzender der Deutschland erstellt und dabei Empfehlungen Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und ausspricht, wie Programme zur Bekämpfung von Zukunft“ (EVZ), Berlin (Ende 2010 aus gesund- Antisemitismus entworfen und weiterentwickelt heitlichen Gründen ausgeschieden) werden können. Am 5. August 2009 informierte der damalige Bundesinnenminister Dr. Wolfgang ■ Prof. Dr. Julius H. Schoeps, Direktor des Schäuble das Bundeskabinett über die bevorste- Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch- hende Arbeitsaufnahme und Zusammensetzung jüdische Studien, Potsdam des unabhängigen Expertenkreises aus Wissen- schaft und Praxis und lud den Expertenkreis zu ■ Dr. Wahied Wahdat-Hagh, Senior Research dessen konstituierender Sitzung am 9. Septem- Fellow bei der „European Foundation for ber 2009 in das Bundesministerium des Innern ein. Democracy“ in Brüssel Die Expertinnen und Experten2 wurden entspre- chend der Aufgabenstellung unter fachlichen und ■ Dr. Juliane Wetzel, wissenschaftliche sachlichen Kriterien ausgewählt und repräsentie- Angestellte am Zentrum für Antisemitismus- ren profundes Fachwissen aus unterschiedlichen forschung, TU Berlin Theorie- und Praxisperspektiven. Der unabhängige Expertenkreis wählte zunächst Der unabhängige Expertenkreis Antisemitismus Dr. Martin Salm und Prof. Dr. Peter Longerich zu setzt sich wie folgt zusammen (in alphabetischer seinen Koordinatoren.3 Nachdem Dr. Salm aus Reihenfolge): dem Gremium ausgeschieden war, wurde am

1 Deutscher Bundestag Drucksache 16/10775 (neu) sowie 16/10776 vom 4. November 2008, http://dip21.bundestag.de/dip21/ btd/16/107/1610775.pdf; http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/107/1610776.pdf [eingesehen am 12. Mai 2011]. 2 Obgleich besonders im Bereich der Pädagogik großer Wert auf die Nennung beider Geschlechter gelegt wird, hat sich der Expertenkreis dazu entschlossen, alle personenbezogenen Begriffe aus Gründen der leichteren Lesbarkeit im generischen Maskulinum zu verwenden. 3 Seit März 2010 arbeitet Frau Dr. Miriam Bistrovi´c als „Freie Mitarbeiterin des Expertenkreises“, um die Koordinatoren zu unter- stützen, Rechercheaufträge der Experten zu erledigen, organisatorische Fragen zu klären und die Koordination des Berichts zu terminieren.

4 Antisemitismus – Kontext und Defi nition

29. November 2010 Dr. Juliane Wetzel zu seiner densein antisemitischer Vorurteile und zählen Nachfolgerin gewählt. Vorfälle auf, aber das Ausmaß des Antisemitismus lässt sich – ebenso wenig wie seine Wirkung auf Selbstverständnis und Arbeitsweise des Einzelne, auf Gruppen und auf die Gesellschaft un abhängigen Expertenkreises Antisemitismus insgesamt – nicht verbindlich bestimmen. Die Wirkung hängt letztlich von individuellen Stand- Kontext orten und Einbindungen ab. Individuelle Ein- schätzungen, persönliche Dispositionen, mediale Erscheinung, Deutung und Bekämpfung des Anti- Verdichtungen und momentane Auffälligkeiten semitismus sind, ungeachtet der verschiedenen entscheiden über die Bedeutungszumessung von Perspektiven von Juden und Nichtjuden darauf, Antisemitismus. Antisemitismus ist also mitnich- nach 1945 von der zeitlichen Nähe zum National- ten ein in reinen Zahlen zu erfassendes Moment sozialismus und dessen langfristigen Folgen gesellschaftlicher Wirklichkeit. Zudem unterlie- bestimmt. Erfahrungen, Erwartungen, Beobach- gen Manifestation wie auch Wahrnehmung von tungen und Deutungen, aber auch unterschwel- Antisemitismus ganz eigenen Konjunkturen, auf lige Befürchtungen und unbewusste Verhaltens- die Wahlkämpfe, nationale Großdebatten mit weisen bestimmen diese Wahrnehmung. Deshalb weiter öffentlicher Anteilnahme, soziale Bewegun- sind zum Verständnis gegenwärtiger Erschei- gen und Netzwerke (Attac), politische Krisen und nungsformen von Antisemitismus im Bericht des globale Themenfelder, aber auch gesellschaftliche unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus Großereignisse (Sportveranstaltungen, Kirchen- nicht nur Momentaufnahmen aus der jüngsten tage etc.) zusätzlich einwirken.4 Gegenwart, sondern auch klärende Analysen über die jüngere Geschichte zu unternehmen. Einzelne Die Wahrnehmung von Antisemitismus und ein- Manifestationen von Antisemitismus oder Ereig- zelner Ereignisse im öffentlichen Raum verbleibt nisse, die entsprechend zugeordnet werden – man hinsichtlich des Gegenstands selbst diffus, ist sie denke nur an NPD-Aufmärsche und die dagegen doch kaum angehalten, sich um begriffl iche oder mobilisierten Abwehrrituale samt entsprechender inhaltliche Differenzierungen zu bemühen. medialer Präsenz – reichen aus, um Besorgnisse über die weitere Verbreitung von Antisemitismus Antisemitismus hat in der politischen Kultur des in der Gesellschaft und damit auch hinsichtlich demokratischen Deutschland keinen Platz, denn er ihrer inneren Verfassung und Stabilität zu wecken. gilt als historisch delegitimiert. So zumindest lau- Antisemitische Tendenzen berühren nicht nur die tet der Soll-Zustand des Konsenses, auf den sich die Frage nach Verlässlichkeit und Funktionstüchtig- deutsche Gesellschaft in einem langen Lernprozess keit der demokratisch-pluralen Grundlage dieses verständigt hat. Der Weg, der seit 1945 bis hierher Staates und seiner Gesellschaft, sondern auch die unternommen wurde, war lang, auch keineswegs notwendige Auseinandersetzung mit dem Natio- zielgerichtet oder gradlinig und erweist sich als nalsozialismus, der zum größten Völkermord in Abfolge komplexer, teilweise unabsehbarer Ereig- der Menschheitsgeschichte geführt hat. Vor dem nisse. Im Unterschied zu den Jahren unmittelbar Hintergrund der historischen Verantwortung der nach 1945 provozieren antisemitische Manifesta- Bundesrepublik ist eine besondere Sensibilität tionen heute unmittelbare Entgegnungen: Wo sie im Umgang mit Antisemitismus unerlässlich, die sich unverblümt oder auch in Andeutungen äußern, ebenso die Traumatisierungserfahrungen der jüdi- greift gesellschaftliche Selbstkontrolle auf unter- schen Bevölkerung im Blick hat. Die Auseinander- schiedlichen Ebenen und mit verschiedenen For- setzung mit Antisemitismus darf allerdings nicht men der Entgegnung. Im öffentlichen Raum kommt in der historisch-politischen Beschäftigung mit es zu einer eingespielten Abfolge von Publikation, dem Thema verharren, sondern muss die Bekämp- Skandalisierung, Formulierung kollektiver Gegen- fung all seiner aktuellen Erscheinungsformen positionen durch Leitmedien, politischen Stellung- als Teil der bundesrepublikanischen Staatsräson nahmen und dergleichen. Zu Gegenständen von begreifen. Disputen geraten dann jene Momente, in denen die Bewertung umstritten ist oder mit offensichtlich an- Umfrageergebnisse und Vorfälle, die beinahe im tisemitischen Inhalten der Versuch unternommen Tagesrhythmus in kleinen Meldungen oder Beiträ- wird, Grenzen zu überschreiten. Dies gilt für die ver- gen in den Medien begegnen, belegen das Vorhan- schiedenen Etappen der Fassbinder-Kontroverse5,

4 Es wäre noch näher zu bestimmen, inwieweit antisemitische Manifestationen diesen Zyklen folgen. 5 Heiner Lichtenstein (Hrsg.), Die Faßbinder-Kontroverse oder: Das Ende der Schonzeit, Königstein 1986; Janusz Bodek, Die Fassbinder- Kontroversen. Entstehung und Wirkung eines literarischen Textes. Zu Kontinuität und Wandel einiger Erscheinungsformen des Alltagsantisemitismus in Deutschland nach 1945, seinen künstlerischen Weihen und seiner öffentlichen Inszenierung, Frank- furt a. M. 1991; Werner Bergmann, Antisemitismus in öffentlichen Konfl ikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949–1989, Frankfurt a. M. 1997, S. 424–440; Wanja Hargens, „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Rainer Werner Fassbinder und ein Stück deutscher Zeitgeschichte, Berlin 2010.

5 Antisemitismus – Kontext und Defi nition

die Auseinandersetzung zwischen Martin Walser Bundesrepublik als Gegenstand einer Auseinan- und Ignatz Bubis6 oder die Diskussion um Walsers dersetzung im pluralen Raum der Gesellschaft. Roman „Tod eines Kritikers“ (→ Antisemitismus Insgesamt betrachtet haben der Antisemitismus im politischen Diskurs, in Kultur und Alltag)7 und die Auseinandersetzung mit ihm eine ganz und zuletzt auch für die Reaktionen auf die wesentliche Rolle für das Selbstverständnis der Tendenzen, die in Teilen der Partei „Die Linke“ deutschen Gesellschaft gespielt. öffentlich wurden und im Mai 2011 zu einer „Aktu- ellen Stunde“ im Deutschen Bundestag führten Die Ursprünge des Diskurses über den Antisemi- ( → Präventionsmaßnahmen). tismus reichen in die frühen 1950er-Jahre zurück, fallen also unmittelbar mit der Gründung der Bun- Gerade ob seiner Bannung im öffentlichen Raum desrepublik und der Deutschen Demokratischen ist Antisemitismus – so paradox das klingen mag – Republik sowie der Übergabe der kontrollierten in der Realität der Bundesrepublik überaus prä- Souveränität an die beiden deutschen Staaten aus sent, und das auf vielschichtige Weise. Antisemi- den Händen der Alliierten zusammen. Sie waren da- tismus wird erfahren und erlebt; er wird, wo er sich bei wesentlich von Vorgaben und Erwartungen der bemerkbar macht, benannt und bekämpft, aber er Alliierten bestimmt, haben aber rasch selbständige wird auch erwartet und befürchtet.8 Konturen gewonnen. Die Umrisse der im Staats- Antifaschismus aufgehobenen Antisemitismus- Diese Gesellschaft hat nach der Shoah eine ganz Verbannung (DDR) und die Etappen des kollektiven eigene Erfahrung mit Antisemitismus gesammelt, Lernprojekts Antisemitismusabwehr (Bundesrepu- sowohl was den Umgang mit diesem Vorurteil blik) sind in den vergangenen Jahren ausführlich angeht, als auch mit seiner Bewertung. Damit ist erforscht worden, zumal in Hinblick auf die offenen eine ganz spezielle, aus den deutschen Verhältnis- Bedingungen, die die Situation in der Bundesrepu- sen und der Nachkriegsgeschichte erwachsende blik bestimmten: Antisemitische Skandale und ihre Dynamik der Beurteilung des Ausmaßes und des Erfassung waren öffentlich ausgetragene Konfl ikte Charakters von Antisemitismus entstanden, aber – und trugen wesentlich zur Politisierung der Öffent- auf der anderen Seite – auch eine Dynamik der lichkeit bei.9 Von Initialkonfl ikten wie dem um die aktiven Manifestation von Antisemitismus, der Rückkehr des NS-belasteten Filmregisseurs Veit im Wissen um die leicht zu erzielende öffentliche Harlan („Jud Süss“) ins Studio und auf die Leinwand Wirkung eingesetzt werden kann. Die Abwehr von sowie vergleichbaren Auseinandersetzungen der Antisemitismus im Mehrheitsdiskurs und sein akti- frühen Jahre10 führt eine direkte Linie bis in die ver Einsatz durch interessierte Gruppen und Einzel- jüngste Gegenwart hinein. Man denke nur an die persönlichkeiten, der von gezielten Anspielungen Mobilisierung antisemitischer Denkmuster und bis zu offen formulierten antisemitischen Provoka- Traditionen durch Jürgen W. Möllemann (FDP) oder tionen und Gewalttaten reichen kann, bilden die die Debatte um den Fuldaer CDU-Bundestagsabge- ungleichen Seiten ein- und derselben Medaille, ordneten . die von diametral entgegengesetzten Seiten beschrieben werden. Was sich als primär deutsche Form des Antisemi- tismus nach 1945 manifestierte, wurde konzise als Die Auseinandersetzung mit dem National- „Schuldabwehr-Antisemitismus“ beschrieben. Die- sozialismus und dessen Verbindung mit der se immer wieder formulierte Entlastungsstrategie jahrhundertealten Tradition des Antisemitismus führt mit Verweis auf die behaupteten„endlosen samt seinen aktuellen Erscheinungs- und Äuße- Wiedergut machungszahlungen“ und deren rungsformen ist somit ein, nach zögerlichen insinuierte Unrechtmäßigkeit mit neuer Aufl a- Anfängen, allmählich zugewachsener Teil der dung das althergebrachte Motiv vom „gierigen politischen Kultur Deutschlands geworden, in der Schacherjuden“ mit – gelegentlich unterschwellig, DDR als staatstragender Antifaschismus, in der oft auch offensiv. Diese Verknüpfung hat auch alle

6 Frank Schirrmacher (Hrsg.), Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation, Frankfurt a. M. 1999. 7 Frank Schirrmacher, Lieber Martin Walser, Ihr Buch werden wir nicht drucken, in: FAZ, vom 29. Mai 2002; als Beispiele für die anhaltend unterschiedlichen Bewertungen Matthias N. Lorenz, Auschwitz drängt uns auf einen Fleck. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser, Stuttgart 2005; Daniel Hofer, Ein Literaturskandal, wie er im Buche steht. Zu Vorgeschichte, Missverständnissen und medialem Antisemitismusdiskurs rund um Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“, Berlin 2007. 8 Carsten Heinze, Identität und Geschichte in autobiographischen Lebenskonstruktionen. Jüdische und nichtjüdische Vergangen- heitsbearbeitungen in Ost- und Westdeutschland, Wiesbaden 2009. 9 Bergmann, Antisemitismus in öffentlichen Konfl ikten; ferner jetzt Monika Halbinger, Das Jüdische in den Wochenzeitungen Zeit, Spiegel und Stern (1946–1989) – Berichterstattung zwischen Popularisierungsbemühung, Vereinnahmung und Abwehr, München 2010, S. 147 ff. 10 Bergmann, Antisemitismus in öffentlichen Konfl ikten, zu Harlan ebd., S. 86–117; dazu auch Francesca Falk, Grenzverwischer. „Jud Süss“ und „Das Dritte Geschlecht“: Verschränkte Diskurse von Ausgrenzung, Innsbruck 2008; Langlebigkeit und Gewicht solcher Debatten unterstreicht auch ein ganz junger Versuch der Revision des Konsenses über Harlan: Ingrid Buchloh, Veit Harlan – Goebbels’ Starregisseur, Paderborn 2010.

6 Antisemitismus – Kontext und Defi nition

Restitutionsverhandlungen und vertraglichen Persönlichkeit jüdischen Lebens in Deutschland, Übereinkünfte mit Opfergruppen der NS-Herr- aber jeder derartige Angriff wird nicht nur als schaft von Anfang an begleitet und wird bis heute, brutale Störung der Totenruhe erlebt, sondern auch in ganz andere Zusammenhänge hinein – soll als am besonders sensitiven Ort hinterlegtes etwa die Entschädigung von nichtjüdischen Zeichen der umfassenden Ablehnung von Juden Zwangsarbeitern –, fortgeschrieben.11 einzig ob ihres Judeseins verstanden werden. Die Gesellschaft reagiert auf solche Übergriffe Dazwischen stehen allerlei ähnliche Ereignisse (meist) mit Abscheu, unter Juden als speziellen in der Skandalchronik der Bundesrepublik. Eine Adressaten zielen sie auf Verletzung und sollen ein Vielzahl von Kampagnen und Fehlgriffen, unbe- Klima der Angst schaffen. dachte wie gezielt platzierte, haben mit der ihnen entgegengesetzten medialen Skandalisierung Arbeitsweise letztlich gezeigt, dass prononciert antisemitische Haltungen nicht mehrheitsfähig, aber immerhin Der Expertenkreis traf sich in regelmäßigen Ab- zur Gewinnung von Aufmerksamkeit dienlich sind ständen, um Inhalt, Struktur und einzelne Teile des und sich als Instrument der Polarisierung vorzüg- ersten Berichts, der im November 2011 dem Deut- lich eignen. schen Bundestag vorgelegt wird, zu besprechen. Für Fragen der Empirie und der beiden großen Auf extreme Weise gehören gewaltsame Angriffe Kirchen wurden Experten von außen hinzugezo- auf Juden und jüdische Einrichtungen in diesen gen. Ihre Expertisen werden über die Webseite des Zusammenhang. Neben Synagogen und Gemeinde - Expertenkreises15 zur Verfügung gestellt. einrichtungen erzeugen besonders Schändungen ungeschützter jüdischer Friedhöfe in Städten Dieser Bericht des unabhängigen Expertenkreises und ob ihrer meist abseitigen Lage besonders in erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, er ist Dörfern verlässlich hohe emotionale Wirkung eine erste Bestandaufnahme, die den Fokus auf und garantieren einen hohen medialen Effekt bei bestimmte Schwerpunkte legt und die Grundlage zugleich geringem Entdeckungsrisiko für die Täter. für mögliche spätere Berichte bilden soll. Entsprechend gehen die Zahlen solcher Angriffe in die Hunderte, allein für das Jahr 2008 wurden Dem Bericht ist eine vom Expertenkreis erarbeitete 53 Schändungen jüdischer Friedhöfe gezählt12 Antisemitismusdefi nition vorangestellt. Die hier (→ Antisemitisch motivierte Straftaten). Ebenso definierten Antisemitismen sind häufig latent, wie die antisemitische Schmierwelle gegen Syna- können aber in verschiedenen Zusammenhängen gogen und andere jüdische Einrichtungen zur Jah- oder situativ auch manifest auftreten. In der Defi ni- reswende 1959/6013 sowie vergleichbare Ereignisse tion nicht enthalten sind solche, für die Erfassung entfaltet die bis heute fortdauernde, lange Reihe des Gegenstands durchaus wichtigen Formen, in von Schändungen jüdischer Friedhöfe besonders denen es sich eher um Stereotypisierungen von auf Juden in Deutschland und jüdische Gemein- Juden oder um Klischees, Vorurteile und Ressen- den eine nachhaltige Wirkung. Gleich mehrfach timents gegenüber Juden handelt. Die Begriffe Ste- wurden, um nur ein Beispiel zu nennen, gewalt- reotyp, Klischee, Vorurteil und Ressentiment, die in same Anschläge auf die Berliner Grabstätte des diesem Bericht weitgehend synonym Verwendung früheren Zentralratsvorsitzenden Heinz Galinski fi nden,16 markieren häufi g Grauzonen, die je nach (1912–1992) verübt.14 Hier richtete sich die Attacke Kontext – also was sagt wer, wann und mit welcher symbolträchtig gegen eine herausragende Absicht – unterschiedlich lesbar sind. Große Teile

11 Werner Bergmann, „Störenfriede der Erinnerung“ – zum Schuldabwehr-Antisemitismus in Deutschland, in: Klaus M. Bogdal (Hrsg.), Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, Stuttgart 2007, S. 13–35; ferner Benno Nietzel, Die jüdische Presse und die Debatte um die Rückerstattung entzogenen Eigentums 1945–1952, in: Susanne Schönborn (Hrsg.), Zwischen Erinnerung und Neubeginn – Zur deutsch-jüdischen Geschichte nach 1945, München 2006, S. 150 ff.; Halbinger, Das Jüdische in den Wochen- zeitungen, S. 126–134, 286–295; ferner Norbert Frei u. a. (Hrsg.), Die Praxis der Wiedergutmachung, Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel, Göttingen 2009, S. 15 ff. 12 Der Tagesspiegel, 20. April 2009, http://www.tagesspiegel.de/politik/deutschland/53-angriffe-auf-juedische-friedhoefe-in-einem- jahr/v_default,1793710.html [eingesehen am 22. Januar 2011]; ferner Marion Neiss, Schweigen mit fatalen Folgen. Das Schänden jüdischer Friedhöfe hat in Deutschland Tradition, in: Jüdische Zeitung, November 2007, http://www.j-zeit.de/archiv/artikel.826.html [eingesehen am 22. Januar 2011]; Marion Neiss, Schändungen jüdischer Friedhöfe in Deutschland, in: Wolfgang Benz/ Angelika Königseder (Hrsg.), Judenfeindschaft als Paradigma. Studien zur Vorurteilsforschung, Berlin 2002, S. 319–326; Monika Schmidt, Schändungen jüdischer Friedhöfe in der DDR, Berlin 2007. 13 Shida Kiani, Zum politischen Umgang mit Antisemitismus in der Bundesrepublik, in: Stephan A. Glienke u. a. (Hrsg.), Erfolgsge- schichte Bundesrepublik? Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, S. 115–145. 14 Siehe etwa den taz-Artikel vom 19. Juli 2002 bei http://www.klick-nach-rechts.de/gegen-rechts/2002/07/galinski.htm [eingesehen am 6. März 2011]. 15 http://www.bmi.bund.de/DE/Themen/PolitikGesellschaft/PolitBildGesellZusammen/Expertenkreis/expertenkreis_node.html [eingesehen am 27. Mai 2011].

7 Antisemitismus – Kontext und Defi nition

des Berichts behandeln eben diese Grauzone, also Frage gestellt, ob es sich bei den beiden Abgeordne- Vorurteile, die nicht eindeutig verfestigten anti- ten um Antisemiten handele. Dagegen zählt allein, semitischen Haltungen zuzuordnen sind. Dass der dass beide aus wahltaktischen Gründen antijüdi- deutsche Diskurs über Juden voller Anspielungen, sche Stereotype bedient haben. Dass beide ihre subtiler Zuschreibungen und Klischees ist, hat Ämter verloren haben, zeigt einmal mehr, dass in viel mit dem anti-antisemitischen Grundkonsens der Bundesrepublik mit solchen Äußerungen kein der Bundesrepublik, aber auch mit vom Strafrecht erfolgreicher Wahlkampf betrieben werden kann, gesetzten Grenzen zu tun. der anti-antisemitische Grundkonsens im öffent- lichen Raum also trägt. Komplizierter allerdings Nicht jedes Stereotyp über Juden muss eine anti- wird die Sachlage bei israelkritischen Aussagen. semitische Konnotation haben. Wenn etwa Artikel Trotz fast schon ritualisierter Behauptungen, eine zu jüdischen Themen aller Art in der Tagespresse Kritik an Israel, der israelischen Regierung oder in einer Art Automatismus mit Bildern von ultra- dem israelischen Militär sei in Deutschland ein orthodoxen Juden illustriert werden, die inhaltlich Tabu, wird diese für legitim gehalten: Zu prüfen ist, keinerlei Verbindung mit dieser Form des Juden- ob die Israelkritik ohne jeglichen antisemitischen tums haben, sondern zum Beispiel in Zusammen- Hintergrund auskommt oder ob sie nur als Platt- hang mit der Berichterstattung über Wahlen in form für im Kern doch antisemitische Vorurteile Israel Verwendung fi nden, sind das zumeist gedan- dient. Die Grenzen sind hier häufi g fl ießend. kenlose Stereotypisierungen, mit der keine anti- semitische Absicht verbunden sein muss. Allerdings Demgegenüber stehen Äußerungen und Hand- können sie durchaus dazu führen, dass vorhandene lungen, die dem extremen politischen Umfeld antisemitische Haltungen bedient werden oder zuzurechnen sind. Sie werden im zweiten Teil gar erst eine Basis für solche Vorurteile geschaffen des Berichts (Bestandsaufnahme) in Bezug auf wird. Im öffentlichen Diskurs spielt es keine Rolle, Rechtsextremismus,17 Linksextremismus und ob antijüdische Statements ein geschlossenes Islamismus behandelt, wobei auch auf das Phä- antisemitisches Weltbild ergeben oder nicht, son- nomen antisemitischer Straftaten eingegangen dern einzig das Faktum ihrer Verwendung. In den wird. Darüber hinaus identifi ziert der Bericht die Debatten um Äußerungen der ehemaligen Bundes- extremistische Ideologie des Islamismus als einen tagsabgeordneten Jürgen W. Möllemann (FDP) neuen Träger von Antisemitismus, erfasst dessen und Martin Hohmann (CDU), deren antisemitisch wichtigste Argumentationsmuster und beschreibt konnotierten Aussagen in den Jahren 2002 und hiervon ausgehende Gefahren. Mit der Behand- 2003 Skandale auslösten, wurde immer wieder die lung des islamistischen Antisemitismus ist

16 Wir verwenden in diesem Bericht die umgangssprachliche Lesart dieser drei Begriffe. Auf eine Berücksichtigung der in der Vorurteilsforschung diskutierten Begriffsdefi nitionen verzichtete der unabhängige Expertenkreis in diesem ersten Bericht. 17 Im alltäglichen Sprachgebrauch werden die Bezeichnungen „Rechtsextremist“, „Rechtsradikaler“ oder „Neonazi“ oftmals syn- onym verwendet. Eine analytische Trennung ist zwar im Rahmen der verfassungs- und demokratietheoretischen Auswertung möglich, doch scheitert diese Unterscheidung in der Praxis häufi g an den vorhandenen ideologischen, personellen und politi- schen Schnittmengen. Stattdessen führt der undifferenzierte Gebrauch der Formulierungen zu „Begriffsverwirrungen“, was sich zum Beispiel beim „Rechtsradikalismus“ beobachten ließ, der mitunter als undifferenzierter „catch-all-term“ fungiert. Die Bezeichnung „Rechtsextremismus/rechtsextremistisch“ ist in erster Linie ein Arbeitsbegriff der Ämter für Verfassungsschutz. Ihr Sprachgebrauch in den öffentlich wahrgenommenen Publikationen (zum Beispiel den alljährlichen Verfassungsschutzbe- richten) prägt zunehmend die gesellschaftliche und zum Teil auch die wissenschaftliche Diskussion über den Extremismus und das in diesem Zusammenhang verwendete Vokabular. Dieser Sprachgebrauch betont vor allem die Rechts-Links-Achse und den Gegensatz von Extremismus und Demokratie, was bei der Evaluierung des Phänomens Antisemitismus nicht immer hilfreich ist. Denn es besteht die Gefahr, die für die Organe der Inneren Sicherheit rechtlich verbindliche Problemwahrnehmung, die politi- schen Extremismus anhand des Kriteriums der Verfassungswidrigkeit bestimmt, auch zum Maßstab der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Problemdefi nitionen zu machen. Vorurteilsbehaftete Einstellungsmuster und Haltungen, die nach Ergebnis- sen der Meinungsforschung kein Alleinstellungsmerkmal von politischen Randgruppen, sondern ein Phänomen in der Gesamt- bevölkerung sind, können und sollen allerdings mit dem Konzept der Verfassungsschutzämter nicht hinreichend beschrieben werden. Wir verwenden den Begriff „extremistisch“ in unserem Bericht daher in erster Linie dann, wenn von verfassungswidri- gen Aktivitäten die Rede ist, und verzichten auf den Zusatz „-istisch“ dann, wenn von einer Beschreibung eines politischen Lagers die Rede ist, ohne das im Einzelnen eine Aussage über die Verfassungswidrigkeit getroffen werden soll und muss. Damit soll ein möglichst breites Spektrum an Vorfällen, Äußerungen und Überzeugungen erfasst werden. Diese Überlegungen basieren auf: Hans-Gerd Jaschke, Politischer Extremismus, Wiesbaden 2006, S. 25 f.; Richard Stöss, Zur Charakterisierung von Rechtsextremis- mus. Theoretische Verständigungen, in: Robert Harnischmacher (Hrsg.), Angriff von rechts, Rostock 1993, S. 5–29, hier: S. 5, 12; Hans-Gerd Jaschke, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, Wiesbaden 2001, S. 23, 27 ff.; Andreas Klärner/Michael Kohl- struck, Rechtsextremismus – Thema der Öffentlichkeit und Gegenstand der Forschung, in: Andreas Klärner/Michael Kohlstruck (Hrsg.), Moderner Rechtsextremismus in Deutschland, Hamburg 2006, S. 7–41, hier: S. 11–14. Die vorgenannten Fragen werden in der Wissenschaft kontrovers diskutiert, es gibt auch anderslautende Positionen wie zum Beispiel Uwe Backes/Eckhard Jesse, Die „Extremismus-Formel“. Zur Fundamentalkritik an einem historisch politischen Konzept, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie 13, Baden-Baden 2001; Mathias Brodkorb, Eine Kritik der Kritik. Über die missverstandene Extremismustheorie, in: Jüdische Zeitung, Nr. 64 vom Juni 2011, S. 17; Armin Pfahl-Traughber, Extremismus und Terrorismus. Eine Defi nition aus politikwissenschaftlicher Sicht, in: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terroris- musforschung 2008, Brühl 2008, S. 9–33.

8 Antisemitismus – Kontext und Defi nition allerdings keine Gewichtung gegenüber den an- zentrale Botschaft die Förderung jüdischen Lebens deren Erscheinungsformen des Antisemitismus in Deutschland enthält, die Perspektive der Opfer in Deutschland verbunden. Dies gilt insbesondere solcher judenfeindlichen Haltungen und Vor- für die aufgrund unzureichender empirischer kommnisse zu beleuchten. Antisemitismus, das Untersuchungen weiterhin ungeklärte Frage, kann nicht oft genug betont werden, ist das Ergeb- ob und inwieweit antisemitische Anschauungen nis einer verzerrten Wahrnehmung gesellschaft- unter den in Deutschland lebenden Muslimen ver- licher Realität und damit ein Problem der Mehr- breitet sind. heitsgesellschaft. Sie ist aufgerufen, sich mit allen Facetten dieses Problems auseinanderzusetzen, Der dritte Teil des Berichts befasst sich mit Anti- und nicht etwa die Repräsentanten der von den semitismus beziehungsweise antisemitischen Anfeindungen und Diskriminierung Betroffenen. Stereotypisierungen in der pluralen Gesellschaft. Neben den Befunden der Meinungsforschung, Schließlich wird in dem Beitrag „Internationales die eine Einordnung der Verbreitung antisemiti- Engagement gegen Antisemitismus und Befunde scher Haltungen ermöglichen, werden Vorurteile anderer europäischer Länder“ ein Blick über die gegenüber Juden im politischen Diskurs, in Kultur Grenzen der Bundesrepublik hinaus geworfen, und Alltag thematisiert und wird der Frage nach- der zum einen die Initiativen der internationalen gegangen, inwieweit Antisemitismus tatsäch- Staatengemeinschaft beleuchtet und zum anderen lich – wie die Medien in den letzten Jahren Glauben zum besseren Vergleich der deutschen Situation machen – unter Migranten besonders verbreitet ist. beispielhaft einige europäische Länder (Frank- Im Kapitel „Tradierung antisemitischer Stereotype reich, Großbritannien, die Niederlande, Schweden) durch gesellschaftliche Sozialisationsinstanzen“ aufführt, in denen der Antisemitismus in den letz- wird deutlich, dass es vielen Institutionen und ten Jahren zum Gegenstand öffentlicher Debatten Einrichtungen, die prägend für Entwicklung und und der Arbeit entsprechender Nichtregierungs- Diskurs in der Bevölkerung sind, bisher an Sensibi- organisationen wurde. lität für die aktuellen Formen des Antisemitismus fehlt. Sie setzen noch immer ihren Fokus allzu sehr Im vierten Teil des Berichts geht es um die Frage, auf tradierte historische antisemitische Inhalte, inwieweit gesellschaftlich und politisch relevante insbesondere solche der NS-Rassenideologie. Institutionen (Justiz, Polizei, Kirchen, Parteien, Sportvereine, Feuerwehr) Präventionsmaßnah- Dieser erste Bericht setzt einen wesentlichen men gegen Antisemitismus initiiert haben bezie- Schwerpunkt auf die Medien, die den öffentlichen hungsweise Programme zu seiner Bekämpfung Diskurs beeinfl ussen beziehungsweise ihn in durchführen und welche Schwerpunkte sie setzen. einer Art Wechselwirkung rezipieren und damit Der unabhängige Expertenkreis diskutiert dabei eine zentrale Funktion erfüllen. Sie können durch auch die gängigen Instrumente zur Prävention Stereotypisierungen und die Verbreitung von und Bekämpfung von Antisemitismus wie die Klischees antisemitische Haltungen bedienen oder historisch-politische Bildung, gegenwartsbezo- gar befördern, andererseits aber durch differen- gene themenspezifi sche Ansätze, Begegnungs- zierte Berichterstattung und Wissensvermittlung pädagogik und die „Pädagogik der Anerkennung“. präventiv gegen solche Phänomene vorgehen Schließlich werden die verschiedenen von der beziehungsweise antisemitische Vorkommnisse Bundesregierung und von den Ländern unter- thematisieren und damit ein ausgewogeneres stützten Projektförderprogramme vorgestellt und Meinungsbild in der Bevölkerung begünstigen. einzelne Modellprojektbeispiele dargestellt, die Thema sind hier nicht nur die deutschen, sondern innovative Ansätze verfolgen. Trotz einer Vielzahl vor allem auch türkische, arabische und deutsch- von positiven Erfahrungen und Ergebnissen der sprachige iranische Medien, soweit sie in Deutsch- Programme sind nach wie vor Defi zite hinsichtlich land durch Menschen mit Migrationshintergrund des Programmdesigns, der engen Themensetzung, rezipiert werden. Da über die Inhalte und die der geforderten Ko-Finanzierung, des modellhaf- Verbreitung dieser ausländischen Medien relativ ten Charakters und des zum Teil einseitigen Fokus wenig bekannt ist, hat sich der Expertenkreis ent- auf Jugendliche mit Migrationshintergrund zu schlossen, ihnen in diesem ersten Bericht relativ erkennen, die kritisch beleuchtet werden und für breiten Raum einzuräumen, ohne dass damit eine die künftige Arbeit überdacht werden müssen. Aussage über Ausmaß und Wirkung der Rezeption verbunden wäre. Im Anschluss an die Präventionsmaßnahmen und gemäß dem Auftrag des Deutschen Bundestages Schließlich werden Präsenz und Wahrnehmung listet der Expertenkreis abschließend eine Reihe von Antisemitismus in der Gesellschaft eingehend von Empfehlungen auf, die sich aus dieser ersten diskutiert, um vor dem Hintergrund des Bundes- Bestandsaufnahme zum Stand des Antisemitismus tagsbeschlusses vom November 2008, der als eine in der Bundesrepublik ergeben haben.

9 Antisemitismus – Kontext und Defi nition

2. Antisemitismus – gehen, was eine eigene Begriffsbestimmung not- Begriffsbestimmung und wendig macht. Erscheinungsformen Im Folgenden wird eine erweiterte Definition verwendet, die sowohl die Komplexität des Phä- nomens erfassen als auch eine inhaltliche Trenn- Der Begriff „Antisemitismus“, der von politisch akti- schärfe gegenüber anderen Vorurteilen aufweisen ven Judenfeinden in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- soll.3 Drei Kriterien hält der Expertenkreis für maß- hunderts geprägt wurde, ist der Linguistik entlehnt. geblich: Erstens, Antisemitismus meint Feindschaft Obwohl unter die sprachwissenschaftliche Defi nition gegen Juden als Juden, das heißt der entscheidende von „Semiten“ Sprachen wie Hebräisch, Arabisch Grund für die artikulierte Ablehnung hängt mit oder Aramäisch fallen, richtet sich der Terminus der angeblichen oder tatsächlichen jüdischen „Antisemitismus“ ausschließlich gegen Juden. Herkunft eines Individuums oder einer Gruppe zusammen, kann sich aber auch auf Israel bezie- Bis heute gibt es keine allgemein gültige Defi nition hen, das als jüdischer Staat verstanden wird. Zwei- des Begriffs „Antisemitismus“. Internationale Ex- tens, Antisemitismus kann sich unterschiedlich perten und Institutionen haben sich in den Jahren artikulieren: latente Einstellungen, verbalisierte 2003 bis 2005 darum bemüht, eine praxisorientierte Diffamierungen, politische Forderungen, diskri- Definition zu erarbeiten, die der Europäischen minierende Praktiken, personelle Verfolgung, Union als Grundlage für die Bekämpfung des Anti- existenzielle Vernichtung. Drittens, Antisemitis- semitismus dienen sollte.1 Im Jahr 2005 lag die von mus kann in verschiedenen Begründungsformen der Menschenrechtsabteilung der Organisation für auftreten: religiös, sozial, politisch, nationalistisch, Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (ODIHR/ rassistisch, sekundär und antizionistisch. OSZE), der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (heute Auf grundsätzlicher Ebene ist Antisemitismus Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, eine Sammelbezeichnung für alle Einstellungen FRA) und einigen Vertretern jüdischer Organisa- und Verhaltensweisen, die den als Juden wahrge- tionen entwickelte „EU-Arbeitsdefi nition Anti- nommenen Einzelpersonen, Gruppen oder Insti- semitismus“ vor. Sie hat folgenden Wortlaut: „Der tutionen aufgrund dieser Zugehörigkeit negative Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung Eigenschaften unterstellen. Ist etwa die Abneigung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden aus- gegen Juden ausschließlich durch deren individu- drücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in elles Auftreten motiviert, so kann man nicht von Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische einer antisemitischen Einstellung sprechen. Ergibt Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie ge- sich die Abneigung gegen eine jüdische Person aus gen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse deren Zurechnung zur jüdischen Religionsgruppe, Einrichtungen.“2 Hierbei handelt es sich ledig- ist demgegenüber sehr wohl von einer antisemiti- lich um eine „Arbeitsdefi nition“ ohne offi ziellen schen Haltung auszugehen. oder verbindlichen Charakter, sie sollte vor allem den Behörden in den verschiedenen Ländern als Antisemitismus, verstanden als Feindschaft gegen Handreichung dienen. Dies erklärt auch, warum Juden, bezieht sich demnach auf eine Aversion diese „EU-Arbeitsdefi nition Antisemitismus“ für gegen eine Gruppe beziehungsweise ein Kollektiv. die Zwecke des unabhängigen Expertenkreises Der einzelne Jude wird nicht als Individuum, son- Antisemitismus nur eingeschränkt verwendbar dern als Angehöriger eines konstruierten Kollek- ist. In dem hier vorgelegten Bericht soll es um tivs mit verbindender Agenda wahrgenommen. eine Experten-Beschreibung und Bewertung der Im antisemitischen Diskurs erfolgt so die Kon- Erscheinungsformen des Antisemitismus in seinen struktion einer Vorstellung von „dem Juden“, die unterschiedlichsten Inhalten und Ausprägungen als ressentimentgeladenes Vorurteil und Zerrbild

1 Dina Porat, The Road that led to an internationally accepted defi nition of Antisemitism, in: Jahrbuch für Antisemitismus- forschung 16 (2007), S. 117–137. 2 Englische Originalfassung: http://fra.europa.eu/fraWebsite/material/pub/AS/AS-WorkingDefi nition-draft.pdf; die deutsche Übersetzung wird auf der Internetplattform des European Forum on Antisemitism, Task Force Education on Antisemitism beim American Jewish Committee bereitgestellt. 3 Siehe auch: Armin Pfahl-Traughber, Ideologische Erscheinungsformen des Antisemitismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 31 vom 30. Juli 2007, S. 4–11; Werner Bergmann, Was heißt Antisemitismus?, Bundeszentrale für politische Bildung, http://www.bpb.de/themen/CHJOW7,0,0,Was_hei%DFt_Antisemitismus.html [eingesehen am 16. Mai 2011]. 4 Der Begriff „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ ist Grundlage der von Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer und seinem Team im Institut für interdisziplinäre Konfl ikt- und Gewaltforschung der Universität durchgeführten Langzeituntersuchungen zu verschiedenen Phänomenen feindseliger Mentalitäten und Ausgrenzungen von Minderheiten, die regelmäßig in der Reihe „Deutsche Zustände“ veröffentlicht werden. Wilhelm Heitmeyer, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und erste empirische Ergebnisse, in: Deutsche Zustände, Folge 1, Frankfurt a. M. 2002, S. 15–34.

10 Antisemitismus – Kontext und Defi nition alle zugeschriebenen negativen Eigenschaften legenheitsgefühl und -bedürfnis gegenüber dem enthält. In dieser Hinsicht bestehen in der for- Judentum. Für solche Auffassungen stehen etwa die malen Struktur des Feindbildes Gemeinsamkei- Vorwürfe des „Gottesmordes“ und „Ritualmordes“, ten mit anderen Varianten gruppenbezogener die in der christlich geprägten Welt von Spätantike Menschenfeindlichkeit gegen Angehörige von und Mittelalter vorherrschten und in ähnlicher Minderheiten.4 Ähnlich wie in diesen Fällen kann Form in sektiererischen christlichen Gruppierun- der Antisemitismus auch unabhängig von einer gen auch weiterhin existieren. Heute fi nden sie im Präsenz von Juden vor kommen. Weitaus häufi ger Nahen Osten vor dem Hintergrund der Agitation lässt sich aber die ideologisch verzerrte Wahr- gegen Israel Verwendung. Häufi g geschieht dies nehmung der sozialen Reali tät ausmachen. In in Verbindung mit einem Bild von den Juden, das antisemitischen Auffassungen werden angebliche sie als abweichlerisch, betrügerisch, eigenmächtig Besonderheiten von Juden auf ge griffen, um nach oder verräterisch zeichnet. inhaltlicher Manipulation und Verallgemeinerung daraus das Feindbild des „Juden“ zu konstruieren. Der soziale Antisemitismus geht hingegen über übliche Konfl ikte im Aufeinandertreffen verschiede- Bei der Beantwortung der Frage, ob eine bestimmte ner Gruppen hinaus, seien diese kulturell, politisch Aussage als antisemitisch einzuschätzen sei, be- oder sozial bestimmt. In der Wahrnehmung der darf es immer der Beachtung des Kontextes. Hier- feindlich gesinnten Umwelt galten Juden seit dem für sind die eigentlichen Motive des Akteurs, die Mittelalter als ausbeuterische und unproduktive Rahmensituation des Diskurses und die spezifi sche „Händler“ und „Wucherer“. Später wurden derarti- Situation des Objektes von Bedeutung. Dies sei ge Vorurteile mit dem Schlagwort vom „jüdischen hier anhand eines Beispiels erläutert: Viele Jugend- Finanzkapital“ verbunden, und heute dient die For- liche benutzen heute das Schimpfwort „Jude“ mulierung „Ostküste“ als Synonym für die angebli- ohne Bewusstsein für den diffamierenden Inhalt che Vorherrschaft jüdischer Bankiers in den USA. und mögliche antisemitische Konnotationen. Überwiegend dürfte das Objekt der Beschimpfung Beim politischen Antisemitismus wird den als selbst kein Jude sein, und insofern lässt sich hier homogenes Kollektiv gedachten Juden eine Macht- nur bedingt von einer antisemitischen Motivation stellung zugeschrieben, deren Ziel die Erlangung sprechen. Gleichwohl reproduziert der Jugendliche der Herrschaft im jeweiligen Land oder in der gan- in der beschriebenen Situation unbewusst einen zen Welt sei, die durch eine Verschwörung erreicht antisemitischen Diskurs. werden solle. Insofern stünden jüdische Kräfte hinter Kriegen, Revolutionen oder Wirtschafts- Hinsichtlich der Handlungsformen können im krisen. Im 20. Jahrhundert unterstellten Antise- Sinne von Eskalationsstufen folgende Varianten miten mit Verweis auf die gefälschten „Protokolle unterschieden werden: erstens latente Einstellun- der Weisen von Zion“, es gebe eine systematische gen, die als nicht öffentlich geäußerte diffuse Men- „jüdische Verschwörung“ hinter den Kulissen. Und talitäten bestehen (zum Beispiel als Ressentiments selbst um die Terroranschläge vom 11. September gegenüber Menschen im Alltagsleben), zweitens 2001 ranken sich antisemitische Legenden, die ein verbalisierte Diffamierungen, also offen bekun- angebliches konspiratives Wirken des israelischen dete Abneigungen gegen alle Juden (zum Beispiel Geheimdienstes behaupten. Zuschreibung angeblich jüdischer Eigenschaften), drittens politische Forderungen, die auf die Be- Der nationalistische Antisemitismus sieht in den nachteiligung von Juden als Juden abzielen (zum Juden eine ethnisch, kulturell oder sozial nicht zur Beispiel Eindämmung des angeblich jüdischen Ein- jeweiligen Nation gehörende Minderheit, die als fl usses), viertens diskriminierende Praktiken, also fremd wahrgenommen und der Illoyalität gegen- die direkte Umsetzung einer eingeforderten Vor- über der Nation unterstellt wird. Zumindest theo- gehensweise gegen Juden (zum Beispiel durch den retisch konnte durch Assimilation und Religions- Ruf nach explizit antijüdischen Gesetzen), fünftens übertritt die Diskriminierung überwunden und die Übergriffe auf Personen oder Einrichtungen die Integration in die Gesellschaft erreicht werden, (zum Beispiel in Form von Friedhofsschändungen) was beim rassistischen Antisemitismus nicht durch Gewaltakte oder Vertreibung. Hiervon ist möglich war. Der nationalistische Anti semitismus sechstens die systematische Vernichtung, also die hebt darüber hinaus nicht allein auf die angeb- Ermordung von Juden aufgrund dieser Zugehörig- lichen ethnischen Unterschiede ab, er betont auch keit, abzugrenzen. behauptete kulturelle Gegensätze oder mangeln- de Loyalitätsgefühle gegenüber der jeweiligen Idealtypisch lassen sich bezüglich der inhaltlichen Nation. Durch eine solche Ausgrenzung kann der Begründung verschiedene Formen von Antisemi- nationalistische Antisemitismus ausgesprochen tismus unterscheiden: Beim religiösen Antisemitis- fremdenfeindliche Züge annehmen. mus bilden die christlichen Religionen in Inhalten und Ritualen den Bezugspunkt. Diese Form ent- Der rassistische Antisemitismus weist Gemeinsam- wickelt sich aus dem glaubensimmanenten Über- keiten mit dem nationalistischen Antisemitismus

11 Antisemitismus – Kontext und Defi nition

auf, jedoch werden alle Juden aufgrund ihrer Zuge- aufgrund der angeblichen oder tatsächlichen Zu- hörigkeit zu einem angeblich biologischen Kollek- gehörigkeit der jeweiligen Individuen oder Institu- tiv negativ bewertet und können einer solchen Ein- tionen zum Judentum. Hervorzuheben ist, dass die schätzung weder durch Änderung ihres sozialen Unterscheidung von Formen des Antisemitismus Verhaltens noch durch die Abkehr vom jüdischen als idealtypisch verstanden werden soll, denn in Glauben entgehen. Insofern gelten Juden in dieser der Realität treten meist Mischformen der genann- Perspektive als Angehörige einer „Rasse“ und nicht ten Varianten auf. Vor allem beim antizionisti- allein einer Religion. Dies geschieht, obwohl die schen und beim sekundären Antisemitismus lassen Vorstellung einer „jüdischen Rasse“, also eines sich immer wieder Rückgriffe auf die traditionellen vermeintlich genetisch bestimmten Kollektivs, Varianten der Judenfeindschaft ausmachen. wissenschaftlich völlig unhaltbar ist. Diese Form der Judenfeindschaft richtete sich demgemäß nicht gegen das vermeintliche Verhalten, sondern gegen die unterstellte biologische Zugehörigkeit aller Juden.

Mit dem Begriff des sekundären Antisemitismus werden im Allgemeinen verschiedene Phänomene bezeichnet, die sich aus dem Bedürfnis einer Schuldabwehr nach der Shoah ergeben und für die auch die Formel „Antisemitismus wegen Ausch- witz“ verwendet wird. Zu den gängigen Topoi gehören der Vorwurf einer jüdischen Mitschuld an der Verfolgung, der Versuch einer Täter-Opfer- Umkehr, Forderungen nach einem Schlussstrich und die Behauptung, die Erinnerung an den Holo- caust diene zur Erpressung fi nanzieller Mittel. Als extreme Variante des sekundären Antisemi- tismus gilt die Relativierung oder Leugnung des Holocaust. Sekundärer Antisemitismus äußert sich auch in der angeblich ständigen Erinnerung an den Holocaust durch jüdische Organisationen als „Moral-Keule“, die als Angriff auf die eigene nationale Identität empfunden wird.

Der antizionistische Antisemitismus tritt unter dem Deckmantel einer Ablehnung der Innen- und Außenpolitik des Staates Israel auf, der im Kern aus einer besonderen ideologischen Verzerrung und pauschalen Diffamierung des jüdischen Staates besteht, die sich zugleich traditioneller anti- semitischer Stereotype bedient. Dabei lässt sich das eigentliche Motiv für die Aversion gegen Israel einzig in der Tatsache der Existenz eines jüdischen Staates ausmachen. Nicht jede einseitige oder un- differenzierte Kritik an Israel ist jedoch antisemitisch.

In der wissenschaftlichen Debatte sind gegen den Begriff des „Neuen Antisemitismus“, wie er seit der Jahrtausendwende Verwendung fi ndet, erhebliche Vorbehalte geltend gemacht worden. Die angeb- lich „neuen“ Elemente – entweder der Bezug auf Israel oder auf Muslime als antisemitische Akteure – erweisen sich bei näherer Betrachtung als Fort- schreibung altbekannter Phänomene. Aus diesem Grund verwendet der unabhängige Expertenkreis diesen Begriff in seinem Bericht nicht.

Die hier vorgetragene Begriffsbestimmung sieht bei allen erwähnten Erscheinungsformen eine Gemeinsamkeit: die Feindschaft gegen Juden

12 Antisemitismus – Kontext und Defi nition

13 Rubrik

II. Bestandsaufnahme

1. Antisemitismus im Rechts- gesetzes in aller Deutlichkeit, wobei die Hand- lungs optionen von legalen Aktivitäten bis zur Ge- extremismus – externe und walttat reichen können. Die konkrete Artikulation interne Funktionen, formale des Antisemitismus entspricht meist der jeweiligen Ausrichtung der Organisationen. und ideologische Varianten Zur „gemäßigten“ Form kann im Parteienspektrum Rechtsextremistische Organisationen sind aus die „Deutsche Volksunion“ (DVU)2 mit 4.500 Mit- historischen und ideologischen Gründen nach wie gliedern und die ihr nahestehende Wochen- vor der bedeutsamste politische Träger des Anti - zeitung „National-Zeitung“ mit einer Aufl age von semitismus. Im Unterschied zur Weimarer Republik 33.000 Exemplaren gerechnet werden. Die Partei, existiert heute allerdings ein anti-antisemitischer die vor einem Aufgehen in der NPD steht, gibt sich Konsens in Medien und Politik, und rechtsextre- offi ziell eine demokratische und verfassungstreue mistische Organisationen sind vor dem Hinter- Ausrichtung. Sie propagiert antisemitische und grund der Geschichte des Dritten Reiches weit- fremdenfeindliche Positionen meist nicht in direk- gehend isoliert. Antisemitismus ist auch heute eines ter Form, sondern mittels suggerierender, dabei der zentralen ideologischen Elemente im Rechts- oft aggressiv vorgetragener Anspielungen, wie extremismus, wobei sich das damit verbundene insbesondere die Lektüre der „National-Zeitung“ Feindbild häufi g hinter anderen Agitationsthemen verdeutlicht. Die DVU hält sich in einschlägigen wie „Globalisierung“, „Systemkritik“, „Überfrem- Stellungnahmen – wie andere entsprechende dung“, „Israelkritik“, „Nahostkonfl ikt“ und „Ver- Organisationen auch – mit unverblümten Äußerun- gangenheitsbewältigung“ verbirgt. Hierbei lassen gen, nicht zuletzt wegen befürchteter strafrecht- sich ideengeschichtliche Kontinuitäten mit frühe- licher Folgen, zurück. Dies gilt auch für die Partei ren Formen und Inhalten des Antisemitismus, aber der „harten“ Variante des Rechtsextremismus, die auch einige neuere Bezugspunkte zu aktuellen „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ Diskursen und Themenfeldern ausmachen. (NPD)3 mit ihren 6.800 Mitgliedern und ihrem Monatsorgan „Deutsche Stimme“ mit einer Aufl age Gegenwärtige Situation im Rechtsextremismus von 25.000 Exemplaren. Offen lehnt die Partei die bestehende Demokratie ab und will sie durch ein Dem rechtsextremistischen Lager werden heute neues „Reich“ abgelöst sehen, wobei auch immer etwa 26.000 Anhänger zugerechnet,1 die in unter- wieder deutlich formulierte antisemitische Positio- schiedlichen Zusammenschlüssen, seien es Partei- nen auszu machen sind. en oder Vereine, Publikationsorgane oder Subkul- turen, organisiert sind. Idealtypisch lassen sie sich Noch weniger Zurückhaltung wird in der Neonazi- in zwei Richtungen aufteilen: Die als „gemäßigt“ Szene4 geübt, die über ein Potenzial von etwa geltende Form bekennt sich aus taktischen Grün- 5.000 Anhängern verfügt. Mit dem offenen Be- den offi ziell zu Demokratie und Verfassung, um kenntnis zum historischen Nationalsozialismus so breiter in die Gesellschaft hinein wirken zu geht auch eine deutlich antisemitische Ausrich- können. Die „harte“ Variante formuliert ihre tung einher. Gleichwohl vermeiden Neonazis im Ablehnung der Bundesrepublik und des Grund - öffentlichen Raum aus Rücksicht auf mögliche

1 U. a. Armin Pfahl-Traughber, Rechtsextremismus in der Bundesrepublik, München 2006; Richard Stöss, Rechtsextremismus im Wandel, Berlin 2011. Alle Zahlenangaben – hier bezogen auf das Jahr 2009 – nach: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2009, Berlin 2010. 2 U. a. Everhard Holtmann, Die angepassten Provokateure. Aufstieg und Niedergang der rechtsextremen DVU als Protestpartei im polarisierten Parteiensystem Sachsen-Anhalts, Opladen 2001; Annette Linke, Der Multimillionär Frey und die DVU. Daten, Fakten, Hintergründe, Essen 1994. 3 U. a. Uwe Backes/Hendrik Steglich (Hrsg.), Die NPD. Erfolgsbedingungen einer rechtsextremistischen Partei, Baden-Baden 2007; Armin Pfahl-Traughber, Der zweite Frühling der NPD. Entwicklung, Ideologie, Organisation und Strategie einer rechtsextremis- tischen Partei, Berlin/Sankt Augustin 2008. 4 U. a. Andrea Röpke/Andreas Speit (Hrsg.), Braune Kameradschaften. Die neuen Netzwerke der militanten Neonazis, Berlin 2004; Martin Thein, Wettlauf mit dem Zeitgeist. Der Neonazismus im Wandel. Eine Feldstudie, Göttingen 2009.

14 Bestandsaufnahme juristische Folgen eine klare Darstellung ihrer Menschen: Aus angeblichen oder tatsächlichen Positionierung. Sie organisieren sich in „Kamerad- ethnischen Unterschieden wird sowohl die Höher- schaften“, deren ideologische Basis die Verherr- wertigkeit der Eigengruppe („Arier“, „Deutsche“) lichung des Nationalsozialismus sowie Rassismus als auch die Minderwertigkeit der Fremdgruppe und Fremdenfeindlichkeit bilden, dennoch ist („Ausländer“, „Juden“) abgeleitet. Antisemitismus ebenfalls ein prägendes Element. Die ersten „Kameradschaften“ entstanden im Zuge Daher spielt auch der nationalistische und rassisti- der Verbote rechtsextremistischer Vereinigungen sche Antisemitismus eine besondere Rolle: Die erst- in den 1990er-Jahren und bestehen aus informellen genannte Form sieht in den Juden eine ethnisch, regionalen Personenzusammenschlüssen mit kulturell oder sozial nicht zur jeweiligen Nation durchschnittlich zehn bis 25 Mitgliedern. Den gehörende Minderheit, die als gesellschaftlicher auch unter der Bezeichnung „Freie Nationalisten“ Fremdkörper gilt und der eine andere Loyalität fi rmierenden Gruppierungen gelingt es trotz ihres unterstellt wird. Auffassungen, die den Angehöri- geringen Personenpotenzials gesellschaftlich in gen der Minderheit absprechen, Deutsche zu sein, Erscheinung zu treten, indem sie sich zum Beispiel stehen hierfür exemplarisch. Diese Positionen für einzelne Aktivitäten zu „Aktionsbündnissen“ prägten auch den nationalistischen Diskurs in der zusammenschließen oder im Internet agieren deutschen Geschichte. Der rassistische Antisemitis- und dabei mehrere Alias-Namen verwenden, um mus betrachtet Juden als von Natur aus „böse“ oder Stärke und festere Strukturen zu simulieren.5 Am „minderwertig“. Insbesondere im Nationalsozia- rituellen Habitus linksautonomer beziehungsweise lismus fand diese Auffassung offi zielle Akzeptanz, linksalternativer, revolutionärer Subformen galten Juden doch nicht mehr als Angehörige einer orientieren sich die „Autonomen Nationalisten“, Religionsgemeinschaft, sondern einer „verderb- deren ideologische Kernelemente der völkische lichen Rasse“. Antikapitalismus, aber auch der Antisemitismus sind, die wiederum in entsprechend aktualisierter Darüber hinaus gibt es noch andere Bezüge, die moderner Form propagiert werden, um jüngere mit der Form des sekundären Antisemitismus und Anhänger zu gewinnen.6 Darüber hinaus besteht der Zeit nach dem Nationalsozialismus zusammen- eine rechtsextremistische Skinhead7-Szene, zu der hängen. Mit der Erinnerung an die Judenvernich- etwa 9.000 Personen zählen und in der einschlä- tung verbindet sich für Rechtsextremisten eine gige Stereotype und Vorurteile gegen Juden große moralische Last, die um der Aufrechterhaltung Verbreitung fi nden. ihrer politischen Wertvorstellungen willen über- wunden werden muss. Der damit verbundene Antisemitismus in der Ideologie „Schuldabwehr-Antisemitismus“8 wirft Juden vor, des Rechts extremismus sie nutzten die Erinnerung an den Völkermord für ihre eigenen Vorteile aus. In dem von dem Der Antisemitismus gehört zu den wichtigen NPD- Landtagsabgeordneten Jürgen W. Gansel Merkmalen der Ideologie des Rechtsextremis- verfassten Beitrag „Der Spaltpilz in der jüdischen mus. Ganz allgemein lässt sich sogar sagen, dass Schuldkult-Zentrale“ auf der Internetseite der der sowohl programmatisch wie organisatorisch Partei heißt es – unter signifi kanter Anleihe bei und strategisch keineswegs homogene Rechts- Begriffl ichkeiten des nationalsozialistischen Wirt- extremismus in dieser Hinsicht über ein bindendes schaftsdiskurses – unter anderem, dass der Zentral- Element verfügt. „Rechtsextremismus“ ist eine rat der Juden in Deutschland eigentlich „Zentralrat Sammelbezeichnung für politische Bestrebungen, der Juden gegen Deutschland“ heißen müsste, da die sich zum einen gegen die Normen und Regeln „die Zentralratsjuden selbst die vierte deutsche eines demokratischen Verfassungsstaates wenden Nachkriegsgeneration in eine groteske, aber für sie und zum anderen dabei die ethnische Zugehörig- nützliche Schuldknechtschaft“ nähmen.9 Durch keit zum zentralen Kriterium des politischen dieses Argumentationsmuster wird eine Täter- Selbstverständnisses machen. Letzteres artikuliert Opfer-Umkehr vorgenommen: Die Mahnung der sich meist in einer nationalistischen beziehungs- Nachkommen und Überlebenden des Massenmor- weise rassistischen Grundposition. Sie steht für des wird als Akt der Aggression dargestellt, die die Auffassung von einer Ungleichwertigkeit von eigenen Aversionen gegen Juden gelten in dieser

5 Ministerium des Innern und für Sport Rheinland-Pfalz (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2009, Mainz 2010, S. 30 f.; Niedersäch- sisches Ministerium für Inneres, Sport und Integration (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Niedersachsen 2009, Hannover 2010, S. 122. 6 Jan Schedler, „Autonome Nationalisten“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 44 (2010), S. 20–26, hier: S. 22. 7 U. a. Klaus Farin (Hrsg.), Die Skins. Mythos und Realität, Berlin 1997; Christian Menhorn, Skinheads: Portrait einer Subkultur, Baden-Baden 2001. 8 Werner Bergmann, „Nicht immer als Tätervolk dastehen“. Zum Problem des Schuldabwehr-Antisemitismus in Deutschland, in: Dirk Ansorge (Hrsg.), Antisemitismus in Europa und in der arabischen Welt, Paderborn/Frankfurt a. M. 2006, S. 81–106. 9 Zitiert nach: Innenministerium des Landes Schleswig-Holstein (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2009, Kiel 2010, S. 47.

15 Bestandsaufnahme

Perspektive als eine Art Notwehrreaktion. Dabei Offener Antisemitismus in Hassbildern ignorieren solche Auffassungen und Reaktionen, dass der – inhaltlich auch absurde – Vorwurf einer Nach 1945 beziehungsweise 1949 änderte sich die Kollektivschuld gegen die heute lebenden Deut- gesellschaftliche Rahmensituation, wuchs doch schen gar nicht erhoben wird. im offiziellen Meinungsklima der politischen Elite allmählich ein anti-antisemitischer Konsens. Antisemitismus im historischen Rechtsextremismus Gleichwohl existierten weiterhin judenfeindliche Einstellungen, die sich meist aber nur in der Die Auffassung, Antisemitismus sei ein integraler „Kommunikationslatenz“ des privaten Raumes Bestandteil der Ideologie des Rechtsextremismus, äußerten.12 Dies stellte die rechtsextremistische lässt sich auch anhand der historischen Entwick- Agitation fortan vor das Problem, beim Anknüpfen lung vor und nach 1949 belegen. Aus heutiger an derartige Einstellungen und dem Schüren von Sicht können sogar die „Antisemitenparteien“ im einschlägigen Ressentiments stärker auf die damit Wilhelminischen Kaiserreich10 als Vorläufer der verbundenen juristischen Folgen und politischen gegenwärtigen rechtsextremistischen Parteien Gegebenheiten achten zu müssen. Daher artiku- gesehen werden. Seit Ende der 1870er-Jahre ent- liert sich der Antisemitismus in diesem politischen standen insbesondere in ländlichen Räumen des Lager auch in unterschiedlicher Art und Weise: in Reichs organisierte Formen der Judenfeindschaft: der insinuierenden Form der Andeutungen und Die Antisemitenparteien vermischten in ihrer in der offenen Form der Hassbilder. Letztere sind Agitation Sozialprotest gegen die Folgen ökono- aktuell nur bei jenen Strömungen innerhalb des mischer Umbrüche im Agrarbereich mit dem von Rechtsextremismus anzutreffen, die auf den poli- Anti semitismus geprägten Hass gegen die angeb- tischen Imageschaden und die rechtlichen Kon- lich verantwortlichen jüdischen Zwischenhändler. sequenzen ihrer Hetze keine Rücksicht nehmen Auch wenn diese politische Bewegung nicht reichs- müssen. weit, sondern nur regional von Bedeutung war, ließ sich hier bereits die massenmobilisierende Funktion Dies gilt vor allem für die rassistisch eingestellten des Antisemitismus in inhaltlicher Verbindung Skinheads, die ihre antisemitischen Auffassungen mit den sozialen und wirtschaftlichen Alltags- über die Texte illegal hergestellter Tonträger ver- problemen beobachten. breiten. Zwar richten sich die darauf enthaltenen Diffamierungen und Gewaltaufrufe meist gegen Nahezu zeitgleich mit der antisemitischen kam die andere Minderheiten wie Schwarze und Türken, völkische Bewegung im Wilhelminischen Kaiser- immer wieder wird dort aber auch Hetze gegen reich11 auf: Dabei handelte es sich um eine ideolo- Juden betrieben,13 wie die folgenden Beispiele gisch an Antisemitismus, Lebensraumgedanke, verdeutlichen. Auf der CD „Geheime Reichssache“ Rassismus und Sozialdarwinismus ausgerichtete der Band „Kommando Freisler“ heißt es etwa: „Mit Strömung, die trotz ihrer gesellschaftlichen Veran- deinen Ohren groß wie Segel, ja, diese Nase im kerung aufgrund der internen Zersplitterung keine Gesicht, dein hutbedeckter Wasserschädel, Jude breitere politische Wirkung entfalten konnte. Wäh- dich verkennt man nicht. Du solltest besser fl iehen, rend bei den Antisemitenparteien die soziale Ideo- wenn die Braunen durch die Straßen ziehen. Denn logieform der Judenfeindschaft mit den Behauptun- in Deutschland weiß ein jedes Kind, dass Juden gen des „Schacherns“ und „Wucherns“ dominierte, nur zum Heizen sind.“ Und in einem anderen Lied propagierte die völkische Bewegung bereits die fi ndet sich eine offene Aufforderung zum Mord: rassistische Variante der Judenfeindschaft mit der „Erschießen und erhängen, dann allesamt verbren- Unterstellung der biologisch bedingten Minder- nen und nicht nur hier, in anderen Ländern auch. wertigkeit. Seit Mitte der 1920er-Jahre wandten sich Und gibt es auf der Welt dann keinen Juden mehr, deren Anhänger zunehmend der „Nationalsozialis- wird unser Deutschland endlich wieder frei.“14 tischen Deutschen Arbeiterpartei“ (NSDAP) zu, die ideologisch kaum Unterschiede zu den Völkischen Ähnliche Aussagen enthalten die Texte auf der aufwies, aber fortan politisch weitaus erfolgreicher CD „The Hateshow“ der Band „Murder Squad“, wo Anhänger und Wähler mobilisierte. es heißt: „Die Deutschen kommen, ihr Juden habt

10 U. a. Paul W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt a. M. 1959; Peter G. J. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867 bis 1914, Gütersloh 1966. 11 U. a. Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hrsg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1996; Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001. 12 U. a. Werner Bergmann, Antisemitismus in öffentlichen Konfl ikten; Werner Bergmann/Rainer Erb, Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der empirischen Forschung von 1946–1989, Opladen 1989. 13 Rainer Erb, „Er ist kein Mensch, er ist ein Jud’“. Antisemitismus im Rechtsrock, in: Dieter Baacke/Klaus Farin/Jürgen Lauffer (Hrsg.), Rock von Rechts II. Milieus, Hintergründe und Materialien, Bielefeld 1999, S. 142–159. 14 Kommando Freisler, Geheime Reichssache, o. O. u. o. J. (2004), Lieder „Judenschwein“ und „Im Wagen vor mir“. Die Band benannte sich nach dem ehemaligen Präsidenten des NS-Volksgerichtshofes Roland Freisler.

16 Bestandsaufnahme acht, denn eure Vernichtung wird zum Ziel uns In der Szene werden solche Codierungen und deren gemacht.“ Und in einem anderen Lied des gleichen antisemitischer Unterton verstanden, der sich Tonträgers wird folgendes Vorgehen beschworen: diskursiv im inhaltlichen Kontext eines sozialen „Mit Panzern und Granaten und schwerem MG, Antisemitismus bewegt.19 So schrieb der bereits mit Mörsern, Raketen und TNT, die Terrorwelle, sie erwähnte Jürgen W. Gansel in einem Artikel zur schwappt über’s Land, wir stecken den Zentralrat Finanzkrise im NPD-Parteiorgan „Deutsche Stim- der Juden in Brand.“15 Auszüge aus den Texten des me“: „Ausgelöst wurde die Kernschmelze auf dem Tonträgers „Noten des Hasses“ der Band „Sturm- globalen Finanzmarkt durch die Pleite der Invest- kommando“ lauten wie folgt: „Seht, das Pack dort mentbank Lehman Brothers [...]. 158 Jahre existierte auf den Straßen – überall nur krumme Nasen, doch dieses Geldhaus, das von aus Deutschland ausge- mit uns ist nicht zu spaßen, wir wollen sie duschen wanderten Juden gegründet wurde.“ Und weiter sehen […]“. Die damit verbundene Anspielung auf die heißt es: „Persönliche Verantwortung dafür trägt Morde in den Gaskammern der NS-Vernichtungs- Alan Greenspan, [...] der vom gleichen Stamm wie lager wird in einem anderen Lied noch deutlicher die Wall-Street-Größen Alan Greenberg und Lloyd hinsichtlich der beabsichtigten Konsequenzen for- Blankfein ist.“20 Mit den inhaltlich an diesen Stellen muliert: „Sieg Heil! Sieg Heil! Die einzige Lösung ist eigentlich völlig überfl üssigen Hinweisen auf eine sie alle zu vernichten. Sechs Millionen mehr! Sechs jüdische Herkunft der genannten Bankhäuser und Millionen mehr.“16 Die Gruppe „S.K.D“ forderte auf Personen suggeriert der Autor Zusammenhänge ihrem 2008 indizierten Album „Eisen und Stolz“ un- im Sinne eines sozialen Antisemitismus. missverständlich: „Hängt sie auf, die Volksverräter, an Laternen oder Baum. […] Jagt das Pack das einst Überhaupt stellt die besondere Hervorhebung der sie holten raus aus jedem deutschen Gau, aus ihren jüdischen Herkunft einer als mächtig oder nega- Banken, Synagogen raus, raus, raus!“17 tiv beschriebenen Person eine häufi ge Form der Insinuierung antisemitischer Einstellungen dar. Antisemitismus in Insinuationen und Codierungen Dies veranschaulicht exemplarisch ein Beispiel aus einem Artikel der (zwischenzeitlich eingestell- Da derartige Äußerungen strafrechtlich relevant ten) Zeitschrift „Nation & Europa“, worin es unter sind und selbst manche antisemitisch eingestellte anderem um Auseinandersetzungen im Rahmen Menschen verschrecken dürften, artikulieren sich des Aufstandes vom 17. Juni 1953 in der damaligen Ressentiments und Vorurteile gegen Juden in der DDR ging. Über einige Mitglieder des SED-Regimes Regel in anderer Form. Hierbei arbeiten Rechts- heißt es: „Einer war [...] das Mitglied des ZK der extremisten mit Anspielungen, Insinuationen oder SED Kurt Barthel. [...] Er hatte [...] in der Jüdischen Codierungen, die in der direkten Formulierung Liberalen Jugendorganisation mitgewirkt. [...] Ein und Wortwahl häufi g keine negativen Wertungen anderer [...] wurde verprügelt von Berliner Arbei- gegen Juden enthalten. Werden aber der inhalt- tern: der amerikanisch-jüdische Schriftsteller liche Kontext und die spezifi sche Zielgruppe der Stefan Heym. [...] Stephan Hermlin, der eigentlich Äußerungen betrachtet, so lässt sich aus dem Subtext Rudolf Leder hieß und der deutsch-jüdischen eine antisemitische Wirkungsabsicht beziehen. Bourgeoisie entstammte, traf der 17. Juni 1953 wie Für eine Codierung steht etwa der Begriff „Ostküste“, ein Donnerschlag.“21 Die Hervorhebung der jüdi- womit die angeblich allmächtigen jüdischen schen Herkunft macht hier keinen Sinn – zumal bei Bankiers in New York gemeint sind. Nur selten wird anderen Genannten die christliche Herkunft nicht dies so offen eingeräumt wie von dem früheren betont wird – und dient offenkundig dem Schüren Linksterroristen und heutigen Rechtsextremisten antisemitischer Ressentiments. : „Damit erweist sich dies Jahrhundert in Wahrheit als das Jahrhundert der Ostküsten- Ein Beispiel aus früheren Jahren macht deutlich, Juden. Denn das Machtzentrum des Dollarimperi- wie selbst Artikel über Backwaren dazu dienen, alismus [...] ist das von Juden beherrschte Banken- indirekt antisemitische Inhalte zu verbreiten. In system der USA.“18 einem Beitrag des NPD-Blattes „Zündstoff. Deutsche

15 Murder Squad, The Hateshow, o. O. u. o. J. (2005), Lieder „Panzer rollen in Israel vor“ und „Kameraden steht auf“. Die Band ist nicht mit der gleichnamigen schwedischen Death-Metal-Band identisch. 16 Sturmkommando, Noten des Hasses, o. O. u. o. J. (2008), Lieder „Nicht nett“ und „6 Millionen mehr“. Diese und die beiden vorgenannten CDs wurden von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert. 17 Zitiert nach: Thüringer Innenministerium (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Freistaat Thüringen 2009, Erfurt 2010, S. 98. 18 Horst Mahler, Guten Tag, Herr Friedman … Unter Berufung auf Christus, Marx und deutsche Philosophen lädt der Vordenker Horst Mahler führende Köpfe zu erstem kritischen Dialog, Malmö (Schweden) 2002, S. 58. 19 Andere Codewörter in diesem Sinne sind die Abkürzung „ZOG“ für „Zionist Occupied Government“ („zionistisch beherrschte Regierung“) als Bezeichnung für eine angebliche jüdische Dominanz über die nationalstaatlichen Regierungen oder die Formulierung „Usrael“ als Bezeichnung für einen angeblich homogenen Block USA und Israel unter jüdischer Dominanz. 20 Jürgen Gansel, In der Geiselhaft des Finanzkapitals, in: Deutsche Stimme, Nr. 11 vom November 2009, S. 8. 21 Wolfgang Strauss, Der 17. Juni 1953, in: Nation & Europa, Nr. 6 vom Juni 2003, S. 60 ff.

17 Bestandsaufnahme

Stimme für Berlin und Brandenburg“ mit der Über- an gehörigkeit sie zufällig haben – scheint ihrem schrift „Achtung an der Bäckertheke: Koscher durch weltgeschichtlichen Höhepunkt entgegenzutrei- die Hintertür“ aus dem Jahr 2001 warnt der Autor ben. [...] Deshalb existieren die Erbhöfe der Ostküste vor Bagels: „Den meisten ist dieses Erzeugnis auf- in Institutionen der Weltwirtschaft weder zufällig grund seines mäßigen Geschmacks hinreichend noch sind sie ungefährlich.“24 verdächtig, ein [...] aus den USA eingeschlepptes Massenprodukt zu sein, das ist auch weitgehend Der politische Antisemitismus unterstellt das richtig, dennoch ist diese Backware nicht Bestehen einer „geheimen jüdischen Macht“, die [Hervorhebung im Original] nordamerikanischen „hinter den Kulissen“ der etablierten Politik die Ursprungs. Tatsächlich handelt es sich dabei um eigentlichen Fäden zieht. Die damit verbundene ein osteuropäisches Erzeugnis, das jüdische Aus- Verschwörungsideologie artikuliert sich dabei wanderer nach Amerika brachten.“22 Die eigent- meist in Verweisen auf das Wirken einer angeb- liche Botschaft bleibt implizit: Über den Umweg lichen „Israel-Lobby“. Exemplarisch dafür steht der einer „Warnung“ vor einem Gebäck, das aus der folgende Auszug aus einem Artikel der Zeitschrift jüdischen Kultur stammt, wird indirekt vor den „Nation & Europa“, worin es nach einer Aufl istung Juden als Juden gewarnt: Man soll sich von ihrer von angeblichen oder tatsächlichen jüdischen Kultur und ihrer Art des Lebens fernhalten. Die Beratern des US-Präsidenten Barack Obama heißt: Warnung vor dem Bagel präsentiert die These von „Der Befund lässt sich schwer vom Tisch wischen, der vermeintlichen Unvereinbarkeit der Kulturen dass die Israel-Lobby das Weiße Haus mit Obama in der harmlosen Form einer kulturhistorischen als Präsidenten-Darsteller fester im Griff hat als Bemerkung über ein Gebäckstück. Der Autor kann jemals zuvor.“25 Das Titelblatt dieser Ausgabe des auf ein Lesepublikum zählen, das auch kleinste rechtsextremistischen Publikationsorgans zeigt Andeutungen und Anspielungen versteht. Diese den US-Präsidenten vor einer israelischen Flagge Rezeptionsbedingung ermöglicht es, antisemi- und trägt den Titel „Obama – der Hintergrund“. tische Sinngehalte indirekt zu präsentieren. In Dies suggeriert Betrachtern und Lesern, der Prä- Texten etwa aus dem Umfeld der NPD fi nden sich sident sei lediglich ein Erfüllungsgehilfe und eine immer wieder vereinzelte Elemente, die für sich Marionette der vermeintlich die USA beherrschen- allein betrachtet nicht alle eine antisemitische den jüdischen Lobbyorganisationen. Bedeutung haben. In ihrer Kombination und Häu- fung jedoch und vor allem durch die Kontextuali- Bezüglich der rassistischen Variante des Anti- sierung mit Schlüsselbegriffen eines rassistischen semitismus hält sich der gegenwärtige Rechts- Antisemitismus fügen sie sich zu einem antisemiti- extremismus meist zurück, gilt doch die dualis- schen Gesamtbild.23 tische „Arier“-„Jude“-Agitation als historisch und politisch diskreditiert. Sie tritt meist nur noch im Klassische Formen des Antisemitismus Kontext der offenen Formen des Antisemitismus auf, wie etwa in den Hassbildern der Songtexte von Ganz allgemein kann bezüglich der bereits vor rechtsextremistischen Skinhead-Bands. Exempla- 1945 existierenden klassischen Formen des Anti- risch dafür steht folgender Auszug aus einem Lied semitismus konstatiert werden, dass die religiöse der CD „Keine Gnade“ der Band „Mass Destruction“: Variante in Deutschland kaum noch Verbreitung „Ihr seid das Geschwür, das in unserem Volke sitzt. fi ndet. Demgegenüber lassen sich die soziale, po- [...] Ich bring Euch alle um! [...] Ich sitze hier und litische und rassistische Form direkter und insinu- denke an die alte schöne Zeit, von ierend weiterhin ausmachen. Im erstgenannten und der Schlag gegen die Juden weit und breit Sinne geht es vor allem um Behauptungen, wonach [...].“26 Mit der Formulierung „Geschwür“ und der „die Juden“ das Finanzwesen und die Wirtschaft Erinnerung an die „Kristallnacht“ bezieht sich die dominieren und kontrollieren. So heißt es etwa Band affi rmativ auf den rassistischen Antisemitis- im NPD-Parteiorgan „Deutsche Stimme“: „Wie ein mus der Nationalsozialisten. Krake hat der Dollar-Imperialismus die Welt im Würgegriff, und er unternimmt nicht einmal mehr Neuere Erscheinungsformen des Antisemitismus die geringsten Anstren[g]ungen, dies irgendwie zu verschleiern. Denn die Weltmachtstellung jüdi- Der antizionistische, aber auch der sekundäre scher Kapitalstrategen – gleich welche Staats- Antisemitismus werden auf Ereignisse wie den

22 Zündstoff, Deutsche Stimme für Berlin und Brandenburg 10 (2001), Nr. 2, S. 8. 23 Christina Herkommer/Juliane Wetzel, Zum Antisemitismus der NPD. Eine Analyse von drei Zeitungen von NPD-Landes- verbänden 1998–2001, Manuskriptfassung eines Gutachtens für die Partei „Die Grünen/Bündnis 90“, Juni 2002, S. 3 ff. 24 Thoralf Trenkmann, Erbhof jüdischer Kapitallenker, in: Deutsche Stimme, Nr. 5 vom Mai 2005, S. 2. 25 Karl Richter, Wer steckt hinter Obama?, in: Nation & Europa, Nr. 1 vom Januar 2009, S. 5–9, hier S. 8. 26 Mass Destruction, Keine Gnade, o. O. u. o. J. (2006), Lied „Ihr seid“. Auch dieser Tonträger wurde von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert.

18 Bestandsaufnahme

Holocaust und den Nahostkonfl ikt bezogen. Sie wofür die Dramatisierung oder Erfindung des stellen keine originär neuen Begründungen der Holocaust die Legitimation liefere. Judenfeindschaft dar, artikulieren sich doch bekannte Stereotype und Vorurteile lediglich im Bei der Kommentierung des Nahostkonflikts Kontext aktueller Ereignisse und Themenfelder. nehmen Rechtsextremisten eine antiisraelische Dies sind zum einen die politische Kommentie- und propalästinensische Haltung ein. Mitunter rung des Nahostkonflikts sowie der Rolle Israels tragen Neonazis bei Demonstrationen sogar eine und zum anderen der öffentliche Umgang mit Palästina-Fahne oder ein Palästinenser-Tuch, um der Erinnerung an die Judenvernichtung und den ihre diesbezügliche Solidarität öffentlich unter Nationalsozialismus. Da in der breiteren Öffent- Beweis zu stellen. Die damit verbundene Positio- lichkeit sowohl eine Kritik an der israelischen nierung hat indessen kaum etwas mit einer men- Politik gegenüber den Palästinensern als auch schenrechtlich begründeten Kritik am israelischen eine „Schlussstrichmentalität“ gegenüber der Umgang mit den Palästinensern zu tun. Vielmehr angeblich ständigen Erinnerung an den Holocaust dient deren Thematisierung dazu, antisemitische kursiert, erhoffen sich Rechtsextremisten mit Auffassungen insinuierend unter dem „Deckman- diesen Themen ein stärkeres Hineinwirken in die tel“ der Israelkritik artikulieren zu können. Gele- Mehrheitsgesellschaft. Darüber hinaus können in gentlich verbinden sich bei dieser Absicht auch diesem Kontext auch noch Behauptungen und Ste- antizionistische und sekundäre Judenfeindschaft, reotype im Sinne des klassischen nationalistischen wofür folgendes Zitat aus der DVU-nahen „Natio- Antisemitismus ausgemacht werden. nal-Zeitung“ steht: „Die Belastung Deutschlands mit der Alleinschuld auch an beiden Weltkriegen In der damit einhergehenden Perspektive gilt die dient gleichzeitig dazu, die Entsetzlichkeiten Erinnerung an die Judenverfolgung und -vernich- unserer Zeit wie die Massakrierung von Palästi- tung als Ausdruck der Schmähung des deutschen nensern und Libanesen zu verdrängen, ja sogar die Nationalgefühls, woraus eine feindliche Einstel- Untaten im Nahen Osten mit Waffengeschenken lung antisemitischer Ausrichtung gegen jüdische zu fördern.“28 Interessenorganisationen abgeleitet wird. In der vom NPD-Parteivorstand herausgegebenen Bro- Geschichtsrevisionismus als Antisemitismus schüre „Argumente für Kandidaten & Funktions- träger“, die der Argumentationshilfe und Schulung Der Geschichtsrevisionismus29 umfasst die po- ihrer Aktivisten dienen soll, heißt es in diesem litisch motivierte Absicht einer Relativierung, Sinne: „Der von jüdischer Seite seit 60 Jahren betrie- Verharmlosung oder Leugnung des Massenmordes bene Schuldkult und die ewige jüdische Opfer- an den Juden im Zweiten Weltkrieg. Rechtsextre- tümelei muss sich kein Deutscher gefallen lassen. Es misten im In- und Ausland weisen seit Beginn der muss endlich Schluss sein mit der psychologischen 1950er-Jahre in relativierender Absicht immer Kriegsführung jüdischer Machtgruppen gegen wieder darauf hin, dass auch Kriegsverbrechen unser Volk. Schließlich ist klar, dass die Holocaust- an den Deutschen und nicht nur an den Juden Industrie mit moralischen Vorwänden die Deut- begangen worden seien, die Zahl der Ermordeten schen immer nur wieder fi nanziell auspressen will. in den Konzentrations- und Vernichtungslagern [...] Selbstverständlich nehmen wir uns das Recht viel zu hoch beziffert werde oder die systematische heraus, die Großmäuligkeit und die ewigen Finanz- Tötung von Juden durch Erschießungen und Ersti- forderungen des Zentralrats der Juden in Deutsch- cken im Gas nicht durch glaubwürdige historische land zu kritisieren.“27 Quellen belegbar sei. Medienwirksam ist hierbei der alljährliche „Trauermarsch“ durch die Dresd- Nach rechtsextremistischer Lesart dient die ner Innenstadt im Gedenken an die mitunter zum Erinnerung an den Holocaust der moralischen „Bombenholocaust“30 stilisierte Bombardierung Demütigung der Deutschen, wobei mit einer Täter- Dresdens am 13./14. Februar 1945. An dieser Veran- Opfer-Umkehr bei diesem „Schuldabwehr-Antise- staltung nahmen 2010 etwa 6.400 Rechtsextreme mitismus“ den Juden bösartige Absichten unter- aus ganz Deutschland teil.31 Aber auch das Schick- stellt werden: Sie beherrschten die Deutschen und sal der „Heimatvertriebenen“ wird zur Marginali- erpressten hohe Wiedergutmachungszahlungen, sierung des Holocaust instrumentalisiert: „Bisher

27 NPD Parteivorstand/Amt für Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Argumente für Kandidaten & Funktionsträger. Eine Handreichung für die öffentliche Auseinandersetzung, Berlin 2006, S. 10. 28 Ohne Autor, Wollte Hitler den Krieg?, in: National-Zeitung, Nr. 30 vom 21. Juli 2006, S. 1. 29 U. a. Brigitte Bailer-Galanda/Wolfgang Benz/Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Die Auschwitzleugner. „Revisionistische“ Geschichts- lüge und historische Wahrheit, Berlin 1996; Deborah E. Lipstadt, Betrifft: Leugnen des Holocaust, Zürich 1994. 30 Homepage der DVU vom 16. November 2009, zitiert nach: Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2009, S. 92. 31 Im Vergleich zum Vorjahr (2009 mit 7.800 Teilnehmern) ist hier ein Rückgang zu verzeichnen. Hingegen stiegen die Zahlen zuvor stark an: so hatten sich 2007 nur 1.750 Personen an den Märschen beteiligt, 2008 waren es bereits 4.550. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2009, S. 91; Drucksache des Deutschen Bundestages 17/4763, S. 2.

19 Bestandsaufnahme

haben wir wie hypnotisiert auf dieses Fremdwort die Bundesrepublik Deutschland zeigt. Außerdem Holocaust gestarrt. Doch plötzlich fällt es uns lassen sich die meisten anderen ideologischen wie Schuppen von den Augen: es gibt tatsächlich Deutungen der rechtsextremistischen Themen- ein solches, über alle Maßen schreckliches und felder mit antisemitischen Einstellungen koppeln: nicht in Zweifel zu ziehendes Verbrechen, eben Amerikas und Israels „Eroberungskriege“ werden ein offenkundiges und unvergleichbares Verbre- als Schritte zur Erlangung der jüdischen Weltherr- chen. Das wurde aber nicht von den Deutschen, schaft gedeutet, „Einwanderung“ und „Überfrem- sondern an den Deutschen begangen. Es ist die dung“ gelten als Beiträge zur Errichtung einer Vertreibung von 14 oder 15 oder mehr Millionen jüdisch initiierten „One-World“-Politik, „Globali- Deutscher aus ihrer angestammten, uralten Hei- sierung“ und „Wirtschaftskrise“ führen Rechtsext- mat in Ostdeutschland, das nicht Mitteldeutsch- remisten auf das Wirken jüdischer Bankiers an der land ist.“32 Der rechtsextremistische Hintergrund „Ostküste“ zurück, Erinnerungen an „Holocaust“ derartiger Aussagen sowie die damit verbundenen und „Kriegsschuld“ sollen „Moralkeulen“ jüdischer Manipulationen bis hin zu Verfälschungen sind Interessenorganisationen sein. offensichtlich.33 Da die angebliche „Auschwitz- Lüge“ in der Perspektive der Rechtsextremisten zur Außerdem erfüllt der Antisemitismus bestimmte Ausbeutung der Deutschen durch die Juden oder Funktionen:35 So sehr es sich dabei um eine ideo- zur Legitimation der Gründung des Staates Israel logisch verzerrte Wahrnehmung sozialer Realität entwickelt wurde, läuft diese Auffassung auf Ver- handelt, so darf doch dessen unterschiedlicher schwörungsvorstellungen im Sinne des politischen Nutzen für den Rezipienten nicht ignoriert wer- Antisemitismus hinaus. den. Die Abgrenzung von „den Juden“ als negativ angesehene fremde Gruppe gestattet die Identi- Interne Bedeutung des Antisemitismus im fi zierung mit der als positiv bewerteten eigenen Rechtsextremismus Gruppe. In der Vergangenheit diente dies zur Selbstdefi nition als „Arier“, „Christ“ oder „Deut- Antisemitische Einstellungen lassen sich in allen scher“, im Fall des gegenwärtigen Antisemitismus Bereichen des Rechtsextremismus mehr oder im Rechtsextremismus als „Nationalist“. Dies weniger deutlich ausmachen. Gleichwohl handelt verdeutlicht unter anderem der Refrain des wegen es sich hierbei im Unterschied zu der Gewichtung Volksverhetzung (§130 StGB) strafbaren Liedes „Ihr des Antisemitismus in diesem Lager vor 1945 nicht seid…!“ der Band „Skalinger“: „Denn ihr seid Juden mehr um das herausragende Themenfeld. Eine und wir nicht! Ihr seid krumme Nasen und wir stärkere Fixierung auf die Probleme der Gegen- nicht! Ihr seid beschnitten und wir nicht! Denn wir wart und eine Zurückdrängung von Themen der sind arisch und ihr nicht!“36 Ein weiteres einschlä- Vergangenheit sind deutlich erkennbar. Zentrale giges Zitat ist dem Intro der CD „In den Krieg“ Agitationsinhalte sind heute „Einwanderung“, der Gruppe „Reichspogrom“ entnommen: „Wie „Globalisierung“ und „Wirtschaftskrise“ sowie die erkennt man einen Juden? Setzen! Das ist ganz Feindbilder „Amerika“, „Fremde“ und das „System“, einfach – das jüdische Blut hat eine völlig andere die allerdings allesamt auch immer wieder in einer Zusammensetzung als das unsere. […] Sein Blick antisemitischen Konnotation auftreten können. ist listig und hinterhältig […]. Er kriecht vor Euch, Insbesondere sei, in den Worten des NPD-Strategen aber lässt Eure Aufmerksamkeit nach, springt er Jürgen W. Gansel, „noch stärker die soziale Frage Euch an die Kehle. Der nordische Mensch ist das [zu] nationalisieren“.34 Prachtstück dieser Erde. Er ist das strahlendste Bei- spiel für die Schöpfungsfreude. Er ist nicht nur am Die Fortexistenz der Judenfeindschaft als inhalt- begabtesten, sondern auch am schönsten. […] Seine liches Identifi kationsmerkmal erklärt sich zunächst Bewegungen sind voller Harmonie, sein Körper ist durch die historische Prägung und Tradition. Für vollkommen.“37 das rechtsextremistische Lager spielte der Anti- semitismus immer eine große Rolle, wie die Ent- Neben dieser Identitätsfunktion verbindet sich mit wicklung vom Wilhelminischen Kaiserreich bis in dem Feindbild „Jude“ auch eine zweite Erkenntnis-

32 Ursula Haverbeck-Wetzel, Götterdämmerung, in: Stimme des Reiches, 1 (2009), S. 1 f., zitiert nach: Verfassungsschutzbericht Niedersachsen 2009, S. 104. 33 Wolfgang Benz (Hrsg.), Legenden, Lügen, Vorurteile. Ein Wörterbuch zur Zeitgeschichte, München 1991; Armin Pfahl-Traughber, Revisionistische Behauptungen und historische Wahrheit. Zur Kritik rechtsextremistischer Geschichtsverfälschungen, in: Aufklärung und Kritik, 7 (2000) 2, S. 84–97. 34 Jürgen W. Gansel, Gegen Einwanderung, europäische Union und Globalisierung, in: Deutsche Stimme, Nr. 11 vom November 2005, S. 16. 35 Armin Pfahl-Traughber, Antisemitismus in der deutschen Geschichte, Opladen 2002, S. 155–159. 36 Zitiert nach: Innenministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2009, Schwerin 2010, S. 19. 37 Intro der CD „In den Krieg“ der Gruppe „Reichspogrom“, zitiert nach: Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2009, S. 109.

20 Bestandsaufnahme funktion, vor allem bezüglich des politischen hat das Sagen?“40 Friedman und Reich-Ranicki Antisemitismus. Komplexe gesellschaftliche sprach die Zeitschrift auf diese Weise ihr „Deutsch- Entwicklungen wie etwa der „Börsencrash“ oder sein“ ab und stellte sie den „Deutschen“ pauschal die „Globalisierung“ können durch das konspi- als feindlich gesinnte „Andere“ gegenüber. rative Wirken der „Ostküste“ scheinbar einfach erklärt werden. Derartige Verschwörungstheorien Darüber hinaus suggeriert die Formulierung, wurden zum Beispiel zu Beginn des Jahres 2009 in nicht mehr die Deutschen, sondern die Juden der Zeitschrift „Volk in Bewegung & Der Reichsbo- hätten im Land „das Sagen“. So soll auch in ande- te – Das nationale Magazin“ geäußert: „Die Wirt- ren Kontexten die Legitimation der bestehenden schaftskrise ist für Europa Anlass zum Nachdenken Gesellschafts- und Staatsordnung in Frage gestellt und vielleicht die letzte Gelegenheit zur Tat. […] werden. Dafür steht ein Beitrag in der „National- Amerika kontrolliert die Welt – und die Israel-Lobby Zeitung“, worin etwa die Verleihung eines als kontrolliert Amerika. Via Medien manipulieren Gegenentwurf zum Bundesverdienstkreuz ge- die Zionisten die öffentliche Meinung der ganzen schaffenen „Großen Verratskreuzes“ angeregt und westlichen Hemisphäre. Die EU mit ihren Denkver- Bundeskanzlerin Merkel als Empfängerin auser- boten, Maulkörben und Haftbefehlen ist nicht viel koren wird, was der Artikel wie folgt kommentiert: mehr als der Laufbursche Washingtons. Und die „Der aus Vererbung vermeintlich polnischen, aus gegenwärtige Finanzkrise ist in Wirklichkeit eine Zuneigung amerikanischen, aus Leidenschaft gigantische Umverteilungsaktion zugunsten der israelischen, aus Gleichgültigkeit deutschen Bun- Macht dieser Lobby. Das dreivereinte Gaunertum deskanzlerin der BRD wird diese Auszeichnung von Wallstreet, Pentagon und Hollywood scheint verliehen in Würdigung ihrer Politik gegen die alles in der Hand zu haben.“38 Darüber hinaus lässt Interessen ihres eigenen Landes.“41 Exemplarisch sich drittens eine Mobilisierungsfunktion ausma- zeigt sich hier die Legitimationsfunktion des chen, die aber mit der externen Wirkung zusam- Antisemitismus: Merkel gilt als Dienerin Israels menhängt. Zwar tritt der Antisemitismus in der und Verräterin Deutschlands. Mit ihrer Delegiti- Außenwerbung gegenüber aktuellen sozialen Pro- mierung beabsichtigen die Rechtsextremisten, blemstellungen zurück, bleibt aber lagerintern ein sich selbst als die einzig rechtmäßigen politischen zentrales, ja unverzichtbares Ideologieelement.39 Repräsentanten des eigenen Landes darzustellen.

Externe Bedeutung des Antisemitismus im Antisemitismus, dies belegen die Ergebnisse der Rechtsextremismus empirischen Sozialforschung, lässt sich nicht auf die 26.000 organisierten Rechtsextremisten redu- Die Bedeutung antisemitischer Agitation und zieren. Je nach gewählten Abgrenzungskriterien Berichterstattung im Rechtsextremismus nimmt und Einstellungsstatements sprechen die einschlä- bei öffentlichen Skandalen mit einschlägigen gigen Untersuchungen von bis zu 20 Prozent der Bezugspunkten zu. Dafür standen in der jüngeren Bevölkerung.42 Aufgrund des anti-antisemitischen Vergangenheit die „Hohmann-Rede“, der „Mölle- Konsenses in Medien, Öffentlichkeit und Politik mann-Skandal“ und die „Walser-Kontroverse“ artikuliert sich dieses Potenzial meist nur im pri- (→ Antisemitismus im politischen Diskurs, in vaten Bereich. Dessen quantitatives Ausmaß und Kultur und Alltag), wobei es jeweils um den inhaltliche Richtung ist auch den führenden Akti- öffentlichen Umgang mit der Kritik an Israel oder visten des rechtsextremistischen Lagers bekannt. der Schuld am Holocaust ging. In allen Fällen ver - Letztendlich hoffen sie, in einer für antisemitische suchten rechtsextremistische Medien diese Debat- Agitation günstigeren Zeit eben dieses Einstel- ten aufzugreifen, um ihnen in ihrem Sinne eine lungspotenzial auch ansprechen und mobilisieren politische Richtung zu geben. Dafür steht etwa ein zu können. Da der organisierte Rechtsextremismus Titelbild von „Nation & Europa“, das einerseits Por- mit Ausnahme bestimmter Regionen in den neuen träts von Jürgen W. Möllemann und Martin Wal- Bundesländern bislang gesellschaftlich marginali- ser, andererseits von Michel Friedman und Marcel siert blieb, war den Absichten eines breiten Hinein- Reich-Ranicki zeigte. Dazwischen fi nden sich die wirkens in die Mehrheitsgesellschaft bislang aber Formulierungen „Deutsche und Juden“ sowie „Wer noch kein Erfolg beschieden.

38 , Europa: Reconquista – oder Requiem?, in: Volk in Bewegung & Der Reichsbote – Das nationale Magazin, 1 (2009), S. 15, zitiert nach: Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2009, Stuttgart 2010, S. 220. 39 Rainer Erb/Michael Kohlstruck, Die Funktionen von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit für die rechtsextreme Bewegung, in: Stephan Braun/Alexander Geisler/ (Hrsg.), Strategien der extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten, Wiesbaden 2009, S. 419–439, hier: S. 426 f. 40 Nation & Europa, Nr. 7/8 vom Juli/August 2002, S. 1 (Titelblatt). 41 Gerald Menuhin, Jetzt hat sie’s!, in: National-Zeitung, Nr. 25 vom 15. Juni 2007, S. 2. 42 → Antisemitische Einstellungen in Deutschland

21 Bestandsaufnahme

Fazit Für die lagerexterne Wirkung der Judenfeind- schaft bestehen zwei andere Funktionen: Mit der Bilanzierend lässt sich konstatieren: Das rechtsex- Mobilisierungsfunktion geht es um die Gewinnung tremistische Lager stellt, was die motivische Ver- von latent antisemitisch eingestellten Personen in dichtung angeht, den bedeutendsten politischen der Mehrheitsgesellschaft als Anhänger. Und mit Träger der Judenfeindschaft dar. In keinem ande- der Legitimationsfunktion soll die etablierte Politik ren organisierten Bereich kommt dem Antisemitis- als „im jüdischen Interesse“ in Zweifel gezogen und mus als Agitationsfeld und Identifi kationsmerkmal die Rechtmäßigkeit der eigenen Positionen als „im eine so hohe Bedeutung zu. Gleichwohl wird im deutschen Interesse“ betont werden. Rechtsextremismus die damit verbundene Propa- ganda gegenwärtig durch andere Feindbilder und Themenkomplexe überlagert, die eine größere Anbindungsfähigkeit zu Diskursen versprechen, die auch in der Mitte der Gesellschaft Akzeptanz fi nden. Dazu gehören Angehörige anderer Minder- heiten wie „Ausländer“, „Fremde“ und „Muslime“, inhaltlich geht es stärker um die „Globalisierung“, „Sozialpolitik“ und „Überfremdung“. Damit sank die Bedeutung des Antisemitismus in der Selbst- darstellung dieses politischen Lagers. Gleichwohl lässt er sich nach wie vor als ideologischer Hinter- grund vieler Statements ausmachen – sei es bei den genannten aktuellen Themenschwerpunk- ten, sei es zu „Nahostkonflikt“ und „Vergangen- heitsbewältigung“.

Dabei können zwei verschiedene Varianten un- terschieden werden: die insinuierende Form von Andeutungen und die offene Form von Hassbil- dern. Im letztgenannten Sinne artikuliert sich die Judenfeindschaft in aller Deutlichkeit, mitunter mit direkten Gewaltaufforderungen und eindeu- tigen Vernichtungsphantasien verbunden. Die insinuierende Form arbeitet demgegenüber mit Anspielungen, Codierungen oder Subtexten, die den Rezipienten eine antisemitische Botschaft vermitteln wollen, ohne die judenfeindliche Ein- stellung dabei deutlich zu formulieren. Einerseits sollen so juristische und politische Folgen vermie- den, andererseits soll an ein bereits bestehendes antisemitisches Ressentiment angeknüpft werden. Als Erscheinungsformen spielen dabei der rassisti- sche und religiöse Antisemitismus nur noch eine geringe Rolle. Weitaus höhere Bedeutung kommt von den klassischen Formen dem nationalisti- schen, politischen und sozialen sowie den moder- nen Formen des antizionistischen und sekundären Antisemitismus zu.

Bei der diesbezüglichen Agitation erfüllen die ju- denfeindlichen Inhalte verschiedene Funktionen, die als individueller oder kollektiver Nutzen erst die Akzeptanz und Wirkungsabsicht des Antise- mitismus erklären: Die Identifi kationsfunktion erlaubt eine Abwertung von „Juden“ und eine Auf- wertung der „Nationalisten“. Die Erkenntnisfunk- tion liefert mit dem angeblichen Wirken von Juden eine einfache Erklärung für komplexe gesellschaft- liche und politische Phänomene. Beide Funktionen beziehen sich auf die interne Bedeutung des Anti- semitismus für den Rechtsextremismus.

22 Bestandsaufnahme

2. Antisemitismus und anarchistisch beziehungsweise kommunistisch ausgerichtete Bestrebungen, die die Aufl ösung der Linksextremismus. Institution des Staates in Gänze beziehungsweise Eine Analyse zur Israel- die Errichtung einer kommunistischen Diktatur anstreben. Organisatorisch artikuliert sich der und Kapitalismuskritik Linksextremismus in allen möglichen Facetten: als Partei, Publikationsorgan, Subkultur und Verein. im öffentlichen Diskurs Auch in strategischer Hinsicht bestehen Unter- schiede: Ein Teil will mit dem Einsatz von Gewalt Antisemitismus gilt als ein Kernelement der Ideo- „Freiräume“ erkämpfen, ein anderer Teil wirbt logie des Rechtsextremismus. Ob auch von einem gewaltfrei und öffentlich für seine Positionen. Antisemitismus im Linksextremismus gesprochen werden könne, wird in Öffentlichkeit und Wissen- Zu letzterem gehören die marxistisch-leninistisch schaft kontrovers diskutiert. Auf der einen Seite ausgerichteten Organisationen und Parteien. stehen Auffassungen, die in abwertenden Kom- Als mit 4.000 Mitgliedern größte Vereinigung in mentaren gegenüber Juden bei den „Klassikern“ diesem Bereich gilt die „Deutsche Kommunistische des Sozialismus und in rigorosen Verdammungen Partei“ (DKP)3, die ganz offen für die revolutionäre der Politik Israels durch heutige Linksextremisten Überwindung der bestehenden Ordnung plädiert, einen Beleg für das Bestehen eines spezifi schen dafür aber noch nicht einmal ansatzweise über die Antisemitismus in diesem politischen Lager sehen. nötigen politischen Potenziale verfügt. Während Auf der anderen Seite fi nden sich Positionen, die sich diese Partei an Ideologie und System der ehe- die Existenz judenfeindlicher Tendenzen im Links- maligen DDR orientiert, sieht die „Marxistisch- extremismus abstreiten und gegenteilige Mei- Leninistische Partei Deutschlands“ (MLPD)4 mit nungen als eine Verharmlosung des tatsächlichen ihren 2.000 Mitgliedern in Maoismus und Stalinis- Antisemitismus interpretieren. Im Folgenden wird mus ihr politisches Vorbild. Darüber hinaus beste- eine differenzierte Position zwischen den beiden hen noch 28 trotzkistische Gruppen5 mit insgesamt Deutungen eingenommen, die sehr wohl Anti- 1.600 Anhängern, wovon aber lediglich „marx21“ semitismus unter Linksextremisten, aber keinen und die „Sozialistische Alternative Voran“ (SAV) genuinen linksextremistischen Antisemitismus aufgrund ihrer partiell faßbaren Unterwande- erkennt. rungspolitik gegenüber der Partei „Die Linke“6 von Bedeutung sind. Als linksextremistisch gilt auch Gegenwärtige Situation im Linksextremismus die Tageszeitung „Junge Welt“, die mit einer Auf- lage von über 17.000 Stück erscheint. Zunächst soll die Situation im gegenwärtigen Linksextremismus1 kurz skizziert werden, handelt Zu den gewaltbereiten Angehörigen des hier zu es sich trotz der grundlegenden Gemeinsamkeit im behandelnden politischen Lagers gehören die Streben nach einer „herrschafts- und klassenlosen Autonomen,7 eine subkulturell geprägte Bewe- Gesellschaft“ doch um kein politisch homogenes gung von etwa 6.000 Personen mit diffusen anar- Lager. Ihm können aktuell 31.9002 Personen in chistischen Einstellungen. Im Spektrum der Auto- unterschiedlichen Zusammenschlüssen zugerech- nomen steht weniger eine ausgeprägte Ideologie net werden. Sie lassen sich bezüglich ideologischer, als vielmehr emotionale Subjektivität im Zentrum organisatorischer und strategischer Kriterien des Selbstverständnisses. Gleichwohl lässt sich bei unterscheiden: Im erstgenannten Bereich bestehen den Autonomen aufgrund ihrer Positionen, die bei

1 U. a. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2009, S. 144–211; Patrick Moreau/Jürgen P. Lang, Linksextremismus. Eine unterschätzte Gefahr, Bonn 1996. An aktuellen und seriösen Gesamtdarstellungen zum Links- extremismus aus politikwissenschaftlicher Sicht mangelt es. 2 Alle Zahlenangaben – hier bezogen auf das Jahr 2009 – nach: Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2009. 3 U. a. Gerhard Hirscher/Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.), Was wurde aus der DKP? Beiträge zu Geschichte und Gegenwart der ex- tremen Linken in Deutschland, Brühl 2008; Manfred Wilke/Hans-Peter Müller/Marion Brabant, Die Deutsche Kommunistische Partei (DKP). Geschichte, Organisation, Politik, Köln 1990. 4 U. a. Rudolf van Hüllen, Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands, in: Frank Decker/Viola Neu (Hrsg.), Handbuch der deut- schen Parteien, Wiesbaden 2007, S. 329 ff.; Armin Pfahl-Traughber, Die „Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands“ (MLPD). Eine analytische Betrachtung zu Entwicklung und Stellenwert einer politischen Sekte, in: www.bpb.de/themen/KT8PGR [einge- sehen am 5. Mai 2011]. 5 U. a. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2008, Berlin 2009, S. 184–187; Rudolf van Hüllen, Das trotzkistische Spektrum im Linksextremismus, in: www.bpb.de/themen/1RQDMP [eingesehen am 5. Mai 2011]. 6 Da die Einschätzung dieser Partei im Kontext des Linksextremismus sowohl in der Öffentlichkeit und Politik wie bei den Verfassungsschutzbehörden und der Wissenschaft umstritten ist, soll auf nähere Betrachtungen im vorliegenden Kontext verzichtet werden. 7 U. a. Thomas Schultze/Almut Gross, Die Autonomen. Ursprünge, Entwicklung und Profi l der Autonomen Bewegung, Hamburg 1997; Jan Schwarzmeier, Die Autonomen zwischen Subkultur und sozialer Bewegung, Göttingen 2001.

23 Bestandsaufnahme

Erklärungen oder im Kontext von Gewalttaten ge- Mitunter bedienten die Kommunisten sich aber ju- äußert werden, von einem politischen Phänomen denfeindlicher Einstellungen, um sie aus politisch- sprechen. Bei ihnen spielen auch die „Antideut- strategischen Gründen zu nutzen. Diese Strategie schen“ eine wichtige Rolle: Sie lehnen die Existenz soll hier anhand der „Kommunistischen Partei einer deutschen Nation und eines deutschen Staa- Deutschlands“ (KPD) in der Weimarer Republik tes rigoros ab und erklären sich gleichzeitig bedin- kurz aufgezeigt werden.8 gungslos solidarisch mit Israel als Staat der Opfer des deutschen Nationalsozialismus. In diesem Als Beleg für den Antisemitismus der KPD findet Kontext werfen die „Antideutschen“ mitunter auch man in der Literatur häufig eine Aussage von den propalästinensischen Linksextremisten selbst Ruth Fischer, Mitglied des Zentralkommitees der Antisemitismus vor. „Antideutsche“ Positionen KPD und Leiterin der Berliner KPD, die 1923 in einer fi ndet man vor allem auch in Publikationsorganen Rede vor nationalistischen Studenten äußerte: wie „Bahamas“, „Jungle World“ oder „Konkret“. Wer gegen das „Judenkapital“ aufrufe, sei schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht wisse. Die Antisemitismus in der Ideologie und Historie Gegnerschaft zu „Börsenjobbern“ und „Judenkapi- des Linksextremismus tal“ sei zutreffend. Man müsse die „Judenkapitalis- ten“ aufhängen, niedertreten und zertrampeln.9 Ganz allgemein lässt sich konstatieren, dass das Die Gewaltaufforderung und Wortwahl sprechen politisch-ideologische Selbstverständnis des Links- scheinbar eindeutig für Antisemitismus. Bei der extremismus für sich reklamiert, dem Antisemitis- Beachtung des Kontextes entsteht aber ein diffe- mus keinen Platz zu bieten, dieser in der Praxis aber renzierteres Bild: Die Aussage fi el in die nur kurze durchaus eine Rolle spielen kann. Sowohl für den „Schlageter“-Phase, während der die KPD auf Akti- Anarchismus wie für den Kommunismus ist die onsbündnisse mit den Völkischen setzte. Fischer ethnische oder religiöse Zugehörigkeit von Men- spielte auf deren Antisemitismus an, um ihn in schen nicht relevant. Die Ablehnung von Kapita- Richtung ihres Antikapitalismus umzudeuten: listen richtet sich in der Theorie dieses politischen Man sollte aber gegen alle und nicht nur gegen Lagers sowohl gegen jüdische wie nichtjüdische die jüdischen Kapitalisten vorgehen. Insofern Kapitalisten. Die Aversion gegen Religion wendet nahm Fischer selbst keine antisemitischen Posi- sich gegen alle Glaubensrichtungen. Obwohl der tionen ein, sie bediente sich ihrer aber in agitato- Antisemitismus ideologisch kein Bestandteil des rischer Absicht. Linksextremismus sein soll, gab beziehungswei- se gibt es in diesem politischen Lager Anhänger Antisemitismus in der Geschichte des mit offenkundig judenfeindlichen Einstellungen, bundesdeutschen Linksextremismus wobei diese Prägungen meist aber keinen unmit- telbaren Einfl uss auf die politischen Handlungen Der bundesdeutsche Linksextremismus knüpfte und Programme hatten beziehungsweise haben. wesentlich an die ideologischen und thematischen Juden als besondere religiöse oder soziale Gruppe Positionen der Weimarer KPD zum Antisemitis- spielen im ideologischen Selbstverständnis von mus an. Die KPD zwischen 1945 beziehungsweise Links extremisten keine Rolle. 1949 und 1956 sowie die DKP ab 1968 als politisch bedeutsamste Kräfte in diesem politischen Lager Daher können auch für die Geschichte des Links- können bis 1989 als „Interventionsapparate der extremismus keine feststehenden antisemitischen SED“ angesehen werden. Demnach richtete man Grundpositionen ausgemacht werden. Judenfeind- sich auch in dieser Frage ganz im Sinne der DDR- schaft galt aus ideologischen und strategischen Interessen aus. Dies bedeutete eine offi zielle Dis- Gründen den kommunistisch ausgerichteten Par- tanzierung und Verurteilung des Antisemitismus teien stets als Ausdruck eines „falschen Bewusst- als Ideologie des Faschismus, wobei es allerdings seins“ im Klassenkampf. Mit antisemitischen An- mit dem Kalten Krieg und den stalinistischen sichten, so der häufi g erhobene Vorwurf, wollten Säuberungen in den frühen 1950er-Jahren in der die Herrschenden die Massen von ihrem Weg zum DDR zugleich zur Übernahme einer antiimperi- Sozialismus abbringen. Aus diesem Grund – und alistischen Rhetorik in Bezug auf Israel entspre- nicht aus Solidarität mit den Juden – wandten sich chend dem staatsdoktrinären Antizionismus der die Kommunisten gegen den Antisemitismus. Des- DDR kam.10 Die SED beharrte zwar immer auf einer sen Bekämpfung wurde allerdings kein besonderer Differenz zwischen ihrer antizionistischen Poli- Stellenwert zugewiesen, galt doch das Engagement tik und Antisemitismus; zugleich mündeten die für eine Minderheit per se als politisch irrelevant. angewandten antiamerikanischen und antizio-

8 U. a. Mario Kessler, Die KPD und der Antisemitismus in der Weimarer Republik, in: Utopie kreativ 173 (2005), S. 223–232; Olaf Kistenmacher, Vom „Judas“ zum „Judenkapital“. Antisemitische Denkformen in der Kommunistischen Partei Deutschlands der Weimarer Republik, 1918–1933, in: Matthias Brosch u. a. (Hrsg.), Exklusive Solidarität. Linker Antisemitismus in Deutschland, Berlin 2007, S. 69–86. 9 „Hängt die Judenkapitalisten“. Ruth Fischer als Antisemitin, in: Vorwärts vom 22. August 1923.

24 Bestandsaufnahme nistischen Argumentationsmuster häufi g in der Später kam es zu einer verbalen Mäßigung solcher (Weiter-)Verwendung antisemitischer Phrasen. Stimmen, erhob man doch kaum noch die direkte So defi niert zum Beispiel das „Kleine Politische Forderung nach Vernichtung des Staates Israel. Wörterbuch“ von 1977 den Begriff „Zionismus“ Die damit verbundenen Grundpositionen blieben als „weitverzweigtes Organisationssystem […] der gleichwohl bestehen. Dies zeigte sich etwa auch jüdischen Bourgeoisie“.11 Diese Traditionen fi nden während des Einmarsches der israelischen Armee wir bis heute in der DKP und in Teilen der Partei in den Libanon 1982, der eine Reihe von indirek- „Die Linke“12. Nach SED-Vorbild nahm die DKP ten Gleichsetzungen mit der NS-Vergangenheit in judenfeindliche Ereignisse in der Bundes republik der Wortwahl auslöste wie etwa „Endlösung der auf, um damit die bundesdeutsche Gesellschaft Palästinenserfrage“.14 Ähnliche Reaktionen ließen im Rahmen der „Antifaschismus“-Agitation als sich in den folgenden Jahren immer wieder bei politisch anfällig für derartige Tendenzen kritisie- der Eskalation des Nahostkonfl ikts vom Golfkrieg ren zu können, und behielt die eindeutig anti- 1990/1991 bis zum Gaza-Krieg 2009 ausmachen.15 israelische und proarabische Grundposition bis in Dass hinter den scharfen „antizionistischen die Gegenwart bei. Positionen“ der Israelkritik unter Linksextremisten antisemitische Haltungen erkennbar sind, wur- Diese Disposition zu antisemitischen Positio- de zunehmend auch in diesem politischen Lager nen gilt auch für die „K-Gruppen“, worunter selbstkritisch thematisiert.16 kommunistische Kleingruppen mit allgemein maoistischer, teilweise auch stalinistischer Die antisemitische Konsequenz von Aktionen Ausrichtung der 1970er-Jahre zu verstehen sind, des Linksterrorismus die in den 1980er-Jahren an Bedeutung verloren. Auch sie positionierten sich auf der arabischen Zunächst bedarf es noch der Differenzierung zwi- beziehungsweise palästinensischen Seite, die als schen einer subjektiven Einstellung und objektiven Bündnis partner im Kampf gegen „Imperialismus“ Wirkung bezüglich der Motive mit Antisemitismus- und „Kapitalismus“ willkommen war. Israel galt bezug. Es geht hierbei darum, dass im Linksextre- demgegenüber nur als „Marionette“ oder „Vor- mismus im Unterschied zum Rechtsextremismus posten“ der USA und des Westens im Nahen Osten. vom ideologischen Selbstverständnis her kein Diese Grundposition steigerte sich aber noch, Platz für eine derartige Position ist. Insofern lässt indem die Existenz und Legitimation des jüdi- sich dort keine Feindschaft gegen Juden als Juden schen Staates in Gänze in Frage gestellt wurde. ausmachen. Indessen sind Aktionen von Linksextre- In den einschlägigen Publikationen der K-Grup- misten möglich, die sich zwar nicht auf eine solche pen fanden sich kaum verhüllte Anklänge an anti - Einstellung berufen, gleichwohl aber in der inneren semitische Diskurse, etwa wenn von „zionistischen Konsequenz einer solchen Grundauffassung liegen. Multimillionären“ oder einem „parasitären Cha- Demnach kann es zu Handlungen kommen, denen rakter“ der Juden die Rede war. Deutlich sprach scheinbar keine antisemitischen Einstellungen man von einer „blutrünstigen und machtgierigen zugrunde liegen, die aber zu antisemitischen Kon- Bastion gegen die Völker“ und forderte offen die sequenzen führen. So etwas lässt sich insbesondere „Zerschlagung des zionistischen Gebildes“.13 im Kontext der Israelkritik ausmachen und soll hier Hier offenbarten sich gar nationalistische Ideo- anhand von zwei Aktionen aus dem Linksterroris- logiefragmente. mus exemplarisch veranschaulicht werden:

10 Ausführlich: Thomas Haury, Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR, Hamburg 2002; ders., Von der linken Kritik des Zionismus zum antisemitischen Antiszionismus von Links, in: Samuel Salzborn (Hrsg.), Antisemitismus – Geschichte und Gegenwart, Gießen 2009, S. 127–158; zur Auseinandersetzung mit dem Phänomen in der DDR siehe auch: „Das hat es bei uns nicht gegeben!“ Ausstellung der Amadeu Antonio Stiftung zu Antisemitismus in der DDR, http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/die-stiftung-aktiv/gegen-as/was-tut-die-stiftung/as-ddr/ [eingesehen am 16. Mai 2011]. 11 Zitiert nach: Haury, Von der linken Kritik des Zionismus, S. 144. 12 Jüngstes Beispiel sind Boykottaufrufe gegen israelische Waren einzelner Ortsverbände der Partei „Die Linke“ beziehungsweise einseitige antiisraelische Positionierungen einzelner Parteimitglieder, die sich an der Gaza-Flottille im Mai 2010 beteiligten (→ Präventionsmaßnahmen). 13 U. a. Henryk M. Broder, Antizionismus – Antisemitismus von links?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 24 (1976), S. 31–46; Thomas Haury, Der Antizionismus der Neuen Linken in der BRD. Sekundärer Antisemitismus nach Auschwitz, in: Arbeitskreis Kritik des deutschen Antisemitismus (Hrsg.), Antisemitismus – die deutsche Normalität. Geschichte und Wirkungsweise des Vernichtungswahns, Freiburg 2001, S. 217–229. Die Zitate entstammen diesem Aufsatz, ebenda, S. 223, 227. 14 Martin Kloke, Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses, Frankfurt a. M. 1994, S. 220–229. 15 Philipp Gessler, Antisemitismus und Antizionismus in der bundesrepublikanischen Linken bis 1989/90 und ihr Fortleben bis zur Diskussion über den Libanon-Krieg 2006, in: Brosch u. a., Exklusive Solidarität, S. 347–365. 16 Initiative Sozialistisches Forum (Hrsg.), Furchtbare Antisemiten, ehrbare Antizionisten. Über Israel und die linksdeutsche Ideologie, Freiburg 2002; Irit Neidhardt/Willi Bischof (Hrsg.), Wir sind die Guten. Antisemitismus in der radikalen Linken, Münster 2000.

25 Bestandsaufnahme

Bei dem ersten Ereignis handelt es sich um den bestehen? Zum erstgenannten gehören Israel- und geplanten Bombenanschlag auf das Jüdische Kapitalismuskritik. Hierbei gilt es um einer diffe- Gemeindehaus in Berlin am 9. November 1969.17 renzierten Betrachtung und Einschätzung willen, Die verantwortliche Gruppe „Tupamaros West- den besonderen Unterschied zwischen einer An- Berlin“ beabsichtigte damit laut Bekennerschrei- schlussfähigkeit an den Antisemitismus und des- ben, gegen die Unterdrückung der Palästinenser sen Erscheinungsformen zu beachten. Nahezu jede durch Israel zu protestieren. Bei dem ausgewählten kritische Äußerung zu jüdischen Einzelpersonen Ort des geplanten Anschlags handelte es sich aber oder Gruppen beziehungsweise über die Politik um keine Institution dieses Staates, sondern um Israels kann als judenfeindliche Absicht begriffen eine davon unabhängige Einrichtung einer jüdi- werden. Gleichwohl müssen nicht alle Bekundun- schen Gemeinde. Die Attentäter gingen demnach gen in diesem Sinne selbst antisemitisch motiviert möglicherweise davon aus, dass die Juden in sein, kommt es doch bei einer Einschätzung auf die Deutschland und in Israel einen homogenen Absicht und Grundposition der Kritik an. Block darstellen. Mit der Auswahl des Tatortes kon- struierten sie das Bild von einem „Weltjudentum“, Bevor darauf noch gesondert hinsichtlich der in- dessen deutsche Sektion angegriffen werden sollte. haltlichen Anknüpfungspunkte in der Israelkritik Bestätigung erfuhr diese Einschätzung noch durch und der Kapitalismuskritik eingegangen werden das Bekennerschreiben, in dem die Lähmung der soll, bedarf es einer Analyse und Einschätzung zu „Linken“ bezüglich der Kritik an Israel auf ein den behaupteten strukturellen Gemeinsamkeiten. „deutsches Schuldbewusstsein“ wegen des Holo- Zwischen linker Ideologie und Antisemitismus caust zurückgeführt wurde. existieren nach den Anhängern dieses Ansatzes bestimmte übereinstimmende formale Merkmale: Das zweite Beispiel bezieht sich auf die Entführung Hierzu gehört erstens ein ausgeprägter „Mani- einer Air-France-Maschine am 27. Juni 1976 auf chäismus“ mit dem Ergebnis der umfassenden dem Weg von Tel Aviv nach Paris.18 Das vierköpfi ge Verwerfung des Bestehenden, verbunden zweitens „Kommando Che Guevara“ der „Volksfront für die mit der bewertenden Einteilung der Gesellschaft Befreiung Palästinas“, das diese Aktion durchführ- in „böse“ und „gute“ Akteure. Damit geht drittens te, stand unter der Führung des deutschen Terroris- ein Feindbild bezogen auf einen alleinigen Verant- ten Wilfried Böse von den „Revolutionären Zellen“. wortlichen für die beklagten Missstände einher, Das Kommando beabsichtigte die Freipressung das viertens nicht in einem sozialen Entwicklungs- von über fünfzig Gesinnungsgenossen aus den prozess verortet, sondern in einem individuell Gefängnissen verschiedener Länder. Nach einigen Schuldigen personifi ziert wird. Diese Denkstruktu- Zwischenstopps landete das entführte Flugzeug ren prägten die marxistisch-leninistische Ideologie in Entebbe in Uganda. Von dort aus wollten die mit dem Gegensatz „Kapital“ und „Proletariat“ Terroristen in Verhandlungen mit der israelischen ebenso wie den Antisemitismus mit dem Gegen- Regierung eintreten. Bereits zuvor hatten sie aller- satz „Arier“ und „Jude“.20 dings einige Geiseln freigelassen. Dem ging eine Selektion in jüdische und nichtjüdische Passagiere Obwohl die genannten formalen Merkmale in bei- auch durch die deutschen Linksterroristen voraus. den Ideologien vorhanden sind, reicht dies jedoch Die israelischen Geiseln – darunter auch über- nicht aus, um bezogen auf den Marxismus-Leninis- lebende Häftlinge aus deutschen Konzentrations- mus von einem „strukturellen Antisemitismus“ zu lagern – sollten ausnahmslos an Bord bleiben.19 sprechen. Mit dem Antisemitismus verbunden ist konstitutiv eine Feindschaft gegen eine besondere Inhaltliche Berührungspunkte und strukturelle Personengruppe in Gestalt der Juden, also handelt Gemeinsamkeiten von Antisemitismus und es sich um einen inhaltlichen und nicht um einen Linksextremismus strukturellen Gesichtspunkt in einer Ideologie. Alle genannten vier Merkmale können sehr wohl Lässt sich somit einerseits die grundsätzliche auch mit einer nichtantisemitischen Haltung ein- Ablehnung des Antisemitismus im ideologischen hergehen, wofür gerade die Positionen Lenins als Selbstverständnis des Linksextremismus, anderer- nichtantisemitischer Begründer des Marxismus- seits jedoch das Vorhandensein von antisemiti- Leninismus exemplarisch stehen. Daher muss die schen Diskursbestandteilen in diesem politischen Auffassung von einem „strukturellen Antisemi- Lager konstatierten, so ist konkret die Frage zu tismus“ als Analyseinstrument aus methodischen beantworten, worin nun inhaltliche Berührungs- Gründen verworfen werden. Der damit einher- punkte von Antisemitismus und Linksextremismus gehende Ansatz kann allenfalls erklären, warum

17 Wolfgang Kraushaar, Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus, Hamburg 2005. 18 William Stevenson (mit Uri Dan), 90 Minuten in Entebbe, Frankfurt a. M. 1977. 19 Wolfgang Kraushaar, Abspaltung und Potenzierung. Zum Verhältnis von Antizionismus und Antisemitismus in der militanten Linken der Bundesrepublik, in: Brosch u. a., Exklusive Solidarität, S. 325–346. 20 Haury, Antisemitismus von links, S. 157 ff., 284–287.

26 Bestandsaufnahme

Personen mit den genannten Denkstrukturen poten- werden, steht doch das Vorgehen Israels in keinem ziell anfälliger für den Antisemitismus als Ideologie Verhältnis zur Praxis des NS-Regimes. Derartige mit den gleichen Denkstrukturen sein dürften. Aussagen laufen auf eine Dämonisierung Israels als Verbrecherstaat hinaus. Gleichzeitig gehen mit Inhaltliche Anknüpfungspunkte für solchen Diskursinhalten eine Relativierung der Antisemitismus in der Israelkritik NS-Untaten und eine Täter-Opfer-Umkehr einher.

Zu den politischen Themenfeldern, die für den Allerdings müssen derartige Auffassungen nicht Zusammenhang von Antisemitismus und Linksex- vordergründig antisemitisch motiviert sein.24 tremismus von herausragender Bedeutung sind, Betrachtet man die linksextremistische Ideologie gehört die Israelkritik.21 Deren Einseitigkeit und bezüglich ihrer Einschätzung des Nahostkonfl ikts, Intensität, Schärfe und Unangemessenheit ist evi- so lassen sich für die genannten Positionen auch dent: Im angeblich aggressiven Vorgehen Israels andere politische Begründungen ausmachen: wird die alleinige Ursache für den Nahostkonfl ikt Israel gilt demnach nicht primär als jüdischer, gesehen, die arabische beziehungsweise palästi- sondern als imperialistischer und kapitalistischer nensische Seite wird hingegen nur als unschuldi- Staat. Araber beziehungsweise Palästinenser ges Opfer wahrgenommen, die legitimen Sicher- werden als Opfer eines westlichen Dominanz- heitsinteressen Israels werden nicht beachtet; auch strebens gesehen, das insbesondere Israel zur fi nden die bedenklichen Ansichten und Handlun- Durchsetzung seiner Interessen im Nahen Osten gen der islamistischen und nichtislamistischen nutzt. Hier besteht auch ein Unterschied zu einer Gegner des Staates kaum kritische Aufmerksam- antisemitischen Position, sieht diese doch nicht in keit. Die besondere Empörung über angebliche Israel ein Instrument der USA, sondern umgekehrt oder tatsächliche Menschenrechtsverletzungen in den USA ein Instrument Israels beziehungsweise durch Israel steht für Doppel-Standards bei der der Juden. Die indirekten Gleichsetzungen mit Einschätzung, direkte und indirekte Anspielungen dem Nationalsozialismus ergeben sich aus dem deuten auf eine Gleichsetzung mit dem Apartheid- „Anti faschismus“ des Linksextremismus,25 der mit staat oder dem Nationalsozialismus hin. einem infl ationären Faschismusverständnis gern alle nur möglichen Gegner mit einschlägigen Eti- Derartige Auffassungen finden sich etwa in der ketten als Inkarnation des „Bösen“ an sich belegt. Tageszeitung „Junge Welt“ bei deren Leitkolum- nisten Werner Pirker:22 Da ist die Rede von einem Inhaltliche Anknüpfungspunkte für „Apartheid-Staat“ und einem „Staat aus der Retorte“, Antisemitismus in der Kapitalismuskritik der „im Ergebnis eines ethnischen Säuberungspro- zesses, der seinesgleichen sucht“23, entstanden sei. Als zweites Themenfeld, das für den Zusammen- Solche Positionen zeigen klare Berührungspunkte hang von Antisemitismus und Linksextremismus zu antisemitischen Diskursen: Hier gilt Israel als auch aus historischen Gründen von herausragen- künstlicher Staat ohne Existenzberechtigung, der Bedeutung ist, kann die Kapitalismuskritik der mit Genozid und Rassismus in Verbindung gelten. Hierbei sieht man in einer personalisierten gebracht wird. Gerade bei Letztgenanntem erfolgt und verkürzten Ausrichtung inhaltliche An- eine indirekte Gleichsetzung mit dem National- knüpfungspunkte.26 Um die damit verbundenen sozialismus. Dabei muss die historische Unangemes- Einwände besser nachvollziehen zu können, senheit solcher Haltungen nicht näher begründet bedarf es einer Unterscheidung von links- und

21 Armin Pfahl-Traughber, Antisemitische und nicht-antisemitische Israel-Kritik. Eine Auseinandersetzung mit den Kriterien zur Unterscheidung, in: Aufklärung und Kritik 14 (2007) 1, S. 49–58. 22 Auf dessen Publikationen weist die Literatur immer wieder hin; sie sieht in solchen Aussagen eine Form von Antisemitismus, etwa Lars Rensmann, Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2004, S. 319. 23 Werner Pirker, Einen anderen Zionismus gibt es nicht, in: Junge Welt vom 25. April 2002, worauf sich Rensmann, Demokratie und Judenbild, bezieht. 24 Doron Rabinovici, Ulrich Speck und Natan Sznaider, die Herausgeber eines Sammelbandes zum „Neuen Antisemitismus“, wiesen diesbezüglich auf die methodische Problematik einer „Rhetorik des Verdachts“ hin: Der Antisemitismusvorwurf gründe auf der Vermutung, dass das Gesagte nicht das Gemeinte sei, dass Kritik an Israel nur ein Vorwand sei, um antisemitische Gefühle und Ideen zu artikulieren. Doron Rabinovici/Ulrich Speck/Natan Sznaider, Einleitung, in: Doron Rabinovici/Ulrich Speck/Natan Sznaider (Hrsg.), Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt a. M. 2004, S. 7–18, hier: S. 9. 25 Armin Pfahl-Traughber, Antifaschismus als Thema linksextremistischer Agitation, Bündnispolitik und Ideologie. Zu den ideo- logischen Hintergründen und politischen Implikationen eines Kampfbegriffs, in: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2009/2010, Brühl 2010, S. 273–300. 26 U. a. Andreas Exner, Antisemitismus und Globalisierungskritik. Thesen zu einem Verhältnis, in: Attac Österreich (Hrsg.), Blinde Flecken der Globalisierungskritik. Gegen antisemitische Tendenzen und rechtsextreme Vereinnahmung, Wien 2005, S. 9–12; Marcus Meier, „Wie die Heuschrecken kommen sie über unser Land“. Über die Fallstricke einer verkürzten Kapitalismuskritik, in: Richard Gebhardt/Dominik Clemens (Hrsg.), Volksgemeinschaft statt Kapitalismus? Zur sozialen Demagogie der Neonazis, Köln 2009, S. 147–169.

27 Bestandsaufnahme

rechtsex tremistischer Kapitalismuskritik. Die Bei Linksextremisten mit marxistisch-leninistischer erstgenannte Form beruft sich auf die Positionen Ausrichtung lässt sich eine solche eingeschränkte der „Klassiker“ Karl Marx und Friedrich Engels: oder personalisierte Kapitalismuskritik aber nicht Demnach soll sich die Kritik gegen die kapitalis- ausmachen. Ansätze gab es dazu bei KPD und SED in tische Produktionsweise in Gänze richten. Nicht der Vergangenheit, aber nicht aktuell bei DKP oder in den Handlungen einzelner Kapitalisten oder MLPD. Aus deren Umfeld warnt man eher vor der in Problemen bestimmter Wirtschaftsbereiche Falle verkürzter Kapitalismuskritik. bestehe die Ursache für Krisen und Verelendung. Und bezüglich der angestrebten Transformation Die Auseinandersetzung von „Antideutschen“ von Gesellschaft und Wirtschaft sollte auch kein und „Antiimperialisten“ Unterschied zwischen Finanz- und Realkapital gemacht werden. Bereits seit Anfang der 1950er-Jahre nahm der Linksextremismus im politischen Lichte des Ost- In diesen beiden Punkten bestanden und be- West-Konfl ikts eine dezidiert antiisraelische und stehen die entscheidenden Unterschiede zur proarabische Position ein – und zwar nicht nur in Kapitalismuskritik, die mit der Fixierung auf das den am „real existierenden Sozialismus“ orientier- Finanzkapital und einer Personalisierung von ten Teilen dieses politischen Lagers. Als bekanntes Ursachen auch inhaltliche Anknüpfungspunkte Beispiel dafür steht eine Parole, die Mitte der 1980er- für Antisemitismus enthält. Der historische und Jahre von Autonomen auf ein besetztes Haus in der gegenwärtige Rechtsextremismus richtete und Hamburger Hafenstraße gemalt wurde: „Boy- richtet seine Kritik denn auch keineswegs gegen kottiert ‚Israel‘. Waren, Kibbuzim + Strände. Paläs- den Kapitalismus in Gänze: Vielmehr trat und tritt tina – das Volk wird dich befreien [...]“.27 Folgende er für die Beibehaltung der Marktwirtschaft und Gesichtspunkte sprechen möglicherweise für einen des Privatunternehmertums ein. Die Kapitalismus- antisemitischen Hintergrund: Das Existenzrecht kritik in diesem politischen Lager konzentriert Israels wird mit den Anführungszeichen in Zweifel sich primär auf das Finanzkapital, das mit seinem gezogen, die Boykottforderung erinnert an die NS- spekulativen Vorgehen für Krisen und Umbrüche Parole „Kauft nicht bei Juden“, und die Anrufung des verantwortlich gemacht wurde und wird. Das Volkes offenbart nationalistische Prägungen. Realkapital steht demgegenüber kaum oder gar nicht in der Kritik. Darauf bezogen entwickelte Die inhaltliche Anschlussfähigkeit derartiger sich auch schon in der Frühgeschichte der NSDAP Diskurse an antisemitische Einstellungen wurde in die von deren Wirtschaftstheoretiker Gottfried diesem politischen Spektrum jahrzehntelang nicht Feder geprägte Unterscheidung von „raffendem“ problematisiert. Dies änderte sich erst mit dem Auf- und „schaffendem Kapital“. Mit ersterem war das kommen der „Antideutschen“28. Sie vertreten eine „jüdische Finanzkapital“ im Sinne des sozialen gegenteilige Auffassung und nehmen bezüglich des Antisemitismus gemeint. Nahostkonfl ikts eine klar proisraelische Position ein. Die Anfänge dieser nicht einheitlich organi- Der angesprochene zweite Gesichtspunkt, die Per- sierten Strömung im Linksextremismus gehen auf sonalisierung, bezieht sich darauf, dass im Handeln den Beginn der 1990er-Jahre zurück: Angesichts der besonderer Individuen und nicht in der spezifi schen deutschlandpolitischen Entwicklung befürchteten Struktur der Wirtschaft die Ursache für ökonomi- viele Aktivisten dieses Lagers die Renaissance des sche und soziale Miseren gesehen wird. Und hier deutschen „Großmachtwahns“ und die Wieder- stellt die antisemitische Kapitalismuskritik eben auf kehr eines „Dritten Reiches“. Deshalb stehen die das angebliche Wirken von „jüdischen Bankiers“ „Antideutschen“ eindeutig auf der Seite Israels und in Deutschland oder den USA ab. In dieser Schuld- sehen in den islamistischen und nationalistischen zuschreibung kann denn auch ein wichtiger Unter- Gegnern Israels die fortschrittsfeindliche und reak- schied zwischen links- und rechtsextremistischer tionäre Verkörperung eines neuen Antisemitismus Globalisierungskritik gesehen werden. Die letzt- und Faschismus im Nahen Osten. genannte Form führt die beklagte Entwicklung auf internationaler Ebene auf das Agieren der „Ostküs- Da die Mehrheit des Linksextremismus eine anti- te“ zurück, was als Code beziehungsweise Synonym israelische und proarabische Grundposition im für die „jüdischen Bankiers an der Wall-Street“ gilt. Sinne des Antiimperialismus vertritt, musste es

27 Eine Abbildung mit diesem Spruch, der mit „Revolution bis zum Sieg“ endet, fi ndet sich in: Neidhardt/Bischof, Wir sind die Guten, S. 183. 28 U. a. Gerhard Hanloser (Hrsg.), „Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken“. Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik, Münster 2004; Robert Kurz, Die antideutsche Ideologie. Vom Antifaschismus zum Krisenimperialismus, Münster 2003. 29 Bundesamt für Verfassungsschutz, Massiver ideologischer Streit zum Nahost-Konfl ikt unter Linksextremisten, in: Bundesmi- nisterium des Innern (Hrsg.), Extremismus in Deutschland. Erscheinungsformen und aktuelle Bestandsaufnahme, Berlin 2004, S. 197–210; Thomas Haury, Der neue Antisemitismusstreit in der Linken, in: Rabinovici/Speck/Sznaider, Neuer Antisemitismus?, S. 143–167.

28 Bestandsaufnahme notwendigerweise zu heftigen Debatten und Vor- die eigenen politischen Positionen mobilisieren würfen kommen.29 Letztere gipfelten darin, dass zu können. Hiervon kann nach dem Holocaust in die „Antideutschen“ den „Antiimperialisten“ eine Deutschland in Gesellschaften mit einem offi ziel- judenfeindliche Ausrichtung vorwarfen. Unter len anti-antisemitischen Konsens nicht mehr die dem Deckmantel von „Antizionismus“ und „Israel- Rede sein, zumal die Judenfeindschaft als Ein- kritik“ offenbare sich nach dieser Lesart ein „neuer stellung dem abgelehnten „faschistischen“ be- Antisemitismus“. Damit wurde die antiimperialis- ziehungsweise „rechten Lager“ zugeordnet wird. tische Mehrheit von der antideutschen Minderheit Mit der Fixierung linksextremistischer Agitation auf zumindest indirekt in die Nähe des „Faschismus“ den „Antiimperialismus“ und „Antikapitalismus“ gerückt, was im linksextremistischen Lager zu schwand aber die kritische Aufmerksamkeit für in- einer Konfl ikteskalation bis hin zur Gewaltanwen- haltliche Anknüpfungspunkte für Antisemitismus. dung führte. Die inflationäre Verwendung des Antisemitismusvorwurfs spielte dabei eine bedeu- Dies gilt vor allem für die Israelkritik im öffentli- tende Rolle: Die „Antideutschen“ erklärten nahezu chen Diskurs von Linksextremisten, die meist von jedes Abweichen von einer unbedingten Solidarität einem einseitigen Feindbild bezüglich der Verant- mit Israel für einen Ausdruck von Antisemitismus, wortung für den Nahostkonfl ikt geprägt ist: Man womit aber die eigentlichen ideologischen Gründe sieht die Hauptschuld im angeblich aggressiven für die Einstellung der „Antiimperialisten“ ver- und unangemessenen Vorgehen der israelischen kannt wurden. Regierung, bringt dieses mit historisch-politisch besetzten Begrifflichkeiten wie „Vernichtungs- Fazit krieg“ mit dem Nationalsozialismus in Verbindung und ignoriert Menschenrechtsverletzungen und Die vorstehenden Ausführungen gehen davon aus, Schuldanteile der arabischen beziehungsweise dass es unter Linksextremisten auch Antisemitis- palästinensischen Seite. Mitunter führen dabei mus gibt. Während der Antisemitismus im rechts- Linksextremisten die Unterstützung Israels durch extremistischen Spektrum zum konstitutiven die Bundesregierung auf eine diesbezüglich Bestandteil der Ideologie gehört und Judenfeind- bedenkliche Haltung zur Vergangenheitsbewälti- schaft direkt aus den grundlegenden Merkmalen gung zurück. Derartige Diskursinhalte leiten sich der inhaltlichen Ausrichtung dieses politischen aus einem linksextremistischen „Antiimperialis- Lagers abgeleitet wird, ist dies beim Linksextremis- mus“ ab. Bei solchen Auffassungen ergeben sich mus nicht der Fall: Defi niert man Antisemitismus aber auch inhaltliche Anknüpfungspunkte für den als Feindschaft gegen Juden als Juden, so lassen Antisemitismus, was in diesem politischen Lager sich für eine solche Position keine ideologieimma- immer noch nicht selbstkritisch genug problemati- nenten Anhaltspunkte im anarchistischen oder siert wird. kommunistischen Selbstverständnis fi nden. Daher verwundert auch nicht, dass die Verfassungs- schutzbehörden als Beobachter des politischen Extremismus zwar Antisemitismus für den Islamis- mus und Rechtsextremismus, aber nicht für den Linksextremismus belegen können.30

Antisemitische Einstellungen oder Ressentiments von Angehörigen dieses politischen Lagers müs- sen demnach auf Prägungen zusätzlich zu dessen ideologischem Selbstverständnis zurückgeführt werden. So erklären sich die erwähnten juden- feindlichen Positionen für den Zeitraum vor Mitte des 20. Jahrhunderts durch das Aufgreifen von gesellschaftlich breit akzeptierten Orientierungen und Vorurteilen. Mitunter wurden derartige Bilder und Mentalitäten auch in der öffentlichen Agita- tion instrumentalisiert, um damit Akzeptanz für

30 U. a. Stefan Kestler, Antisemitismus und das linksextremistische Spektrum in Deutschland nach 1945, in: Bundesministerium des Innern, Neuer Antisemitismus?, S. 75–107, hier: S. 106 f.; Senatsverwaltung für Inneres. Abteilung Verfassungsschutz (Hrsg.), Antisemitismus im extremistischen Spektrum Berlins, Berlin 2004, S. 30–35.

29 Bestandsaufnahme

3. Exkurs: Zur Prüfung Als bedeutender Träger der globalisierungskriti- schen Bewegung gilt das Netzwerk „Attac“2, das von Antisemitismus- 1998 in Frankreich gegründet wurde, in vielen vorwürfen gegenüber der Ländern regionale Ableger hat und seit 2000 auch über eine deutsche Sektion verfügt. „Attac“ globalisierungs kritischen versteht sich als „Netzwerk zur demokratischen Kontrolle der internationalen Finanzmärkte“ und Bewegung und dem organisiert Mitglieder aus unterschiedlichsten Netzwerk „Attac“ Nichtregierungsorganisationen aus dem christ- lichen, gewerkschaftlichen, ökologischen und poli- tischen Bereich. Unter maßgeblicher Wirkung von In jüngster Zeit sahen sich die globalisierungskri- „Attac“ kam es weltweit regelmäßig zu teilweise tische Bewegung und das Netzwerk „Attac“ dem gewalttätigen Protestdemonstrationen anlässlich Vorwurf ausgesetzt, antisemitische Inhalte zu von G 8- oder EU-Gipfeln oder der Sitzungen des vertreten oder wenigstens zu befördern. Anhand Internationalen Währungsfonds oder der Welt- dieses Beispiels soll das Verhältnis von Antisemi- bank. Die politischen Forderungen des Netzwerkes tismus und Protestbewegungen in Deutschland zielen auf die soziale Beschränkung und demokra- erörtert werden; die Situation in anderen Ländern tische Kontrolle des Kapitalismus. Darüber hinaus wird hier nicht thematisiert. werden Forderungen nach der Abschaffung von Steueroasen, der Einführung eines Grundein- Die politischen Auffassungen von globalisie- kommens, der Gewährung von Mindestlöhnen, rungskritischer Bewegung und „Attac“ der Kontrolle der Finanzmärkte oder der Sicherung der Sozialsysteme erhoben. Die globalisierungskritische Bewegung1 gehört zum Typus der sozialen Bewegung. Ihr Enga- Bereits in einer Grundsatzerklärung der deutschen gement richtet sich gegen eine als „neoliberal“ Sektion von 2000 bekannte sich „Attac“ zu einem geltende Wirtschaftspolitik, die im Interesse der politischen Pluralismus, der die unterschiedlichs- führenden Industriestaaten ein gleichzeitiges An- ten Positionen auf Basis einer grundlegenden Ab- wachsen der Armut in den Entwicklungsländern lehnung des „Neoliberalismus“ einschloss. Gleich- in Kauf nimmt. Um diesen Minimalkonsens der wohl betonte das Netzwerk aber auch, dass es für sozialen Bewegung gruppieren sich die politisch Antisemitismus, Chauvinismus, Fremdenfeindlich- unterschiedlichsten Einzelpersonen und Orga- keit, Rassismus und ähnliche Ideologien keinen nisationen, wozu Anhänger von Bürgerrechts- Platz gebe.3 In einem ähnlichen Sinne äußerte sich bewegungen, Christen, Gewerkschafter, Grüne, „Attac“, nachdem einschlägige Vorwürfe erhoben Sozialdemokraten, Umweltaktivisten, aber auch worden waren: In einem Diskussionspapier des Autonome und Kommunisten gehören. Rechts- Koordinierungskreises des Netzwerkes von 2002 extremisten beteiligten sich gelegentlich eben- mit der bezeichnenden Überschrift „Grenzen der falls an Aktionen der globalisierungskritischen Offenheit“ wurde noch einmal eine kategorische Bewegung, wurden dabei aber meist eindeutig und prinzipielle Abgrenzung gegenüber Antisemi- und schnell ausgeschlossen. Demnach funktio- tismus, Nationalismus und Rassismus betont. Anlass niert die Abgrenzung in diese politische Richtung, dazu boten konkrete Ereignisse wie unter anderem nicht jedoch bezüglich der linksextremistischen die Teilnahme einer Gruppe von Neonazis an einer Seite. Insgesamt kann die globalisierungskritische von „Attac“ organisierten Antikriegskundgebung Bewegung politisch mehrheitlich als eher „links“ in München 2002 oder der nationalistische Ruf in einem demokratischen und gewaltfreien Sinne aus dem „Attac“-Block bei einer Studierenden- verstanden werden. demonstration in Düsseldorf im Jahr 2002.4

1 Claus Leggewie, Die Globalisierung und ihre Gegner, München 2003; Dieter Rucht/Roland Roth, Globalisierungskritische Netz- werke, Kampagnen und Bewegungen, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hrsg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt a. M. 2008, S. 493–512. 2 Die Abkürzung steht für „association pour une taxation des transactions fi nanciers pour l’aide aux citoyens“ („Vereinigung für eine Besteuerung von Finanztransaktionen zum Nutzen der Bürger“). U. a. Christiane Grefe/Mathias Greffrath/Harald Schumann, Attac. Was wollen die Globalisierungskritiker?, Reinbek 2003; Ruth Jung, Attac: Sand im Getriebe, Hamburg 2002. 3 Attac, Zwischen Netzwerk, NGO und Bewegung – Das Selbstverständnis von ATTAC (2000), in: www.attac.de [eingesehen am 13. Juli 2010]. 4 Attac, Grenzen der Offenheit. Eine Klarstellung. Diskussionspapier des Attac-Koordinierungskreises zu Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus (18. Dezember 2002), in: www.attac.de [eingesehen am 13. Juli 2010] beziehungsweise http://www.spw- rheinland.de/index.php?lang=1&idcatside=325 [eingesehen am 16. Mai2011]. Attac Deutschland, Erklärung des Ratschlags zu Anti semitismus und Nahostkonfl ikt, 19. Oktober 2003, in: Sand im Getriebe, internationaler deutschsprachiger Rundbrief der ATTAC-Bewegung, Nr. 27; Patrick Moreau, „Die Welt ist keine Ware“ – Aspekte der Bewegung der Globalisierungskritiker am Bei- spiel von „Attac“ Frankreich und Deutschland, in: Jahrbuch Extremismus und Demokratie 14 (2002), S. 134–154, hier: S. 150 f. Im selben Jahr bewarb „Attac“ eine Anti-Bush-Demonstration mit einem Plakat, auf dem die Replik des „Uncle Sam“ abgebildet war, die durchaus auch antisemitisch interpretiert wurde. Das amerikanische Vorbild mit dem Stars-and-Stripes-Zylinder hatte eine

30 Bestandsaufnahme

Vorwürfe des Antisemitismus aus der mus nicht auf das gesamte Wirtschaftssystem, „Antideutschen Linken“ und der Presse sondern nur auf bestimmte Teilbereiche beziehen. Hier bestehen durchaus Anschlussmöglichkeiten Der Vorwurf des Antisemitismus gegenüber der an antisemitische Vorbilder und die „politische globalisierungskritischen Bewegung und dem Ökonomie des Antisemitismus“.7 Angesprochen Netzwerk „Attac“ wurde mit unterschiedlichen ist damit die soziale Variante, die in dem seit dem Begründungen und von verschiedenen Seiten er- Mittelalter gegen Juden kursierenden Vorwurf hoben: erstens durch die „Antideutsche Linke“, die des „Schacherns“ und „Wucherns“ besteht. Daraus in der antiisraelischen und propalästinensischen erwuchs das negativ konnotierte Stereotyp vom Mehrheit des eigenen politischen Lagers, aber auch „jüdischen Bankier“ und „jüdischen Finanzkapi- in der Globalisierungskritik wegen der Fixierung tal“. Es prägte die Agitation der Nationalsozialisten, auf das Finanzkapital oder der Personifi zierung die ihren Antisemitismus auch im Gewand einer sozialer Verhältnisse antisemitische Einstellungen Kapitalismuskritik präsentierten, so etwa mit der ausmachte.5 Unterscheidung von „raffendem“ und „schaffen- dem Kapital“. In eine ähnliche Richtung argumentierten zweitens Artikel in der Qualitätspresse wie in der Auch wenn eine solche „politische Ökonomie des „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, der „Welt“ Antisemitismus“ strukturell bei der globalisie- oder der „Zeit“, die interne Debatten von „Attac“ rungskritischen Bewegung und dem Netzwerk und deren Umfeld aufgriffen und auf antisemiti- „Attac“ nicht angelegt ist, gibt es doch bestimmte sche Tendenzen verwiesen. Exemplarisch seien Parallelen, die in der Fixierung der Kritik auf den hier zwei Artikel aus der Wochenzeitung „ Die Finanzmarkt und der Hoffnung auf eine national- Zeit“ genannt: Danach sei der Antisemitismus staatlich kontrollierte Wirtschaft zum Ausdruck nicht weit, wenn Globalisierungskritiker gegen kommen. Gleichwohl lässt sich daraus nicht pau- „Profi thaie“ wettern. Als Beleg gilt unter anderem schal eine antisemitische Auffassung des Netzwer- ein Plakat, das einerseits einen dicken Kapitalisten kes ableiten: In den Erklärungen und Positionen mit einem Geldsack zeigt und andererseits einen von „Attac“ sind keine inhaltlichen Bezüge auf das Arbeiter mit blondem Haar. Ein Slogan prangere „jüdische Finanzkapital“ oder das „raffende Kapi- dabei die „Zinsknechtschaft der Lohnabhängigen“ tal“ im Sinne der angesprochenen Stereotype aus- an. Weiter hieß es dort: Wenn über „‚das Finanz- zumachen. Das heißt allerdings nicht, dass Einzelne kapital‘ und ‚die Wall Street‘“ geraunt werde, rufe nicht durchaus – ob unbewusst oder bewusst – dies das alte Vorurteil vom „geldgierigen Juden“ solche antisemitischen Ressentiments bedienen. wach. Die komplexen Zusammenhänge der Globa- lisierung reduzierten manche „Attac“-Mitglieder, Der Vorwurf einer Personalisierung sozialer so die „Zeit“, auf ein „Komplott dunkler Mächte“. Verhältnisse Für solche Verschwörungsphantasien seien das nächstliegende Stereotyp „die Juden“.6 Nicht zufällig nannte Karl Marx sein ökonomisches Hauptwerk nicht „Der Kapitalist“, sondern „Das Der Vorwurf einer verkürzten Kapitalismuskritik Kapital“. Er bezog sich dabei nicht auf das Han- deln einzelner Personen, sondern auf die Struktur „Attac“, so kritische Stimmen in den Medien, aber einer Ökonomie. Die journalistischen Kritiker der auch aus den eigenen Reihen, würde in seiner globalisierungskritischen Bewegung und des Netz- Kapitalismuskritik den Kapitalismus personalisieren werkes „Attac“ verweisen auf eine solche Personali- und „gewissenlose Spekulanten“ für die wirtschaft- sierung, die sich vor allem bei Karikaturen beob- lichen Auswüchse der Globalisierung verantwort- achten lasse. Hier kann man häufi g das Bild des lich machen, also die Einwände gegen den Kapitalis- dicken Kapitalisten mit der Melone auf dem Kopf

große Nase mit überdimensionierten Nasenfl ügeln, und an seinem Zeigefi nger baumelte die Welt als Jo-Jo. Thomas Sablowski (Fallstricke der Globalisierungskritik? Zur Diskussion über Antisemitismus bei Attac) hielt die Interpretation in einer von Attac herausgegebenen Broschüre „Globalisierungskritik und Antisemitismus. Zur Antisemitismusdiskussion in Attac“, Frankfurt a. M. 2004, S.16 für bedenkenswert, da die Darstellung „durchaus eine antisemitische Konnotation haben könnte [...].Dies verweist wiederum auf das allgemeinere Problem der sogenannten ‚Anschlussfähigkeit‘ globalisierungskritischer oder friedensbewegter Positionen bzw. Symbole an den Antisemitismus“. Eine mögliche antisemitischen Deutung kritisiert zum Beispiel Armin Pfahl- Traughber, Antisemitismus in der globalisierungskritischen Bewegung und dem Netzwerk „Attac“, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 24 (2011) 1, S. 94–104, hier: S. 100. 5 Bundesamt für Verfassungsschutz, Massiver ideologischer Streit; Haury, Der neue Antisemitismusstreit in der Linken. 6 Toralf Staud, Attac reagiert hilfl os auf den Antisemitismus von links, in: Die Zeit, Nr. 43 vom 16. Oktober 2003; Toralf Staud, Attac: Blondes Ächzen, in: Die Zeit, Nr. 44 vom 23. Oktober 2003. 7 Robert Kurz, Politische Ökonomie des Antisemitismus. Die Verkleinbürgerung der Postmoderne und die Wiederkehr der Geld- utopie von Silvio Gesell (2003), in: www.krisis.org [eingesehen am 19. Juli 2010]; Moishe Postone, Die Logik des Antisemitismus, in: Merkur 36 (1992) 403, S. 13–25; u. a. Andreas Exner, Antisemitismus und Globalisierungskritik. Thesen zu einem Verhältnis, in: Attac Österreich (Hrsg.), Blinde Flecken der Globalisierungskritik. Gegen antisemitische Tendenzen und rechtsextreme Ver- einnahmung, Wien 2005, S. 9–12; Meier, „Wie die Heuschrecken kommen sie über unser Land“.

31 Bestandsaufnahme

und der Zigarre im Mund fi nden. Meist sitzt eine gehörte etwa ein Artikel in der „Frankfurter Rund- solche Figur auch noch auf einem Geldsack, ohne schau“, wonach der „neue“ Antisemitismus sich selbst einer Beschäftigung nachzugehen. Hier ist verschwörungstheoretischer Klischees des Anti- die Nähe zum Stereotyp vom „jüdischen Bankier“ semitismus „rechtsradikaler“ Couleur bediene. In nicht zu übersehen. diesem Punkt gehe er eine Allianz mit „radikalen Linken“ und Globalisierungskritikern ein. Sie lie- Gleichwohl beruht diese Darstellungsform meist ferten die „Neuaufl age des alten Klischees von der auf Personalisierung, lässt sich doch ein gesell- ‚jüdischen Weltverschwörung‘“, indem sie Israel, schaftlicher Strukturwandel nur schwerlich anders gerne aber auch „die Juden“ für die aktuelle Welt - zeichnerisch darstellen. Auch bei Demonstra- lage verantwortlich machten.8 Auch in dem erwähn- tionen dienen Figuren oder Verkleidungen der ten „Zeit“-Artikel fanden sich ähnliche Aus sagen, Vermittlung von personalisierten Negativ-Bildern. rufe doch bei „Attac“-Veranstaltungen das Raunen Die Bewertung dieses Sachverhalts soll hier aber über „‚das Finanzkapital‘ oder ‚die Wallstreet‘“ keine Rolle spielen. Entscheidend ist vielmehr, ob Bilder vom verschwörerischen Wirken hervor.9 damit ein antisemitischer Inhalt verbunden ist. Der erwähnte „Zeit“-Artikel deutet dies durch das Derartige Presseberichte ergingen sich aber meist „arische“ Blond der Haarfarbe des Arbeiters und nur in Andeutungen und konnten keine Belege die einschlägig bekannte Semantik im Motiv der benennen. Sicherlich lässt sich an der Basis der „Zinsknechtschaft der Arbeiter“ an. Auf dem Plakat globalisierungskritischen Bewegung und dem fi ndet sich diese Formulierung, die – wie die Unter- Netzwerk „Attac“ in einem größeren Ausmaß eine scheidung von „raffendem“ und „schaffendem Personalisierung sozialer Verhältnisse und in einem Kapital“ – auf den NS-Ideologen Gottfried Feder kleineren Umfang eine Neigung zu Verschwörungs - zurückgeht, aber gar nicht. Vielmehr hieß es dort: phantasien ausmachen. Eine antisemitische „Zinsen bedienen Kapital“. Darüber hinaus lässt Aufl adung der damit einhergehenden Haltungen sich der gezeichnete Bankier nicht durch einschlä- kann aber allenfalls bei Einzelpersonen konstatiert gig konnotierte Merkmale wie eine „Hakennase“ werden und stellt keinen Konsens in der Bewe- als „jüdischer Bankier“ identifi zieren. gung oder dem Netzwerk dar. Dies belegt auch ein Vergleich mit dem Rechtsextremismus, wo mit der Der Vorwurf einer Verbreitung von Globalisierungskritik ein offener oder verdeckter Verschwörungsphantasien Antisemitismus einhergeht. Er offenbart sich etwa in der demonstrativen Hervorhebung von Ban- Aus dem Vorwurf einer Personalisierung sozialer kiers oder Bankhäusern mit jüdisch klingenden Verhältnisse leitet sich auch der Vorwurf einer Ver- Namen oder in der Verwendung von nur leicht breitung von Verschwörungsphantasien ab. Hier- veränderten antisemitischen Karikaturen aus den bei handelt es sich ebenso um eine Deutung kom- 1920er- und 1930er-Jahren. Ähnliches fi ndet sich in plexer gesellschaftlicher Prozesse, die nicht nach der globalisierungskritischen Bewegung und dem dem Einfl uss und Wechselverhältnis unterschied- Netzwerk „Attac“ nicht. licher Bedingungsfaktoren fragt. Stattdessen wird das angeblich konspirative Wirken bestimmter Der Vorwurf eines strukturellen Antisemitismus Personengruppen für Kriege und Naturkatastro- phen, Revolutionen und Wirtschaftskrisen verant- Angesichts des Mangels an klaren Belegen für eine wortlich gemacht. Dadurch fi ndet keine Auseinan- antisemitische Ausrichtung der globalisierungs- dersetzung mit den eigentlichen Ursachen statt. kritischen Bewegung und des Netzwerkes „Attac“ Vielmehr sollen sie nicht nur das Ergebnis einer verwiesen manche Kritiker auf einen strukturellen Entscheidung bestimmter Individuen, sondern da- Antisemitismus. Demnach ist dem Antisemi- rüber hinaus noch im Geheimen getroffen worden tismus ein dualistisches Denken im Sinne von sein. In der Geschichte der Verschwörungsideolo- „Gut-Böse“-Kategorien eigen; er richtet sich gegen gien wurde den unterschiedlichsten Gruppen ein das „Finanzkapital“ als abstrakte Seite des Kapita- solches konspiratives Vorgehen unterstellt: den lismus und er macht für dessen Krisen anstelle des Juden, Freimaurern, Illuminaten, Jesuiten, Kapita- ökonomischen Systems eine bestimmte Personen- listen und Kommunisten. gruppe verantwortlich. Für die Globalisierungs- kritik kann aus Sicht dieser Argumentation das Aus einer kritischen Perspektive gegenüber sol- Gleiche konstatiert werden. Sie benenne zwar nicht chen Unterstellungen geheimnisvollen Handelns Juden, sondern die Finanzmärkte als Hauptschuldi- deuteten manche Medienberichte auch die Exis- ge. Aufgrund der formalen Gemeinsamkeiten der tenz und Verbreitung antisemitischer Verschwö- entwickelten Argumentation ergebe sich aber eine rungsphantasien in der globalisierungskritischen Übereinstimmung mit antisemitischen Diskursen. Bewegung und dem Netzwerk „Attac“ an. Hierzu Dadurch bestehe auch eine inhaltliche Anschluss-

8 Martina Meister, Religiöse Zeichenkämpfe, in: Frankfurter Rundschau vom 3. Dezember 2003. 9 Staud, Blondes Ächzen.

32 Bestandsaufnahme fähigkeit an judenfeindliche Positionen, was eben Personen und Statements gab, die unmittelbar zu die Rede von einem strukturellen Antisemitismus Ausgrenzung und Distanzierung führten. So habe als angemessen erscheinen lasse.10 bei einer Regionalgruppe ein älterer Herr gefor- dert, man dürfe den Juden kein Geld in den Hintern Diese Auffassung vermischt allerdings durch- schieben. Daraufhin sei er sofort hinausgeworfen gängig formale und inhaltliche Aspekte einer worden. Oder: Der Autor eines Flugblattes, das Israel Argumentation: Antisemitismus steht – das macht des Völkermordes an den Palästinensern bezich- inhaltlich die genuine Eigenschaft des Begriffs tigt habe, musste nach einem entsprechenden aus – für eine Feindschaft gegen Juden als Juden. Eklat die Versammlung verlassen. Andere Beispiele Als Diskriminierungsideologie sind der Juden- erwiesen sich nicht als eindeutig: Das Bild eines feindschaft dabei bestimmte formale Merkmale blonden Arbeiters muss nicht für einen „arisch aus- wie ein dualistisches Denken von „Gut“ und „Böse“ sehenden Arbeiter“ stehen und der Spruch „Stoppt oder die Personalisierung sozialer Verhältnisse zu die Profi thaie!“ auf einem Poster nicht Juden oder eigen. Derartige Strukturprinzipien lassen sich jüdische Bankiers meinen.11 aber in den unterschiedlichsten thematischen Kon- texten ausmachen, die mit dem Antisemitismus Dem „Attac“-Koordinierungskreis, also der Füh- inhaltlich überhaupt nichts zu tun haben. Nach der rungsspitze des „Netzwerkes“, war sich der Einzel- inneren Argumentationslogik des aufgezeigten fälle, in denen es zu antisemitischen Stereotypi- Verständnisses würde damit etwa jede Kritik an sierungen gekommen war, durchaus bewusst: Sie den Finanzmärkten als „strukturell antisemitisch“ positionierte sich anlässlich der öffentlichen Aus- gelten müssen, da sie ja formale Gemeinsamkeiten einandersetzung klar. In der Erklärung „Grenzen mit judenfeindlichen Stereotypen aufweist. Eine der Offenheit“ hieß es ausdrücklich, dass die von solche Auffassung liefert aufgrund der mangeln- „Attac“ vorgetragene Kritik der Finanzmärkte mit den Klarheit und Trennschärfe der analytischen der Pervertierung von Begriffen der politischen Kriterien keinen Erkenntnisgewinn und besitzt Ökonomie durch die Nationalsozialisten nichts zu entsprechend keine Überzeugungskraft. tun habe. Diese sah man in der Unterscheidung eines „raffenden“ („jüdischen“, „internationalen“, Die Problematik der Verallgemeinerung „spekulativen“) Finanzkapitals und eines „schaf- von Einzelbeispielen fenden“ („deutschen“, „nationalen“, „produktiven“) Industriekapitals. Es komme immer auf die Form Die vorstehenden Ausführungen kritisierten und Perspektive der Kritik an. Die Ursachen der die mangelnde Beweisbarkeit und Tragfähigkeit Globalisierungskrisen gingen aus Sicht von „Attac“ des Antisemitismusvorwurfs gegen die globali- nicht von Personen, sondern von ökonomischen sierungskritische Bewegung und das Netzwerk und sozialen Verhältnissen aus.12 Demnach distan- „Attac“ in Deutschland. In anderen Ländern mag zierte sich die „Attac“-Führung in Form und Inhalt es in dieser Hinsicht anders bestellt sein, was hier klar von jeglichen antisemitischen Positionen.13 aber nicht näher erörtert werden kann. Die be- handelten Vorwürfe bezogen sich mitunter aber Fazit auf einzelne Ereignisse oder Personen, die in der Gesamtdeutung gleichwohl unangemessen ver- Insofern bleibt als inhaltlich berechtigte Kritik noch allgemeinert wurden. Hier muss jeweils die Frage der Vorwurf der Anschlussfähigkeit an Antisemitis- gestellt werden, ob solche Einzelereignisse für die mus. Hierbei gilt es, grundsätzlich zu bedenken, dass Gesamtrichtung stehen und wie sich die Organisa- jeder Einwand gegen jüdische Personen, Gruppen tionsführung zu solchen Vorkommnissen verhält. oder Organisationen von Antisemiten in ihrem Sinne wahrgenommen werden dürfte. Ebenso kann Wie die problematische Verallgemeinerung jede Kritik an einzelnen Bankiers oder den Finanz- von Einzelbeispielen funktioniert, soll hier noch märkten im oben skizzierten Sinne bei Judenfeinden einmal anhand des bereits mehrmals erwähnten zur Bestätigung ihrer Feindbilder, Ressentiments „Zeit“-Artikels exemplarisch veranschaulicht und Vorurteile führen. Eine damit einhergehende werden. Einerseits behauptete er im Titel, wenn Fehlwahrnehmung des Absenders einer Botschaft Globalisierungskritiker gegen „Profi thaie“ wetter- durch deren Empfänger lässt sich wohl kaum ten, sei der Antisemitismus nicht weit. Andererseits vermeiden, sofern der letztgenannte über eine veranschaulichte sein Inhalt, dass es einschlägige antisemitisch ausgerichtete, ideologisch verzerrte

10 Thomas Schmidinger, Struktureller Antisemitismus und verkürzte Kapitalismuskritik (2001), in: www.trend-partisan.net [eingesehen am 19. Juli 2010]. 11 Staud, Blondes Ächzen. 12 Attac, Grenzen der Offenheit. 13 U. a. Thomas Sablowski, Fallstricke der Globalisierungskritik? Zur Diskussion über Antisemitismus bei Attac, in: Attac-Reader, Globalisierungskritik und Antisemitismus. Zur Antisemitismusdiskussion in Attac, Frankfurt a. M. 2004, S. 9–23; Peter Wahl, Zur Antisemitismusdiskussion in und um Attac, in: ebenda, S. 5–8.

33 Bestandsaufnahme

Wahrnehmung der sozialen Realität verfügt. Gleich- wohl können Akteure im öffentlichen Diskurs die Gefahr einer Anschlussfähigkeit an Antisemitismus erheblich reduzieren, indem sie angesichts einer möglichen Fehlwahrnehmung ihrer Äußerungen eindeutig und rechtzeitig formale Abgrenzungen und inhaltliche Klarstellungen vornehmen.

Aus der Analyse des Umgangs von „Attac“ mit der Diskussion um „Antisemitismus und Globalisie- rungskritik“ lassen sich einige Erkenntnisse gewin- nen, die für die Abwehr antisemitischer Strömun- gen in sozialen Bewegungen von Bedeutung sind. Nachdem in der ersten Hälfte der 2000er-Jahre das Thema eine große Bedeutung gewonnen hatte, spielte es angesichts des Rückgangs entsprechen- der Vorfälle in der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre kaum noch eine Rolle. Was war geschehen? Die „Attac“-Führungsspitze hatte sich klar gegen die erwähnten Auffassungen positioniert und sich eindeutig zu einer Distanzierung von latentem oder offenem Antisemitismus bekannt. Der Koordi- nierungskreis des Netzwerkes bezog sich dabei auf Fragen der Personalisierung sozialer Verhältnisse. Dadurch wurde innerhalb der Anhängerschaft eine inhaltliche Debatte forciert, die zur Klarstel- lung des eigenen politischen Selbstverständnisses wie zur Sensibilität gegenüber antisemitischen Wirkungen beitrug. Gleichzeitig wurden einschlä- gige Personen von „Attac“ ausgegrenzt.

Trotz der Schwierigkeiten, der sich Bewegungen und Netzwerken in der Regel wegen ihrer nied- rigschwelligen Organisationsstrukturen ausge- setzt sehen, gelang eine solche Abgrenzung und Positionierung, die in Form und Inhalt gegen den Antisemitismus gerichtet war. Ohnehin hatten sich die Vorwürfe einer verkürzten Kapitalismuskritik, einer Personalisierung sozialer Verhältnisse, einer Verbreitung von Verschwörungsphantasien oder einer Verwendung antisemitischer Symbolik nur auf Einzelfälle bezogen. Damit einhergehende Haltungen fanden sich an der Basis, aber nicht in der Führungsspitze des Netzwerkes. Ebendort beförderten die Medienberichte über angebliche oder tatsächliche antisemitische Tendenzen bei „Attac“ die Bereitschaft zu einer kritischen Aus- einandersetzung mit dem Thema. In deren Folge erhöhte sich die schon zuvor bestehende politische Sensibilität für eine Globalisierungs- und Kapitalis- muskritik, die antisemitischen Deutungsmustern keine Anknüpfungspunkte geben sollte.

34 Bestandsaufnahme

4. Antisemitisch motivierte es sich um Daten aufgrund von polizeilichen Erkenntnissen, nicht auf der Basis von rechtskräfti- Straftaten gen Urteilen. Drittens hängen die Einordnung und Wahrnehmung von den Kriterien ab, nach denen Zwar kann im Vergleich mit anderen politisch moti- eine antisemitisch motivierte Straftat bewertet vierten Delikten nicht von einem besonders hohen wird. In den letzten Jahren haben die Polizeibehör- Ausmaß antisemitischer Straftaten gesprochen den ein wachsendes Problembewusstsein entwi- werden. Gleichwohl stehen solche Taten für ein ckelt und damit begonnen, ihre Erhebungsmetho- kontinuierlich präsentes Alltagsphänomen in den entsprechend zu verfeinern. 2001 wurde das Deutschland. Als Straftaten werden alle rechts- Defi nitionssystem „Politisch motivierte Krimina- widrigen Handlungen – unabhängig von der lität“ (PMK)1 eingeführt, worunter auch die antise- Strafmündigkeit und/oder Schuldfähigkeit des mitisch motivierten Straftaten fallen. Bereits seit jeweiligen Täters – statistisch erfasst, an die das Ge- 1993 erfolgte eine gesonderte Erfassung, wobei setz eine Strafdrohung knüpft. Dabei werden alle aber keine Mehrfachnennungen möglich waren. in Tateinheit und natürlicher Handlungseinheit Demnach mussten Taten, die etwa sowohl einen begangenen Straftaten nur als ein Fall und bei dem antisemitischen als auch fremdenfeindlichen Straftatbestand gezählt, der die höchste Strafan- Hintergrund aufwiesen, nach dem vermuteten drohung aufweist. Schwerpunkt der Motivation zugeordnet werden. Nach dem Defi nitionssystem PMK können fortan Antisemitisch motivierten Straftaten können so auch Mehrfachnennungen erfolgen, was für die unterschiedliche Vorkommnisse wie die folgen- präzise Beschreibung antisemitischer Vorfälle von den zugeordnet werden: Pöbeleien gegen Juden, Bedeutung ist. Mit dieser Neueinführung sind die Brandanschläge auf Synagogen, Schändungen von Angaben für den Zeitraum vor und nach 2001 aber Friedhöfen, Schmierereien an Gedenkstätten oder nicht mehr vergleichbar. Zerstörung von Stolpersteinen. Eine differenzierte Betrachtung und Einschätzung antisemitischer Für die Einschätzung einer Tat als antisemitisch Straftaten muss demnach nicht nur das quantitative ist entsprechend diesem Erhebungsverfahren Ausmaß, sondern auch die qualitativen Dimensi- allein die Motivation des Täters entscheidend, onen der Straftaten in den Blick nehmen. Hierbei womit auch Taten gegen nichtjüdische Einrich- kommt der Gewaltdimension aufgrund ihrer kon- tungen oder Personen als antisemitisch bewertet kreten Folgen große Bedeutung zu. Darüber hinaus werden können. Als Delikttypen werden in der gibt es im Bereich antisemitisch motivierter Straf- vorliegenden Darstellung Gewalt-, Propaganda- taten auch Delikte, die bei kriminellen Handlun- und Volksverhetzungsdelikte unterschieden. Das gen gegenüber Angehörigen anderer ethnischer Defi nitionssystem PMK unterscheidet zwischen oder religiöser Gruppen kaum oder nicht ausge- „PMK-rechts“, „PMK-links“, „PMK-Ausländer“ und macht werden können. Insbesondere bei Schän- „PMK-sonstige“.2 dungen jüdischer Friedhöfe durch Schmierereien oder Zerstörungen lassen sich die Besonderheiten Entwicklung und Typen antisemitischer Straftaten antisemitisch motivierter Straftaten erkennen. Für den Zeitraum von 2001 bis 2010 lässt sich Zur Datenerhebung folgende Entwicklung konstatieren: Die Angaben für die Gesamtzahl der antisemitischen Straftaten Die folgenden Aussagen über die Entwicklung bewegten sich zwischen dem niedrigsten Wert mit antisemitisch motivierter Straftaten stützen sich 1.268 Straftaten 2010 und dem höchsten Wert mit auf die Statistiken der Polizeibehörden. Zwar 1.809 Straftaten 2006. Bei der Analyse der Statistik legen auch einzelne Fachjournalisten oder Nicht- fällt jeweils auf, dass die Jahre, die niedrigere Werte regierungsorganisationen Berichte über antise- aufweisen, wie 2003 mit 1.344 und 2004 mit 1.449 mitische Straftaten vor, die Erhebung folgt aber Straftaten, und die Jahre mit den höheren Zahlen, nicht aufgrund einheitlicher und systematischer wie 2005 mit 1.748 und 2006 mit 1.809 Straftaten, Kriterien. Bei der polizeilichen Statistik sind drei aufeinander folgen. Demnach kam es von 2004 auf Punkte zu beachten: Erstens können nur Strafta- 2005 zu einem relativ starken Anstieg der antisemi- ten erfasst werden, die auch der Polizei bekannt tischen Straftaten. Betrachtet man nur die Angaben geworden sind. Aussagen über „Dunkelziffern“ zu antisemitisch motivierten Gewalttaten, so lässt sind demnach nicht zu treffen. Zweitens handelt sich für 2001 mit 28 der niedrigste und für 2007 mit

1 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2009, Berlin 2010, S. 35 f. 2 Bundesministerium des Innern, Referat ÖS II 4, Antisemitische Straftaten. Hintergrundinformationen zu Erhebungsmethoden, Berlin 2010 (Manuskript). 3 Die vorgenannten Daten wurden vom Bundesministerium des Innern, Referat ÖS II 4, auf Basis von Informationen des Bundeskri- minalamtes zur Verfügung gestellt (Stand: 31. Januar des jeweiligen Folgejahres). Dies gilt auch für alle im Folgenden genannten Zahlen – sofern keine andere Quelle angegeben ist.

35 Bestandsaufnahme

Antisemitische 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 Straftaten PMK-rechts 1.629 1.594 1.226 1.346 1.682 1.662 1.561 1.496 1.520 1.192 PMK-links 2 6 6 4 7 4 1 5 4 1 PMK-Ausländer 31 89 53 46 33 89 59 41 101 53 PMK-sonstige 29 82 59 53 26 54 36 17 65 22 PMK-Gesamt 1.691 1.771 1.344 1.449 1.748 1.809 1.657 1.559 1.690 1.268

Antisemitische 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 Gewalttaten PMK-rechts 27 30 38 40 50 44 61 44 31 31 PMK-links 0 1 0 1 1 0 0 2 0 0 PMK-Ausländer 1 7 7 3 3 7 3 1 9 6 PMK-sonstige 0 1 1 1 2 0 0 0 1 0 PMK-Gesamt 28 39 46 45 56 51 64 47 41 37

64 Vorfällen der höchste Wert konstatieren. Auch Anfang Januar 20074 schlugen fünf Personen in hier zeigt sich ein gewisser Gleichklang für die Jahre Berlin einem Geschädigten mit der Faust ins Ge- 2003 mit 46 und 2004 mit 45 beziehungsweise für sicht, nachdem sie zuvor „Du Jude“ und „Judenpack 2005 mit 56 und 2006 mit 51 Gewalttaten, ohne bleib stehen“ gerufen hatten. Der Haupttäter konnte dass diese Besonderheit erklärt werden kann.3 inzwischen ermittelt werden. Im April 2007 ging ein unbekannter Täter mit einer Gruppe durch Als Straftaten mit Gewaltbezug sind hier folgende die Innenstadt von Northeim und rief Parolen wie Delikte relevant: Tötungsdelikte, Körperverlet- „Judenschweine“, woraufhin er von dem Geschä- zungen, Brand- und Sprengstoffdelikte, wobei der digten angesprochen wurde und er diesem da- Schwerpunkt auf Körperverletzungen in Ver- nach mit der Faust ins Gesicht schlug. Im Mai 2007 bindung mit antisemitischen Äußerungen liegt. attackierte eine Gruppe von Jugendlichen in Berlin Sowohl einfache Sachbeschädigungen als auch in der S-Bahn einen Mann mit Kippa mit Worten gemeinschädliche Sachbeschädigungen gelten wie „Scheiß Jude“ und „Du gieriger Jude“. Einer der hingegen nicht als Gewaltdelikte. Täter schlug ihm ins Gesicht.

Bei den antisemitisch motivierten Straftaten Im Februar 2008 pöbelte in München an einem ohne Gewaltbezug handelt es sich meist um Bahnsteig der Beschuldigte die Geschädigten mit Propaganda- und Volksverhetzungsdelikte. „Saujuden“ und „Scheißjuden“ an und schlug auf Neben einer herabwürdigenden Kommentie- sie ein. Im April 2008 wurde in Brandenburg nach rung über Juden gehört dazu auch die Leugnung einem Kreisklasse-Fußballmatch ein Spieler von des Holocaust. Schändungen jüdischer Friedhöfe einem unbekannten Mann mit den Worten „Ihr sind kein eigenständiges Delikt im Sinne des Judenschweine, früher hätte euch Hitler vergast“ Strafgesetzbuches und damit der polizeilichen beschimpft und auf das rechte Auge geschlagen. Statistik: Je nach den konkreten Taten im Kon- Im Oktober 2008 sprach einer von zwei Beschuldig- text einer Schändung werden diese unterschied- ten in Eisleben den Geschädigten mit den Worten lichen Straf tatbeständen wie Brandstiftung, „Wenn ich wiederkomme, hast du die Mütze nicht Hausfriedens bruch, Sachbeschädigung oder mehr auf, du siehst aus wie ein Jude“ an und griff Störung der Totenruhe zugeordnet. ihn direkt im Anschluss an die Äußerung körper- lich an. Im Dezember 2008 warfen unbekannte Beispiele für polizeiliche Ermittlungen wegen Täter in Oranienburg mit den Worten „Ihr Juden- antisemitischer Straftaten mit Gewaltbezug pack“ Steine nach den Teilnehmern eines Ge- sprächskreises einer Kirche. Worin die antisemitischen Straftaten mit und ohne Gewaltbezug bestehen, soll nun anhand von Bei- Im Januar 2009 beleidigte der Beschuldigte in spielen aus den letzten Jahren aufgezeigt werden. Ballenstedt den Geschädigten zunächst mit den Dabei stehen Körperverletzungen mit antisemiti- Worten „Du Judensau gehörst in die Gaskammer“ scher Motivation zunächst im Zentrum: und schlug ihm danach mehrfach ins Gesicht. Im

4 Die folgenden Ausführungen beruhen auf Daten, die vom Bundeskriminalamt, Staatsschutz 43, zur Verfügung gestellt wurden.

36 Bestandsaufnahme

Februar 2009 beschimpften unbekannte Täter Im August 2008 stießen zum vierten Mal in vier in Düsseldorf den Geschädigten mit den Worten Wochen unbekannte Täter einen schwarzen „Jude, Jude, hast du Geld, gib Geld“, schlugen ihn Marmorgrabstein auf dem jüdischen Friedhof in mit Fäusten ins Gesicht und traten ihm in den Cottbus um. Im November 2008 zerstörten auf dem Bauch. Im September 2009 beleidigten zwei unbe- jüdischen Friedhof Demmin unbekannte Täter kannte Täter in Buchholz einen Journalisten mit acht Grabsteine und die dort abgelegten Kränze Worten wie „Judenschwuchtel“ und „Judenpisse“, zur Erinnerung an den Novemberpogrom. warfen ihn danach zu Boden und traten nach ihm. Im Oktober 2009 ging ein Beschuldigter in Kreuz- Im Juni 2009 stürzten unbekannte Täter fünf Grab- tal auf mehrere Personen zu, sprach einen von steine auf dem jüdischen Friedhof „Am Jahnstein“ ihnen mit „Du bist ein Jude“ an und trat mit seinen in Wolfenbüttel um und beschädigten dabei zwei Springerstiefeln gegen dessen Hand, um einen bei weitere Grabmale. Im gleichen Monat setzten unbe- fortgesetzter Belästigung angekündigten Handy- kannte Täter einen PVC-Eimer vor dem Eingangstor Anruf bei der Polizei zu verhindern. des jüdischen Friedhofs in Langenselbold in Brand.

Beispiele polizeilicher Ermittlungen wegen In den Bereich der Straftaten ohne Gewaltbezug antisemitischer Straftaten ohne Gewaltbezug fallen auch E-Mails und Briefe, die Jüdische Ge- meinden und der Zentralrat der Juden in Deutsch- Die folgenden Beispiele gehören zu den unter- land regelmäßig bekommen.7 schiedlichen Fällen von Volksverhetzung: 5 Polizeiliche und wissenschaftliche Erkenntnisse Im Januar 2007 störte ein unbekannter Täter in über die Besonderheiten antisemitischer Straftäter Cottbus den Gedenk-Gottesdienst zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus und leugne- Die polizeiliche Statistik entsteht aus einem spezi- ten den Holocaust. Im Januar 2008 beschmierten fi schen, auf die Ermittlungen orientierten Erkennt- in Oranienburg unbekannte Täter die dortige nisinteresse, was deren relativ geringen Informati- Gedenktafel des Todesmarsches mit dem Schrift- onsgehalt für analytische Fragestellungen erklärt. zug „6 Mill“ und „Lüge“ sowie mit Davidstern und Im Jahr 2009 waren etwa von 1.138 Tatverdächtigen Hakenkreuz. allgemein 1.041 Personen und von 39 Tatverdäch- tigen mit Gewaltbezug8 alle Personen männlichen Im Februar 2009 versah ein Täter in Ostfi ldern eine Geschlechts. Bezüglich des Alters der Tatverdächti- ganze Reihe von Gebäuden wie Firmen, Kinder- gen dominieren die Jüngeren, wobei deren Anteil gärten und Schulen mit Schriftzügen wie „Es gab bei den Tatverdächtigen mit Gewaltbezug etwas keine Gaskammern“ oder „Scheiß Juden“. Im März höher und demnach im Bereich der Tatverdächti- 2009 beschmierten ebenfalls unbekannte Täter gen allgemein etwas niedriger liegt. So waren auch in Braunschweig ein Einkaufszentrum mit den im Jahre 2009 bei den Tatverdächtigen mit Gewalt- Schriftzügen „Williamson hat recht, holocaust gab bezug 33 unter und sechs über 30 Jahre alt, bei den es nicht“ und „judenpropaganda gegen deutsch- Tatverdächtigen allgemein waren 819 unter und land“. Im September 2009 legten unbekannte Täter 319 über 30 Jahre alt. Die Alters- und Geschlechter- in Baiersbronn in einer Klosterkirche Propagan- verteilung entspricht dabei grob der Alters- und dabroschüren unter anderem mit der Aufschrift Geschlechterverteilung bei Kriminalitätsdelikten „Juda verrecke“ aus. ohne politischen Bezug.

Für Straftaten im Sinne der Störung der Totenruhe,6 Hinsichtlich der politischen Motivationen lässt sich also die Beschädigungen oder Schmierereien auf sowohl beim Straftataufkommen insgesamt wie jüdischen Friedhöfen, stehen Fälle wie die folgen- bei den Gewalttaten ein klarer Schwerpunkt im den: Im August 2007 schändeten unbekannte „rechten“ Bereich konstatieren. Auch dies veran- Täter auf dem israelitischen Friedhof in Heilbronn schaulichen die Zahlen für das Jahr 2009, wo es bei Grabsteine mit Hakenkreuzen. Im September „PMK-rechts“ 1.520 (davon 1.502 mit extremis- 2007 beschmierten unbekannte Täter ein jüdi- tischem Hintergrund), „PMK-links“ 4 und „PMK- sches Mahnmal in Hannover mit dem Schriftzug Ausländer“ 101 Straftaten gab (65 Straftaten „Sons- „Judengrab“. tige“). Ähnlich verhielt es sich im gleichen Jahr mit

5 § 130 (Volksverhetzung) des Strafgesetzbuches. 6 § 168 (Störung der Totenruhe) des Strafgesetzbuches. 7 Siehe zum Beispiel die Beiträge im Sammelband: Monika Schwarz-Friesel/Evyatar Friesel/Jehuda Reinharz (Hrsg.), Aktueller Antisemitismus in Deutschland – ein Phänomen der Mitte, Berlin 2010. 8 Mit der Bezeichnung „Tatverdächtige“ beziehungsweise „Tatverdächtige allgemein“ ist fortan die Gesamtheit aller Tatverdächtigen gemeint. Die Formulierung „Tatverdächtige mit Gewaltbezug“ bezieht sich demgegenüber nur auf die Tatverdächtigen, denen eine Gewalttat zur Last gelegt wird. Demnach stellen die Tatverdächtigen mit Gewaltbezug einen Teilbereich der Tatverdächtigen insgesamt dar.

37 Bestandsaufnahme

der politischen Verteilung bei den antisemitisch Hälfte war unter 22 Jahren, das Durchschnittsalter motivierten Gewalttaten: „PMK-rechts“ 31, „PMK- betrug 34 Jahre. Demnach konnte auch hier ein links“ 0 und „PMK-Ausländer“ 9 Fälle. Demnach besonders hoher Anteil von jungen Männern aus- dominiert der Anteil von antisemitisch motivierten gemacht werden. Bezüglich der Altersverteilung Straftaten von „rechts“ so stark, dass die anderen bei Straftaten mit Gewaltbezug konstatierte Erb Fälle nur einen verschwindend geringen Teil aus- gleichlautende Besonderheiten: 80 Prozent aller machen. Diese Erkenntnis berechtigt zu der These, Tatverdächtigen mit Gewaltbezug waren jünger dass Judenfeindschaft im strafrechtlichen Bereich als 25 Jahre, lediglich fünf Prozent waren älter als kaum eine Angelegenheit von „Ausländern“ und 50 Jahre und nur drei Prozent waren Frauen. „Linken“ ist – und so im Unterschied zu anderen Ländern Muslime dabei als antisemitisch motivierte Bei der genaueren Betrachtung der Tatverdächti- Täter nur eine geringe Rolle spielen. gen mit Gewaltbezug stellte sich heraus, dass 40 Prozent als Mehrfachtäter bekannt waren. Die Daten aus der polizeilichen Statistik beschrän- Darüber hinaus wurden 70 Prozent aller Gewalt- ken sich aufgrund des anders gelagerten Erkennt- taten in den alten Bundesländern begangen. nisinteresses auf die Angaben zu Alter, Geschlecht Hier besteht ein Unterschied zu den allgemein und politischer Richtung. Darüber hinausgehende rechtsextremistisch beziehungsweise fremden- Informationen über den sozialen Hintergrund der feindlich motivierten Gewalttaten, bei denen der Täter lassen sich hingegen nur aus einer sozial- Schwerpunkt eindeutig in den neuen Bundeslän- wissenschaftlichen Analyse der Gerichts- und dern liegt. Besondere Beachtung verdienen Erbs Polizeiakten gewinnen. Zwar wurden derartige Ausführungen zu den Häufungen der Tatzeiten, Untersuchungen seit Beginn der 1990er-Jahre die nicht nur in den wärmeren Jahreszeiten oder für den Bereich der fremdenfeindlich motivier- an den Wochenenden ausgemacht werden konn- ten Straftaten unternommen,9 an einschlägigen ten. Entgegen weitverbreiteter Annahmen ließen Forschungen zu den antisemitisch motivierten sich zwar keine zeitlichen Übereinstimmungen Straftaten mangelt es aber bislang. Als Ausnahme mit dem christlichen beziehungsweise jüdischen kann die Studie des Soziologen Rainer Erb gelten, Feiertagskalender feststellen, was gegen einen der Mitte der 1990er-Jahre eine entsprechende Aus- religiös motivierten Antisemitismus als Tatmotiv wertung von Informationen über antisemitische spricht. Gleichwohl bestanden zeitliche Überein- Straftäter vornahm. Auf der Basis von Daten über stimmungen mit Feierterminen der rechtsex- alle von der Polizei zwischen 1993 und 1995 festge- tremistischen Szene wie Hitlers Geburtstag oder stellten 880 Tatverdächtigen kam Erb zu folgenden Sonnwendfeiern.10 Erkenntnissen: Nahezu alle Tatverdächtige waren mit 95,2 Prozent Männer. Das Alter der Tatverdäch- Friedhofsschändungen in der „alten“ tigen reichte von 10-jährigen Kindern bis zu einem Bundes republik 81-jährigen Mann. Die altersbedingt noch nicht strafmündigen Personen hatten sich an Aktionen Friedhofsschändungen stellen im Bereich der anti- größerer Jugendgruppen beteiligt und waren in semitisch motivierten Straftaten eine Besonderheit diesem Kontext von der Polizei registriert worden. dar, die bei Feindschaft und Gewalt gegen Angehö- Bei dem 81-jährigen Tatverdächtigen handelte es rige anderer Minderheiten bisher kaum bekannt sich um einen Altnazi, gegen den bereits 31 Ermitt- war.11 Schändungen jüdischer Friedhöfe haben lungsverfahren eröffnet worden waren. Der Groß- eine aus dem Mittelalter stammende Tradition. Der teil der Tatverdächtigen gehörte der Altersgruppe Versuch, die Würde Verstorbener und die religiös zwischen 17 und 24 Jahren an. Etwas mehr als die gebotene Dauerhaftigkeit der Grabstätte zu verlet-

9 U. a. Hellmut Willems/Paul B. Hill (Hrsg.), Fremdenfeindliche Gewalt. Einstellungen, Täter, Konfl ikteskalation, Opladen 1993; Klaus Wahl (Hrsg.), Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Rechtsextremismus. Drei Studien zu Tatverdächtigen und Tätern, Berlin 2001. 10 Rainer Erb, Antisemitische Straftäter in den Jahren 1993 bis 1995, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 6 (1997), S. 160–180. 11 Nicht nur das Blutmotiv, sondern auch das der „Judensau“ hat sich bis heute tradiert, wenn Schweineköpfe oder Teile von Tier- kadavern bei der Schändung von jüdischen Einrichtungen oder Friedhöfen abgelegt werden. Blut wie auch Teile von Schweine- kadavern sind ebenso Ausdruck manifester Islamfeindlichkeit. Muslimische Friedhöfe oder Moscheen werden heute mit den gleichen diskriminierenden Schweineköpfen geschändet wie jüdische Grabstätten; in beiden Fällen sind rechtsextreme Täter zu vermuten. Vor allem in Frankreich, aber auch in Österreich und Deutschland wurden in den letzten Jahren Fälle von Schändungen muslimischer Friedhöfe bekannt. Im November 2008 schändeten Unbekannte auf dem muslimischen Teil des Öjendorfer Friedhofs in Hamburg 17 Gräber und beschmierten Grabsteine und Grabplatten mit Davidsternen. [http://www.jerusalem-kirche.de/download/nr.%2001–2009.pdf und http://www.centrum-moschee.de/index.php?option= com_content&view=article&id=89:neo-nazis-schaenden-muslimische-graeber&catid=36:pressemitteilungen, beide eingesehen am 16. Mai 2011]. Da die Zahl muslimischer Friedhöfe in Deutschland, im Vergleich zu Frankreich oder Österreich, eher gering ist, richten sich die meisten Angriffe stattdessen gegen Moscheen und muslimische Einrichtungen. 12 Adolf Diamant, Geschändete Jüdische Friedhöfe in Deutschland 1945 bis 1999, Potsdam 2000, S. 22. Der Autor stützt seine An gaben auf Daten, die er von den Polizei- und Verfassungsschutzbehörden erhielt.

38 Bestandsaufnahme zen, verleiht dieser Form antisemitisch motivierter Grabsteine oder ganze Friedhöfe geschändet wie Straftaten eine besondere Perfi die. Mit Friedhofs- im Juni 1954 in Eberswalde (vollständig), im April schändungen wollen die Täter die Erinnerung 1955 in Bernburg (82 Grabsteine), im Oktober 1956 zerstören und die symbolische Präsenz jüdischen in Schleusingen (20 Grabsteine), im April 1961 in Lebens tilgen. Sonderhausen (17 Grabsteine), im Dezember 1964 in Karl-Marx-Stadt (9 Grabsteine), im April 1969 in Ost- Nach der Zerstörung vieler jüdischer Friedhöfe in der Berlin (42 Grabsteine), 1972 in Dresden (ohne Anga- Zeit des Nationalsozialismus blieben auch nach 1945 ben), 1975 in Potsdam (ohne Angaben), 1977 erneut jüdische Friedhöfe vor solchen Übergriffen nicht ver- in Dresden (ohne Angaben), im Mai 1982 wiederum schont. In den 1950er-Jahren kam es durchschnittlich in Karl-Marx-Stadt (50 Grabsteine), im Herbst 1983 in zu 10,1, in den 1960er-Jahren zu 11,4, in den 1970er- Eisleben (23 Grabsteine), im Februar und März 1988 Jahren zu 19,1 und in den 1980er-Jahren zu 16,7 Schän- in Ost-Berlin (98 Grabsteine) oder im Mai des glei- dungen pro Jahr.12 Bei diesen Angaben handelt es sich chen Jahres in Mühlhausen (35 Grabsteine).16 nur um die offi ziellen Zahlen, da wohl bei geringeren Beschädigungen oder wenig Hoffnung auf Täterer- Der politische Umgang mit solchen Schändun- mittlung eine Anzeige unterblieb. In der Tat konnten gen soll hier an zwei Beispielen kurz aufgezeigt nur in wenigen Fällen die Verantwortlichen für die werden: Nach der 1983 erfolgten Schändung von Friedhofsschändungen ermittelt werden, wobei es 23 Grabsteinen auf dem jüdischen Friedhof in sich zum einen um Jugendliche und zum anderen Eisleben durch Hakenkreuze und SS-Runen be- um Rechtsextremisten handelte. durfte es zu deren Beseitigung eines fachkundigen Steinmetzes, der sich ebenso wie der Gemeinde- Dafür sprachen auch die einschlägigen Slogans vorsitzende zur absoluten Verschwiegenheit über auf den Grabsteinen wie an den Mauern der Fried- dieses Vorkommnis verpfl ichten musste. In einem höfe. Neben Symbolen wie dem Hakenkreuz, den späteren Fall nutzte man die öffentliche Bericht- SS-Runen oder einem aufgehängten Davidstern erstattung über eine Friedhofsschändung, um die fanden sich Sprüche wie „Es lebe der Führer“, „Es Schuld dafür aus propagandistischen Gründen lebe die NSDAP“, „Heil Hitler“ und „Sieg Heil“ oder dem Einfluss des Westens zuzuschieben. Sechs „Juda verrecke“, „Juden raus“ und „Tod den Juden“. Jugendliche, davon fünf Mitglieder der staatlichen Demnach ging es den Tätern um ein Bekenntnis Jugendorganisation FDJ, hatten im Februar und zum Nationalsozialismus und dessen Antisemi- März 1988 durch das Umstürzen von 98 Grabstei- tismus am nicht stets sichtbaren, aber besonders nen den jüdischen Friedhof Schönhauser Allee in symbolträchtigen und wahrnehmungsintensiven Ost-Berlin geschändet. In der DDR-Presse und im Ort.13 Bei den als Tätern ermittelten Jugendlichen Urteil führte man die Tat auf die Einfl üsse west- und Kindern wurde in der Regel kein politisches licher Medien zurück, hätten diese doch angeblich Motiv unterstellt. Stattdessen wurden die Taten faschistische und neonazistische Leitbilder an die meist als Ausdruck von Rowdytum und Vandalis- ideologisch noch nicht richtig gefestigten jungen mus gewertet. Dabei blieb unbeachtet, dass die Menschen vermittelt.17 Schändungen nur in vergleichsweise wenigen Fäl- len an den vielen christlichen, sondern mit hoher Friedhofsschändungen nach der Intensität an den wenigen jüdischen Grabstätten Wiedervereinigung vorgenommen wurden.14 Nach der Wiedervereinigung stieg die Zahl der Friedhofsschändungen in der früheren DDR Friedhofsschändungen relativ stark an; sie lag in den 1990er-Jahren mit 40,2 pro Jahr doppelt so Friedhofsschändungen sind auch für die frühere hoch wie in den vorherigen Jahrzehnten (bezogen DDR belegt. Schon Ende 1949/Anfang 1950 kam es auf die alte Bundesrepublik). zu Übergriffen und Zerstörungen am jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee. Die Täter erhielten Haft- Ab Ende der 1990er-Jahre konnte nicht nur ein strafen zwischen acht und 15 Monaten.15 Auch in den quantitativer Anstieg der Friedhofsschändungen, folgenden Jahren wurden immer wieder einzelne sondern auch eine qualitative Steigerung der

13 Marion Neiss, Diffamierung mit Tradition – Friedhofsschändungen, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Antisemitismus in Deutschland. Zur Aktualität eines Vorurteils, München 1995, S. 140–156. 14 Julius H. Schoeps, Sepulcra hostium religiosa nobis non sunt. Zerstörung und Schändung jüdischer Friedhöfe seit 1945, in: Diamant, Geschändete Jüdische Friedhöfe, S. 87–95, hier: S. 92. 15 Marion Neiss, Schändungen jüdischer Friedhöfe in Deutschland, hier: S. 321. 16 Lothar Mertens, Davidstern unter Hammer und Zirkel. Die Jüdischen Gemeinden in der SBZ/DDR und ihre Behandlung durch Partei und Staat 1945–1990, Hildesheim 1997, S. 263 f. 17 Ebenda, S. 265, 299–303. Für nähere Informationen zu Friedhofsschändungen in der DDR: Monika Schmidt, Schändungen jüdischer Friedhöfe in der DDR. 18 Neiss, Schändungen jüdischer Friedhöfe, S. 322.

39 Bestandsaufnahme

Gewaltintensität konstatiert werden: 1999 kam es zu einer Kontinuität bei Friedhofsschändungen gespro- einem Sprengstoffanschlag auf das Grab von Heinz chen werden, wobei sich das quantitative Ausmaß Galinski. Der ehemalige Vorsitzende des Zentralrats selbst unter Berücksichtigung der geänderten der Juden in Deutschland war durch Mahnungen Erfassungskriterien offenkundig erhöht hat. zur Erinnerung an die Judenverfolgung und War- nungen vor Antisemitismus zum Feindbild für die Aktuelle Beispiele antisemitisch motivierter rechtsextremistische Szene geworden. Diesem Straftaten Anschlag folgten ähnliche Taten wie 2000 der ver- suchte Sprengstoffanschlag auf dem Friedhof Berlin- Auch im Jahr 2010 gab es antisemitisch motivier- Weißensee und 2001 der Molotowcocktail-Anschlag ten Straftaten unterschiedlicher Art:20 Im Januar auf die Aussegnungshalle des Potsdamer Friedhofs.18 wurde die Dorfhainer Kirche mit antisemitischen Derartige Aktionen mit solchen technischen Mitteln Parolen wie „Juden raus aus dem Gemeinderat“ hatte es bislang bei Friedhofsschändungen nicht ge- beschmiert.21 Im Februar fanden sich ein Haken- geben. Die bis heute nicht aufgeklärten Anschläge kreuz und das Wort „Jude“ am Anne Frank Zen- fi elen wohl nicht zufällig in einen Zeitraum, in dem trum in Berlin.22 Im April schändeten Unbekannte Rechtsextremisten auch gegen andere Einrichtun- den jüdischen Friedhof in Delitzsch durch das gen wie eine Ausstellung zu Verbrechen der Wehr- Umwerfen aller Grabsteine und die Zerstörung macht Anschläge ähnlichen Typs verübten. einer Gedenktafel.23 Ebenfalls im April wurde die KZ-Gedenkstätte Neuengamme mit Haken- In der Folgezeit ging zwar die Bereitschaft zur kreuzen, SS-Runen und antisemitischen Parolen Nutzung von Sprengmitteln bei Friedhofsschändun- beschmiert.24 Im gleichen Monat warfen Unbe- gen zurück, gleichwohl blieben die Taten auf einem kannte Steine auf die Synagoge in Chemnitz.25 quantitativ hohen Niveau. Für den Zeitraum der Jah- Und ebenfalls im April fanden sich Schmierereien re 2000 bis 2008 machten die Polizeibehörden ins- wie „Judenblock“ und „Judenunion“ im Tribünen- gesamt 471 Straftaten mit dem Angriffsziel „Fried- bereich eines Fußballstadions in Solingen.26 Im hof“ aus, was im Durchschnitt auf rund 59 Taten pro Mai wurde das Schulgebäude der Anne Frank- Jahr hinausläuft. Insgesamt stellte man 170 Täter Schule in Güstrow an drei Stellen mit antisemi- beziehungsweise Tatverdächtige fest. Bezüglich der tischen Schmierereien versehen.27 politischen Verteilung zeigte sich hier ein mittler- weile hinlänglich bekannter Trend: 443 Taten Besondere Aufmerksamkeit erregte im gleichen ordneten die Polizeibehörden dem Bereich „PMK- Monat ein Brandanschlag auf die Synagoge in rechts“, keine Tat dem Bereich „PMK-links“, drei Worms, wobei das Gebäude an mehreren Stellen Taten dem Bereich „PMK-Ausländer“ und eine Tat mit einer brennbaren Flüssigkeit angezündet dem Bereich „PMK-sonstige“ zu (bei den restlichen wurde.28 Häufi ger kam es auch zur Beschmierung 24 Taten waren hinsichtlich der Motivation keine von Stolpersteinen, die zur Erinnerung an ermor- Angaben möglich).19 Demnach kann weiterhin von dete Juden vor ihren ehemaligen Wohnhäusern

19 Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten , Wolfgang Neskovic, Sevim Dagdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rechtsextreme Tötungsdelikte seit 1990 und antisemitisch motivierte Schändungen jüdischer Friedhöfe seit 2000, Drucksache 16/14122 vom 7. Oktober 2009, S. 20–37. 20 Da das Bundeskriminalamt aus dem laufenden Jahr keine Angaben macht, wurde bei der Erstellung dieses Berichtsteils jeweils auf Meldungen aus der Presse verwiesen. 21 Dorfhainer Kirche erneut besudelt, in: www.sz-online.de vom 18. Januar 2010 [eingesehen am 8. September 2010]. 22 Schmierereien im Anne Frank Zentrum, in: www.bz-berlin.de vom 5. Februar 2010 [eingesehen am 8. September 2010]. 23 Frank Fütze, Unbekannte schänden jüdischen Friedhof in Delitzsch, in: www.nachrichten.lvz-online.de vom 6. April 2010 [eingesehen am 8. September 2010]. 24 Nazi-Schmiererei in Waldbeker Gedenkstätte, in: Die Welt vom 13. April 2010. 25 Neuer Anschlag auf die Synagoge, in: www.sz-online.de vom 16. April 2010 [eingesehen am 8. September 2010]. 26 Schmierereien am Stadion, in: www.solinger-tageblatt.de vom 12. April 2010 [eingesehen am 8. September 2010]. 27 Angriff auf die menschliche Würde, in: www.svz.de vom 10. Mai 2010 [eingesehen am 8. September 2010]. 28 Brandanschlag auf Synagoge in Worms, in: Die Welt vom 18. Mai 2010. 29 Stolpersteine in Rummelsburg beschmiert, in: www.berlinonline.de vom 10. Mai 2010 [eingesehen am 8. September 2010]. 30 Unbekannte Täter schmieren Hakenkreuz an Kreuzberger Kirche, in: Berliner Morgenpost vom 3. Juni 2010. 31 Gernot Knödler, Steinwürfe auf Juden: Verdächtige ermittelt, in: taz vom 25. Juni 2010. 32 Zehn Gräber auf jüdischem Friedhof in Bocholt geschändet, in: www.westfaelische-nachrichten.de vom 28. Juli 2010 [eingesehen am 8. September 2010]. 33 Unbekannte zünden jüdische Begräbnishalle in Dresden-Johannstadt an, in: www.dnn-online.de vom 29. August 2010 [eingesehen am 8. September 2010]. 34 Unbekannte sprühen antisemitische Parolen an Fassaden in der Neustadt, in: www.dnn-online.de vom 3. Oktober 2010 [eingesehen am 16. Dezember 2010].

40 Bestandsaufnahme in den Boden eingelassen sind, wie etwa im Mai Betrachtet man die Zusammensetzung der Täter, in Berlin-Rummelsburg.29 Im Juni wurde eine so fällt der hohe Anteil von jungen Männern Kreuzberger Kirche mit antisemitischen Parolen auf. Bei den Straftaten ohne Gewaltbezug kann und einem Hakenkreuz verunziert.30 Im gleichen man aber auch einen bedeutenden Anteil von Monat bewarfen neun bis 19 Jahre alte Jugendliche Männern über 30 Jahre ausmachen. Politisch deutscher und arabischer Herkunft in Hannover gehören sie fast ausschließlich der Kategorie eine Tanzgruppe der Liberalen Jüdischen Gemein- „PMK-rechts“ an. Demnach geht es zu großen de mit Kieselsteinen.31 Im Juli wurden auf dem Teilen um rechtsextremistische Personen, die jüdischen Friedhof in Bocholt zehn Grabsteine sich mit ihrer politischen Auffassung gegen die mit den Schriftzügen „Chriss ist ein Jude“, „Hure“ Normen und Regeln des demokratischen Staates und „Jude!“ beschmiert.32 Im August zünde- richten. Zu den Straftätern gehören aber offenbar ten Unbekannte die jüdische Begräbnishalle in auch in größerer Zahl Personen ohne politisches Dresden-Johannstadt an.33 Im Oktober sprühten Engagement und organisatorische Zugehörigkei- Unbekannte in Dresden-Neustadt antisemitische ten. Gleichwohl verfügen sie über eine zumindest Parolen mit vier Hakenkreuzen und einer SS-Rune latente antisemitische Einstellung, die in der Tat an die Fassaden mehrerer Häuser.34 Im gleichen in eine manifeste Handlung in einer besonderen Monat versuchten etwa 20 junge Männer in Situation umschlägt. Über Medienberichte wird Köln, die teilweise aus der rechtsextremistischen mitunter der Eindruck erweckt, Arabischstämmige Szene stammten, das Straßenschild „Judengasse“ oder Muslime gehörten zu großen Teilen mit zu herunterzureißen und gingen mit Gewalt gegen den antisemitisch motivierten Straftätern. Diese Streifenpolizisten vor.35 Im November schändete Auffassung wird durch die polizeilichen Statisti- ein wegen Verwendens von Kennzeichen verfas- ken nicht belegt. sungswidriger Organisationen polizeibekannter 32-Jähriger in Gera das Denkmal für die einstige Bis auf wenige Ausnahmen können die Täter und Synagoge.36 Im gleichen Monat beschmierten Tatverdächtigen als politisch „rechts“ eingestellt unbekannte Täter in Magdeburg das Mahnmal für beschrieben werden, wobei für diese Einschätzung die ehema lige Synagoge mit volksverhetzenden weder der Grad des politischen Bewusstseins noch Parolen.37 Im Dezember kam es zu einer erneuten der organisatorischen Zugehörigkeit von Bedeu- Schmieraktion gegen dieses Mahnmal unter ande- tung ist. Diese Einschätzung fi ndet ihre Bestäti- rem mit dem Wort „tötet“.38 gung darin, dass bei Taten genutzte Parolen und Symbole häufi g Bezüge zum Nationalsozialismus Fazit und dessen Antisemitismus aufweisen. Nur in ganz wenigen Fällen sind solche Delikte gegenwarts- Wie diese Ausführungen gezeigt haben, kommt bezogen-programmatisch aufgeladen und gehen es alltäglich zu antisemitisch motivierten Straf- etwa mit Anspielungen auf den Nahostkonfl ikt taten unterschiedlichster Art: Hierzu gehören die oder auf den Staat Israel einher. Bei den Straftaten Beleidigung von Personen, die Sachbeschädigung im Bereich PMK-„rechts“ machen die antisemitisch von Einrichtungen, die Schändung von Friedhöfen motivierten Delikte in der Gesamtschau allerdings ebenso wie Gewalttaten verschiedenen Ausmaßes. einen eher geringen Anteil aus; hier dominieren Meist handelt es sich um Fälle, in denen im Kontext die fremdenfeindlich motivierten Straftaten. Gera- einer Gewalttat eine antisemitische Diffamierung de aufgrund ihrer alltäglichen Präsenz verdienen geäußert wurde. Nur selten werden die Taten antisemitische Delikte besondere Aufmerksamkeit. systematisch geplant, meist gehen die Täter ohne vorherigen Konfl ikt und in einer zufälligen Alltags- situation gegen angebliche oder tatsäch liche Juden gewalttätig vor. Anders verhält es sich bei Brand- und Sprengstoffanschlägen gegen Einrichtungen wie Gedenkstätten oder Synagogen.

35 Angriff auf Straßenschild „Judengasse“, in: www.stern.de vom 12. Oktober 2010 [eingesehen am 16. Dezember 2010]. 36 Denkmal für einstige Synagoge in Gera geschändet – Täter gefasst, in: www.tlz.de vom 11. November 2010 [eingesehen am 16. Dezember 2010]. 37 Vandalen beschmieren jüdisches Mahnmal, in: www.stern.de vom 17. November 2010 [eingesehen am 16. Dezember 2010]. 38 Jüdisches Mahnmal in Magdeburg erneut beschmiert, in: www.magdeburgersonntag.info vom 8. Dezember 2010 [eingesehen am 16. Dezember 2010].

41 Bestandsaufnahme

5. Antisemitismus im Struktur und Ausrichtung des Islamismus

Islamismus Weitgehend unbestritten ist in Wissenschaft und Politik, dass der Islamismus eine neuzeitliche poli- Der Begriff „Antisemitismus im Islamismus“ ist tische Ideologie darstellt, die vom Islam, einer im nicht frei davon, falsch interpretiert zu werden. siebten Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel So beschreibt „Islamismus“ nicht die Zugehörigkeit entstandenen Religion, zu unterscheiden ist.4 Die zur Religionsgemeinschaft des Islam – wie manch- Ideologie des Islamismus gilt in der Extremismus- mal in der synonymen Verwendung des Begriffs forschung wie bei den Sicherheitsbehörden als ex- „Islamisten“ für „Muslime“ zu beobachten –, tremistisch und wird gegenüber dem Rechts- und sondern bezeichnet eine politische Ideologie, wie Linksextremismus als eine „besondere Form des sie einschlägige islamistische Organisationen oder politisch-religiös begründeten Extremismus“ be- Staaten verkörpern. zeichnet.5 Die Verfassungsschutzbehörden weisen für Deutschland 29 islamistische Organisationen Für diese den Islam politisierenden Gruppen und mit 37.470 Anhängern aus (Stand 2010).6 Sie unter- Staaten ist Antisemitismus ein untrennbarer Be- scheiden hauptsächlich zwischen dem „gewaltori- standteil ihrer Ideologie. Mit teils professioneller entierten Islamismus“, zu dem gewaltbefürworten- Propaganda prägen sie entsprechende antisemi- de Gruppen (zum Beispiel „Hizb al-Tahrir al-islami“, tische Stereotype und versuchen, diese Auffas- HuT), regional gewaltausübende Organisationen sungen auch unter nichtextremistisch gesinnten (zum Beispiel HAMAS, „Hizb Allah“) und transna- Muslimen zu verankern. Nicht zuletzt reklamieren tional terroristische Netzwerke (zum Beispiel „al- sie eine Meinungsführerschaft für „die Muslime“ Qa’ida“) gehören, und dem „legalistischen“ bezie- und behaupten, dass ihre Auffassungen „dem Islam“ hungsweise „institutionellen“ Islamismus, zu dem und der Mehrheit „der Muslime“ entsprächen. Dies in Deutschland die türkische „Islamische Gemein- gilt nicht erst seit der Forderung des – zweifellos schaft Millî Görüş e. V.“ (IGMG) und eine Vertretung einem islamistischen Staatswesen vorstehenden – der arabischen „Muslimbruderschaft“ gehören. Als iranischen Präsidenten Ahmadinedschad, dass Träger islamistischer Ideologie fungieren daneben Israel aus den „Annalen der Geschichte getilgt auch Staaten wie die 1979 gegründete „Islamische werden“ müsse.1 Republik Iran“.

Parallel zur Agenda dieser – folgend als „islamis- Ein Merkmal, das die in Deutschland agierenden tisch“ bezeichneten – politischen Gruppen und islamistischen Gruppen von anderen unterschei- Staaten gibt es in Wissenschaft und Öffentlichkeit det, ist die Tatsache, dass sie hier verhältnismäßig eine Debatte zum Antisemitismus unter „Musli- schwächer organisiert sind und überwiegend men“, den einige als „islamischen“ oder „muslimi- nicht offen agieren. Unabhängig davon üben sie schen“ Antisemitismus bezeichnen. Hier wird be- wie auch ihre nahöstlichen Mutterorganisationen hauptet, dass Antisemitismus ein Wesensmerkmal beträchtlichen ideologischen Einfl uss aus. Wie die des Islam sei und „die Muslime“ generell antisemi- Verbreitung und Rezeption der häufi g „islamisch“ tisch geprägt seien2 (→ Migrationshintergrund begründeten antisemitischen Stereotype zeigen, und Antisemitismus). geschieht dies vor allem über moderne Kommuni- kationsmittel. Fernab der Zuschreibung von Antisemitismus für „den Islam“ und „die Muslime“, für die empirisch Inhaltlich handelt es sich beim Islamismus um den kaum gesicherte Erkenntnisse vorliegen, lässt sich Versuch politischer Bewegungen des 20. Jahrhun- Judenfeindschaft im Islamismus, einer Anfang des derts, den Islam zu ideologisieren und dort, wo dies 20. Jahrhunderts in Ägypten entstandenen politi- möglich ist, eine islamistische Herrschaftsordnung schen Ideologie, eindeutig nachweisen.3 zu etablieren oder die Gesellschaft zu islamisieren.

1 Ahmadinedschad zitierte hier Ayatollah Khomeini, Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Die umstrittene Rede Ahmadinedschads vom 26. Oktober 2005 in Teheran, Übersetzung des Sprachendiensts des Deutschen Bundestags, http://www.bpb.de/themen/MK6BD2,0,0,Die_umstrittene_Rede_Ahmadinedschads.html [eingesehen am 14. Juli 2010]. 2 Michael Kiefer, „Islamistischer oder islamisierter Antisemitismus?“, in: Wolfgang Benz/Juliane Wetzel (Hrsg.), Antisemitismus und radikaler Islamismus, Essen 2007, S. 71–84. 3 Olaf Farschid, Antisemitismus im Islamismus. Ideologische Formen des Judenhasses bei islamistischen Gruppen, in: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2009/2010, S. 435–485. 4 Guido Steinberg, Islamismus und islamistischer Terrorismus im Nahen und Mittleren Osten, Sankt Augustin 2002, S. 9–14, http://www.kas.de/wf/doc/kas_209-544-1-30.pdf?040415180009 [eingesehen am 15. Juni 2002]. 5 Armin Pfahl-Traughber, Ideologien des islamistischen, linken und rechten Extremismus in Deutschland – Eine vergleichende Betrachtung, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Gefährdungen der Freiheit: Extremistische Ideologien im Vergleich, Göttingen 2006, S. 205–221, hier: S. 207. 6 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2010, Vorabfassung, S. 177.

42 Bestandsaufnahme

Islamisten begreifen den Islam insofern nicht Unterschieden, die sie hinsichtlich der Antisemitis- ausschließlich als eine Religion, sondern als eine musformen aufweisen. Herrschaftsideologie und ein Gesellschaftssystem. Ihre – erst seit den späten 1970er-Jahren virulen- Antisemitismus bei islamistischen Organisationen ten – Vorstellungen versuchen sie gewaltsam oder auf gesellschaftspolitischem Wege durchzusetzen. „Klassischer Antisemitismus“ bei der türkischen Das wichtigste Kennzeichen islamistischer Ideo- „Millî Görüş“-Bewegung logie ist die Behauptung, dass der Islam nicht nur allein „Religion und Welt“ verkörpere, sondern Die nichtgewaltorientierte „Islamische Gemein- darüber hinaus eine unteilbare Einheit von „Reli- schaft Millî Görüş e. V.“ (IGMG), mit 29.000 Anhän- gion und Politik“ bilde. Dem hieraus abgeleiteten gern mitgliederstärkste islamistische Organisation politischen Anspruch geben Islamisten mit dem in Deutschland, ist Teil der in den 1970er-Jahren Slogan, der Islam sei zugleich „Religion und Staat“ von Necmettin Erbakan in der Türkei gegründeten Nachdruck.7 „Millî Görüş“-Bewegung („Nationale Sicht“). Erba- kans 1991 auch in deutscher Sprache erschienenes Typisch für den Islamismus ist ferner die Favo- Buch „Gerechte (Wirtschafts-)Ordnung“ trägt risierung frühislamischer und mittelalterlicher bereits deutlich antisemitische Züge. So herrsche Herrschaftskonzepte – etwa ein Kalifat, verkörpert in der Türkei eine „Sklavenordnung“, hinter der durch eine weltliche und zugleich religiöse Füh- der „Zionismus“ stehe, dessen „Zentrum sich bei rungsgestalt. Darüber hinaus verstehen Islamisten den Banken der New Yorker Wall Street befi ndet“.11 die Scharia, die islamische Rechts- und Werte- Überall versuchten Zionisten, „die Welt zu be- ordnung, nicht allein als ein Recht, sondern als herrschen“, weil sie „die Ausbeutung der anderen ein politisches und gesellschaftliches Ordnungs- Menschen als Teil ihrer Glaubenswelt“ ansähen. prinzip und plädieren mit dem Schlagwort der Entsprechende Zerrbilder vom „Weltzionismus“ „An wendung der Scharia“ für eine vollständige erscheinen vor allem in der türkischen Tageszei- Umsetzung der Bestimmungen des islamischen tung „Millî Gazete“, die als inoffi zielles Sprachrohr Rechts. Schließlich weisen insbesondere gewalt- der IGMG gilt. orientierte Gruppen ein vorrangig militantes Verständnis des Jihad8 auf, indem Gewalt durch Verwendung fi ndet vor allem das antisemitische Bezüge auf den Jihad pseudoreligiös legitimiert Stereotyp vom „geheimen Weltstaat“ der Juden. und vorrangig auf die Bedeutung von Kampf und In typisch verschwörungstheoretischer Manier kriegerischer Handlung reduziert wird. Dies be- wird unterstellt, die Globalisierung schaffe eine trifft auch die Tendenz, den Jihad als eine offensive „Neue Weltordnung der Zionisten“, in der Juden und vermeintlich auch gegen Zivilisten legitime versuchten, sich die Herrschaft über die muslimi- Kampfmethode zu begreifen.9 schen Länder und deren Erdölreserven zu sichern. Ein neuerdings hinzugekommener Vorwurf Trotz gemeinsamer ideologischer Merkmale folgen lautet, Juden stünden hinter den Anschlägen des weder islamistische Gruppen noch islamistisch 11. September 2001, um Christen gegen Muslime ausgerichtete Staaten einer einheitlichen Strategie. aufzuwiegeln und muslimische Staaten in Form Der Islamismus verkörpert vielmehr unterschied- des Antiterrorkampfes zu unterwerfen.12 Darü- liche Vorstellungen, die meist von den differie- ber hinaus werden „Juden“ respektive Zionisten renden politischen und gesellschaftlichen Bedin- für den Großteil der internationalen Konflikte gungen der Herkunftsländer bestimmt werden. verantwortlich gemacht. So seien sie für den Insofern gibt es keinen „Einheits-Islamismus“.10 Ersten und Zweiten Weltkrieg ebenso verantwort- Ein Merkmal, das islamistische Gruppen und Staa- lich wie für die Zerschlagung des Osmanischen ten trotz ihrer unterschiedlichen ideologischen Reiches, die dem Ziel diente, die Auswanderung Ausrichtungen gemein haben, ist allerdings der von Juden nach Palästina und 1948 die Gründung Antisemitismus. Dies gilt unabhängig von den Israels zu ermöglichen.13

7 Gudrun Krämer, Islam und Islamismus. Zurück in die Zukunft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zu Das Parlament 3–4 (2002), 18./25. Januar 2002. 8 Verbreitete Schreibweise auch Dschihad und Djihad. 9 Olaf Farschid, Islam als System. Grundzüge islamistischer Ideologie, in: Senatsverwaltung für Inneres (Hrsg.), Islamismus. Diskussion eines vielschichtigen Phänomens, Berlin 2005, S. 14–32. 10 Sabine Damir-Geilsdorf, Fundamentalismus und Terrorismus am Beispiel religiös-politischer Bewegungen im Nahen und Mittleren Osten, in: Clemens Six/Martin Riesebrodt/Siegfried Haas (Hrsg.), Religiöser Fundamentalismus, Wien 2004, S. 201–225, hier: S. 207 ff. 11 Necmettin Erbakan, Gerechte Ordnung, („Adil Düzen“), Ankara 1991, S. 4. 12 Süleyman Arif Emre, Schritt für Schritt in Richtung neue Weltordnung (Türkisch), in: Millî Gazete vom 20. Januar 2003. 13 Reşat Nuri Erol, Israel und die ‚gläubigen Muslime‘ (Türkisch), in: Millî Gazete vom 5./6. August 2006.

43 Bestandsaufnahme

Zum Vorwurf der „jüdischen Weltverschwörung“ iranische Filmproduktion „Zahras blaue Augen“,24 gehört die Unterstellung, Juden errichteten ein die Juden Organraub unterstellt, den Palästinenser vom Nil bis zum Euphrat reichendes Groß-Israel, mit Selbstmordanschlägen vergelten müssten.25 das vor allem die Unterdrückung der Nach- barstaaten zum Ziel habe.14 So wird Israel als Die „Muslimbruderschaft“ „Kriegsstaat“15 diffamiert und sein Existenzrecht mit Bezeichnungen wie „Terrororganisation“16 Die 1928 in Ägypten gegründete panislamistische oder „Terrorgruppe Israel“ delegitimiert.17 Hierzu „Muslimbruderschaft“ ist die älteste und zugleich gehört auch die Unterstellung, Israel verübe in bedeutendste arabische islamistische Gruppie- militärischen Konfl ikten gezielt Kindermorde,18 rung, die Vorbild für zahlreiche islamistische um den Opfern Organe zu entnehmen und damit Gruppen war. Die Interessenvertretung der Mus- Handel zu treiben.19 limbruderschaft in Deutschland, die „Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V.“, verfügt über Bei „Millî Görüş“ fi nden sich auch Belege für die 1300 Anhänger und betreibt mehrere sogenannte Relativierung und Leugnung des Holocaust sowie Islamische Zentren wie das „Islamische Zentrum- für das Merkmal der Täter-Opfer-Umkehr. So wer- München“. Klassische antisemitische Propaganda den Juden beschuldigt, Hitler selbst an die Macht verbreitete die als Mutterorganisation fungierende gebracht zu haben – mit dem Ziel, im historischen ägyptische Muslimbruderschaft vor allem in ihrer Palästina den Staat Israel zu gründen.20 Ferner wird terroristischen Phase zwischen den 1950er- und der Holocaust als „Lüge“ und „Legende“ bezeich- 1980er-Jahren. Dies gilt insbesondere für Sayyid net, die vor allem die Kaschierung des an Palästi- Qutb (1906–1966), den ideologischen Wegbereiter nensern begangenen Unrechts Israels zum Zweck des modernen antisemitisch geprägten Islamismus hätte.21 wie des zeitgenössischen militanten Islamismus. Qutb hatte in seiner Schrift „Unser Kampf mit den Bezeichnend ist auch die Verbreitung antisemi- Juden“26 ein subversives Wirken der Juden seit dem tischer Propaganda auf „islamischen Buchmessen“ Frühislam unterstellt und sie im 20. Jahrhundert IGMG-naher Verbände in Deutschland. Hier fi n- der Aufl ösung des Kalifats sowie der Abschaffung den sich türkischsprachige Übersetzungen von der Scharia in der 1923 gegründeten Türkei bezich- einschlägigen Schriften wie „Der internationale tigt. Vor allem mit der Gleichsetzung der Begriffe Jude“ von Henry Ford, „Das Dossier des Zionismus“ „Weltjudentum“ und „Welt-Kreuzzüglertum“ 27 („Siyonizm Dosyası“) des Holocaustleugners Roger schuf er einen Topos, auf den sich Usama Bin Ladin Garaudy22 sowie „Die Holocaust Lüge“ („Soykırım 1998 in seinem – als programmatische Grundlage Yalanı“) des „Millî Gazete“-Autors Harun Yahya.23 der Anschläge des 11. September 2001 geltenden – Erhältlich sind auch antisemitische Kinderfi lme Aufruf der „Islamischen Weltfront für den Jihad wie „Die Kinder der al-Aksa-Moschee“ oder die gegen Juden und Kreuzzügler“ bezog.28

14 Rede von Erbakan in Millî Gazete vom 10.–14. August 2006. 15 Reşat Nuri Erol, Israel. 16 Ali Cura, Stelle unsere Geduld nicht auf die Probe (Türkisch), in: Millî Gazete vom 24. Juli 2006. 17 Afet Ilgaz, Terrorgruppe Israel (Türkisch), in: Millî Gazete vom 25. Juli 2006. 18 Mehmut Toptaş, Ein Land, das nichts von Politik versteht (Türkisch), in: Millî Gazete vom 26. Juli 2006. 19 Mehmut Toptaş, Wir werden nie so sein wie Israel (Türkisch), in: Millî Gazete vom 25. Juli 2006. 20 „Die Geschichte wird neu geschrieben“ (Türkisch), Teil 1 und 2, Millî Gazete – Onlineausgabe vom 15./16. Dezember 2006. 21 Millî Gazete – Onlineausgabe vom 22. August 2006. 22 Der zum Islam konvertierte Garaudy, ein früherer Chefi deologe der Kommunistischen Partei Frankreichs, wurde 1998 für sein Buch „Die grundlegenden Mythen der israelischen Politik“ wegen Leugnung des Holocaust verurteilt, Claudia Dantschke, Islamistischer Antisemitismus, in: Zentrum Demokratische Kultur u. a. (Hrsg.), Antisemitismus und Antiamerikanismus in Deutschland, Bulletin Nr. 5, Berlin 2004, S. 24–34, hier: S. 31. 23 Ebenda, S. 28 f. Harun Yahya veröffentlichte darüber hinaus „Judentum und Freimaurer“ („Yahudilik ve Masonluk“, o. D.), „Die Politik der Weltherrschaft Israels“ („Israil’in Dünya Egemenliği Politikası“, 2003) sowie „Die Philosophie des Zionismus“ („Siyonizm Felsefesi“, 2002). Die an der TU Berlin registrierte extrem nationalistische Türkisch-idealistische Studentenvereini- gung TIAB, die unter der Adresse des Vereins Mehter Takimi Berlin e. V. (Janitscharenkapelle) fi rmiert, lud für den 15. April 2011 zu einer Harun-Yahya-Konferenz in die TU Berlin ein. Hinweise im Vorfeld von verschiedenen Experten der Szene veranlassten die Leitung der TU, die Veranstaltung am 12. April 2011 zu untersagen. 24 Türkisch „Filistinli Zehra’nın Gözleri“ („Die Augen der Palästinenserin Zehra“). 25 Michael Kiefer, Islamischer, islamistischer oder islamisierter Antisemitismus?, in: Die Welt des Islams 46 (2006) 3, S. 277–306, hier: S. 303 f. 26 Sabine Damir-Geilsdorf, Herrschaft und Gesellschaft. Der islamistische Wegbereiter Sayyid Qutb und seine Rezeption, Würzburg 2003, S. 385 f. 27 Sayyid Qutb, Ma’arakatuna ma’ al-yahud (Arabisch) („Unser Kampf mit den Juden“), Beirut/Kairo 1973, S. 30 ff. 28 Guido Steinberg, Der nahe und der ferne Feind. Die Netzwerke des islamistischen Terrorismus, München 2005, S. 63.

44 Bestandsaufnahme

Über Erscheinungsformen des „klassischen Anti- Terrorisierung und Vertreibung von Israelis aus ih- semitismus“ hinaus ist die Muslimbruderschaft rem eigenen Staat.34 Zu diesem Zweck sei – die von heutzutage deutlich durch einen auf die Vernich- Qaradawi als „Verteidigungs-Jihad“ deklarierte – tung Israels abzielenden Antizionismus geprägt. Gewaltanwendung gegen Israel ebenso legitim wie Zwar lehnt die Organisation seit den 1970er-Jahren die Methode der Selbstmordanschläge,35 die er als Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele islamrechtlich vermeintlich legitime „Märtyrer- weitgehend ab. Dies gilt aber nicht für den israe- Operationen“ verbrämt.36 lisch-palästinensischen Konfl ikt, für den sie den militanten Jihad für legitim erklärt und mit einer Die „Hizb al-Tahrir al-islami“ Verteidigungssituation der Palästinenser rechtfer- („Partei der islamischen Befreiung“, HuT) tigt. So verneinen führende Vertreter der Muslim- bruderschaft das Existenzrecht Israels ausdrücklich, Die 1953 in Jordanien gegründete arabische „Hizb rufen zum Kampf gegen den jüdischen Staat auf al-Tahrir al-islami“ (HuT) ist eine panislamistische und begründen Jihad und Selbstmordanschläge Bewegung, die eine – auf Herrschaftskonzepten des mit dem vermeintlich militärischen Charakter der Frühislam und Mittelalters basierende – universelle israelischen Gesellschaft und der militärischen Staats- und Gesellschaftsdoktrin verfolgt. Der in Unterlegenheit der Palästinenser. So sieht der ehe- Deutschland aufgrund massiver antisemitischer malige „Oberste Führer“ der ägyptischen Muslim- Hetze 2003 verbotenen Organisation werden bruderschaft, Muhammad Mahdi Akif (amtierend 300 Anhänger zugerechnet, die sich in der Öffent- 2004–2010) „für Israels Existenz in der Region keinen lichkeit allerdings weitgehend bedeckt halten. Ziele Grund“. 2006 kündigte er an, dass die Muslimbru- der Organisation sind der Sturz sämtlicher als „un- derschaft nach einer Machtübernahme in Ägypten islamisch“ verketzerter Regierungen in den mus- den Friedensvertrag mit Israel annullieren werde.29 limischen Ländern, die Bekämpfung sogenannter ungläubiger Staaten37 sowie die Auslöschung Israels. Exemplarisch für den auf die Beseitigung Israels zielenden Antizionismus der Muslimbruderschaft Das Verhältnis der HuT zu Juden und zu Israel ist ist Yusuf al-Qaradawi, einer der wichtigsten Ideo- von einer hochgradig aggressiven Haltung ge- logen des zeitgenössischen legalistischen Islamis- kennzeichnet, die bis zur unzweideutigen Auffor- mus, der auch die Gewaltstrategie der HAMAS derung zur Tötung von Juden und zur Zerstörung islamrechtlich legitimiert. Ausgangspunkt ist der des Staates Israel reicht. So weist ihre Polemik sämt- von sämtlichen islamistischen Gruppen bemühte liche Elemente des religiösen, politischen und an- Topos vom „Raub Palästinas“ („ightisab fi lastin“) tizionistischen Antisemitismus auf: Die „dreckigen durch die Juden.30 Dieser von ihm als „Landraub“ Juden“38 stellten die „niedrigste Schöpfung Gottes titulierte Konfl ikt um Land, nicht primär das auf der Erde“ dar.39 Sie seien die Brüder „von Affen Jüdischsein der Israelis,31 delegitimiert für Qara- und Schweinen“40 sowie eine „Sippe, die Schrecken dawi das Existenzrecht des jüdischen Staates – mit verbreitet, grausam ist, die ihr Wort nicht hält, weitreichenden Konsequenzen: So erklärt er die Vereinbarungen bricht sowie Lügen und Verleum- Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Isra- dungen verbreitet“.41 Diese antisemitischen Stereo- el32 und jeglichen Umgang mit seinen Bürgern type verbrämt die HuT zudem pseudoreligiös, islamrechtlich für verboten33 und befürwortet die konstruiert eine bei Juden angeblich vorhandene

29 U. a. die in London erscheinende Tageszeitung „al-Hayat“ (Arabisch) vom 6. Oktober 2006. 30 Palestine Times August 1999 nach www.adl.org/main_Arab World/al_Qaradawi_report_20041110.html [eingesehen am 10. November 2004]. 31 www.islamfortoday.com/qaradawi02.htm [eingesehen am 15. November 2004]. 32 Palestine Times August 1999 nach www.adl.org/main_Arab World/al_Qaradawi_report_20041110.html [eingesehen am 10. November 2004]. 33 Al-Jazeera-TV 11.4.2001, Webseite des israelischen Außenministeriums, nach www.adl.org/main_Arab World/ al_Qaradawi_report_20041110.html [eingesehen am 10. November 2004]. 34 Nida al-Ulama (Ruf der Gelehrten) 2 (1996) Nr. 1. 35 IslamOnline 7. Februar 2001 nach www.adl.org/main_Arab World/al_Qaradawi_report_20041110.html [eingesehen am 10. November 2004]; auch ash-Sharq al-Ausat vom 17. April 2002. 36 Los Angeles Times vom 27. Mai 2001 nach www.adl.org/main_Arab World/al_Qaradawi_report_20041110.html [eingesehen am 10. November 2004]. 37 „Erklärung von Hizb-ut-Tahrir. Die USA und Britannien erklären dem Islam und den Muslimen den Krieg“, www.hizb-ut-tahrir.org/deutsch/leafl ets/HTlfl ts/ht091001.htm [eingesehen am 15. Januar 2003]. 38 „Die Kooperation mit Amerika ist eine große Sünde, die der Islam verbietet“, Flugblatt der HuT vom 18. September 2001. 39 „Offener Brief der HuT an die arabischen Herrscher, die am Gipfelkongress in Kairo teilnehmen“, Flugblatt der HuT vom 19. Oktober 2000. 40 Flugblatt der HuT vom 28. Februar 2002. 41 „Eine Deklaration der HuT-Indonesien an die Botschaften der arabischen Länder“, Flugblatt der HuT vom 2. April 2002.

45 Bestandsaufnahme

historische Feindschaft gegenüber dem Islam und Staaten die Aufrüstung ihrer Armeen und den verbietet Muslimen den Kontakt zu Juden: „Die Kampf gegen Israel.50 Aufgrund der massiven anti- Juden sind ein Volk der Lügen, ein Volk des Verrats, israelischen und antisemitischen Hetze der Orga- das Abkommen und Verträge bricht. Sie ersinnen nisation erließ der Bundesminister des Innern am Unwahrheiten und verdrehen den Wortsinn. Sie 10. Januar 2003 ein Betätigungsverbot,51 das das verletzen ungerechterweise die Rechte anderer, Bundesverwaltungsgericht am 25. Januar 2006 töten Propheten und Unschuldige und sind die bestätigte.52 größten Feinde der Gläubigen. Allah (t.) untersagte uns, sie zum Freund zu nehmen.“42 Die HAMAS („Bewegung des islamischen Widerstands“) Die Methode, ihre antisemitische Grundhaltung pseudoreligiös zu begründen, kennzeichnet auch Die mit dem Kurzwort HAMAS bezeichnete „Bewe- die Delegitimierung des Existenzrechts des israeli- gung des Islamischen Widerstands“ wurde 1987 schen Staates. Für die HuT ist Israel ein „Verbrechen im Gaza-Streifen als palästinensischer Zweig der an der Menschheit“, das „keine Legitimations- „Muslimbruderschaft“ gegründet. Bundesweit grundlage“ besitze.43 Wie andere islamistische verfügt sie über 300 Anhänger, die allerdings Organisationen behauptet sie, dass Palästina unver- selten offen auftreten. Die Organisation negiert äußerliches und unteilbares „muslimisches Land“ das Existenzrecht Israels und strebt die „Befreiung sei, welches das gesamte historische Palästina,44 ganz Palästinas“ durch bewaffneten Kampf sowie das heißt auch Israel in den Grenzen von 1948 bis die Gründung eines islamistischen Staatswesens 1967, umfasse. Mit dem Schlachtruf „Ihr sollt das an. Den Oslo-Friedensprozess lehnt sie ab und kon- hässliche Judengebilde vernichten“ verbindet die kurriert gleichzeitig mit der von der laizistischen Organisation unzweideutige Aufforderungen FATAH dominierten Palästinensischen Autono- zur Zerstörung Israels: „Aufs neue wiederholen miebehörde um die Führung der Palästinenser. wir die unabdingbare islamische Pfl icht: Auf die Im Gaza-Streifen übt die HAMAS seit ihrem Putsch zionistische Aggression in Palästina kann es nur im Juni 2007 die alleinige Macht aus. eine Antwort geben: den Jihad. Allah der Erha- bene befi ehlt.“45 Diese Aufrufe deklariert die HuT Im antisemitischen Spektrum weist die HAMAS wiederum als religiöse Verpfl ichtung zum militan- zwei dominante, häufi g miteinander kombinierte ten Jihad.46 Diesen erhebt sie zu einer offensiven Formen auf. Für eher „klassische“ Formen von Anti- Kampfform, die eine vermeintlich individuelle semitismus steht ihre 1988 veröffentlichte Charta, Pfl icht eines jeden Muslims bilde und zur Tötung die – neben ihrer ausgeprägten antizionistischen von Juden und zum Zwecke des Offensivkrieges Rhetorik – fast sämtliche antisemitische Stereotype gegen Israel anzuwenden sei. Zudem behauptet sie, des religiösen, politischen und sozialen Antisemi- im Islam sei es Vorschrift, Juden „zuerst anzugrei- tismus transportiert. Dies gilt im Besonderen für fen, auch wenn sie uns nicht angegriffen haben“.47 den Mythos der jüdischen Weltverschwörung, der Juden für Revolutionen sowie für politische Großer- Wie andere islamistische Gruppen erklärt die HuT eignisse wie den Ausbruch des Ersten oder Zweiten zudem Selbstmordanschläge für legitim und ver- Weltkriegs verantwortlich macht.53 So unterstellt brämt sie als – islamrechtlich vermeintlich legiti- die HAMAS-Charta Juden, zwecks „Kontrolle über me – „Märtyreraktionen“.48 Ferner rechtfertigt sie die internationalen Medien“ „mächtige materielle „Millionen von Märtyrer“ zum Zwecke der Tötung Reichtümer anzuhäufen“. Hiermit „lösten sie Revo- von Juden49 und fordert von den muslimischen lutionen“ wie die französische Revolution oder die

42 „Und tötet sie, wo immer ihr sie zu fassen bekommt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben.“, unter www.hizb-ut-tahrir.org/deutsch/leafl ets/HTlfl ts/ht310302_die_juden.htm [eingesehen am 22. November 2002]. 43 „50 Jahre – Happy Birthday Israel“, in: „Explizit“ 5 (1998), April–Juni, S. 2–5. 44 „Die arabischen Gipfelkonferenzen sind Konferenzen der Verschwörung und des Verrats“, Flugblatt der HuT vom 29. März 2001. 45 „Wie lange noch?“, in: „Explizit“ 30 (2002), März–Juni, S. 6. 46 Hierzu zitiert die HuT Vers 191 der Koransure 2, den sie wörtlich genommen und als eine aktuelle Aufforderung zum Kampf ver- standen wissen will („Und tötet sie, wo immer ihr sie zu fassen bekommt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben!“); „Wie lange noch?“, S. 4 ff. 47 „Die Unausweichlichkeit des Kampfes der Kulturen – Hatmiyyat Sira’ al-hadarat“, o.O. u. o.J., S. 59. 48 Dieser Begriff ist mit dem der „Märtyrer-Operationen“ (Arabisch „amaliyat istishhadiya“) identisch. 49 „Die arabischen Gipfelkonferenzen sind Konferenzen der Verschwörung und des Verrats“, Flugblatt der HuT vom 29. März 2001. 50 „Wie lange noch?“, S. 4, 7. 51 Verbotsverfügung des Bundesministers des Innern vom 10. Januar 2003 mit Wirkung vom 15. Januar 2003 (Bundesanzeiger 15. Januar 2003). 52 Urteil Bundesverwaltungsgericht, BVerwG 6A 6.05, http://www.bverwg.de/media/archive/3615.pdf [eingesehen am 18. Mai 2011]. 53 Charta der Islamischen Widerstandsbewegung Hamas (aus dem Arabischen von Lutz Rogler), in: Helga Baumgarten, Hamas. Der politische Islam in Palästina, München 2006, S. 207–226.

46 Bestandsaufnahme

Oktoberrevolution aus. Nicht zuletzt beherrschten eine „strategische Option“ verstanden. So betonte sie „Geheimorganisationen“, um „die Gesellschaf- der Führer der Auslandssektion Khalid Mash’al ten zu zerstören und die Interessen des Zionismus mehrfach, dass es sich die HAMAS trotz Waffen- zu verwirklichen“. Als Belege für das unterstellte stillstandsvereinbarungen mit Israel vorbehalte, Ziel der Weltbeherrschung führt die HAMAS „die Gewalt gegen israelische Interessen zu den von Balfour-Deklaration, die Gründung Israels sowie ihr bestimmten Zeitpunkten und Anschlagsorten die Bildung der UNO und des Sicherheitsrates“ an.54 auszuüben.61 Wie einschlägige Slogans auf israel- feindlichen Demonstrationen zeigen, stößt diese Bestandteil der HAMAS-Charta ist ferner der Vorwurf über entsprechende Satellitensender verbreitete einer von Juden seit jeher betriebenen „Verschwö- Vernichtungsideologie der HAMAS in Deutsch- rung gegen den Islam“.55 Diesbezüglich kombiniert land insbesondere bei arabischstämmigen die Charta Aussagen des Korans über Konfl ikte Jugendlichen auf Resonanz (→ Antisemitismus zwischen Juden und Muslimen im Früh islam mit in arabischsprachigen islamistischen Fern- der politischen Bewertung des Staates Israel und sehsendern). der Situation der Palästinenser in der Gegenwart.56 Hierzu verwendet die Charta in austauschbarer Form Die „Hizb Allah“ („Partei Gottes“) die Begriffe „Juden“, „Zionisten“ oder „Feinde“. Un- ter Bezug auf die „Protokolle der Weisen von Zion“ Wie die palästinensische HAMAS ist die – bundes- wird „den Juden“ zudem unterstellt, ein Reich vom weit 900 Anhänger umfassende – libanesische Nil bis zum Euphrat anzustreben.57 Gruppierung „Hizb Allah“ („Partei Gottes“; auch „Hisbollah“/„Hizbullah“) neben „klassischen“ Neben eher „klassischen“ Formen von Antisemi- Formen von Antisemitismus vor allem durch einen tismus ist die HAMAS überwiegend durch Anti- Antizionismus geprägt, der sowohl verbal als auch zionismus geprägt, der deutlich auf die Vernich- auf der Handlungsebene auf die Vernichtung des tung Israels abzielt. Dies belegt nicht zuletzt ihre Staates Israel abzielt und der deshalb als Vernich- Gewaltstrategie, zu der seit 1994 vor allem Selbst- tungsantizionismus zu werten ist. In Deutschland mordanschläge gehören. Mit dem Ausbruch der fällt die „Hizb Allah“ vor allem durch die Organisie- „Al-Aqsa-Intifada“ im September 2000 und der rung des alljährlichen „Al-Quds“-Tages auf. Zusätz- Verschärfung des israelisch-palästinensischen lich übt sie über ihren Satellitensender „Al-Manar“ Konfl ikts nahmen die Selbstmordanschläge ihres beträchtliche ideologische Wirkung aus, die weit militärischen Flügels, der „Izz ad-Din al-Qassam- über ihre eigentliche Anhängerschaft hinausgeht. Brigaden“, gegen israelische Ziele erheblich zu. Gegründet wurde die „Hizb Allah“ 1982, als Israel Diese als „Märtyrer-Operationen“58 verbrämten in den libanesischen Bürgerkrieg (1976–1989) mili- Anschläge begrenzte die HAMAS dabei nicht auf tärisch eingriff. Seit ihrem Bestehen negiert sie das die Gebiete des Westjordanlands und des Gaza- Existenzrecht Israels und propagiert den bewaffne- Streifens, sondern führte sie vor allem im israe- ten Kampf gegen den jüdischen Staat. Das Ziel der lischen Kernland aus. Die Anschläge zielten zudem Vernichtung Israels ist fester Bestandteil ihrer Stra- nicht allein auf Militärpersonal, sondern ausdrück- tegie, die sich an dem 1979 vom „Revolutionsfüh- lich auch auf die israelische Zivilbevölkerung.59 rer“ Khumaini propagierten antiisraelischen Kurs Dieses seit Errichten des Grenzzauns erschwerte der „Islamischen Republik Iran“ orientiert.62 In und von Waffenstillstandsabkommen zeitweise einem Programmpapier der „Hizb Allah“ von 1985 unterbrochene terroristische Vorgehen begründet heißt es dazu unmissverständlich: „Unser Kampf die HAMAS durchgängig mit einem „Recht auf endet erst, wenn dieses Wesen ausgelöscht ist.“63 Selbstverteidigung“.60 Gewalt gegen Israel wird Die Vernichtung Israels steht auch im Zentrum von sämtlichen Führungspersonen der HAMAS ihrer Propaganda, zu der vor allem die Verherr- nicht nur ausnahmslos gerechtfertigt, sondern als lichung von Selbstmordanschlägen gehört. Diese

54 Artikel 22 der HAMAS-Charta, ebenda, S. 218 f. 55 So in Artikel 7 der Charta, ebenda, S. 211. 56 Armin Pfahl-Traughber, Der Ideologiebildungsprozess beim Judenhass der Islamisten. Zum ideengeschichtlichen Hintergrund einer Form des „Neuen Antisemitismus“, in: Martin H. W. Möllers/Robert Chr. van Ooyen (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2004/2005, S.189–208; hier: S. 192 f. 57 So Artikel 32 der Charta, Baumgarten, Hamas, S. 224. 58 Zur islamrechtlichen Legitimation von Anschlägen der HAMAS auf Zivilisten, Joseph Croitoru, Der Märtyrer als Waffe. Die historischen Wurzeln des Selbstmordattentats, München 2003, S. 193 ff. 59 Helga Baumgarten, Hamas, S. 86. 60 Joseph Croitoru, Hamas. Der islamische Kampf um Palästina, München 2007, S. 128 ff. 61 Etwa die arabische Zeitung „al-Hayat“ vom 9. Februar 2006. 62 Esther Webman, Anti-Semitic Motifs in the Ideology of Hizballah and Hamas, July 9, 1998, in: www.ict.org.il/articles/articledet.cfm?articleid=51 [eingesehen am 7. Februar 2003].

47 Bestandsaufnahme

mit Kampfslogans wie „Israel wird unweigerlich Juden auf Thora und Talmud zurückgeführt und aufhören zu existieren“ versehene Vernichtungs- ein jüdischer Ritualmord an Kindern – eine dem propaganda verbreitet die „Hizb Allah“ vor allem christlichen Antisemitismus entlehnte Vorstel- über ihren parteieigenen Fernsehsender „Al-Ma- lung – inszeniert.70 nar“. Dieser bewirbt offen den bewaffneten Kampf gegen Israel und ruft unzweideutig zur Befreiung Das Netzwerk „al-Qa’ida“ „ganz Palästinas“ auf64 (→ Antisemitismus in arabischsprachigen islamistischen Fernseh- Ein Beispiel für die Kombination von Antizionis- sendern). Zentrale Bedeutung haben martialische mus und Antisemitismus mit ausgeprägt elimi- Darstellungen der Kampfbereitschaft der Paläs- natorischen Zügen ist das von Usama Bin Ladin tinenser und Libanesen sowie die Verherrlichung Ende der 1980er-Jahre gegründete transnationale der – auch von der „Hizb Allah“ als „Märtyrer- Terrornetzwerk „al-Qa’ida“ („Die Basis“),71 dessen Operationen“ verklärten – Selbstmordanschläge. Ideologie – wie jüngste Radikalisierungsverläufe Dies betrifft vorrangig Selbstmordattentäter der von Jihadisten zeigen – auch Menschen in Deutsch- militärischen Flügel der „Hizb Allah“ („Islamischer land anzieht. Hauptkennzeichen der Ideologie von Widerstand“), der HAMAS („Izz ad-Din al-Qassam- „al-Qa’ida“ sind die Uminterpretation des Jihad zu Brigaden“) sowie des „Palästinensischen Islami- einer offensiven Kampfform und seine Anwendung schen Jihad“ (PIJ, „Jerusalem-Kompanien“).65 gegen die muslimischen Staaten sowie gegen die USA, Russland und Israel. Markantestes Beispiel Die auf die Vernichtung Israels zielende antizionisti- ist der von Bin Ladin und seinem Stellvertreter sche Grundhaltung der „Hizb Allah“ belegen zudem Aiman al-Zawahiri 1998 veröffentlichte Aufruf der einschlägige Äußerungen ihres Generalsekretärs „Islamischen Weltfront für den Jihad gegen Juden Hassan Nasrallah, der 2003 eine mit dem Titel und Kreuzzügler“. Dieser erklärt die Tötung von „Dieses Israel wird unweigerlich aufhören zu existie- Amerikanern und Juden zu einer individuellen ren!“ versehene Videobotschaft veröffentlichte,66 Pflicht eines jeden Muslims und fordert dazu auf, in der Bombenexplosionen verherrlicht sowie amerikanische Truppen und ihre Verbündeten israelische Attentatsopfer verhöhnt werden und ein mit Anschlägen aus der muslimischen Welt zu Davidstern mit der Einblendung „Das Nicht-mehr- verdrängen. Unter Bezug auf die „Besetzung Jeru- Existieren Israels“ explodiert67 (→ Antisemitismus salems“ und vom „Kleinstaat der Juden“ verübte in arabischsprachigen islamistischen Fernseh- „Morde an Muslimen“ wird zudem zu Angriffen auf sendern). Diese visuelle Vernichtungspropaganda Juden weltweit aufgerufen.72 der „Hizb Allah“ entspricht den seit 2005 mehrfach wiederholten Äußerungen des iranischen Präsiden- Durchgängiges Element des durch die „Al-Qa’ida“- ten Ahmadinedschad, dass der Staat Israel keine Führung – über Audio-, Video- und Internetbot- Existenzberechtigung habe und aus den „Annalen schaften auch nach Deutschland – verbreiteten der Geschichte getilgt werden“ müsse.68 Antisemitismus ist der Vorwurf eines aktuellen „jüdisch-christlichen“ beziehungsweise „jüdisch- Obwohl die „Hizb Allah“ überwiegend antizionis- amerikanischen Kreuzzugs“ gegen die muslimi- tisch geprägt ist,69 bemüht sie auch Stereotype sche Welt.73 So werden Anschlagsdrohungen damit des politischen und religiösen Antisemitismus. gerechtfertigt, dass der „Militärapparat der Juden Dies betrifft etwa die Sendereihe „al-Shatat“ und Kreuzritter [...] Jerusalem besetzt“ halte,74 und („Diaspora“) von 2003, die eine jahrhundertealte es wird gefordert, die „Hauptverbrecher USA, Russ- geheime jüdische Weltregierung unterstellt. Hier- land und Israel in den Kampf zu zwingen“ und den in werden das vermeintlich subversive Wirken von Jihad „auf den Boden des Feindes“ zu tragen.75

63 The Hizballah Program, in: www.ict.org.il/articles/articledet.cfm?articleid=409 [eingesehen am 2. Februar 2003]. 64 Auch die in Deutschland zu empfangende wöchentliche Al-Manar-Sendung „Fackeln auf dem Weg nach Jerusalem“ (Arabisch) (Masha’il ala tariq al-quds) vom 22. Januar 2003. 65 Croitoru, Hamas, S. 152 ff. 66 Hierbei handelt es sich um ein weitverbreitetes Originalzitat von Hassan Nasrallah. Abgewandelt in „dieses Israel wird mit Gottes Hilfe aufhören zu existieren“ wird es auch von der HAMAS verwandt. 67 Zum Beispiel die Al-Manar-Sendung „Fackeln auf dem Weg nach Jerusalem“ (Arabisch) vom 22. Januar 2003. 68 Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Die umstrittene Rede Ahmadinedschads vom 26. Oktober 2005 in Teheran. 69 Webman, Anti-Semitic Motifs. 70 Michael Kiefer, Islamischer, islamistischer oder islamisierter Antisemitismus, S. 301 f. 71 Stéphane Lacroix, Ayman al-Zawahiri, der Veteran des Dschihads, in: Gilles Kepel/Jean-Pierre Milelli (Hrsg.), Al-Qaida. Texte des Terrors, München 2006, S. 271–296, hier: S. 287. 72 Guido Steinberg, Der nahe und der ferne Feind, S. 62 f. 73 Aiman al-Zawahiri, Die Treue und der Bruch, in: Kepel/Milelli, Al-Qaida, S. 386 f. 74 Ebenda, S. 416.

48 Bestandsaufnahme

Auch auf der Handlungsebene ist die Vernich- ihrer Gründung 1979 das Existenzrecht Israels tung Israels für „al-Qa’ida“ und verbündete negiert, den Untergang des jüdischen Staates Gruppen von zentraler Bedeutung. Dies belegen propagiert und dessen Zerstörung fordert. Dies gilt 2005 aufgedeckte Anschlagspläne auf israelische nicht alleine für die Vernichtungsrhetorik des ge- Kreuzfahrtschiffe an der türkischen Südküste. genwärtigen Staatspräsidenten Mahmoud Ahma- Ebenfalls 2005 verkündete Abu Mus’ab al-Zarqawi dinedschad, sondern auch für einschlägige Äuße- (gestorben 2006), Anführer von „al-Qa’ida“ im rungen des „Revolutionsführers“ Ali Khamene’i Irak, dass er nicht zögern würde, Chemiewaffen (amtierend 1989–) sowie seines Vorgängers Ruhol- gegen Tel Aviv und andere israelische Städte lah Khomeini (amtierend 1979–1989). Aufgrund der einzusetzen.76 Zu den nach 2001 spektakulärsten Autorität des Amts des „Revolutionsführers“, das Angriffen auf Juden außer halb Israels zählen auf dem 1979 in der Verfassung verankerten Prin- die Anschläge auf ein Hotel und ein israelisches zip der „Herrschaftsgewalt des Rechtsgelehrten“ Verkehrsfl ugzeug in Mombasa 2002, die Anschlä- (wilayat al-faqih) basiert und über allen legislativen ge von Casablanca und Istanbul 2003 sowie die und exekutiven Gewalten steht, sind Khomeini wie Attentate auf dem Sinai 2004.77 Darüber hinaus auch sein Nachfolger Khamene’i die entscheiden- hatten „al-Qa’ida“-nahe Attentäter 2002 einen den Referenzquellen des staatlich propagierten Anschlag auf die Al-Ghriba-Synagoge im tune- iranischen Antisemitismus. Dessen Reichweite sischen Djerba verübt, an dessen Planung auch erstreckt sich aufgrund vielfältiger personeller und ein Deutscher beteiligt war.78 In Deutschland medialer Verbindungen auch nach Deutschland. selbst konnten die Sicherheitsbehörden im glei- chen Jahr Anschläge der Zarqawi-nahen „Tawhid- Ideologische Grundlagen des iranischen Gruppe“ auf jüdische Einrichtungen in Berlin und Staatsantisemitismus Düsseldorf vereiteln.79 Zweifellos basiert die als Khomeinismus bezeich- Staatlich propagierter Antisemitismus: nete iranische Variante islamistischer Herrschaft Die „Islamische Republik Iran“ auf einer totalitären Interpretation des Islam. So propagiert der Iran die Unteilbarkeit von Politik Der Beschluss des Deutschen Bundestages „Den und Religion und verfolgt die Einführung der Kampf gegen Antisemitismus verstärken, jüdisches Scharia als staatliches Gesetz. Das bedeutet gleich- Leben in Deutschland weiter fördern“, der Grund- zeitig, dass anderen Konfessionen in der Region lage dieses Berichts des unabhängigen Experten- kein eigenes Staatswesen zugebilligt wird.80 Dies kreises Antisemitismus ist, erwähnt explizit die gelte insbesondere für Israel, das der Iran als im antisemitischen Auslassungen des iranischen „Herz der muslimischen Staaten“81 positioniert Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad. Darüber betrachtet und deshalb dessen Zerschlagung be- hinaus sind Ahmadinedschads verbale Angriffe auf absichtigt. Der staatliche Antisemitismus ist aber Israel auch immer wieder Thema der deutschen nicht allein auf der Propagandaebene relevant. Medien, deshalb soll hier etwas ausführlicher auf Vielmehr unterstützt der Iran militärisch, fi nan- die Situation im Iran eingegangen werden (→ Kli- ziell und ideologisch die libanesische „Hizb Allah“ schees, Vorurteile, Ressentiments und Stereo- sowie die palästinensischen Organisationen typisierungen in den Medien). HAMAS und „Palästinensischer Islamischer Jihad“ (PIJ). Die Unterstützung dieser gewaltausübenden Als Träger des Antisemitismus agieren im islamis- Organisationen ist in der iranischen Verfassung tischen Spektrum nicht allein politische Organi- verankert, wo sie auch nicht als terroristisch sationen, sondern auch Staaten. Hierzu gehört vor bezeichnet werden, sondern als „islamische allem die „Islamische Republik Iran“ (IRI), die seit Bewegungen“.82

75 Aiman al-Zawahiri, Ritter unter dem Banner des Propheten, in: Kepel/ Milelli, Al-Qaida, S. 363 f. 76 Steinberg, Der nahe und der ferne Feind, S. 136 und 142. 77 Ebenda, S. 85, 85 f., 82 f., 128 f. 78 Der deutsche Staatsbürger G. wurde im Februar 2009 von einem französischen Gericht wegen Beihilfe zum Mord sowie Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu 18 Jahren Haft verurteilt. Die Welt vom 5. Februar 2009, http://www.welt.de/politik/article3155562/18-Jahre-Haft-fuer-deutschen-Djerba-Angeklagten.html [eingesehen am 18. Mai 2011]. 79 Steinberg, Der nahe und der ferne Feind, S. 222. 80 Wahied Wahdat-Hagh, Christenverfolgung in der Islamischen Republik. In: Ursula Spuler-Stegemann (Hrsg.) Feindbild Christentum im Islam, Freiburg 2009. 81 Ruhollah Khomeini, Sahife Noor, Band I. Khomeinis Reden sind in 19 Bänden unter dem Titel Sahife Noor („Die Seiten des Lichts“) in Teheran veröffentlicht worden. Ein US-amerikanisches islamisches Zentrum hat diese 19 Bände ins Internet gestellt (Persisch). Vgl. http://www.islamicecenter.com/ketaabkhaaneh/sahifeh_noor/sahifeh_noor_jeld_1_ khomeini_07.html#link2 [eingesehen am 6. September 2010]. 82 Yavuz Özoguz (Hrsg.), Verfassung der Islamischen Republik Iran, 2007, S.13.

49 Bestandsaufnahme

Antisemitismus der „Revolutionsführer“ aus den „Annalen der Geschichte getilgt werden“ Khomeini und Khamene’i müsse.89 In der Debatte ging es um die Frage, ob Ahmadinedschad lediglich die militärische Der khomeinistische Vernichtungsantisemitismus Besatzung des Westjordanlands und des Gaza- ist zentraler Bestandteil der Staatsdoktrin der Streifens kritisiert habe oder ob er die Existenz „Islamischen Republik Iran“, die fast sämtliche Israels negierte und zu dessen Zerstörung aufrief. antisemitischen und antizionistischen Stereotype Diese Frage kann fernab der Irritationen, die die aufweist. Einschlägig antisemitisch äußerte sich Übersetzung des persischsprachigen Originals Khomeini bereits in den 1960er-Jahren. So kriti- begleiteten – in den Agenturen war zunächst von sierte er am 13. Oktober 1964 die vermeintliche einem „Israel von der Landkarte fegen“ die Rede –, Passivität der Palästinenser und der arabischen als geklärt betrachtet werden. So belegen meh- Regierungen und forderte diese zum Krieg gegen rere Stellen seiner auf der Teheraner Konferenz Israel auf: „Ich frage die islamischen Regierungen, „Eine Welt ohne Zionismus“ gehaltenen Rede warum sie sich ums Öl streiten? Palästina ist in vom 26. Oktober 2005, die in einer Übersetzung Ungnade gefallen. Schmeißt die Juden raus aus des Sprachendienstes des Deutschen Bundestags Palästina. Ihr Unnützen.“ Er wirft den arabischen vorliegt, die Negierung des Existenzrechts des Regierungen vor, sich ums Öl zu streiten und Israel jüdischen Staates und das Ziel seiner Vernichtung. Handlungsspielraum zu lassen.83 Am 12. Septem- ber 1967, drei Monate nach dem Sechs-Tage-Krieg, So wertet Ahmadinedschad die „Gründung des diffamierte Khomeini Israel als „Materie der Regimes welches Jerusalem eroberte“ als einen Verderbtheit“, die „in das Herz der muslimischen „Brückenkopf der Welt der Arroganz im Herzen der Staaten“ eingepfl anzt worden sei.84 Diese antizionis- islamischen Welt“ und als „ein schweres Vergehen tische Rhetorik verstärkte er in den 1970er-Jahren, des hegemonialen Systems“, weshalb es für Israels als er forderte, Israel zu „entwurzeln“. So rief Existenz „weder Grund noch Zweck“ gebe. Daher Khomeini am 12. Februar 1975 zur „Zerstörung des würden es die Muslime nicht erlauben, dass „diese Zionismus“85 auf.86 Auch nach Gründung der „Isla- historische Feindschaft im Herzen der islamischen mischen Republik Iran“ bezeichnete er Israel als Welt existiert“. Stellvertretend für „die gesamte ein „Krebsgeschwür“ (29. September 1979).87 Diese islamische Gemeinschaft [umma]“ agiere „das pa- Diffamierungen werden von seinem Amtsnach- lästinensische Volk in seinem Kampf gegen das he- folger Khamene’i – so am 4. Juni 2010 – wiederholt: gemoniale System“. Der von Ahmadinedschad „für „Der Imam [Khomeini] sagte direkt, dass Israel ein Hunderte von Jahren“ vorherbestimmte „Schicksals- Krebsgeschwür ist. Nun, was macht man mit einem kampf“ der Palästinenser schließe auch eine Zwei- Krebsgeschwür? Gibt es dagegen ein Heilmittel staatenlösung aus, denn es könne nur ein Palästina außer das Geschwür herauszuschneiden?“88 geben, das auch Israel in den Grenzen von 1948 umfasst: „Die Palästinafrage ist keineswegs gelöst. Die antisemitische Rhetorik des Sie wird erst dann gelöst sein, wenn das gesamte Pa- Staatspräsidenten Ahmadinedschad lästina unter einer Regierung steht, die zum palästi- nensischen Volk gehört.“90 Unter Bezug auf ein Zitat Parallel zu den vorgenannten antisemitischen von Khomeini ruft Ahmadinedschad schließlich zur Äußerungen des „Revolutionsführers“ Khamene’i Zerstörung Israels auf: „Unser lieber Imam [Khomei- war es insbesondere die Vernichtungsrhetorik des ni] sagte auch: Das Regime, das Jerusalem besetzt iranischen Präsidenten Ahmadinedschad, die in hält, muss aus den Annalen der Geschichte [safha-yi den deutschen Medien eine Debatte entfachte. Dies rōzgār] getilgt werden. In diesem Satz steckt viel betraf seine 2005 getätigte Äußerung, dass der Weisheit. Das Palästina-Problem ist keine Frage, bei Staat Israel keine Existenzberechtigung habe und welcher man in einem Teil Kompromisse eingehen

83 http://www.islamicecenter.com/ketaabkhaaneh/sahifeh_noor/sahifeh_noor_jeld_1_khomeini_05.html#link2 [eingesehen am 18. Mai 2011]. 84 Ruhollah Khomeini, Sahife Noor, Band I (Persisch), vgl. http://www.islamicecenter.com/ketaabkhaaneh/sahifeh_noor/ sahifeh_noor_jeld_1_khomeini_07.html#link2 [eingesehen am 6. September 2010]. 85 Hierzu: Monika Schwarz-Friesel, „Ich habe gar nichts gegen Juden!“. Der „legitime“ Antisemitismus der Mitte, in: Schwarz-Friesel/Friesel/Reinharz, Aktueller Antisemitismus, S. 27–50, hier: S. 38. 86 Ruhollah Khomeini, Sahife Noor, Band I (Persisch), vgl. http://www.islamicecenter.com/ketaabkhaaneh/sahifeh_noor/ sahifeh_noor_jeld_1_khomeini_09.html#link2 [eingesehen am 6. September 2010]. 87 Ruhollah Khomeini, Sahife Noor, Band IX (Persisch), http://www.islamicecenter.com/ketaabkhaaneh/sahifeh_noor/ sahifeh_noor_jeld_9_khomeini_12.html#link2 [eingesehen am 6. September 2010]. 88 Ayatollah Khamene’i, „Freitagspredigt“ vom 4. Juni 2010 (Persisch), vgl. http://www.leader.ir/langs/fa/index. php?p=bayanat&id=6893 [eingesehen am 6. September 2010]. 89 Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Die umstrittene Rede Ahmadinedschads vom 26. Oktober 2005 in Teheran; Sprachendienst des deutschen Bundestages, 22. April 2008, http://www.bpb.de/popup/popup_druckversion.html?guid=MK6BD2 [eingesehen am 5. Juni 2011]. 90 Ebenda.

50 Bestandsaufnahme könnte.“ Für dieses Ziel fordert er Kämpfer auf, „bald sind, behandeln sie ihn ganz anders als sonst. [...] den Schandfleck aus dem Schoß der islamischen Für ihn gibt es keine Meinungsfreiheit.“98 Ahma- Welt zu beseitigen“, propagiert die Machbarkeit dinedschad bezeichnete 2008 den Holocaust als der Zerschlagung Israels und prophezeit, dass „die „eine falsche Behauptung, ein Märchen“, das 1948 Eliminierung des zionistischen Regimes glatt und als Vorwand für die Gründung Israels gedient hät- einfach sein“ werde.91 te.99 Zudem erklärt er die Täterschaft des Holocaust für unbewiesen und ordnet sechs Millionen syste- Holocaustleugnung matisch ermordete Juden den Toten des Zweiten Weltkriegs zu.100 Bereits zu Beginn der iranischen Revolution 1978/79 gehörten einfl ussreiche Holocaustleugner Der „Al-Quds-Tag“ wie Robert Faurisson92 zu Gesprächspartnern der staatlichen iranischen Medien, bevor die Holo- Seit 1979 fi ndet im Iran und im Libanon wie auch in caustleugnung zur offiziellen Politik erhoben einigen europäischen Ländern der von Khomeini wurde. Einer der Höhepunkte war die Holocaust- initiierte „Al-Quds“-Tag statt, auf dem zur „Befrei- leugnungskonferenz im Dezember 2006,93 an der ung“ der auch für Muslime heiligen Stadt Al-Quds rechtsextremistische Revisionisten und Holocaust- (Arabisch für Jerusalem) von „zionistischer Besat- leugner wie Friedrich Töben,94 Herbert Schaller,95 zung“ aufgerufen wird. In Berlin wird der Al-Quds- Robert Faurisson96 sowie Michelle Renouf97 teil- Tag von Khomeini-Anhängern, insbesondere nahmen. So wiederholte Schaller in Teheran, dass regimetreuen Iranern und Anhängern der „Hizb der „Holocaust bisher noch nicht ordnungsgemäß Allah“, organisiert. Dieser Tag propagiert nicht bewiesen“ sei. Das Verhältnis zwischen den Rechts- allein die Zerstörung Israels, sondern koppelt auch extremisten und dem Iran ist hierbei wechselsei- das islamistische iranische Herrschafts modell an tig: Während für die iranischen Islamisten die die „Befreiung Jerusalems“. Entsprechend aggres- europäischen Rechtsextremisten ideologische siv ist die antisemitische Propaganda. So verkün- Vorbildfunktion haben, legitimieren die Rechts- dete Ahmadinedschad am 3. September 2010 extremisten ihre Auffassungen wiederum mit erneut den Untergang des „künstlichen Gebildes“ entsprechenden Holocaustleugnungskonferenzen. Israel: „Der Al-Quds-Tag muss eine Arena für den Kampf gegen den Teufel und ebenfalls der Tag der Was die Holocaustleugnung auf iranischer Seite Reinheit der Gesellschaft von Zionisten sein.“101 angeht, liegen einschlägige Aussagen sowohl vom Auch die Revolutionsgardisten (Pasdaran-e en- Staatspräsidenten Ahmadinedschad als auch vom qelab), die wichtigste Abteilung der iranischen „Revolutionsführer“ Khamene’i vor. Mit Bezug auf Armee, beschwören unzweideutig die Vernich- Roger Garaudy beklagte Khamene’i am 12. Mai 2000 tung Israels: „Der Al-Quds-Tag ist ein prakti- die Sanktionierung der Holocaustleugnung in scher Schritt zur Auslöschung und Zerstörung Europa: „Wenn schon jemand aufsteht und wie dieses Krebsgeschwürs. Ohne Zweifel ist das der Franzose einige Bücher gegen den Zionismus Schicksal des künst lichen und unmenschlichen schreibt und es auch als eine Unwahrheit bezeich- zionistischen Regimes der Niedergang und die net, dass Juden in Brennöfen verbrannt worden Vernichtung.“102

91 Ebenda, „Ist es denn möglich, dass wir eine Welt ohne Amerika und Zionismus erleben können? Aber Ihr [Zuhörer], Ihr wisst es am besten, dass es möglich und machbar ist, diese Parole und dieses Ziel zu verwirklichen.“ 92 Wolfgang Benz (Hrsg.), Das Handbuch des Antisemitismus, Band 2, Berlin 2009, S. 222 f. 93 Siehe dazu: Wolfgang Benz/Juliane Wetzel, Antisemitismus und radikaler Islamismus, in: dies., Antisemitismus und radikaler Islamismus, S. 9–23, hier: S. 10. 94 Siehe auch das Gespräch zwischen Ramin und Töben in deutscher Sprache: http://www.youtube.com/watch?v=zQ- FHFtFTa8&feature=related [eingesehen am 10. August 2010]; Töben ist Leiter des australischen Adelaide Instituts. Dieses Institut propagiert Holocaustleugnung und den Antisemitismus. 95 Siehe die Teheraner Rede von Dr. Schaller auf Deutsch: http://www.youtube.com/watch?v=F_IXY4dGJBA&feature=related [eingesehen am 10. August 2010]; Schaller hat sich als österreichischer Anwalt von Rechtsradikalen einen Namen gemacht. 96 Siehe die Rede von Faurisson: http://www.youtube.com/watch?v=-dJ1xGkDV8s&feature=related [eingesehen am 6. September 2010]; Faurisson ist ein französischer Holocaustleugner. 97 Zu Michelle Renouf: http://www.youtube.com/watch?v=VIMn6CwlT-c&feature=related [eingesehen am 6. September 2010]; Renouf ist eine australische Holocaustleugnerin. 98 Zum Beispiel die iranische Zeitung Partosokhan vom 21. Februar 2007. 99 Rede zum Jerusalem-Tag. Ahmadinedschad nennt Holocaust ein „Märchen“, http://www.spiegel.de/politik/ausland/ 0,1518,649831,00.html [eingesehen am 30. September 2010]. 100 Siehe dazu Interviews mit Ahmadinedschad mit englischer Übersetzung: 19. September 2006, http://www.youtube.com/ watch?v=ykd-syzZ4ZY&feature=related; Interview vom 23. September 2008, http://www.youtube.com/watch?v=qy2aDpvF1- M&feature=related; http://www.welt.de/politik/article2491158/Wie-Ahmadinedschad-US-Buergern-die-Welt-erklaert.html [alle eingesehen am 28. Juli 2011].

51 Bestandsaufnahme

In Berlin belegen die alljährlichen Demonstratio- Republik Iran“ die – von der dortigen staatlichen nen des Al-Quds-Tags den Einfl uss der „Islamischen „Islamischen Propagandaorganisation“ edierten – Republik Iran“ auf die hier lebenden Schiiten. Seit „Protokolle der Weisen von Zion“ oder Henry Fords Mitte der 1980er-Jahre wird der Al-Quds-Tag in „The International Jew. The World’s Foremost Deutschland von prokhomeinistischen irani- Problem“ auslagen. schen und anderen muslimischen Organisatio- nen durchgeführt. Zu den frühen Organisatoren Fazit gehörte Kazem Darabi, der als der lokale Draht- zieher eines Attentats auf kurdische Iraner (Ber- Der islamistische Antisemitismus zeichnet sich liner „Mykonos-Attentat“) am 17. September 1992 vor allem dadurch aus, dass seine Anhänger den überführt wurde. Von etwa 1984 bis 2005 gab es Islam nicht ausschließlich als eine Religion, son- noch Szenen wie in Teheran, wo „Israel den Tod“ dern als ein Herrschaftssystem und eine Gesell- skandiert und israelische sowie amerikanische schaftsordnung verstehen. Dies unterscheidet die Fahnen verbrannt wurden. Anhänger der in Deutschland als extremistisch betrachteten Ideologie des Islamismus von der Seit Oktober 2005 dürfen die Al-Quds-Demonstra- Religion des Islam und von nichtextremistisch tionen nur unter Aufl agen durchgeführt werden; gesinnten Muslimen. Für diese islamistisch aus- seitdem sind offene Gewaltaufrufe zurückgegan- gerichteten Gruppen und Staaten ist Antisemitis- gen. Als Organisatoren agierten proiranische mus allerdings ein konstitutiver Bestandteil ihrer Islamisten sowie die „Islamische Gemeinde der Ideologie. Dies gilt unabhängig von den Unter- Iraner in Berlin-Brandenburg e. V.“.103 Auch das schieden ihrer jeweiligen ideologischen Ausrich- „Islamische Zentrum Hamburg“ (IZH) war bis tung und der von ihnen verwendeten Antisemi- 2004 regelmäßig Mitorganisator. Inzwischen tismusformen. Erweitert um häufi g „islamisch“ ist die in Berlin ansässige Quds-Arbeitsgruppe104 begründete Stereotype – etwa den Vorwurf einer als eine der Hauptorganisatoren aktiv, die ideo- jüdischen Verschwörung gegen den Islam – fi n- logisch von der deutschsprachigen staatlichen den sich bei Islamisten sämt liche Ausprägungen Nachrichtenagentur wie auch den persisch- und des religiösen, politischen und sozialen Antisemi- arabischsprachigen iranischen Medien beeinfl usst tismus wie auch des sekundären Antisemitismus werden. Teilnehmer des Al-Quds-Tags in Deutsch- in Form der Holocaustleugnung. land sind proiranische Aktivisten sowie Anhänger der libanesischen „Hizb Allah“. Hierbei tritt das Die verhältnismäßig schwach organisierten und von Yavuz Özoguz und seinem Bruder Gürhan weitgehend nicht offen agierenden islamistischen Özoguz betriebene deutschsprachige Internet- Gruppen in Deutschland wirken hauptsächlich portal Muslim-Markt als mediale Plattform zur im Ideologietransfer, der – wie der staatlich Mobilisierung der Demonstranten auf. Seit der Al- organisierte Antisemitismus Irans – vor allem Quds-Tag in der Öffentlichkeit kritisch begleitet über moderne Kommunikationsmittel erfolgt. wird, hat sich die in Berlin stattfi ndende Demons- Einschlägige Reaktionen auf Demonstrationen tration geändert. Es werden keine Fahnen mehr zum Al-Quds-Tag, zum Libanonkrieg 2006 oder verbrannt, und die Teilnehmerzahl ist auf wenige zum Gazakrieg 2009 zeigen, dass dieser Ideologie- Hundert zurückgegangen. transfer nicht allein zu mobilisieren vermag, sondern dass die antisemitischen Deutungsmuster Antisemitische Propaganda auf internationalen der Islamisten komplexe politische Sachverhalte Buchmessen in Deutschland erklären und sich hier insbesondere bei arabisch- und türkischstämmigen Jugendlichen verfestigen. Der Iran exportiert seine antisemitische Ideologie Jüngste Radikalisierungsverläufe in Deutschland auch über internationale Buchmessen in Deutsch- aufgewachsener Jihadisten belegen zudem, dass land sowie über iranische Buchläden in Europa. So Antisemitismus auch im transnationalen terroris- lassen sich über iranische Buchläden in Deutsch- tischen Spektrum eine Rolle spielt. land problemlos die „Protokolle der Weisen von Zion“ in persischer Übersetzung bestellen. Im Jahr Im Zentrum der Agenden Irans und islamistischer 2005 kam es auf der Frankfurter Buchmesse zu Gruppen steht vor allem die Delegitimierung des einem Eklat, als am Bücherstand der „Islamischen Existenzrechts Israels, die sowohl mit religiös-

101 Rede von Ahmadinedschad von 3. September 2010, veröffentlicht im Dokumentationszentrum der Islamischen Revolution (gesichtet 28. Juli 2011), http://www.irdc.ir/fa/content/10704/print.aspx روز ﻗﺪس ﻫﻢ ﺑﺎﯾﺪ ﻋﺮﺻﻪ ای ﺑﺮای ﻣﺒﺎرزه ﺑﺎ ﺷﯿﻄﺎن و ﻫﻤﭽﻨﯿﻦ روز ﭘﺎﮐﯿﺰﮔﯽ ﻫﺎی ﺟﺎﻣﻌﻪ ﺑﴩی از ﺻﻬﯿﻮﻧﯿﺴﺖﻫﺎ ﺑﺎﺷﺪ

102 Farsnews, 31. August 2010, http://www.farsnews.com/newstext.php?nn=8906090554 [eingesehen am 28. Juli 2011]. 103 Siehe: Kleine Anfrage des Abgeordneten Özcan Mutlu (Bündnis 90/Die Grünen) vom 6. Oktober 2005, Bundestags- drucksache 15/872. 104 http://www.qudstag.de/index.html [eingesehen am 28. April 2011].

52 Bestandsaufnahme politischen antisemitischen Stereotypen als auch dass die Zerstörung Israels auch bei den transnati- mit dem Topos des „Raubes Palästinas“ begründet onalen Jihadisten inzwischen einen hohen Stellen- wird. Entsprechend propagieren sie – mit Aus- wert besitzt. In der Gesamtbetrachtung erweisen nahme der „Millî Görüş“ – Gewaltanwendung sich der „Vernichtungsantizionismus“ von gegen Israel und seine Staatsbürger und verlan- HAMAS und „Hizb Allah“ sowie der „eliminatori- gen die Auslöschung des jüdischen Staates. Die in sche Antisemitismus“ von „al-Qa’ida“ als effektive Deutschland verbotene HuT und das Terrornetz- und schwer zu bekämpfende Instrumente der werk „al-Qa’ida“ fordern darüber hinaus dazu auf, Mobilisierung. Dies gilt sowohl für die „Widerstands“- Juden weltweit zu bekämpfen und zu töten. Ideologie von HAMAS und „Hizb Allah“, die sich insbesondere bei militärischen Auseinander- Welches Ausmaß staatlich propagierter Antisemi- setzungen mit Israel mehrfach als hochgradig tismus besitzt, zeigt das Beispiel der „Islamischen mobilisierend erwiesen hat, als auch für die – wie Republik Iran“, wo eine hauptsächlich gegen Israel zahlreiche Anschläge auf jüdische Einrichtungen gerichtete Judenfeindschaft seit 1979 Staatsdoktrin außerhalb Israels zeigen – exzessive Judenfeind- ist. Maßgeblich sind hier vor allem die vom Präsi- schaft aus dem Umfeld von „al-Qa’ida“. denten Ahmadinedschad wie auch vom „Revolu- tionsführer“ Khameine’i mehrfach propagierte Leugnung des Existenzrechts Israels sowie unzwei- deutige Aufforderungen zur Zerstörung des jüdi- schen Staates. Diese Vernichtungsrhetorik wird auf der Handlungsebene fl ankiert von einer massiven fi nanziellen und militärischen Unterstützung für die HAMAS und „Hizb Allah“, die gleichfalls Israel zu eliminieren suchen. Darüber hinaus organisiert der Iran einschlägige antisemitische Veranstaltun- gen und Holocaustleugnungskonferenzen, initiiert und unterstützt weltweit Demonstrationen zum – die Zerstörung Israels propagierenden – alljähr- lichen Al-Quds-Tag und verbreitet antisemitische Propaganda auf deutschen Buchmessen.

Der sowohl vom Iran als auch von der HAMAS und „Hizb Allah“ propagierte „Vernichtungsantizio- nismus“ basiert vor allem auf der von ihnen be- worbenen Ideologie des „Widerstands“ (Arabisch „Muqawama“), deren eliminatorischer Charakter weit über vor 1945 gebräuchliche Antisemitismus- formen hinausreicht und die selbst bei Angriffen auf Israel als legitim gilt. Verbreitet wird dieser „Vernichtungsantizionismus“ mittels einer aggressiven antiisraelischen Propaganda irani- scher Medien wie auch des in Deutschland zu empfangenden „Hizb-Allah“-Senders „Al-Manar“. Dessen militärisch ausgerichtete Propaganda ver- herrlicht offen Anschläge und Selbstmordattentate und bewirbt unzweideutig die Auslöschung Israels.

HuT und „al-Qa’ida“, deren Agenden sowohl die Zerstörung Israels als auch die weltweite Tötung von Juden propagieren, stehen für einen „elimina- torischen Antisemitismus“. Die vielfachen Bezüge „al-Qa’idas“ auf den „Palästina-Konfl ikt“ zeigen,

53 Rubrik

Antisemitismus III. in der pluralen Gesellschaft

1. Antisemitische Einstellungen Verschiedentlich sind Versuche unternommen worden, aus der Kombination von Antworten auf in Deutschland – Befunde eine Reihe einschlägiger Fragen (sogenannte der Meinungsforschung Items) Prozentsätze antisemitischer Einstellungen zu berechnen. In solche Berechnungen gehen je- doch immer bestimmte Einschätzungen und Wer- Vorbemerkung tungen der analysierenden Wissenschaftler ein.1

Die Bemühungen, antisemitische Einstellungen Aus alledem ergibt sich, dass Aussagen wie in der Bevölkerung mit Hilfe von Meinungsumfra- „15 Prozent der Deutschen sind antisemitisch“ gen zu erfassen, sind methodisch mit einer Reihe oder „der Antisemitismus hat in den letzten Jah- von Problemen behaftet. Die Einschätzung der ren von 15 auf 20 Prozent zugenommen“ letztlich Entwicklung antisemitischer Einstellungen über Einschätzungen sind, die auf bestimmten Inter- einen längeren Zeitraum wird vor allem durch den pretationen des vorhandenen Zahlenmaterials Mangel an aktuellen Langzeituntersuchungen (mit beruhen, über dessen Erhebung mitunter metho- Ausnahme der unten zitierten Studie „Gruppen- dische Kritik durchaus angebracht sein kann. bezogene Menschenfeindlichkeit“ der Universität Bielefeld und der im Auftrag der Friedrich-Ebert- Andererseits zeichnen die vorhandenen Um- Stiftung erstellten Studien von Brähler und Decker) fragen ein weitgehend übereinstimmendes erschwert, während die vorliegenden Befragungen Bild hinsichtlich der Größenordnungen des aufgrund von Unterschieden bei Erhebungs- Phänomens und lassen durchaus in die gleiche methoden, dem Aufbau des Fragebogens, der Richtung weisende Veränderungen erkennen. Formulierung der Fragen etc. nicht immer im Insgesamt ist festzuhalten, dass Umfragen zum vollen Umfang kompatibel sind. Da angesichts Thema Antisemitismus eher dazu geeignet sind, einer allgemeinen Ächtung des Antisemitismus Trends aufzuzeigen, als präzise Zahlen für einen eine einfache Messung nach dem Muster „Wür- bestimmten Stichtag zu liefern. den Sie sich selbst auf einer Skala von 1 bis 5 als Antisemiten einstufen?“ nicht möglich ist, ver- Die wichtigsten Umfrageergebnisse suchen Meinungsforscher, durch die Vorlage von Statements, die typische antisemitische Inhalte Die bisher aussagekräftigsten Befragungen zum transportieren („Juden haben zu viel Einfluss“), Stand und zur Entwicklung des Antisemitismus die Einstellung der Befragten zu ermitteln. in Deutschland während der letzten Jahre hat das Projekt „Gruppenbezogene Menschenfeindlich- Möglicherweise bewirkt die Diskussion solcher keit“ der Universität Bielefeld vorgelegt. Es handelt Umfragen in der Öffentlichkeit auf Dauer so etwas sich um eine auf zehn Jahre befristete Langzeit- wie einen Resistenz-Effekt, indem die Interviewten studie, die mittlerweile die Jahre 2001 bis 2010 in der Fragesituation die (gesellschaftlich überwie- umfasst und auf der Basis von Telefonumfragen mit gend nicht akzeptierte) antisemitische Einstellung einer angestrebten Zahl von 2.000 bis 3.000 Perso- zu verbergen suchen. Solche Zurückhaltungen und nen (die tatsächliche Zahl lag in den letzten Jahren hieraus entstehende Verzerrungen sind in der Mei- allerdings unter 1.800) durchgeführt wurde. Die nungsforschung ebenso bekannt wie der Umstand, für unseren Zusammenhang wesentlichen Ergeb- dass die Abfolge der Fragen das Antwortverhalten nisse werden in der Expertise von Andreas Zick und steuern kann. Beate Küpper referiert.2

1 Dabei geht man davon aus, dass nicht jeder, der einem der Items ganz oder teilweise zustimmt, ein Antisemit sein muss. Es besteht auch immer die Möglichkeit der Fehlinterpretation oder des Missverständnisses einzelner Statements. Erst aus der Fülle beziehungs- weise Summe von Zustimmungen zu ihnen leiten die Sozialwissenschaften das Vorhandensein einer antisemitischen Einstellung ab. 2 Andreas Zick/Beate Küpper, Antisemitische Mentalitäten. Bericht über Ergebnisse des Forschungsprojekts Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Deutschland und Europa, Universität Bielefeld 2010/11 (Expertise für den Expertenkreis); zu den Erhebungs- zahlen siehe S. 15, http://www.bmi.bund.de/DE/Themen/PolitikGesellschaft/PolitBildGesellZusammen/Expertenkreis/experten- kreis_node.html. Den Mitgliedern der Kommission ist bekannt, dass an den gesellschaftspolitischen Deutungen des empirischen Materials beziehungsweise an den Items für Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie des Bielefelder GMF-Projekts innerhalb der

54 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Danach stimmte folgender Prozentsatz der Befragten eher oder voll und ganz diesen Aussagen zu (siehe Tabelle 1):3

Tabelle 1: Prozentsatz der Befragten, die den folgenden Aussagen eher oder voll und ganz zustimmen

Antisemitische Straftaten 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 „Juden haben in Deutsch- 21,7 23,7 21,5 20,9 14,1 15,6 14,4 16,5 16,5 land zu viel Einfl uss.“ „Durch ihr Verhalten sind 16,6 18,1 17,3 12,9 9,9 12,8 9,4 10,7 12,6 die Juden an ihren Verfol- gungen mitschuldig.“4 „Viele Juden versuchen, 51,8 54,8 45,1 44,9 41,5 32,2 38,3 37,4 39,5 aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen.“ „Ich ärgere mich darüber, 67,7 66,7 64,1 67,5 dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden.“ „Ich fi nde es gut, dass 69,9 68,3 64,0 61,9 58,4 63,0 wieder mehr Juden in Deutschland leben.“ „Bei der Politik, die Israel 44,4 29,9 32,8 33,9 38,4 macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat.“ „Israel führt einen 68,4 41,9 49,2 51,1 57,3 Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser.“ „Was der Staat Israel heute 51,2 39,9 47,9 40,5 mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben.“

Die wichtigsten Ergebnisse dieser Umfragen lassen ■ Jeder achte Befragte (beziehungsweise jeder sich wie folgt zusammenfassen: zehnte in 2008 und 2009) stimmt der Aussage zu, dass Juden an ihren Verfolgungen eine Nach einem deutlichen Rückgang antisemitischer Mitschuld trügen. Einstellungen in den Jahren 2004 bis 2006 ist seit 2007/2008 wiederum ein Anstieg zu beobachten, Während diese Antworten auf den ersten Blick tra- der allerdings bisher nicht das Niveau von 2002 ditionelle antisemitische Einstellungen erkennen erreicht hat. lassen, zeigt sich, dass das Phänomen des „sekun- dären“ Antisemitismus – also Versuche, die histo- Für den heutigen Stand ist vor allem das Folgende rische Verantwortung für den Holocaust durch von Bedeutung: Vorwürfe, Verallgemeinerungen und unangemes- sene Vergleiche zu relativieren – ganz offenbar ■ Jeder sechste Deutsche stimmt der Aussage wesentlich weiter verbreitet ist: „Juden haben in Deutschland zu viel Einfl uss“ zu. Andererseits: Über 60 Prozent begrüßen ■ Fast 40 Prozent der Befragten unterstellen, 2008, dass wieder mehr Juden in Deutsch- dass Juden versuchten, aus der Verfolgung land leben. in der Vergangenheit Vorteile zu ziehen.

Sozialwissenschaften mitunter Kritik geübt wird. Das in Bielefeld zusammengetragene Datenmaterial zur Messung von antisemiti- schen Einstellungen, das hier vorgestellt wird, ist jedoch von dieser Kritik unberührt. 3 Diese Fragen wurden zur besseren Lesbarkeit vom Expertenkreis nach dem Ordnungsprinzip zusammengefasst. Da nicht in jedem Jahr alle Fragen gestellt wurden, erscheinen in der Zusammenstellung freie Felder. 4 Die von Wilhelm Heitmeyer genannten Zahlen für 2004 und 2007 weichen von diesen Angaben ab, wahrscheinlich handelt es sich dort um eine Vertauschung der Zahlen; Wilhelm Heitmeyer/Jürgen Mansel, Gesellschaftliche Entwicklung und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit: Unübersichtliche Perspektiven, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 6, Frankfurt a. M. 2008, S. 13–35, hier: S. 27.

55 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

■ Mehr als ein Drittel der Befragten äußert ange- auf „die Juden“, aber auch bei dem Vorwurf, der sichts der „Politik, die Israel macht“, Verständ- Holocaust werde zu stark betont beziehungsweise nis dafür, „dass man etwas gegen Juden hat“, instrumentalisiert, in ganz Europa ein recht hohes übertragen also ihre israelkritische Einstel- Zustimmungsniveau herrscht. Mag man dieses lung schlichtweg auf „die Juden“. Phänomen in Ländern wie Ungarn und Polen einer antisemitisch aufgeladenen Opfer-Konkurrenz ■ Über 40 Prozent (2008) stimmen einer Gleich- zurechnen, so sprengen solche relativ hohen Werte setzung der israelischen Politik gegenüber den für Länder wie die Schweiz, Spanien und Portugal Palästinensern mit der nationalsozialistischen den Erklärungsrahmen nationaler Opfer- oder Judenverfolgung zu. Über die Hälfte unter- Täterdiskurse. stützt die Aussage, Israel führe einen „Vernich- tungskrieg“ gegen die Palästinenser. Dabei ist Ein ähnliches Bild über das Ausmaß antisemi- jedoch anzumerken, dass der Begriff des „Ver- tischer Einstellungen liefert die Allbus-Studie, nichtungskriegs“, der sich in den letzten Jahren die 1996 und 2006 den Fokus auf „Einstellungen immer mehr zur Kennzeichnung der Krieg- gegenüber ethnischen Gruppen in Deutschland“ führung des nationalsozialistischen Deutsch- legte und in diesem Zusammenhang die Wahrneh- lands durchgesetzt hat, möglicherweise von mung und Akzeptanz von Juden erfasste (persön- einem Teil der Befragten nicht primär mit der liche Interviews mit einer angestrebten Zahl von Geschichte NS-Deutschlands verbunden wird. 3.500 Befragten).5 Die Allbus-Werte deuten auf eine Zunahme antisemitischer Einstellungen in Die immer wieder anzutreffende Vorstellung, dass diesem Zeitraum hin (ein Trend, der sich bei der die weitverbreitete Kritik an der Politik Israels ein jährlich vorgenommenen Bielefelder Untersu- antisemitisch aufgeladener Entlastungsdiskurs ist, chung differenzierter darstellt; siehe Tabelle 2). der spezifi sch deutsche Ursachen hat (Stichwort „Täter-Opfer-Umkehr“), erscheint jedoch fragwür- Die europaweiten Befragungen der in New York dig, wenn man diese Umfragewerte in einen euro- ansässigen Anti-Defamation League (Telefon- päischen Vergleich stellt. Hier zeigt sich nämlich, umfragen mit der allerdings relativ schmalen dass sowohl bei der Übertragung von Israel-Kritik Basis von 500 Befragten pro Land)6 ergeben zu

Tabelle 2: Fragen zur Ermittlung antisemitischer Einstellungen (alle Angaben in Prozent)

(Antwortskala von 1–7: 1=vollkommene Ablehnung, 7=vollkommene Zustimmung).

1. „Juden haben auf der Welt zu viel Einfl uss“

1 2 3 4 5 6 7 keine Angabe Juden 1996 30,2 13,1 9,8 22,0 9,2 6,4 7,9 1,5 2006 25,8 9,8 8,5 14,1 10,9 7,9 9,7 13,2

Rechnet man die zustimmenden Äußerungen (5–7) zusammen, so kommt man für 1996 auf 23,4 und für 2006 auf 28,5 Prozent.

2. „Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen und die Deutschen dafür zahlen zu lassen“ 1 2 3 4 5 6 7 keine Angabe Juden 1996 14.4 10,0 8,6 22,5 13,1 10,9 19,2 1,2 2006 12,6 10,2 7,3 14,1 11,7 12,6 19,7 11,7

Die zustimmenden Äußerungen addieren sich für 1996 auf 43,3, für 2006 auf 44,0 Prozent.

3. „Durch ihr Verhalten sind die Juden an ihren Verfolgungen nicht ganz unschuldig“ 1 2 3 4 5 6 7 keine Angabe Juden 1996 42,7 14,5 7,8 17,8 6,96 3,9 4,7 1,7 2006 39,2 12,2 6,0 12,2 7,1 3,8 5,7 13,8

Daraus ergeben sich für 1996 15,5, für 2006 16,6 Prozent befürwortende Aussagen.

56 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft dem Statement „Juden haben zuviel Macht im Zustimmung fand das Statement „Juden reden im- Geschäftsleben“ für Deutschland folgende zustim- mer noch zu viel über das, was ihnen während des mende Werte: siehe Tabelle 3. Holocausts widerfahren ist“ (siehe Tabelle 5).

Auf das Statement „Juden haben zuviel Macht auf Eine im Rhythmus von zwei Jahren durchgeführte den internationalen Finanzmärkten“ antworteten Untersuchung von Oliver Decker und Elmar Brähler positiv: siehe Tabelle 4. kam auf der Basis von 2.000 bis 2.500 Befragungen in den Jahren 2002 bis 2010 zu folgenden Ergebnis- sen (siehe Tabelle 6).7

Tabelle 3: Zustimmende Werte zum Statement „Juden haben zuviel Macht im Geschäftsleben“

2002 2004 2005 2007 2009 32 % 24 % 20 % 21 % 21 %

Tabelle 4: Zustimmende Werte zum Statement „Juden haben zuviel Macht auf den internationalen Finanzmärkten“

2005 2007 2009 24 % 25 % 22 %

Tabelle 5: Zustimmende Werte zum Statement „Juden reden immer noch zu viel über das, was ihnen während des Holocausts widerfahren ist“

2002 2004 2005 2007 2009 58 % 56 % 48 % 45 % 45 %

Tabelle 6: Reaktionen auf das Statement „Auch heute noch ist der Einfl uss der Juden zu groß“8 (in Prozent)

2002 2004 2006 2008 2010 Lehne völlig ab 40,0 35,1 36,3 33,9 Lehne überwiegend ab 23,5 21,8 24 Stimme teils zu, teils nicht zu 32,0 23,6 24,1 24,9 Stimme überwiegend zu 28,0 18,9 13,3 12,9 12,5 Stimme voll und ganz zu 4,6 5 4,7 Zustimmungswerte in % 17,8 17,8 17,2 (Ost/West) (14,0/31,0) (11,6/21,0) (9,2/20,1) (15,4/18,5) (15,1/17,7)

5 Veröffentlicht in: Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften ALLBUS 1996 sowie Datenhandbuch ALLBUS 2006. Das ALLBUS-Programm wurde 1980–86, 1991 von der DFG fi nanziert. Seit 1987 tragen es im Übrigen Bund und Länder über die GESIS (Gesellschaft sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen). ALLBUS wird vom ZUMA (Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen e. V., Mannheim) und Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung (Köln) in Zusammenarbeit mit dem ALLBUS-Ausschuss realisiert. Die Daten sind beim Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung (Köln) erhältlich. Die vorgenann- ten Institutionen und Personen tragen keine Verantwortung für die Verwendung der Daten in diesem Beitrag. 6 Anti-Defamation League (Hrsg.), European Attitudes Toward Jews, Israel and the Palestinian-Israeli Confl ict, June 2002; Anti- Defamation League (Hrsg.), European Attitudes Toward Jews: A Five Country Survey, October 2002; Anti-Defamation League (Hrsg.), Attitudes Toward Jews, Israel and the Palestinian-Israeli Confl ict in Ten European Countries, April 2004; Anti-Defamation League (Hrsg.), Attitudes Toward Jews in Twelve European Countries, May 2005; Anti-Defamation League (Hrsg.), Attitudes Toward Jews and the Middle East in Five European Countries, May 2007; Anti-Defamation League (Hrsg.), Attitudes Toward Jews and the Middle East in Six European Countries, July 2007; Anti-Defamation League (Hrsg.), Attitudes Toward Jews in Seven European Countries February 2009, http://www.adl.org/main_Anti_Semitism_International/Default.htm [alle eingesehen am 5. Mai 2011]. 7 Bezüglich der von Decker und Brähler genutzten Items zur Erfassung von Chauvinismus oder Fremdenfeindlichkeit wird inner- halb der Sozialwissenschaften Kritik geübt. Demgegenüber beschränken wir uns darauf, aus den Studien dieser Autoren einige Zustimmungswerte für antisemitische Einstellungen zu referieren. Die dabei genutzten Items können als aussagekräftige Erhe- bungsinstrumente gelten. 8 Quelle 2002: Elmar Brähler/Oskar Niedermayer, Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung im April 2002, Berlin/Leipzig 2002, S. 9 f.; Quelle 2004: Oliver Decker/Elmar Brähler, Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 42 (2005), S. 8–17, hier: S. 13; Quelle 2006: Oliver Decker/Elmar Brähler, Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellung und ihre Einfl ussfaktoren in Deutschland, Berlin 2006, S. 33; Quelle 2008: Oliver Decker/Elmar Brähler, Bewegung in der Mitte. Rechts- extreme Einstellungen in Deutschland 2008 mit einem Vergleich von 2002 bis 2008 und der Bundesländer, Berlin 2008, S. 17; Oliver Decker/Elmar Brähler u. a., Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010, Berlin 2010, S. 73, 79.

57 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Die Umfragen von Brähler/Decker sowie der ADL Demgegenüber hat das Bielefelder Team aufgrund bestätigen die Bielefelder Erkenntnisse, dass das von zwei Fragen (Einfl uss, Mitschuld an der Verfol- Ausmaß des Antisemitismus 2009/2010 insgesamt gung) einen Index entwickelt, der sich am Grad der etwas geringer erscheint als 2002. Aufgrund der Zustimmung (auf einer vierstufi gen Skala) bemisst. geringeren Frequenz und der wesentlich schmale- Dieser Index hat sich seit 2002 wie folgt entwickelt ren Erhebungsbasis (in der ADL-Umfrage) vermö- (siehe Tabelle 7)11. gen diese Daten jedoch nicht die differenzierten Bielefelder Aussagen über einen Wiederanstieg des Langfristige Trends Antisemitismus seit 2007/2008 zu entkräften. Betrachtet man diese Trends in einer langfristigen Die Allbus-Studie berechnete aufgrund von drei Perspektive, die mehrere Jahrzehnte umfasst, so zeigt Fragen und einer siebenstufi gen Skala von Zustim- sich, dass Antisemitismus seit den späten 1950er-Jah- mungen/Ablehnungen einen Antisemitismus-Index, ren zunächst kontinuierlich abnahm, aber offenbar demzufolge 1996 18 Prozent und 2006 22,6 Prozent in zwei Wellen (zum einen in den 1980er-Jahren bis der Befragten als antisemitisch anzusehen seien.9 Mitte der 1990er-Jahre, zum anderen seit etwa 2000) Eine Forsa-Studie von 1998 (2000 telefonisch Befrag- wieder anstieg, um sich Mitte des letzten Jahrzehnts te) bildete aufgrund von sechs Fragen einen Anti- abzuschwächen. Die erste Welle dürfte mit dem semitismus-Index (0 bis 18 Punkte) und kam zu dem Erstarken des Rechtsextremismus einhergehen, die Ergebnis, dass 20 Prozent der Befragten als zumin- zweite mit der Verschärfung des Nahostkonfl ikts dest latent antisemitisch einzustufen seien.10 und dem Beginn der zweiten Intifada. Zurzeit sehen wir eine (verhältnismäßig geringfügige) Zunahme, Zwar sind solche Werte, wie bereits betont, nicht ausgehend von diesem zwischenzeitlich stark abge- einfach abfragbar, sondern das Ergebnis von Defi - sunkenen Niveau. Dies deutet daraufhin, dass der von nitionen und Einstufungen der jeweiligen For- der Forschung für die ersten Nachkriegsjahre und scher. Festzuhalten ist jedoch, dass beide Studien die frühe Bundesrepublik festgestellte Trend, näm- unabhängig voneinander hinsichtlich der Größen- lich eine stete Abnahme infolge des Generationen- ordnung des Phänomens übereinstimmen. wechsels, einer Auf- und Abbewegung Platz macht.

Tabelle 7: „Bielefelder Antisemitismus-Index“

2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 1,8 1,9 1,8 1,8 1,6 1,7 1,6 1,65

Tabelle 8: Umfrageergebnisse zum Thema „jüdischer Einfl uss“

„Sind Sie der Meinung, dass die nachstehenden Gruppen im Bundesgebiet mehr Einfl uss, weniger Einfl uss oder gerade soviel Einfl uss haben, wie ihnen zukommt?“ (in Prozent)12 (Fragevariante 1996: „Juden spielen in Deutschland […] eine zu große Rolle, zu geringe Rolle, angemessene Rolle.“)

Juden 1959 1961 1963 1964 1967 1971 1975 1981 1984 1986 1994 1996 W/0 Mehr Einfl uss2319201819141420161320 7 (24/8) Weniger Einfl uss2616212016221834345 9 11 8/12 Wie ihnen 39 23 26 20 25 28 36 43 46 31 30 66 zukommt 32/24 Keine Antwort 12 42 33 36 40 36 32 3 4 51 40 16 56/36

9 Werner Bergmann, Antisemitismus in Deutschland, 2010 (Expertise für den Expertenkreis), S. 4 f. 10 Forsa (Hrsg.), Studie zum Antisemitismus in Deutschland, Berlin 1998. 11 Wilhelm Heitmeyer, Krisen – Gesellschaftliche Auswirkungen, individuelle Verarbeitungen und Folgen für die Gruppenbe- zogene Menschenfeindlichkeit, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände 2010, Folge 8, S. 13–46, hier: S. 39. 12 Emnid Befragungen nach Werner Bergmann/Rainer Erb, Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der empirischen Forschung von 1946–1989, Opladen 1991, S. 127; Emnid 1996: Emnid (Hrsg.), Die gegenwärtige Einstellung der Deut- schen gegenüber Juden und anderen Minderheiten, Bielefeld 1994; Institut für Demoskopie Allensbach (Hrsg.), Deutsche und Juden vier Jahrzehnte danach. Eine Repräsentativbefragung im Auftrag des STERN, Allensbach 1986 sowie Forsa (Hrsg.), Deutsche und Juden Anfang 1996, Berlin 1996.

58 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Dies verdeutlicht die folgende Zusammenstellung Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Drit- verschiedener Statistiken (siehe Tabelle 8). ten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen“. Im Ver- gleich dazu fi el die Gesamtheit der zustimmenden Anatomie eines Ressentiments: Antworten aller Befragten jedoch niedriger aus: So Zusammenhänge zwischen den Indikatoren befürworteten nur 12,6 Prozent die Aussage „Durch ihr Verhalten sind die Juden an ihren Verfolgungen Aufgrund der vorgelegten Zahlen des Instituts für mitschuldig“ beziehungsweise 39,5 Prozent „Viele interdisziplinäre Konfl ikt- und Gewaltforschung Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Drit- der Universität Bielefeld für die Jahre 2008 und ten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen“. Unter 2010 hat das dortige Team Zusammenhänge den 57 Prozent, die der Ansicht zustimmen, Israel zwischen den einzelnen Indikatoren, nach denen führe einen Vernichtungskrieg gegen die Paläs- es den Antisemitismus in Deutschland misst, aus- tinenser, stimmen knapp 23 Prozent der Aussage gewertet. Dabei ging es um die Frage, mit welcher zu, Juden hätten zu viel Einfl uss, unter den über statistischen Wahrscheinlichkeit eine Person, die 38 Prozent, die Verständnis dafür haben, dass man einer antisemitischen Aussage zustimmt, auch aufgrund der israelischen Politik „etwas gegen einem oder mehreren anderen antisemitischen Juden hat“, sind dies sogar 32,3 Prozent. Anders Statements beipfl ichtet. ausgedrückt: Während jeder sechste Deutsche traditionell antisemitischen Meinungen zustimmt, Nach dieser Analyse besteht der engste Zusammen- ist es von denen, die einer antisemitischen Kritik hang zwischen den Zustimmungen zu den Aus- an Israel zustimmen, fast jeder vierte. Unter jenen, sagen über jüdischen Einfl uss, eigener Mitschuld der die Antipathien gegen Juden in der Politik Israels Juden an ihrer Verfolgung und dem Beziehen von begründet sehen, vertritt sogar rund jeder Dritte Vorteilen aus dem Holocaust: Dies deutet in der Tat traditionell antisemitische Meinungen. darauf hin, dass bei einer bestimmten Minderheit verfestigte antisemitische Auffassungen existieren.13 Ebenso zeigt sich unter Befragten, die antisemiti- sche Einstellungen „auf dem Umweg über Israel“ Etwas schwächer, aber immer noch deutlich aus- kommunizieren, ein höheres Ausmaß an Zustim- geprägt, sind folgende Zusammenhänge: Wer die mung zu den sogenannten sekundären Facetten. israelische und die nationalsozialistische Politik 12 Prozent der Deutschen (jeder achte) ist der Auffas- gleichsetzt, wer Israel einen Vernichtungskrieg sung, Juden seien an ihrer Verfolgung mitschuldig. gegen die Palästinenser führen sieht und Verständ- Unter denen, die von einem „Vernichtungskrieg nis dafür äußert, dass Juden allgemein wegen der gegen die Palästinenser“ sprechen, sind das israelischen Politik in Haftung genommen werden, 17,3 Prozent (jeder sechste) und unter jenen, die der neigt gleichzeitig dazu, an einen zu großen Antipathien gegen Juden mit Israels Politik begrün- jüdischen Einfl uss zu glauben, Juden Mitschuld an den, sogar 26,4, also mehr als jeder Vierte. Während ihren Verfolgungen zu geben und dem Statement insgesamt rund 39 Prozent der Befragten Juden eine zuzustimmen, dass sie Vorteile aus dem Holocaust Vorteilsnahme aus dem Holocaust unterstellen, zögen. Am stärksten ausgeprägt ist dabei der Zu- sind es unter jenen, die der Vernichtungskriegs- sammenhang zwischen dem Komplex Anti pathien these zustimmen, sogar 49,1 Prozent und unter gegen Juden wegen Israel und den typischen denen, die die Politik Israels ursächlich für Anti- klassischen antisemitischen Auffassungen (Korre- pathien gegenüber Juden halten, sogar 60,7 Prozent. lationen von .39 bis .43), während der Zusammen- hang zwischen der Vernichtungskriegsthese und Eine Befragung des Bielefelder Teams aus dem Jahre den traditionellen Stereotypen am geringsten ist 2004 ergab sehr hohe Zustimmungswerte zu nicht (Korrelationen von .16 bis .31).14 antisemitisch unterfütterten israelkritischen State- ments (über 80 Prozent). Dabei zeigte sich jedoch, In Prozentzahlen ausgedrückt stellen sich diese dass die Mehrheit derer, die eine solche „neutrale“ Zusammenhänge wie folgt dar (wobei die Prozent- (das heißt nicht antisemitisch kodierte) Kritik be- zahlen statistische Wahrscheinlichkeiten aus- fürworteten, gleichzeitig der einen oder anderen drücken): Unter den 16,5 Prozent, die der Aussage tendenziell antisemitischen Stellungnahme zu- „Juden haben zu viel Einfl uss“ voll und ganz oder stimmten. Die – durchaus überzeugende – Schluss- eher zustimmten, verhielten sich 40 Prozent folgerung der Untersuchung lautet, dass Israelkritik zustimmend zu der Aussage „Durch ihr Verhalten ohne Antisemitismus zwar durchaus nachweisbar sind die Juden an ihren Verfolgungen mitschuldig“, ist, jedoch wesentlich häufi ger Kritik an Israel mit und 91 Prozent stimmten dem Statement zu: „Viele antisemitischen Untertönen unterfüttert wird.15

13 Zick/Küpper, Mentalitäten, S. 30 f. 14 „Je höher der angegebene Korrelationskoeffi zient, desto enger der Zusammenhang zwischen zwei Elementen, das heißt desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass im Durchschnitt die Befragten beiden Elementen zustimmen (beziehungsweise beide ablehnen).“ Ebenda, S. 9. 15 Ebenda, S. 32.

59 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Differenzierungen nach verschiedenen Merkmalen „eher links“ Eingestellten lässt sich zwar eine aus- geprägtere „israelkritische Einstellung“ ausma- Generell nimmt Antisemitismus mit höherer Schul- chen, doch lässt sich zwischen dieser Präferenz in bildung ab (was jedoch nur geringfügig für den auf dieser Gruppe und dem klassischem sowie dem Israel bezogenen Antisemitismus gilt).16 Bei älte- sekundären Antisemitismus kein empirischer ren Menschen sind antisemitische Einstellungen Zusammenhang herstellen.22 stärker verbreitet als bei jüngeren17, bei Männern stärker als bei Frauen (siehe Tabelle 9). Was die relativ geringen Antisemitismuswerte bei der politischen Linken betrifft, ist jedoch eine Ausnahme zu beachten: Werte im äußeren linken Tabelle 9: Verbreitung antisemitischer Bereich sind etwas höher als bei denjenigen, die Einstellungen nach Geschlecht (in Prozent) sich als gemäßigte Linke einstufen, liegen aber erheblich unter den Zahlen für Menschen, die sich Männer Frauen in der politischen Mitte verorten.23 Deutsche18 Zustände 2002, S. 24 14,7 10,9 Deutsche Zustände 2003, S. 25 17,1 12,4 Das gilt entsprechend auch für die Antisemitismus- werte, aufgeschlüsselt nach Parteipräferenzen: Die ALLBUS 199619 23,7 (W) 19,0 (W) Antisemitismuswerte sind bei Nichtwählern am 12,3 (O) 10,4 (O) höchsten, gefolgt von Anhängern der CDU, SPD und FDP, während die Grünen die niedrigsten Zahlen aufweisen.24 Dieser Zusammenhang schließt an die Die Auswertung unterschiedlicher Umfragen aus Erkenntnisse früherer Studien an: Danach machte dem Zeitraum seit 1991 zeigt, dass der Antisemitis- 1991 der Anteil von judenfeindlich Eingestellten bei mus in Ostdeutschland in den neunziger Jahren den Wählern der Partei „Die Republikaner“ (REP) auf einem niedrigeren Niveau stand als im Westen das Achtfache dieses Potenzials von Wählern der und im darauffolgenden Jahrzehnt überpropor- „Partei des demokratischen Sozialismus“ (PDS) aus tional anstieg, um seit 2004 abzusinken. Dabei ist (40 Prozent in Ostdeutschland und 38 Prozent in eine Annäherung der Werte aus Ost- und West- Westdeutschland im Vergleich zu 0 und 5 Prozent). deutschland zu beobachten.20 Eine wesentliche Zum Vergleich: Die CDU erlangte 5 Prozent in Ost- Rolle dürfte hier die Zunahme von Antisemitismus deutschland und 19 Prozent in Westdeutschland, die unter den Jüngeren spielen.21 FDP 4 und 18 Prozent, die SPD 3 und 13 Prozent und B‘90/Grüne 0 und 10 Prozent.25 Zurechnung von Ursachen und Motiven Nach den Ergebnissen der Bielefelder Studie ist der Was die politische Einstellung angeht, so lässt sich Einfl uss materieller Deprivation auf traditionellen generell feststellen, dass der Antisemitismus von Antisemitismus gering, wobei die Faktoren Einkom- links nach rechts zunimmt. So zeigt eine genaue men, subjektive Einschätzung der wirtschaftlichen Analyse der GMF-Daten, dass Einstellungen im Lage, persönliche fi nanzielle Lage, persönliche Sinne des „klassischen Antisemitismus“, „sekun- finanzielle Zukunftserwartungen, Angst vor dären Antisemitismus“, „israelbezogenen Anti- und Wahrscheinlichkeit von Arbeitslosigkeit, die semitismus“ und der „antisemitischen Separation“ Erfahrung von Arbeitslosigkeit sowie das Gefühl der weitaus stärker bei den „rechts“ oder „eher rechts“ Benachteiligung im Vergleich zu anderen getestet Eingestellten zu fi nden sind. Bei den „links“ oder wurden. Dabei ist ein nennenswerter statistischer

16 Ebenda, S. 35, basierend auf GMF 2002–2010. 17 Bergmann, Antisemitismus, S. 7; Allbus und GMF 2002 und 2003. 18 Auf der Grundlage der von der Universität Bielefeld erhobenen Zahlen. 19 Bergmann, Antisemitismus, S. 12. 20 Jürgen Leibold/Steffen Kühnel, Einigkeit in der Schuldabwehr. Die Entwicklung antisemitischer Einstellungen in Deutschland nach 1989, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 7, Frankfurt a. M. 2009, S. 131–151, hier: S. 139 ff. (aufgrund GMF und anderer Umfragen); Allbus 1996 und 2006; Zick/Küpper, Mentalitäten, S. 37. 21 Bergmann, Antisemitismus, S. 7. 22 Aribert Heyder/Julia Iser/Peter Schmidt, Israelkritik oder Antisemitismus? Meinungsbildung zwischen Öffentlichkeit, Medien und Tabus, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 3, Frankfurt a. M. 2005, S. 144–165, hier: S. 153 f., 160. 23 Zick/Küpper, Mentalitäten, S. 44, nach GMF 2010; Bergmann, Antisemitismus, S. 7, nach GMF 2007. – In einer differenzierten Untersuchung des Zusammenhangs von Antisemitismus und der eigenen Rechts-Links-Einstufung aufgrund der GMF-Daten von

2005 konnte gezeigt werden, dass die Werte zum „sekundären Antisemitismus“ in der politischen Mitte und bei der gemäßigten Rechten sogar höher lagen als bei der äußersten Rechten; Heyder/Iser/Schmidt, Israelkritik, S. 152 ff. 24 Bergmann, Antisemitismus, S. 11, aufgrund von GMF 2004, wobei die PDS/Linke hier nicht erfasst ist. 25 Werner Bergmann/Rainer Erb, Rechtsextremismus und Antisemitismus, in: Jürgen W. Falter/Hans-Gerd Jaschke/Jürgen R. Wink- ler (Hrsg.), Rechtsextremismus. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, Opladen 1996, S. 330–343, hier: S. 334.

60 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Zusammenhang mit Antisemitismus nur in einem 2010 wurde zum Thema Nationalismus wieder Punkt zu erkennen: Wer meint, Deutsche würden der Satz „Ich bin stolz Deutscher/Deutsche zu sein“ im Vergleich mit Ausländern benachteiligt, erweist vorgelegt und erneut kein signifi kanter Effekt auf sich als anfälliger für Antisemitismus.26 den Antisemitismus festgestellt.29

Traditioneller und sekundärer Antisemitismus, Allerdings sind die Kriterien, nach denen Nationa- das ist ein weiteres Ergebnis der Bielefelder lismus beziehungsweise Nationalstolz und Patrio- Untersuchung, tritt dort stärker auf, wo autoritär tismus gemessen werden, nicht in vollem Umfang gesellschaftliche Modelle bevorzugt werden.27 überzeugend. Es fragt sich nämlich, ob die in der Nachweisbar ist aufgrund der GMF-Daten ein Zu- Umfrage verwandte Vorgabe „Ich bin stolz darauf, sammenhang zwischen Antisemitismus einerseits Deutscher zu sein“ nicht sehr stark als ein rechts- und einer hohen Identifi kation mit Deutschland extremer Slogan besetzt ist und eine entsprechen- und einem Stolz „auf die deutsche Geschichte“ de Reaktion bei den Befragten auslöst. Andererseits andererseits, kein Zusammenhang scheint dem- ist die Defi nition von „Patriotismus“ als Stolz auf nach zwischen Antisemitismus und Patriotismus Demokratie und soziale Sicherheit zu eng gefasst. zu bestehen (siehe Tabelle 10).28 Insbesondere lassen diese Umfragen keine Über- prüfung der These zu, ob und wie die vielfach erhobene Forderung nach einer „Normalisierung“ Tabelle 10: Korrelation zwischen antisemitischer der deutschen Identität und einem „moderaten“ Einstellung und Nationalismus Nationalgefühl auch antijüdische Empfi ndungen – in denen „die Juden“ als „Störenfriede der Erinne- DZ rung“ wahrgenommen werden – auslöst. 2002 2006 Identifi kation mit Deutschland .16 .20 Zahlreiche Studien der 1960er- und 1970er-Jahre Nationalismus .27 .21 haben die Wechselwirkungen zwischen Religiosität und der Zustimmung zu antisemitischen Äuße- Patriotismus -.06 -.14 rungen untersucht.30 Vereinzelt berücksichtigten sie dabei die Verbreitung christlich motivierter, an- tijudaistischer Vorurteile, wie zum Beispiel die 1974 Im Einzelnen zeigt die Analyse der Daten des durchgeführte Umfrage des Soziologen Herbert Jahres 2002, dass die Auswirkungen einer natio- Sallen. Der Aussage, „dass die Juden deshalb so nalistischen Einstellung auf den Antisemitismus viele Schwierigkeiten hätten, weil sie Jesus gekreu- ausschließlich auf die Aussage „Ich bin stolz auf die zigt hätten“, stimmten zum Befragungszeitpunkt deutsche Geschichte“ zurückgeht, während der 27,9 Prozent der Teilnehmer zu.31 ebenfalls vorgelegte Satz „Ich bin stolz Deutscher/ Deutsche zu sein“ keinen wesentlichen Effekt Vergleichbare Auswertungen fehlen jedoch für die in diese Richtung besaß. „Patriotismus“ wurde Gegenwart, da in der neueren Antisemitismusfor- anhand der Kriterien Stolz auf die Demokratie in schung die Ansicht vorherrscht, der Antijudaismus Deutschland beziehungsweise die soziale Sicher- hätte inzwischen an Bedeutung verloren. Inwiefern heit gemessen; dabei zeigte sich, dass die Zustim- diese Aussage zutrifft, ist empirisch nicht nachweis- mung zum ersten Kriterium sich abschwächend bar, da aktuelle Analysen in Deutschland Fragen auf den Antisemitismus auswirkte, während zur religiös motivierten Judenfeindschaft konse- das zweite Kriterium keine Auswirkung hatte. quent aussparen.32 Einzig die auf europäischer

26 Zick/Küpper, Mentalitäten, S. 47 f.; Julia Becker/Ulrich Wagner/Oliver Christ, Ursachenzuschreibungen in Krisenzeiten: Auswir- kungen auf Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 8, Frankfurt am Main 2010, S. 128–143, hier: S. 136; Becker/Wagner/Christ kommen zu der Schlussfolgerung, dass Antisemitismus als Folge eines subjektiven Bedrohungsgefühls durch die Krise ansteigt, allerdings nur dann, wenn „Banken und Spekulanten“ für ihre Ursache verantwortlich gemacht werden. 27 Zick/Küpper, Mentalitäten, S. 42. 28 Aribert Heyder/Peter Schmidt, Deutscher Stolz. Patriotismus wäre besser, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 1, Frankfurt a. M. 2002, S. 71–82; Becker/Wagner/Christ, Ursachenzuschreibungen in Krisenzeiten. 29 Zick/Küpper, Mentalitäten, S. 42. 30 Albert Scherr, Verbreitung von Stereotypen über Juden und antisemitische Vorurteile in der evangelischen Kirche, Freiburg 2011, S. 7 f. (Expertise für den Expertenkreis). 31 Ebenda. 32 Ebenda, S. 8.

61 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Ebene konzipierte Umfrage der Anti-Defamation gesellschaftliche Milieus, Alter und Bildungsgrad League erfasst durchgängig auch Elemente der der Befragten an Bedeutung.39 christlichen Judenfeindschaft. So befürworteten 2009 15 Prozent der deutschen Befragten die Aus- Zusammenhänge mit anderen Formen sage „Jews are responsible for the death of Christ“ „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (2007: 13 Prozent, 2005: 18 Prozent) und verorteten sich damit im unteren Mittelfeld Europas.33 Das Bielefelder Projekt konnte nachweisen, dass Zusammenhänge zwischen der Verbreitung Schwierig ist auch die Erfassung von Zusammen- antisemitischer Einstellungen und anderen For- hängen zwischen konfessioneller Bindung und der men „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ Zustimmung zu antisemitischen Vorurteilen. Zwar bestehen. So stimmten insbesondere 74 Prozent berücksichtigen neuere Umfragen zum Antisemi- der Befragten, die das Statement befürworteten, tismus und „gruppenbezogener Menschenfeind- die Juden seien durch ihr Verhalten an den Ver- lichkeit“ den religiösen Hintergrund der Befragten, folgungen mitschuldig, auch eher oder voll und doch lassen sich daraus nur bedingt Aussagen zum ganz der Aussage zu, es lebten zu viele Ausländer Einfl uss von Religion auf die Herausbildung von Vor- in Deutschland, während 58 Prozent dem Satz bei- urteilen ermitteln. Tendenziell neigen Katholiken pfl ichteten „Durch die vielen Muslime hier fühle eher dazu, antisemitische Aussagen zu befürwor- ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen ten, als dies bei Protestanten und Nichtreligiösen Land“ und 55 Prozent sich gegen gleichgeschlecht- der Fall ist. Im letzten Jahr stimmten 11,3 Prozent der liche Ehen wandten.40 Katholiken, 7,7 Prozent der Protestanten und 6,4 Prozent der Nichtreligiösen antisemitischen Europäischer Vergleich Items zu. Dabei zeigte sich außerdem, dass antise- mitische und sozialdarwinistische Aussagen eher Das Bielefelder Team hat außerdem für das Jahr bei katholischen und chauvinistische sowie auslän- 2008 eine Umfrage zur „Gruppenbezogenen derfeindliche Statements eher bei protestantischen Menschenfeindlichkeit in Europa“ auf der Basis Befragten zu verorten waren.34 Die GMF-Studie von insgesamt 8.000 Telefoninterviews durch- zeigt, dass sich Protestanten, Katholiken und Kon- geführt.41 Im Vergleich zwischen acht europä- fessionslose in der Zustimmung zum klassisch anti- ischen Ländern nimmt Deutschland insgesamt semitischen Konspirationsmythos (zu viel jüdischer gesehen einen Mittelplatz ein. Dabei ist hervorzu- Einfl uss) nicht unterscheiden. Hingegen neigen heben, dass Deutschland im Allgemeinen höhere Katholiken etwas eher dazu, Juden für mitschul- Werte erreicht als die westeuropäischen Länder dig an ihrer Verfolgung zu erklären, wohingegen Italien, Großbritannien, Niederlande und Frank- Konfessionslose in dieser Hinsicht besonders wenig reich. Dass Deutschland trotzdem einen mittleren auffällig sind. Katholiken unterstellen ebenso, Platz einnimmt, ist nicht zuletzt der Tatsache etwas eher als Protestanten, Juden versuchten, aus geschuldet, dass Polen, Ungarn und Portugal dem Holocaust ihren Vorteil zu ziehen, während zum Teil extrem hohe Werte erreichen. Konfessionslose hierzu am wenigsten neigen.35 Bei der Frage nach einem etwaigen übergroßen Jedoch sind die statistisch erfassten Unterschiede jüdischen Einfl uss bleiben die Werte demnach für zwischen den jeweiligen Gruppen äußerst gering.36 Deutschland unterhalb des EU-Durchschnitts Zudem belegen Umfragen, dass die Annahme, die (Position 6 unter acht Ländern). Auffällig sind hier eigene Religion sei die „einzig wahre“ oder ande- die extrem hohen Werte für Polen und Ungarn ren Glaubensrichtungen überlegen, antisemitische (siehe Tabelle 11). Vorstellungen begünstigt. Hingegen erweisen sich „sehr Religiöse, die diese Haltung nicht vertreten, Bei der Frage nach der Selbstbezogenheit der Juden […] auch als weniger antisemitisch“.37 Eine direkte sind die Deutschland-Werte ebenfalls unterdurch- Kausalität von Religiosität und antisemitischen schnittlich (Platz fünf von acht), wobei die hohen Äußerungen ist daher aus heutiger Sicht nicht ein- Werte für Portugal, Polen und Ungarn diese mitt- deutig belegbar.38 Vielmehr gewinnen in diesem lere Positionierung sehr stark mitbestimmen Zusammenhang weitere Faktoren wie zum Beispiel (siehe Tabelle 12).

33 In Frankreich stimmten 2009 nur 11 Prozent (2007: 14 Prozent, 2005: 13 Prozent) der Aussage zu. Für Großbritannien (2009: 19 Pro- zent, 2007: 22 Prozent, 2005: 20 Prozent) und Spanien (2009: 21 Prozent, 2007: 19 Prozent, 2005: 20 Prozent) existieren mit circa 20 Prozent etwas höhere Zustimmungsquoten. Die höchste Zustimmung erreichte die Aussage jedoch in Ungarn (2009: 33 Prozent, 2007: 26 Prozent, 2005: 20 Prozent) und Polen (2009: 48 Prozent, 2007: 39 Prozent, 2005: 39 Prozent); Quelle ADL-Studien 2005–2009. 34 Decker/Brähler, Die Mitte in der Krise, S. 88. 35 Zick/Küpper, Mentalitäten, S. 46. 36 Scherr, Verbreitung von Stereotypen, S. 11 f.(nach Allbus-Daten); Zick/Küpper, Mentalitäten, S. 46.

62 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Bei der Frage nach dem Erwerb angeblich unbe- Deutschland. Trotzdem bleiben die deutschen rechtigter Vorteile aus dem Holocaust liegen die Werte wegen extrem hoher Zustimmungsraten Werte für Deutschland demgegenüber oberhalb in einer Reihe von anderen Ländern unterdurch- des europäischen Schnitts (Platz drei von acht; schnittlich (siehe Tabelle 14). siehe Tabelle 13). Das Verständnis für Antipathien gegen „Juden“ als Der Aussage, dass Juden die eigene nationale Reaktion auf die Politik Israels ist – bei insgesamt Kultur angeblich nicht bereichern, stimmen in sieben Ländern – nur in Italien geringer als in den befragten acht Ländern nur in Großbritannien Deutschland. Auch hier sind jedoch die deutschen und den Niederlanden weniger Menschen zu als in Werte unterdurchschnittlich (siehe Tabelle 15).

Tabelle 11: Zustimmung zur Aussage „Juden haben in [Land] zu viel Einfl uss“ (in verschiedenen europäischen Ländern; in Prozent)

Deutschland Großbritannien Frankreich Italien Niederlande Portugal Polen Ungarn Europa 19,6 13,9 27,7 21,2 5,6 19,9 49,9 69,2 24,5

Tabelle 12: Zustimmung zu der Aussage „Juden im Allgemeinen kümmern sich um nichts und niemanden außer um ihre eigene Gruppe“ (in verschiedenen europäischen Ländern; in Prozent)

Deutschland Großbritannien Frankreich Italien Niederlande Portugal Polen Ungarn Europa 29,4 22,5 25,8 27,0 20,5 54,2 56,9 51,0 31,0

Tabelle 13: Zustimmung zu der Aussage „Juden versuchen heute Vorteile daraus zu ziehen, dass sie während der Nazi Zeit die Opfer gewesen sind“ (in verschiedenen europäischen Ländern; in Prozent)

Deutschland Großbritannien Frankreich Italien Niederlande Portugal Polen Ungarn Europa 48,9 21,8 32,4 40,2 17,3 52,1 72,2 68,0 41,2

Tabelle 14: Ablehnung der Aussage „Juden bereichern unsere Kultur“ (in verschiedenen europäischen Ländern; in Prozent).

Deutschland Großbritannien Frankreich Italien Niederlande Portugal Polen Ungarn Europa 31,2 28,5 39,4 50,3 28,2 48,1 48,8 42,7 38,1

Tabelle 15: Zustimmung zu der Aussage „Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man Juden nicht mag“ (in verschiedenen europäischen Ländern; nicht in Frankreich erhoben; in Prozent)

Deutschland Großbritannien Frankreich Italien Niederlande Portugal Polen Ungarn Europa 35,6 36,0 - 25,1 41,1 48,8 55,3 45,6 37,4

Tabelle 16: Zustimmung zu der Aussage „Israel führt einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser“ (in verschiedenen europäischen Ländern; nicht in Frankreich erhoben; in Prozent)

Deutschland Großbritannien Frankreich Italien Niederlande Portugal Polen Ungarn Europa 47,7 42,3 - 37,5 38,7 48,8 63,3 40,9 45,7

37 Beate Küpper/Andreas Zick, Riskanter Glaube. Religiosität und Abwertung, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 4, Frankfurt a. M. 2006, S. 179–192; Andreas Zick, Aktueller Antisemitismus im Spiegel von Umfragen – ein Phänomen der Mitte, in: Schwarz-Friesel/Friesel/Reinharz, Aktueller Antisemitismus, München 2010, S. 225–245. 38 Bergmann, Antisemitismus, S. 13 f. 39 Vielfach sind Befragte, die sich verstärkt mit der christlichen Konfession verbunden fühlen, älter und verfügen über eine geringere Bildung als ihre nichtreligiöse Vergleichsgruppe; Scherr, Verbreitung von Stereotypen, S. 10. 40 Zick/Küpper, Mentalitäten, S. 9, aufgrund GMF 2010. 41 Zick/Küpper, Mentalitäten, S. 17 ff.

63 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Außergewöhnlich ist demgegenüber die hohe Bei der Frage nach dem Einfluss von Juden in der Zustimmung, die die Anklage des „Vernichtungs- Geschäftswelt und auf den internationalen Finanz- kriegs“ in Deutschland erfährt: Sie liegt mit märkten sind die deutschen Werte im interna- 47,7 Prozent oberhalb des europäischen Durch- tionalen Vergleich verhältnismäßig unauffällig schnitts (Rang drei von sieben; siehe Tabelle 16). (siehe Tabelle 19).

Ähnliche Ergebnisse bieten die Studien der Anti- Dass „Juden“ immer noch zu viel Aufhebens vom/ Defamation League: um den Holocaust machten, findet demgegen- über in Deutschland eine vergleichsweise hohe Das Statement, Juden seien gegenüber Israel Zustimmung, allerdings angesichts eines hohen loyaler als gegenüber dem eigenen Land, fand Zustimmungsniveaus in fast allen Ländern (siehe in Italien, Österreich und Polen ähnlich große Tabelle 20). Zustimmung wie in Deutschland, in Spanien lagen die Werte allerdings erheblich höher. Insgesamt Die internationalen Vergleiche werfen vor allem gesehen ist aber das Zustimmungsniveau in allen ein interessantes Bild auf das Phänomen des „se- europäischen Staaten in dieser Frage außerordent- kundären Antisemitismus“, der sich offenbar nicht lich hoch (siehe Tabelle 17). als ein primär deutsches Spezifi kum deuten lässt.

Tabelle 17: Zustimmung zu der Aussage „Jews are more loyal to Israel than to this country“ (in verschiedenen europäischen Ländern; in Prozent)

Land/Jahr 2002 2004 2005 2007 2009 Belgien 50 46 41 54 Dänemark 45 37 43 Deutschland 55 50 50 51 53 Frankreich 42 46 29 39 38 Großbritannien 34 40 39 50 37 Italien 58 57 55 48 Niederlande 48 44 36 46 Österreich 54 46 38 54 47 Polen 52 59 63 Schweiz 49 46 38 44 Spanien 72 48 51 60 64 Ungarn 37 50 40

Tabelle 18: Zustimmung zu der Aussage „Jews have too much power in the business world“ (in verschiedenen europäischen Ländern; in Prozent)

Land/Jahr 2002 2004 2005 2007 2009 Belgien 44 37 33 36 Dänemark 13 9 11 Deutschland 32 24 20 21 21 Frankreich 42 33 25 28 33 Großbritannien 21 20 14 22 15 Italien 42 29 33 42 Niederlande 20 18 18 11 Österreich 40 25 24 37 36 Polen 43 49 55 Schweiz 37 35 26 41 Spanien 63 47 45 53 56 Ungarn 55 60 67

64 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Die Bielefelder Untersuchung zeigt, dass der Der Vorwurf eines von Israel angeblich begange- Vorwurf ungerechtfertigter Vorteile aus dem nen „Vernichtungskrieges“ wird von annähernd Holocaust in Ungarn, Polen und Portugal weiter jedem zweiten Europäer geteilt. verbreitet ist als in Deutschland und auch in Frankreich und Italien von einem erheblichen Teil der Bevölkerung geteilt wird. Ähnlich zeigen die ADL-Umfragen, dass Deutschland zusammen mit Spanien, Ungarn, der Schweiz, Österreich und Polen zu den Ländern gehört, in denen die Auffassung weitverbreitet ist, „Juden“ machten zu viel Aufhebens vom Holocaust. Auch hier ist das Zustimmungsniveau in den übrigen europä- ischen Staaten allerdings hoch. Das Verständnis für Antipathien gegen „Juden“ als Reaktion auf die Politik Israels ist laut der Bielefelder Erhebun- gen in allen anderen untersuchten Ländern – bis auf Italien – höher als in Deutschland.

Tabelle 19: Zustimmung zu der Aussage „Jews have too much power in international fi nancial markets“ (in verschiedenen europäischen Ländern; in Prozent)

Land/Jahr 2002 2004 2005 2007 2009 Belgien 33 40 Dänemark 21 Deutschland 24 25 22 Frankreich 24 28 27 Großbritannien 16 21 15 Italien 37 31 32 42 Niederlande 18 19 19 14 Österreich 39 36 33 43 37 Polen 43 54 54 Schweiz 35 38 30 40 Spanien 35 38 54 68 74 Ungarn 55 61 59

Tabelle 20: Zustimmung zu der Aussage „Jews still talk too much about what happened to them in the Holocaust“ (in verschiedenen europäischen Ländern; in Prozent)

Land/Jahr 2002 2004 2005 2007 2009 Belgien 38 40 41 43 Dänemark 30 29 35 Deutschland 58 56 48 45 45 Frankreich 46 35 34 40 33 Großbritannien 23 31 28 28 20 Italien43434946 Niederlande35353431 Österreich 56 56 46 54 55 Polen 52 58 55 Schweiz52524845 Spanien5757464642 Ungarn 46 58 56

65 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

2. Antisemitismus im ist schwer zu greifen, er ist eruptiv, situativ, flui- de. Er geht nicht von „Antisemiten“ aus, sondern politischen Diskurs, von durchschnittlichen Menschen, die subjektiv in Kultur und Alltag zumeist überzeugt sind, keine Antisemiten zu sein, und entsprechende Vorwürfe aufrichtig empört zurückweisen würden. Er ist weder gesellschaft- Dimensionen eines Phänomens lich, regional und „ethnisch“ noch kulturell, re- ligiös oder politisch klar fi xierbar. Er begegnet uns Vorgänge wie der folgende können exemplarisch in der „Mitte“ der Gesellschaft ebenso wie an ihren genommen werden für alltäglichen Antisemi- Rändern – unabhängig davon, ob man „Mitte“ tismus in der Bundesrepublik Deutschland im soziologisch oder politisch defi niert. ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends. Quasi aus dem Nichts, unerwartet und nicht an be- Bei der Beobachtung von Alltagsantisemitismus stimmte politische Ereignisse gebunden, zudem sind grundsätzlich zwei Aspekte zu berücksichti- in einem Forum, in dem man nicht damit rech- gen: erstens die tiefe Verankerung antisemitischer nen würde, machen sich judenfeindliche Ressen- Stereotype, Schablonen und Wahrnehmungs- timents und Vorurteile Luft, wird latenter Anti- raster in der Alltagswelt, zweitens das Aufbrechen semitismus manifest: und Auftreten antisemitischer Fragmente in Form konkreter Handlungen (wozu auch Sprechakte zu Die Freude ist groß, als am 29. Mai 2010 Lena rechnen sind) in der alltäglichen gesellschaft- Meyer-Landrut als Außenseiterin im Showge- lichen Interaktion. schäft den ersten Platz beim Eurovision Song Contest in Oslo erringt. Als während der Verkün- Die aktuelle Dimension verweist eher auf situative dung der Länderpunkte ein Sieg für die 19-Jährige Momente alltäglicher Interaktion. Situationen, in aus Hannover in Reichweite rückt, lassen sich in denen das Phänomen beobachtet werden kann, der Community der Internet-Blogger und -Kom- sind zum Beispiel häufi g: mentatoren schräge Töne feststellen. Nachdem bekannt wird, dass sich die israelischen Abstim- ■ gesellige Anlässe im familiären Kreis mungsteilnehmer nicht dazu durchringen kön- nen, der musikalischen Darbietung einen Punkt ■ der Pausenhof, das Pausengespräch zu geben – wie zuvor bereits die armenischen und georgischen (und später noch die moldawischen ■ der Jugendclub und weißrussischen) –, tauchen in Internetforen, Blogs und Kommentarspalten plötzlich empörte ■ der Kneipen- und Stammtisch bis hasserfüllte Stellungnahmen auf.1 Dabei wird zunächst Israel mit „den Juden“ gleichgesetzt, ■ das Volksfest, Feuerwehrfest oder die Kirmes, sodann die Mutmaßung aufgestellt, dass jüdische der Karnevalsumzug Unversöhnlichkeit die Ursache der verweigerten Anerkennung sein müsse (wofür einige Schreiber ■ das Fußballfeld, die Zuschauertribünen zumindest Verständnis äußern), anschließend der Refl ex der Schuldabwehr mobilisiert und schließ- ■ die Leserbriefspalten der Zeitungen und lich in einigen Beiträgen mit verbalen Beschimp- Zeitschriften fungen, Unterstellungen, Drohungen (bis hin zur Vernichtungsandrohung) operiert. ■ Kirchen und Moscheen mit Gemeindehäusern und weiteren Gemeindeeinrichtungen Die Forschung zum Alltagsantisemitismus steht bei der Erörterung solcher Fragen noch ganz am ■ Gedenk- und Bildungsstätten Anfang. Während für das Ausmaß des Antisemitis- mus Meinungsumfragen vorliegen, in Statistiken ■ das direkte Gespräch mit Juden oder auch die antisemitische Straf- und Gewalttaten und poli- beleidigende Anrede tischer Extremismus dokumentiert und öffentli- che Stellungnahmen antisemitischen Inhalts in ■ das Peergroup-Gespräch in Abwesenheit von Feuilletons breit debattiert werden, bleibt unser Juden Wissen über das alltägliche Ausmaß der Ausgren- zungen, Diffamierungen und Anfeindungen dünn ■ Diskussionen in Lern- und und zufällig. Denn auch der Alltagsantisemitismus Bildungszusammenhängen

1 Marin Majica, Hetze gegen Juden für alle sichtbar. Antisemitische Kommentare überfl uten das Netz, Berliner Zeitung vom 3. Juni 2010. Übrigens hat der israelische Beitrag seinerseits keine Punkte aus Deutschland erhalten.

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Medien sind unter anderem: kann, werden antisemitische Stereotype oder Zu- schreibungen gleichwohl nur mittransportiert, sie ■ das Internet sind in die Alltagswelt „eingewoben“ und werden in den Alltagsdiskurs quasi hineingeschmuggelt. ■ Leserbriefe und Zuschriften an „jüdische“ Institutionen Forschungsstand

■ Kommentarspalten, Internetblogs und -foren, Über die Einstellungswerte zum Antisemitismus in Social Networks der Bundesrepublik liegen seit Jahrzehnten valide Untersuchungen vor, die in Ansätzen auch einen ■ Predigten und religiöse Unterweisungen europäischen Vergleich zulassen.2 Wir müssen aber davon ausgehen, dass Alltagsantisemitismus sich Auf der Handlungsebene sollen daher im Folgenden mit Umfragewerten nicht in Deckung bringen lässt. Vorkommnisse betrachtet werden, die im Sinne der Einerseits können auch verdichtete antisemitische Defi nition dieses Berichts als antisemitisch einzu- Einstellungen auf der Handlungsebene im Bereich stufen sind, soweit sie sich im Rahmen alltäglicher der Latenz verbleiben und sich also in keiner Weise gesellschaftlicher Interaktion auffi nden lassen. bemerkbar machen. Andererseits scheinen Hand- Alltagsantisemitismus ereignet sich demnach im lungen und Zuschreibungen, die dem Komplex des „privaten“ Bereich oder in solchen Bereichen, die Alltagsantisemitismus zuzuordnen sind, auch von als „privat“ empfunden werden. Er ist damit abzu- Personen auszugehen, die bei Meinungsumfragen grenzen von intendierten öffentlichen Manifesta- gerade nicht durch erhöhte antisemitische Einstel- tionen antisemitischer Inhalte in Reden, Schriften, lungswerte auffallen. Darauf weist beispielsweise Tonträgern, neuen Medien usw. Alltagsantisemi- die qualitative tiefenpsychologische Auswertung tische Handlungen fi nden in Kontexten statt, in von Interviews durch den Sozialwissenschaftler und denen sie nicht zu erwarten sind. Ein konkreter Politologen Samuel Salzborn hin. In quantitativen „Anlass“ ist zumeist nicht vorhanden, jedenfalls Studien zur Einstellungsforschung wäre nur ein heben alltagsantisemitische Handlungen in der Teil der von ihm untersuchten Personen als „Anti- Regel vom vermeintlichen Anlass weit ab, wie das semit“ klassifi ziert worden, die bei Verwendung Beispiel der Reaktionen zu Lena Meyer-Landrut qualitativer Methoden sehr wohl antisemitische zeigt. Dieses Umschlagen antisemitischer Latenz in Einstellungen erkennen lassen. Daher lässt sich „mit Manifestationen ereignet sich häufi g spontan. Dar- Gewissheit sagen, dass der latente Antisemitismus über hinaus ist Alltagsantisemitismus von anderen in Deutschland ausgeprägter ist, als in bisherigen Formen des Antisemitismus dadurch abgegrenzt, quantitativen Studien ermittelt“.3 dass antisemitisches Denken und Handeln für das Selbstverständnis der Einzelperson oder Gruppe, Albert Scherr und Barbara Schäuble konnten „anti- von der es ausgeht, von untergeordneter oder gar semitische Fragmente“ – also die „Verwendung keiner Bedeutung sein kann. Eine Fußballmann- einzelner antisemitischer Topoi und Stereotype im schaft oder Fangruppe (→ Tradierung antisemi- Kontext inkonsistenter Stellungnahmen und Ar- tischer Stereotype durch gesellschaftliche gumentationen“ – sogar „im Kontext widersprüch- Sozialisationsinstanzen) beispielsweise konstitu- licher, aber mit einem anti-antisemitischen Selbst- iert sich nicht in erster Linie durch Antisemitismus, verständnis einhergehenden Argumentationen“ sondern durch ihr Interesse an Fußball. Alltagsan- identifi zieren.4 Dass die Verfahren der Einstellungs- tisemitismus ereignet sich mithin „en passant“, oft forschung dringend der Ergänzung durch qualita- unbewusst und ohne bestimmte Intention. Soweit tive Methoden bedürfen, deuten aber auch quan- im Zusammenhang mit Alltagsantisemitismus titative Studien selbst an. So haben beispielsweise überhaupt von Intentionen ausgegangen werden Wolfgang Frindte und Dorit Wammetsberger5 mit

2 U. a.: Werner Bergmann, Vergleichende Meinungsumfragen zum Antisemitismus in Europa und die Frage nach einem „neuen europäischen Antisemitismus“, in: Lars Rensmann/Julius H. Schoeps (Hrsg.), Feindbild Judentum. Antisemitismus in Europa, Berlin 2008, S. 473–507; Heitmeyer, Deutsche Zustände, Folge 8; Andreas Zick, Aktueller Antisemitismus im Spiegel von Umfragen – ein Phänomen der Mitte, in: Schwarz-Friesel/Friesel/Reinharz, Aktueller Antisemitismus, S. 225–246. 3 Samuel Salzborn, „Denken, das ist manchmal ein Gefühl auch…“: Neue Erkenntnisse über latenten Antisemitismus in Deutsch- land, in: Gideon Botsch/Christoph Kopke/Lars Rensmann/Julius H. Schoeps (Hrsg.), Politik des Hasses. Antisemitismus und radikale Rechte in Europa, Hildesheim 2010, hier: S. 222; ders., Halbierte Empathie – Antisemitische Schuldprojektionen und die Angst vor der eigenen Vergangenheit, in: Schwarz-Friesel/Friesel/Reinharz, Aktueller Antisemitismus, S. 51–72. 4 Albert Scherr/Barbara Schäuble, „Ich habe nichts gegen Juden, aber…“ Ausgangsbedingungen und Perspektiven gesellschafts- politischer Bildungsarbeit gegen Antisemitismus, Berlin 2007, S. 13, 46. 5 Wolfgang Frindte/Dorit Wammetsberger, Antisemitismus in Deutschland: Sozialwissenschaftliche Befunde, in: Rensmann/ Schoeps, Feindbild Judentum, S. 261–295, hier: S. 272 ff. 6 Lars Rensmann/Julius H. Schoeps, Politics and Resentment: Examining Antisemitism and Counter-Cosmopolitanism in the Euro- pean Union and Beyond, in: dies. (Hrsg.), Politics and Resentment. Antisemitism and Counter-Cosmopolitanism in the European Union, Leiden/Boston 2010, hier: S. 26.

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Hilfe einer Clustersequenzanalyse aufgezeigt, dass und allgemeinen Zuschreibungen an Juden wird die als „antisemitisch“ klassifizierten Befragten- als „Selbstläufer“ unhinterfragt und unrefl ektiert gruppen untereinander stark variieren, was einen vollzogen.11 Die Soziologen Werner Bergmann und genaueren Blick auf diese Gruppen nahelegt. So Wilhelm Heitmeyer räumen ein, dass im Zusam- wertvoll die Klassifi kationen und Defi nitionen der menhang mit dem Nahostkonfl ikt die „Grenzen Antisemitismusforschung sein mögen, sie versagen des Sagbaren“ in Bewegung geraten sind.12 Monika bei der Erfassung der „Grauzonen“.6 Schwarz-Friesel, Evyatar Friesel und Jehuda Rein- harz schreiben diesen Trend auf Grundlage neue- Vor dem Hintergrund neuer theoretischer Ein- rer Befunde fort und kommen zu der Erkenntnis, sichten in die Natur des Antisemitismus wird ins- dass die Tabuisierung antisemitischer Äußerungen besondere der Komplex eines „modernisierten Anti- in unserer Gesellschaft auf ein auffallend niedriges semitismus“ relevant, der auf „antisemitische Denk- Niveau gesunken ist und diese nicht mehr nur im und Ausdrucksformen“ verweist, die auf „verän- rechtsextremen Sprachgebrauch vorkommen.13 derte demokratische Ansprüche in der politischen Kultur nach dem Holocaust“ mit „ideologischen Politische Diskurse, Skandale und Tabubrüche Codierungen und Modifi kationen“ reagieren.7 Die tiefe Verankerung antisemitischer Stereotype in Nach einem anerkannten Befund der Antisemitis- der Alltagswelt zeigt sich nicht zuletzt in den von Zeit musforschung haben spezifi sche sprachliche Tabus zu Zeit eruptiv auftretenden „Affären“ beziehungs- in Nachkriegsdeutschland zu einer „Kommunika- weise „Debatten“, ausgelöst meist durch Äußerun- tionslatenz“ (Bergmann/Erb) geführt;8 der Anti- gen beziehungsweise Publikationen von Personen semitismus hat sich entsprechend privatisiert. Seit des öffentlichen Lebens. Anlass sind gelegentlich etwa 1990 scheint diese Kommunikationslatenz stereotypisierende Äußerungen oder Zuschreibun- partiell zu erodieren, wie der Politologe Lars Rens- gen, die von Teilen der Öffentlichkeit als Ausdruck mann in umfangreichen Studien zum Antisemi- antisemitischer Klischees gewertet werden. tismus in der Bundesrepublik Deutschland aufge- zeigt hat.9 Dies gilt vor allem für antisemitische Andere Kontroversen, die im Zusammenhang mit Äußerungen und Taten im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit stehen, dem Nahostkonfl ikt. Qualitative Studien zeigen verweisen auf Formen der Schuldabwehr bezie- indes, dass hier spezifi sche Argumentationsketten hungsweise Täter-Opfer-Umkehr als Varianten vorliegen, die eine saubere kategoriale Scheidung eines „Entlastungsantisemitismus“ beziehungs- fallweise nicht zulassen.10 Ob mit oder ohne „Mig- weise „sekundären“ oder auch „Post-Holocaust- rationshintergrund“, ob muslimische oder christ- Antisemitismus“.14 Die wissenschaftliche Debatte liche Religionszugehörigkeit oder atheistische um diese Formen eines „Antisemitismus nicht Weltanschauung – die Verknüpfung zwischen trotz, sondern wegen Auschwitz“ ist besonders in- „jüdischen“ Taten im Nahen Osten, NS-Verbrechen folge einer Reihe von Großdebatten seit den späten

7 Lars Rensmann, Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2004, S. 79; ders., Parameter einer selbstrefl exiven Antisemitismusforschung, in: Sozialwissenschaftliche Literatur- rundschau 29 (2006) 52, S. 63–79; Rensmann/Schoeps, Politics and Resentment. 8 „Kommunikationslatenz“ meint den Ausschluss bestimmter „gefährlicher“ Themen beziehungsweise Meinungen aus der öffentlichen Kommunikation, weil sie gegen moralische Normen oder höherwertige gesellschaftliche Interessen verstoßen. Wer die „Kommunikationslatenz“ durchbricht, muss mit Sanktionen rechnen (im Unterschied zur psychischen Latenz, wobei man annimmt, dass Personen bestimmte Bewußtseinsinhalte – wie antijüdische Einstellungen – selbst nicht bewusst sind); u. a. Werner Bergmann/Rainer Erb, Kommunikationslatenz, Moral und öffentliche Meinung – Theoretische Überlegungen zum Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 38 (1986), S. 209-222; dies., „Mir ist das Thema Juden irgendwie unangenehm“ – Kommunikationslatenz und die Wahrnehmung des Meinungsklimas im Fall des Antisemitismus, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 43 (1991) 3, S. 502–519. 9 Insbesondere Rensmann, Demokratie und Judenbild; neuere Daten zeigen, dass negative Einstellungen gegenüber Juden in Deutschland von 2004 bis 2008 nochmals angewachsen sind, Rensmann/Schoeps, Politics and Resentment, S. 44 sowie → Antisemitische Einstellungen in Deutschland. 10 U. a. die empirischen Befunde bei Schwarz-Friesel, „Ich habe gar nichts gegen Juden.“ 11 U. a. Rabinovici/Speck/Sznaider, Neuer Antisemitismus?; Hanno Loewy (Hrsg.), Gerüchte über die Juden. Antisemitismus, Philosemitismus und aktuelle Verschwörungstheorien, Essen 2005; Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 33 (2005); Klaus Faber/Julius H. Schoeps/Sacha Stawski (Hrsg.), Neu-alter Judenhass. Antisemitismus, arabisch-israelischer Konfl ikt und europäische Politik, Berlin 2006; Helga Embacher/Margit Reiter, Israel-Kritik und (neuer) Antisemitismus seit der Zweiten Inti- fada in Deutschland und Großbritannien im Vergleich, in: Schwarz-Friesel/Friesel/Reinharz, Aktueller Antisemitismus, S. 187–212. 12 Werner Bergmann/Wilhelm Heitmeyer, Communicating Anti-Semitism – Are the „Boundaries of the Speakable“ Shifting?, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 33 (2005), S. 70–89. 13 Monika Schwarz-Friesel/Evyatar Friesel/Jehuda Reinharz, Aktueller Antisemitismus als ein Phänomen der Mitte. Zur Brisanz des Themas und der Marginalisierung des Problems, in: dies., Aktueller Antisemitismus, S. 1–14, hier: S. 3. 14 Lars Rensmann, Kritische Theorie über den Antisemitismus. Studien zu Struktur, Erklärungspotential und Aktualität, Berlin/ Hamburg 2001, S. 9.

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1990er-Jahren belebt worden, die mit den Namen André Ehrl-König zu erkennen ist. In seiner – von des Schriftstellers Martin Walser und der Politiker Schirrmacher als Mordphantasie apostrophierten – Martin Hohmann und Jürgen Möllemann verbun- Erzählung nutzt Walser eine Vielzahl antisemi- den sind15 (→ Präsenz und Wahrnehmung von tisch besetzter Stereotype, um den auch explizit als Antisemitismus in der Gesellschaft). Aufgrund Juden gekennzeichneten „Ehrl-König“ zu charakte- ihrer Bedeutung sollen diese drei Ereignisse hier risieren: Er ist eine geldgierige, rachsüchtige, eitle, nochmals kurz skizziert werden. Gleichwohl ist für sexbesessene, mächtige und rastlose Figur, die sich die letzten Jahre zu konstatieren, dass es zu derarti- auf Kosten des hart arbeitenden Schriftstellers – gen Großdebatten vorerst nicht wieder gekommen der im Unterschied zum Kritiker tatsächlich etwas ist, was teils auch auf eine Sensibilisierung der „schafft“ – bereichert und schließlich sogar besser Öffentlichkeit infolge dieser Kontroversen selbst lebt als dieser. Demzufolge ist der Schriftsteller – zurückgeführt werden kann. der eigentlich des Mordes am Kritiker verdächtigt wird – auch nicht Täter, sondern Opfer; er ist Opfer Die Dankesrede des Schriftstellers Martin Walser16 des Kritikers, der zum eigentlichen Täter wird. anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Und selbst wenn der Schriftsteller tatsächlich den Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Pauls- Kritiker umgebracht hätte, wäre er Walsers Roman kirche vom 11. Oktober 1998 mag oberflächlich nach unschuldig: „Auch wenn ich es getan haben betrachtet als ein kritischer Beitrag zur Erinne- sollte, wäre ich unschuldig. Es muss auch unschul- rungskultur erscheinen, in dem Walser vor allem dige Mörder geben.“21 Walser hatte dieses Motiv auf die Gefahr der Ritualisierung von Gedenken bereits wesentlich früher entwickelt: aufmerksam macht. Er zieht daraus die Konse- quenz, Erinnerung vollständig aus dem öffent- „In unserem Verhältnis ist er (Reich-Ranicki) der lichen Leben ins Private zu verlagern, wirbt dabei Täter und ich bin das Opfer. [...] Die Autoren sind die aber gleichzeitig in stark subjektiv geprägten, eige- Opfer und er der Täter. Jeder Autor, den er so behan- ne „Erfahrungen“ referierenden Passagen für ein delt, könnte zu ihm sagen: Herr Reich-Ranicki, in „Wegschauen“ gerade hier, im privaten Bereich.17 unserem Verhältnis bin ich der Jude.“22

Im – seinerzeit noch in der Planung befi ndlichen – Vor diesem Hintergrund wäre es literarisch viel- Mahnmal für die ermordeten Juden Europas sah er leicht konsequent gewesen, auch die Charaktere „[d]ie Betonierung des Zentrums der Hauptstadt mit auszutauschen und den jüdischen Kritiker mit aus- einem fußballfeldgroßen Alptraum“, die „Monumen- gesprochen untypischen Attributen auszustatten, talisierung der Schande“.18 Auschwitz bezeichnete er den nichtjüdischen Autor dagegen mit ausgespro- in diesem Zusammenhang, einen rechtsextremis- chen „jüdischen“ Klischees zu versehen (wie dies tischen Terminus aufgreifend, als „Moralkeule“.19 einige Jahre später Oliver Hirschbiegel in der Ver- fi lmung des Kammerspiels „Ein ganz gewöhnlicher Auf andere Weise bediente sich Martin Walser Jude“ von Charles Lewinsky versucht hat, indem er des Bildes der „Täter-Opfer-Umkehr“ in seinem Ben Becker in der Maske des jüdischen Journalisten 2002 erschienenen Roman „Tod eines Kritikers“. Emanuel Goldfarb völlig von „jüdischen“ Attribu- Hierin geht es nach Auffassung des Herausgebers ten freihielt, dessen nichtjüdischen Gesprächs- der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), Frank partner dagegen in einer überraschenden Wende Schirrmacher, eigentlich gar nicht „um die Ermor- übertrieben scharf mit derartigen Attributen dung des Kritikers als Kritiker“, sondern „um den ausstattete). Gerade auf dieses Wagnis lässt sich der Mord an einem Juden“.20 Es ist die Abrechnung Wal- „Tod eines Kritikers“ nicht ein, unterlässt es aber sers mit dem jüdischen Literaturkritiker Marcel auch, den Kritiker als solchen und nicht als Juden Reich-Ranicki, einem Überlebenden des Holocaust, darzustellen. Die Schriftstellerin und Literatur- der unschwer in der Figur des Literaturkritikers wissenschaftlerin Ruth Klüger, eine Überlebende

15 Lucian Hölscher (Hrsg.), Political Correctness. Der sprachpolitische Streit um die nationalsozialistischen Verbrechen, Göttingen 2008. 16 Frank Schirrmacher, Die Walser-Bubis-Debatte; Micha Brumlik/Hajo Funke/Lars Rensmann, Umkämpftes Vergessen. Walser-Debatte, Holocaust-Mahnmal und neuere deutsche Geschichtspolitik, Berlin 2004. 17 Martin Walser, Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998, Frankfurt a. M. 1998. 18 Ebenda. 19 Ebenda. 20 Frank Schirrmacher, Der neue Roman von Martin Walser: Kein Abdruck in der F.A.Z., FAZ vom 29. Mai 2002. 21 Kurt Grünberg, Ich weiß sehr wohl, was es bedeutet. Über das allmähliche Verfertigen des Ressentiments beim Reden: Eine psychoanalytische Betrachtung des Antisemitismus, in: Die Welt vom 29. Juni 2002. 22 Willy Winkler, Martin Walser. Interview in der Süddeutschen Zeitung, in: Süddeutsche Zeitung vom 19. September 1998; Klaus Brieglieb, Unkontrollierte Herabsetzung. Martin Walser und der Antisemitismus der „Gruppe 47“, in: Die Welt vom 29. Juni 2002. 23 Ruth Klüger, „Siehe doch Deutschland“. Martin Walsers „Tod eines Kritikers“, in: Frankfurter Rundschau vom 27. Juni 2002.

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des Holocaust, monierte in ihrem Brief an ihren Stereotype und Elemente der „Täter-Opfer- langjährigen Freund Walser, dass „der Zufall [...] Umkehr“ (→ Antisemitismus – Begriffsbestim- zwar einen Platz in der Wirklichkeit [hat], aber mung und Erscheinungsformen). nicht in der Literatur“, weswegen sie sich von seiner „Darstellung eines Kritikers als jüdisches Scheusal Als anstößig wurden nicht nur Großdebatten, betroffen, gekränkt und beleidigt“ fühle.23 sondern auch bestimmte einzelne Äußerungen empfunden. So hatte beispielsweise das damalige Wiederum anders stellt sich die „Täter-Opfer- Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank, Umkehr“ in der Kontroverse um den FDP-Politiker Thilo Sarrazin, in Interviews im Herbst 2009 Jürgen Möllemann dar. Nachdem der nordrhein- so wie im Sommer 2010 abstammungsbedingte westfälische Landtagsabgeordnete der Grünen, beziehungsweise genetische Besonderheiten von Jamal Karsli, im März 2002 in einer Presseerklä- Juden behauptet.27 rung der israelischen Armee Nazi-Methoden vor- geworfen hatte und dafür heftig kritisiert worden Die öffentlichen Reaktionen auf die genannten war (→ Migrationshintergrund und Antisemi- Affären fi elen unterschiedlich aus, haben aber die tismus), bot ihm Möllemann einen Übertritt in die Hemmschwelle für die Artikulation und Verbrei- FDP an, griff Karslis Argumentation auf und ver- tung antisemitischer Klischees im öffentlichen schärfte sie noch durch die Anwendung „doppelter Raum etwas stabilisiert. Gleichzeitig wirken sie Standards“: „Israels Politik fördert den Terrorismus. in den Alltag zurück, da die öffentlichen Reakti- Was würde man selber tun, wenn Deutschland onen häufi g als „Verfolgung“ von Unschuldigen, besetzt würde? Ich würde mich auch wehren, und Einschränkung der Meinungsfreiheit und Gesin- zwar mit Gewalt. Ich bin Fallschirmjägeroffi zier nungsterror dargestellt werden. Dass es sich im der Reserve. Es wäre dann meine Aufgabe, mich zu Wesentlichen um Selbstverständigungsdebatten wehren. Und ich würde das nicht nur im eigenen der gesamten deutschen Gesellschaft angesichts Land tun, sondern auch im Land des Aggressors.“24 ihrer Geschichte handelt, wird dabei häufi g außer Acht gelassen, die Verantwortung für die ver- Die Schuld an der Entstehung und Verbreitung meintliche „Verfolgung und Ausgrenzung“ dieser von Antisemitismus lastete er den Juden selber Personen pauschal „den Juden“ zugeschrieben und an, verkörpert durch den damaligen israelischen damit eine beherrschende „jüdische“ Macht auf Premierminister Ariel Scharon und den damaligen dem Meinungsmarkt insinuiert. stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrats der Juden Michel Friedmann.25 Begegnung mit antisemitischen Vorurteilen in der Alltagswelt In Anlehnung an Walser forderte der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann Negative Stereotype über Juden sind tief in der in einer Rede zum Tag der deutschen Einheit am Kultur des christlichen Abendlands verwurzelt. 3. Oktober 2003 in seinem Fuldaer Wahlkreis dazu Explizit antijüdische Formen begegnen uns im auf, einen Schlussstrich unter die nationalsozialis- kulturellen Kanon regelmäßig und lassen sich von tische Vergangenheit zu ziehen. In diesem Zusam- diesem auch nicht trennen, sondern nur kritisch menhang stellte er die „provozierende Frage“, hinterfragen und historisieren. Diese Bilder reichen ob auch „die Juden“ ein „Tätervolk“ seien. Seine von antiken Darstellungen der Juden (zum Beispiel anschließende Argumentation stützte sich auf bei Tacitus) über die Schmäh- und Schandbilder an antisemitische, völlig unkritisch rezipierte Litera- mittelalterlichen Kirchen (Judensau, Synagoga und tur, darunter Henry Fords „The International Jew“, Ecclesia usw.), über Luthers antijüdische Schriften und führte zu der Aussage, dass man die Juden auf- sowie Darstellungen von Juden in der Romantik bis grund ihrer angeblichen Rolle in revolutionären zu Richard Wagners Schrift „Das Judenthum in der Bewegungen, vor allem in Russland, „mit einiger Musik“, Wilhelm Buschs „Schmulchen Schievel- Berechtigung als ‚Tätervolk‘ bezeichnen“ könnte.26 beiner“ und ins 20. Jahrhundert.28 Der langwierige Diese Aussage wurde in einer rhetorischen Volte Prozess der Kritik antijüdischer Inhalte innerhalb zwar wieder zurückgenommen, gleichwohl offen- des katholischen Milieus, wie er im Sommer 2010 barte die gesamte Argumentation antisemitische am Beispiel der Oberammergauer Passionsfest-

24 Jürgen Möllemann, „Ich würde mich auch wehren!“, in: taz vom 4. April 2002. 25 Jürgen Möllemann im Heute-Journal vom 16. Mai 2002. 26 Martin Hohmanns Rede zum Nationalfeiertag am 3. Oktober 2003, dokumentiert in: Blätter für deutsche und internationale Politik 49 (2004), S. 111–120. 27 Thilo Sarrazin im Gespräch: Klasse statt Masse. Von der Hauptstadt der Transferleistungen zur Metropole der Eliten, in: Lettre International 86 (2009); „Mögen Sie keine Türken, Herr Sarrazin?“, in: Welt am Sonntag vom 29. August 2010. 28 Julius H. Schoeps/Joachim Schlör (Hrsg.), Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, Frankfurt a. M. o. J. [1995]; Jüdisches Museum der Stadt Wien (Hrsg.), Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen, Wien 1995; Wolfgang Benz, Bilder vom Juden. Studien zum alltäglichen Antisemitismus, München 2001.

70 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft spiele erneut deutlich geworden ist,29 zeigt sowohl, ■ Als ausgesprochen hartnäckig erweist sich die wie hartnäckig sich derartige Stereotype in der Vorstellung vom „jüdischen Wucherer“ und der demokratischen Gesellschaft der Bundesrepu- vermeintlich engen Verknüpfung von Juden blik gehalten haben, als auch, wie sich die Aus- und Finanzmärkten. Regelmäßig werden zur gangssituation durch aktive Auseinandersetzung Bebilderung jüdischen Lebens im Mittelalter und verändern lässt. Diese stereotypen Negativbilder der Renaissance historische Illustrationen des verfl echten sich zu einem „Konglomerat von Geldverleihs oder des Bankwesens verwendet Einstellungen und Denkweisen, Wunsch- und (→ Tradierung antisemitischer Stereotype Schreckbildern“, die „vollkommen unabhängig durch gesellschaftliche Sozialisationsinstan- von aller Realität jüdischen Lebens, jüdischer zen). Dass sich dieser scheinbar offensichtliche Geschichte und Kultur“ existieren und weiter- Beleg für die Verbindung von Juden und Geld vermittelt werden und „auf der Ebene der Projek- schnell als Trugschluss erweisen kann, bewie- tionen, der Einbildung, der Phantasie“ über eine sen in der Vergangenheit bereits Autoren von „innere Systematik“ verfügen.30 Schulbüchern und populärwissenschaftlichen Publikationen. Diese hatten vereinzelt Minia- So werden Personen, die öffentlich negative Bilder turen oder Gemälde wiedergegeben, auf denen von Juden verbreiteten oder gar antisemitisch angeblich „jüdische“ Geldverleiher und Ban- agierten, bis heute öffentlich geehrt, ihre Namen kiers zu sehen waren, die sich jedoch bei nähe- fi nden sich im Straßenbild zahlreicher Städte oder rer Betrachtung und Kenntnis des verwendeten auf den Ehrenbürgerlisten. Beispielsweise bemüh- Bildmaterials rasch als Christen entpuppten.33 te sich eine studentische Initiative, unter Hinweis Anstelle einer genauen Überprüfung der auf den antisemitischen Gehalt der Werke des benutzten Quellen erlagen die Verfasser dieser Namenspatrons, vergeblich um die Umbenennung Texte wohl der Annahme, „dass nur Juden Geld- der Greifswalder Ernst-Moritz-Arndt-Universität.31 verleiher gewesen sein konnten“, sodass daher „auf solchen Darstellungen Juden gesehen Auch wohlmeinende Darstellungsformen jüdi- werden, wo gar keine sind“.34 scher Kultur und Geschichte können zu einem verzerrten, negativ aufladbaren Bild von Juden ■ Zu den bekannten Beispielen aus der Kinder- beitragen. Wenn sich jüdische Geschichte auf und Jugendliteratur gehört auch das kleine, die „schönen, gebildeten und guten“ Juden be- bucklige Männlein, das Gold spinnen kann, schränkt, verfestigt sich der Eindruck einer zumin- um den Preis der Auslieferung des ersten dest suspekten Elite, die über ein hohes Maß an Kindes, das aber zu seinem Herren, dem Teufel, Kapital verfügt haben muss. Damit einher gehen fährt, wenn man nur versteht, es bei seinem christlich-fundamentalistische Erlösungs-Projek- Namen „Rumpelstilzchen“ zu nennen. Oder tionen, die die Juden mit einer eschatologischen der reiche, herzlose, sozial isolierte Geizhals, Mission belasten.32 wie er uns zum Beispiel in Charles Dickens’35 populärer „Weihnachtsgeschichte“ in der Hinzu kommen Bilder und Klischees, die für sich Gestalt des Ebenezer Scrooge entgegentritt. Bei genommen nicht antisemitisch sind, aber an Scrooge scheint es sich zwar um einen Chris- antijüdische Stereotype zumindest prinzipiell ten zu handeln, doch erweist sich bereits der anschlussfähig bleiben. Als verinnerlichte, im alttestamentarische Vorname „Ebenezer“ als Gedächtnis verankerte Bilder sind sie mobilisierbar anschlussfähig für antisemitische Vorurteile. und können antisemitisch aufgeladen werden. Ebenso verhält es sich mit der Beschreibung des Hierfür einige Beispiele: Leningrader Soldatenkochs Cohn im Kinder-

29 Martin H. Jung, Gottesmord – ein ungeheuerlicher Vorwurf und seine Folgen. Christlicher Antijudaismus, in: Welt und Umwelt der Bibel 2 (2010), S. 58 ff. 30 Julius H. Schoeps/Joachim Schlör, Einleitung, in: dies., Antisemitismus, S. 7–15, hier: S. 10. 31 Zumindest für das Bundesland Sachsen liegt seit 2009 eine Studie vor, die sich mit den politischen und ideologischen Hintergründen der Namenspatrone von 33.443 Schulen auseinandersetzt. Geralf Gemser, „Unser Namensgeber“. Widerstand, Verfolgung und Konformität 1933–1945 im Spiegelbild heutiger Schulnamen. München 2009. 32 Richard Bartholomew, „Eine seltsam kalte Zuneigung“. Christlicher Zionismus, Philosemitismus und „die Juden“, in: Loewy, Gerüchte, S. 235–256; Irene A. Diekmann/Elke-Vera Kotowski (Hrsg.), Geliebter Feind – gehasster Freund. Antisemitismus und Philosemitismus in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2009. 33 Zum Beispiel die fehlerhafte Zuschreibung des Bildes „Le prêteur et sa femme“ (1614) von Quentin Metsys als „jüdischer Geld- verleiher und seine Frau“ im Schulbuch „Rückspiegel“ oder die scheinbare Identifi kation „jüdischer Bankiers“ auf einer Miniatur aus Cocharellis „Tractatus de septem vitiis“ in der „Illustrierten Geschichte des Judentums“ und der Zeitschrift „Damals“; Rückspiegel 2, Braunschweig 1995, S. 92; Nicholas de Lange (Hrsg.), Illustrierte Geschichte des Judentums, Frankfurt a. M. 2000, S.81; Damals 12 (2004), Schwerpunktheft Europas Juden im Mittelalter, S. 30. 34 Wolfgang Geiger, Christen, Juden und das Geld. Über die Permanenz eines Vorurteils und seine Wurzeln, in: Einsicht 4 (2010), S. 30–37, hier: S. 31. 35 Gesa Stedmann, Dickens, Charles, in: Benz, Handbuch des Antisemitismus, Bd. 2/1, S. 167 ff.

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buch „Maikäfer flieg“ von Christine Nöstlin- oder misshandeln diese „mechanisch“,37 ger. Über das Auftreten der als sympathisch „gleichgültig“38 und ohne Vorwarnung39 Wehr- geschilderten und im Klappentext als „Symbol lose, vor allem Kinder.40 Zwar ist es Ghazys der Menschlichkeit in einer unmenschlichen gutes Recht, eine unreflektierte Position in Zeit“ hervorgehobenen Figur erfährt der Leser: ihrem Roman einzunehmen, jedoch tradiert „Die Frau von Braun sagte: ‚Du liebes bisschen, ihr Buch zahlreiche antisemitische Stereotype das ist aber ein fürchterlicher Gnom!‘ Der wie die Ritualmordlegende, die Vorstellung Mann auf dem Kutschbock war sehr klein. Er einer „jüdischen Rachsucht“ und Elemente hatte einen kugelrunden Bauch, eine Spie- des sekundären Antisemitismus,41 ohne diese gelglatze, dünne Arme, gebogene Beine und zu hinterfragen. Auf diese Weise finden ihre schwarze, gekräuselte Haarbüschel hinter den unkritischen Aussagen Eingang in die Vorstel- abstehenden Ohren. Er trug eine altmodische lungswelt von Kindern und Jugendlichen, Nickelbrille vor den Augen. Er hatte zu wenige, für die das Buch ab 12 Jahren auf diversen schiefe, verfaulte Zähne im Mund. Seine Haut Bildungsportalen empfohlen wurde. war gelb und glänzte fett. […] Er kletterte vom Wagen, schaute sich um, schaute uns an, Während vergleichbare Phänomene antisemiti- lächelte zaghaft, schüchtern, lächelte schief. scher Stereotypenbildung und der Verankerung […] Seine runde Brille schaukelte auf der gebo- antisemitischer Codes für vergangene Epochen genen Nase. Ich schaute ihn auch an. Schaute relativ gut untersucht sind, besteht für die All- auf seine fette, glänzende Nase, aus der ein tagskultur der jüngsten Zeit, gerade unter dem schwarzes Haar hervorlugte. Ich schaute durch Gesichtspunkt des „modernisierten Antisemitis- seine Brille auf seine Augen. […] Ich sagte: ‚Dos mus“, noch erheblicher Forschungsbedarf. Wegen widanija, Kamerad.‘ […] Er sagte: ‚Griß Gott, ihrer hohen Verbreitung und bedeutenden Rolle Frau!‘ Und zu den anderen sagte er: ‚Ich werde für die Alltagskultur sollten zum Beispiel Comics, sein die Koch da hier!‘[…] Für mich jedenfalls Kino- und Fernsehfi lme, Musik und dergleichen war es der erste hässliche, stinkende, verrückte mehr Aufmerksamkeit erhalten (→ Klischees, Mensch, den ich geliebt habe.“36 Vorurteile, Ressentiments und Stereotypisie- rungen in den Medien). ■ Aber auch neuere Veröffentlichungen auf dem Kinder- und Jugendbuchmarkt sind nicht frei Atmosphärische Störungen und Irritationen von solchen Klischees. Hierfür ein Beispiel: das propalästinensische Buch „Sognando Das Phänomen des Alltagsantisemitismus lässt sich Palestina“ der damals 15-jährigen Italienerin nicht annähernd quantifi zieren und auch nicht Randa Ghazy, das ein ebenfalls vorurteils- hinreichend dokumentieren. Dies erschwert die behaftetes Bild von Juden und Israelis lieferte. Berichterstattung im vorliegenden Fall erheblich. In Deutschland erschien es 2002 unter dem Zwar können theoretisch möglichst viele bekannt Titel „Palästina – Träume zwischen den gewordene Vorkommnisse dokumentiert werden. Fronten“ im auf Kinder- und Jugendbücher spe- Auch wäre es denkbar, mit eigenem methodischen zialisierten Ravensburger Buchverlag. Ghazys Ansatz Juden nach ihren Erfahrungen mit alltäg- Roman schildert den Nahostkonfl ikt aus der lichem Antisemitismus zu befragen und daraus Perspektive einer fi ktiven Wohngemeinschaft Näherungswerte zu extrapolieren. Da sich Alltags- junger Palästinenser in den besetzten Gebie- antisemitismus aber keineswegs ausschließlich ten. Die israelische Sichtweise auf den Konfl ikt gegen konkrete, lebende Juden richtet, würde sich wird in ihrer Erzählung ausgeblendet. Statt- auch eine solche Form der Quantifi zierung kaum dessen erscheinen Israelis – mit wenigen lohnen. Für die Beobachtung von Alltagsantise- Ausnahmen – nur als namenlose „Feinde“, mitismus bleibt nur der Weg der qualitativen For- „Soldaten“ oder „Juden“. Ghazy zufolge töten schung und Analyse exemplarischer Einzelfälle.

36 Christine Nöstlinger, Maikäfer fl ieg. Mein Vater, das Kriegsende, Cohn und ich, Weinheim/Basel 1996, S. 99 f. 37 Randa Ghazy, Palästina. Träume zwischen den Fronten, Ravensburg 2004, S. 45, 49. 38 Ebenda, S. 78 f. 39 Ebenda, S. 66. 40 „Einige Kinder verließen die Schule und wollten zu ihren Eltern laufen [...] und weil den Soldaten keine Zeit blieb, sie alle blutig zu schlagen, begnügten sie sich manchmal damit, ihnen das Handgelenk zu brechen, damit sie keine Steine mehr werfen konnten – ein ganzes Leben lang.“ Oder: „Sie sind gefühllos den Schmerzen unserer Leute, ja sogar denen ihrer eigenen Leute gegenüber und selbst wenn die ganze Welt betet, fl eht, Vereinbarungen durchsetzt, stehen sie mit hoch erhobenem Haupt vom Verhandlungstisch auf und sagen Nein.[...] Und mit diesem einfachen Nein töten sie hunderte von Kindern. Und mit diesem einfachen Nein verdammen sie unser Volk zu ewigem Leiden.“ Ebenda, S. 58. 41 „Sie haben gelitten, sie wurden verfolgt, und statt daraus zu lernen, statt uns zu verstehen […] quälen sie uns, wie sie selbst gequält worden sind.“ Ebenda, S. 87.

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Auch dieses Anliegen wird indes durch die Sache semitisch zu bezeichnen sind, ereignen sich immer erschwert. Im Vorfeld von offen bekundetem und wieder, die Gegenüberstellung von „Deutschen“ manifestem Alltagsantisemitismus existiert eine und „Juden“ wird immer noch – und häufi g völlig schwer greifbare Zwischenschicht von Handlun- arglos – vorgenommen. gen und Sprechakten, die Eindeutigkeit vermissen lassen und deutungsoffen sind. Wir bezeichnen Ein ebenso irritierendes wie störendes Phänomen solche Erlebnisse und Ereignisse als atmosphärische ist ein unreflektierter Philosemitismus,42 der Störungen und Irritationen. seinerseits antisemitische Fragmente enthält, diese aber entweder unhinterfragt mit transportiert Bei der Beschreibung derartiger Phänomene oder aber ins Positive wendet. Wo der Antisemit können wir noch nicht auf gesicherte Ergebnisse beispielsweise dem Juden Gerissenheit und Mani- einschlägiger Forschungen rekurrieren, sondern pulation durch geistige Überlegenheit vorwirft, allenfalls auf eine Anzahl teils autobiographisch spricht der Philosemit ebenso pauschal und angelegter, teils fi ktionaler, jedenfalls subjektiv sachlich unangemessen von „ihrer“ erstaunlichen, gehaltener Erfahrungsberichte deutscher Juden. überdurchschnittlichen Intelligenz. Wo der Anti- Im Folgenden werden einige vergleichbare Formen semit von einer Übermacht des jüdischen Kapitals im Sinne von „Standardsituationen“ beschrieben. spricht, sieht der Philosemit ebenso einseitig den Da es sich nicht um manifest antisemitische Akte großen Gewerbefl eiß und das unternehmerische handelt, sollen sie das Gesamtbild der gegenwär- Können „der“ Juden. Wo der Antisemit dem Juden tigen Lage nur abrunden – ein Bild, das jedoch Feigheit und Drückebergerei vorwirft, lobt der lückenhaft bliebe, wenn diese Form gestörter Philosemit seine vermeintliche Friedfertigkeit. gesellschaftlicher Interaktion auf der Alltagsebene Diese überzogenen Erwartungshaltungen können gar keine Erwähnung fände. leicht enttäuscht werden und dann in einzelne Eruptionen antisemitischer Gefühle umschlagen Hierzu zählen verunsicherte Reaktionen von oder sogar die Verhärtung antisemitischer Vorur- Gesprächspartnern, wenn sie erfahren, dass ihr teilsstrukturen begünstigen. Gegenüber Israeli, Jude oder jüdischer Herkunft ist, insbesondere dann, wenn sie zu einem plötzlichen Ausgewählte Beispiele für antisemitische Vorfälle Stocken oder Abbrechen der jeweiligen Interakti- und Äußerungen in „alltäglichen“ Kontexten on führen. Häufi g schließen sich daran auch der Sache nach unangemessene Rechtfertigungs-, Verwendung des Wortes „Jude“ im jugendlichen Selbstrechtfertigungsdiskurse oder gescheiterte Sprachgebrauch Normalisierungsversuche an. Oft mit „antise- mitischen Fragmenten“ durchsetzt, rekurrieren Jüngere Studien haben sich mit einer der – zumin- derartige Argumentationen in der Regel entweder dest unter Jugendlichen – am häufi gsten auftre- auf die deutsche Geschichte oder auf die aktuellen tenden Form von Alltagsantisemitismus befasst: Ereignisse im Nahostkonfl ikt. der Verwendung des beleidigend gemeinten Wortes „Du Jude!“. Günther Jikeli dokumentiert Atmosphärische Störungen und Irritationen folgende Aussage eines Berliner Jugendlichen: entstehen auch, wenn bestimmte Assoziationen hergestellt werden, die an antijüdische Klischees „Hast du schon mal auf der Straße gehört, dass und Vorurteile anschlussfähig sind, ohne dass sich ‚Jude‘ als Schimpfwort verwendet wurde? derartige Sprechakte eindeutig als antisemitisch kategorisieren lassen. Dieses Phänomen begegnet – Ja klar. Also, sehr oft. besonders häufi g in Konfl iktsituationen oder bei der Artikulation scharfer Kritik gegenüber einem In was für einem Zusammenhang, wie kommt jüdischen Gesprächspartner. das?

Gespräche mit in Deutschland lebenden Juden – Einfach, dass man zu einem gesagt hat: ‚Du zeigen, dass ein Gefühl der gesellschaftlichen Un- Jude‘. Der hat sich dann beleidigt gefühlt […]“43 erwünschtheit und Ausgrenzung zwar bei weitem nicht mehr in dem Maße vorherrscht wie noch vor Scherr und Schäuble zeigen auf, dass es sich da- einigen Jahrzehnten, dass es aber auch noch nicht bei „zweifellos um eine faktisch antisemitische aus der Gesellschaft verschwunden ist. Marginali- Kommunikation“ handelt, wollen aber auch nicht sierungen jüdischen Lebens, jüdischer Kultur oder ausschließen, „dass die Redeweise ‚Du Jude!‘ ihren jüdischer Geschichte, die ihrerseits nicht als anti- Sinn zunächst als rhetorisches Mittel im Kontext

42 Diekmann/Kotowski, Geliebter Freund. 43 Günther Jikeli, „Jude“ als Schimpfwort im Deutschen und Französischen. Eine Fallstudie unter jungen männlichen Berliner und Pariser Muslimen, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 18 (2009), S. 43–66, hier: S. 50. 44 Scherr/Schäuble, „Ich habe nichts gegen Juden, aber…“, S. 18.

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einer jugendtypischen Kommunikation gewinnt“, Antisemitismus zu äußern“ und im „Modus eines in der „Konstruktionen von Zusammengehörig- alltäglichen Sprachgebrauchs zu trivialisieren“. keit, Übereinstimmung und Abgrenzungen immer Dies werde unterstützt durch die „häufige Ver- wieder zum Thema werden“. Dadurch erfolge aber wendung des negativ konnotierten Begriffs“, die eine „Enttabuisierung“, die es Jugendlichen ermög- „Beteuerung von dessen Harmlosigkeit“ und der liche, die „Gründe für die sonst vorherrschende „sprachlichen Substitution von negativen Merk- moralische Aufladung des Sprechens über Juden malen oder Eigenschaften“. Die negativ abwer- situativ […] zu ignorieren bzw. damit spielerisch tende Verwendung des Begriffs „Jude“ trage zu umzugehen“.44 einem „antisemitischen Klima“ bei, in dem „Juden generell als negativ wahrgenommen werden. Es ist Nach Michael Reichelt lasse sich das Lexem „Jude“ dann oft nur ein kleiner Schritt von der Beschimp- im heutigen Sprachgebrauch von Jugendlichen, fung hin zur Rechtfertigung von Gewalt“.47 soweit es in pejorativer Weise verwendet wird, in drei Kategorien unterteilen: 1.) die schon annä- Erste Forschungsergebnisse beziehen sich auf hernd konventionalisierten antijüdischen Konno- Jugendliche mit Migrationshintergrund.48 Gleich- tationen, die sich judenfeindlicher und antisemi- wohl zeigt sich die beschriebene Tendenz auch bei tischer Bewertungskomponenten und Stereotype Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Ein bedienen; 2.) ein synonymes Schimpfwort zu besonders schockierendes Beispiel hierfür sind die anderen jugendsprachlichen Verbalinjurien bekannten Ereignisse um den Mordfall Marinus und 3.) in die Bedeutungsverengung zu ‚Opfer‘.“45 Schöberl im brandenburgischen Potzlow im Juli 2002, die die Journalistin Annette Ramelsberger Auch Reichelt geht es um die situative Rekon- so beschreibt: „Es begann damit, ihren Kumpel struktion der Verwendung des Wortes, sodass er Marinus zu schlagen. Dann fl ößten sie ihm Schnaps nicht alle pejorativen Verwendungen des Lexems ein, bis er sich erbrach. Dann schleppten sie ihn für antisemitisch hält, er weist aber auf die Vagheit hinaus […], wo er hilflos liegen blieb. Dann uri- derartiger sprachlicher Ausdrücke hin. Die nierten sie auf den Jungen, dann schlugen sie ihn, „judenfeindliche Pragmatik“ ergebe sich aus der bis er zugab, ‚ein Jude‘ zu sein, obwohl er doch „semantischen Zuschreibung bestimmter nega- keiner war […] Jetzt, wo er zugegeben hatte, daß er tiver Charaktere und Benennungsstrategien, die ‚Jude‘ sei, hatten sie ihn als Untermenschen mar- mit dem ‚Jüdischsein‘ verbunden werden und auf kiert, der kein Recht auf menschliche Behandlung das zu bezeichnende Objekt […] übertragen werden, mehr hatte.“49 ohne dass ein Jude tatsächlich präsent ist“.46 Social Networks Noch schärfer als Scherr und Schäuble sowie Reichelt stellt Jikeli den antisemitischen Charak- Die Kontaktbörse ma-flirt.de galt intern als ter der Verwendung des Wortes „Du Jude!“ als Kontaktanzeigen-, Single- und Flirtbörse für Per- Schimpfwort heraus: Diese ermögliche es, „offenen sonen aus dem rechtsextremen Milieu; dies war

45 Michael Reichelt, Das Lexem „Jude“ im jugendlichen Sprachgebrauch. Eine Untersuchung am Beispiel sächsischer Fußballplätze, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 18 (2009), S. 17–42, hier: S. 24 f. 46 Ebenda, S. 41 f. 47 Jikeli, „Jude“, S. 65. 48 Faber/Schoeps/Stawski, Neu-alter Judenhass (bes. die Beiträge von Cem Özdemir, Muslimische Migranten und Antisemitismus, S. 219–223, und Philipp Gessler, Antisemitismus unter Jugendlichen in Deutschland. Neue Entwicklungen und offene Fragen, S. 225–231); Stender/Follert/Özdogan, Komponenten (bes. die Beiträge von Claudia Dantschke, Feindbild Juden. Zur Funktionali- tät der antisemitischen Gemeinschaftsideologie in muslimisch geprägten Milieus, S. 129–146, und Nikola Tietze, Zugehörig- keiten rechtfertigen und von Juden und Israel sprechen, S. 147–164); Juliane Wetzel, Moderner Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.), Islamverherrlichung. Wenn die Kritik zum Tabu wird, Wiesbaden 2010, S. 379–391; Aladin El-Mafaalani, Antisemitische Einstellungen bei muslimischen Jugendlichen, in: Politisches Lernen 1–2 (2010), S. 19–23; Dorothea Jung, Feindbild Israel. Antisemitismus unter Migranten, www.dradio.de/df/sendungen/hintergrundpolitik/ 1219442/ [eingesehen am 8. Juli 2010]. 49 Annette Ramelsberger, Ein Dorf, ein Mord und das ganz normale Leben, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 2, Frankfurt a. M. 2003, S. 188–195, hier: S. 189, 191. 50 Etwa die völlig unverdächtige Vorstellung auf der Webseite http://www.onlinedating-service.de/kontaktanzeigen-weitere/ma- fl irt.de.htm [eingesehen am 15. Juli 2010]: „Hohe Ansprüche verfolgt das Kontaktanzeigenportal ma-fl irt.de. Von einem ‚starken, zukünftigen Partner in Sachen romantische Wünsche und Träume‘ ist da die Rede und davon, dass die Mitglieder ‚durch horizontale und vertikale Kommunikation eine virtuelle Welt frischer Gedanken und blühender Fantasie bauen‘. Hierzu wurde eine ‚bunte Plattform für eine grandiose Selbstdarstellung‘ geschaffen. Das Ganze wirkt insofern recht spaßig als die entspre- chenden Passagen ungeachtet der unüblichen Wortwahl durch zahlreiche Grammatik- und Rechtschreibfehler gekennzeichnet sind. Ungeachtet dessen scheint sich das Portal einer gewissen Beliebtheit zu erfreuen, inwieweit die auf der Startseite genannte Zahl der registrierten Mitglieder stimmt, sei dahingestellt. Vom Grundsatz her handelt es sich bei MA-Flirt um ein typisches Kontaktanzeigenportal, die Registrierung ist aktuell kostenlos. Wenn jemand auf eine Kontaktanzeige antwortet, so wird der Betreffende hierüber via E-Mail informiert. Zur Kontaktanbahnung gedacht ist der gut besuchte Singlechat“. Nachdem ma-fl irt.de im Dezember 2009 gehackt wurde, scheint der Betreiber sie vom Netz genommen zu haben.

74 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft aber nicht auf den ersten Blick erkennbar, sodass Anders gelagert sind die folgenden Beiträge des sich auf dieser Webseite auch Besucher anmelden Social Networks www.wer-kennt-wen.de, da sich konnten, die mit diesem Milieu nichts zu tun hier jeder kostenlos anmelden und Bilder betrach- haben.50 Am Abend des 23. Dezember 2009 ten beziehungsweise Texte lesen kann. So fi nden schreibt eine weibliche Teilnehmerin folgende sich im Gästebuch der Teilnehmerin mit dem Chat-Nachricht an einen Mann: „ja stimmt die Benutzernamen „Kill Baby Kill“ im Januar 2010 vielen fernseher, aber was soll ich machen wenn mehrere antisemitische Witze: ich einen juden im fernseher sehe, dann bin ich eben nicht mehr zu halten. man sieht ja nur noch [Gelöschter Benutzer 1:] Wir danken den 10000 juden überall, egal wo,das ist echt grausam, die Juden für den neuen Ascheplatz! juden haben eh schon das sagen überall und keiner traut sich was dagegen zu sagen. überall steckt nur und wenn wir grad beim Thema sind.. noch der jude dahinter!“ Lager A spielt gegen Lager C auf Lager B.

Am nächsten Vormittag schreibt dieselbe Teil- Warum hat die Gaskammer 11 löcher? Weil ein nehmerin an denselben Mann: „tut mir leid das Jude nur 10 Finger hat *g* ich gestern abend einfach so abgehauen bin, aber ich war so müde, war ja seit 4.30 auf den bei- [Gelöschter Benutzer 2:] lach das ist geil ;D nen, bei uns in der firma ist in moment so viel zu mir gehen grad irgendwie die witze aus …. tun, zum glück habe ich jetzt mal bis montag frei und im januar mal ne woche. habe bei mir in der [Gelöschter Benutzer 1:] Was stand bei Hitler fi rma viele juden, da laufen immer so viele chefs über‘n Kamin? bei mir in der abteilung rum, 3 von denen sind ju- den, habe das gleich an ihrem namen gesehen und Je grösser der Jude desto wärmer die bude! teilweise an ihrem aussehen, aber manchen siehste es es gar nicht mehr an, die haben sich schon teil- alt aber hat was *g weise zu sehr vermischt mit unserem arischen volk, echt grausam, aber zumindest sieht man es noch Kommentar von Kill Baby: aaaaaaah ders gut an ihren namen. die rennen da immer rum und ^^“52 schaffen nichts und meckern ständig an uns rum, ich bin da jedesmal kurz vorm ausfl ippen, ich habe Es sei nochmals wiederholt, dass diese Einträge – so einen hass gegen diese knüppelnasen.“51 auch wenn sie von gelöschten Benutzern stammen – nach wie vor für jeden angemeldeten Benutzer Zwar tauschen sich hier offenbar zwei durch ihren einsehbar sind. Vor und nach diesem Austausch Antisemitismus verbundene Personen miteinan- zynischer judenfeindlicher „Witze“ geht es um Ver- der aus, dennoch gehört der Kontakt in mehrfa- abredungen zum Stadionbesuch, Anzüglichkeiten cher Hinsicht in den Kontext des alltäglichen Anti- oder Tätowierungen. Keiner der anderen Teil- semitismus. So sind die Beiträge unredigiert und nehmer scheint sich an den Beiträgen zu stören. ähnlich spontan wie im direkten Gespräch oder Telefonat. Auch ist der Gesamtkontext des Chats Ein männlicher Teilnehmer vermerkt im Benutzer- nicht durch Antisemitismus geprägt, sondern profi l in der Spalte „Persönliches/Über mich“: durch unverbindliche Flirts und Verabredungen „I HATE JUICE^^“. Der Kontext lässt keinen Zwei- zu Silvester. Ferner frappiert der antisemitische fel zu, dass es sich um ein Wortspiel handelt und Wahrnehmungsfi lter in den Äußerungen der jun- Juden („Jews“) gemeint sind; ein anderer junger gen, 24-jährigen Frau, die glaubt, im Fernsehen, Mann notiert unter „Persönliches/Über mich“ fol- ja überall, nur noch Juden zu sehen. Entsprechend genden Reim: „Die Deutschen kommen ihr Juden deutet sie auch ihre unbefriedigende Arbeits- habt acht, denn eure vernichtung wird zum Ziel situation als Folge jüdischen Handelns; ungeliebte uns gemacht. Wir fürchten vor Tod und vor Teufel Vorgesetzte werden zu Juden erklärt, wobei die uns nicht, vor uns die Jüdische Hochburg zer- Schreiberin meint, diese anhand von Namen und bricht.“ Dieser Mann posiert auf dem beistehenden äußerem Erscheinungsbild identifi ziert zu haben. Foto mit einem Neonazi-T-Shirt vor der Flagge der Damit weist dieser Chat unmittelbar in den Be- Konföderierten im amerikanischen Bürgerkrieg, reich der Alltagskommunikation. Dass sich daraus die als Zeichen für die Bejahung der Rassentren- Störungen im Arbeitsalltag ergeben können oder nung oder allgemein des Rassismus gilt. Auch an- im Konfl iktfall der privat geäußerte Antisemitis- dere Teilnehmer setzen neben ihr Profi l Fotos, auf mus aufbrechen kann, ist zumindest denkbar. denen sie gut erkennbar israelfeindliche T-Shirts

51 Dokumentiert beim MMZ; der Kontext des Kontakts lässt sich nicht rekonstruieren. Grammatik, Orthographie und Inter- punktion folgen dem Original. 52 Dokumentiert beim MMZ. Grammatik, Orthographie und Interpunktion folgen dem Original.

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(„Fuck Israel“, „I hate Israel“) tragen. Weitere Nut- in Kolumbien, jetzt USA), die im September 2010 zer, die auf den ersten Blick keine Anzeichen für bei Konzerten in Deutschland auftrat, bringt auf Antisemitismus erkennen lassen, stellen gleich- ihrem Album „Magnifi cent Glorifi cation of Lucifer“ wohl in ihre Fotoalben neben Bildern von Ver- (2004) den Song „Crush the Jewish Prophet“: wandten, Freunden und Alltagsszenen antisemi- tische Abbildungen ein (Emailleschild „Juden sind „We are the warriors of Satan‘s legion/We are the hier unerwünscht“; „Boycott Israel“).53 Zahlreiche soldiers of infernal war/Knife in my hand, axe in judenfeindliche Einträge, darunter auch Morddro- the other/We are the killers in search of Christ/ hungen und -aufrufe, fi nden sich auch auf dem Ref.: Crush, Crush, Crush [...] Jesus/Crush, Crush, Social Network www.facebook.com, wie die Crush [...] Jesus/Prepare for battle weak lambs of Jüdische Gemeinde zu Berlin im Juni 2010 doku- God/Lord of destruction I summon thee/Grant mentierte. Die einsehbaren Benutzerprofi le der us your powers of annihilation/Crush the Jewish Verfasser lassen häufi g einen muslimischen oder prophet, death to Christian faith“56 Migrationshintergrund erkennen.54 Der Hass auf das Christentum in diesem satanisti- Das Phänomen des Alltagsantisemitismus in schen Text ist, wie häufi g in vergleichbaren Kon- Social Networks bedarf, wie insgesamt Beiträge im texten, zugleich Hass auf die jüdischen Wurzeln Internet (Twitter, Blogs, Kommentarspalten, Foren- dieser Religion. Durch den Songtitel und seine beiträge usw.), weiterer gründlicher Erforschung. letzte Zeile, in Verbindung mit der offenen Gewalt- verherrlichung, kommt dieses antisemitische Präsenz antisemitischer Inhalte Element deutlich zum Ausdruck. Dies bestätigt in populärer Musik einen Befund von Schwarz-Friesel, Friesel und Reinharz, demzufolge sich „[b]estimmte Typen von „RechtsRock“55 (→ Antisemitismus im Rechts- Antisemitismen, die bisher fast ausschließlich im extremismus) dürfte zur Verbreitung antisemi- rechtsextremen Sprachgebrauch vorkamen und in tischer Inhalte in breitere Bevölkerungskreise – der Regel öffentlich sanktioniert wurden, […] mitt- insbesondere unter Jugendlichen – wie kein lerweile auf nahezu allen Ebenen der Gesellschaft zweites Medium beigetragen haben. Codes und im öffentlichen Kommunikationsraum ausgebrei- Chiffren, die bis dahin nur im engeren Kreis der tet [haben] und […] als eine Form der ‚Meinungsfrei- äußersten Rechten bekannt waren, wurden und heit‘ artikuliert“ werden.57 werden nunmehr breit rezipiert; in bestimmten Regionen und an bestimmten Schulen gehören Der Experte für rechtsextreme Jugendkulturen, sie heute zum allgemein bekannten „Kulturgut“ Michael Weiss, hat hierzu folgendes Beispiel unter den Jugendlichen, unabhängig davon, ob dokumentiert: sie rechtsextreme Orientierungen aufweisen oder nicht. Diese Musikerzeugnisse und die hiermit „Es gibt ein Land in Europas Mitte/mittlerweile verbundenen subkulturellen Zeichensprachen und ist‘s dort gute Sitte/Ausländer haben alle Rechte/ Modewelten sind also weit über den engen Raum Wir Deutschen sind die Steuerknechte/Du des rechtsextremen Milieus hinaus wahrnehmbar; zahlst, doch was bekommst du?/Wirst ausge- rechtsextreme Musik wird auch in nicht rechts- beutet wie ne dumme Kuh/Hast keine Rechte in extremen sozialen Milieus „gelegentlich“ oder deinem Land/Korruption und Machtgier Hand „nebenbei“ in „alltäglichen“ Situationen gehört. in Hand/Refrain: Deutschland ist unser Heimat- land/Doch haben wir nichts in der Hand/Wir Antisemitische Inhalte tauchen aber auch bei sind die Verlierer, siehst du es nicht?/Dem ZOG Musikgruppen auf, die nicht dem Netzwerk rechts- interessiert es nicht/Firmenpleiten sind ihr extremer Musik zuzuordnen sind. Die unpoliti- Ziel/In ihrem perversen Weltherrschaftsspiel/ sche Dark-Metal-Band „Inquisition“ (gegründet Ein weiteres Denkmal für unsere Schuld/Unter

53 Dokumentiert beim MMZ. 54 http://www.jg-berlin.org/beitraege/details/antisemitische-hasspropaganda-im-internet-i312d-2010-06-23.html; http://www.jg- berlin.org/fi leadmin/redaktion/downloads/Bericht_JGzB__Antisemitismus_in_Internet_und_Facebook.pdf [beide eingesehen am 13. August 2010]; Majica, Berliner Zeitung vom 3. Juni 2010. 55 Rainer Erb, Der ewige Jude. Die Bildersprache des Antisemitismus in der rechtsextremen Szene, in: Archiv der Jugendkulturen (Hrsg.), Reaktionäre Rebellen. Rechtsextreme Musik in Deutschland, Berlin 2001, S. 131–156; Gideon Botsch, Gewalt, Profi t und Propaganda. Konturen des rechtsextremen Musik-Netzwerkes, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 46 (2001), S. 335–344; Christian Dornbusch/Jan Raabe (Hrsg.), RechtsRock. Bestandsaufnahme und Gegenstrategien, Münster 2002. 56 Text wiedergegeben nach: http://www.metal-archives.com/release.php?id=60024 [eingesehen am 16. Juli 2010]. 57 Schwarz-Friesel/Friesel/Reinharz, Aktueller Antisemitismus, S. 3. 58 Text des Liedes „Verlierer“ der Band „The Real Enemy“, Demo-CD „Weltverbesserer“, nach: Michael Weiss an MMZ vom 18. Juli 2010 (per E-Mail).

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ihnen mittlerweile Kult/Solange sie die Macht behalten/werden sie weiter über uns walten/ Wie lange soll das noch weitergehn/Soll ZOG ewig bestehn?“58

Das Kürzel ZOG ist ein häufi g im neonazistischen Kontext verwendetes Akronym, das für „Zionist Occupied Government“ steht. Weiss stellte fest, dass angesichts des nationalistischen, ausländer- feindlichen und antisemitischen Textes von einer entsprechenden Verortung der Band auszu- gehen sei. Dies führte, nach seinem Bericht, zu folgen dem Ereignis: „[A]uf einer Veranstaltung in Wernigerode […] meldete sich aus dem Publikum heraus ein Bandmitglied von ‚The Real Enemy‘ zu Wort, zeigte sich sichtlich schockiert davon, in diesem Zusammenhang erwähnt zu werden und versicherte glaubhaft, dem Großteil der Bandmit- glieder sei nicht bewusst, was ZOG bedeutet. Sie hätten gedacht, ZOG stünde für Kapitalismus und sie wollten ein antikapitalistisches Lied schreiben. […] Da in Bezug auf ZOG […] der falsche Artikel genutzt wurde (‚dem ZOG‘) ist es glaubhaft, dass der Sinngehalt des Akronyms den Bandmit- gliedern nicht bekannt war – ein Beispiel, wie sich der antisemitische Code […] weitgehend entkon- textualisiert in eine sich als ‚unpolitisch‘ verste- hende Jugendszene in Wernigerode transportiert [wird] und dort als Synonym für Kapitalismus beziehungsweise für ein kapitalistisches ‚Welt- herrschaftsspiel‘ dient. Die Band ‚The Real Enemy‘ wurde nach der erwähnten Veranstaltung im Streit um diesen Text aufgelöst.“59

59 Weiss an MMZ vom 18. Juli 2010.

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3. Migrationshintergrund Raum, die ein Grundkonsens der bundesrepubli- kanischen Gesellschaft sind, zumindest teilweise und Antisemitismus bereits erlernt haben, wurden in der Gruppen- diskussion der jugendlichen Spätaussiedler offen In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die und brutal antisemitische Stereotype geäußert.1 wissenschaftliche und öffentliche Auseinander- Zudem unterschied sich die Wahrnehmung der setzung mit Antisemitismus auf den Rechts- Schüler und Lehrer insofern deutlich, als die Lehrer extremismus konzentriert, antisemitische Dispo- entweder jegliche antisemitischen Vorkommnisse sitionen in der Mehrheitsgesellschaft wurden oder den Gebrauch von Schimpfworten wie „Du durch Umfragen ermittelt. Judenfeindliche Jude“ bestritten oder alarmistisch reagierten und Haltungen aus dem Kreis der Menschen mit Migra- das Problem als eines der „muslimischen Schüler“ tionshintergrund hingegen waren bis 2002/2003 darstellten, wobei sie die „massenmediale Inszenie- kaum ein Thema in Deutschland. Bis heute liegen rung eines ‚muslimischen Antisemitismus‘ zum Teil kaum belastbare Daten vor, die eine Einschätzung bis in die Formulierungen hinein alltagssprachlich und Analyse des Phänomens ermöglichen würden. reproduzierten“.2 In jedem Fall ist der Antisemitismus von Menschen mit Migrationshintergrund im Kontext juden- Diese Erkenntnisse basieren nur auf einem rela- feindlicher Haltungen, Vorurteile und Klischees tiv limitierten Sample, allerdings können sie als der Gesamtgesellschaft und der wechselseitigen Grundlage für weitere Forschungen dienen und Beeinfl ussung zu sehen. machen zudem deutlich, dass die Frage, ob es sich um ein Phänomen einer bestimmten religiösen In jüngster Zeit scheint der öffentliche Diskurs Ausrichtung oder um eine Folge der Zuwanderung über antisemitische Haltungen und Übergriffe in aus bestimmten Ländern handelt, bisher nur in An- Deutschland auf „Muslime mit Migrationshinter- sätzen beantwortet werden kann. Ebenso stehen grund“ oder schlicht „die Muslime“ zu fokussieren. genauere Erkenntnisse darüber aus, ob die häufi g Diese einseitige Zuschreibung wirft eine Reihe geäußerte Vermutung zutrifft, dass Antisemitis- von Problemen auf. Zunächst stellt sich die Frage, mus unter Migranten in erster Linie ein Problem ob Antisemitismus im Einwanderungskontext ein des Bildungsniveaus und der Milieuzugehörigkeit Phänomen ist, das sich auf eine bestimmte Gruppe ist. Zumindest kann man davon ausgehen, dass beschränken lässt. Die ersten Ergebnisse der beide Faktoren die Einstellung gegenüber Juden in Studien des Soziologen Wolfram Stender und seiner signifi kant höherem Maß als die Religionszugehö- Kollegen von der Fachhochschule Hannover haben rigkeit beeinfl ussen. Deshalb ist der Arabistin und gezeigt, dass Antisemitismus unter Menschen mit Kennerin des Milieus in Berlin, Claudia Dantschke, Migrationshintergrund in einem viel breiteren zumindest was die Bevölkerungsgruppe mit mus- und differenzierteren Rahmen untersucht werden limischem Migrationshintergrund betrifft, zuzu- muss. Die Forschungsgruppe hat in Diskussionen stimmen, wenn sie konstatiert: „Für eine adäquate mit Schülern (Spätaussiedler, mit türkischem/ Auseinandersetzung mit antisemitischen Positio- arabischem Hintergrund, autochthone Deutsche) nen von ‚Muslimen‘ ist es deshalb wichtig heraus- und in Einzelgesprächen mit Lehrern und Schul- zufi nden, welchem Milieu, welcher Ideologie und sozialarbeitern herausgefunden, dass das Sprechen welchem Einfl ussbereich sie entstammen.“3 Des- über „Juden“ von antisemitischen Stereotypen halb greift etwa die Studie von Katrin Brettfeld und durchsetzt war, wobei die meisten Gesprächspart- Peter Wetzels „Muslime in Deutschland“ insofern ner nur fragmentarisch bekannte Klischees repro- zu kurz, als nur unterschieden wurde zwischen duzierten, also keineswegs von einer manifesten „autochthonen Deutschen“ und „muslimischen antisemitischen Weltanschauung auszugehen Migranten“. Die Gruppe der befragten „jungen war. Im Gegensatz zu der Gruppe der türkisch-/ara- Muslime“ verfügt über keine eigene Migrationser- bischstämmigen Schüler, die möglicherweise den fahrung, sie sind in Deutschland geboren, spre- anti-antisemitischen Diskurs und die Tabuisierung chen Deutsch (die Sprache ihrer Eltern oder Groß- antisemitischer Äußerungen im öffentlichen eltern können sie kaum) und rezipieren deutsche

1 Wolfram Stender berichtet von einer Gruppendiskussion mit Jugendlichen, die aus der ehemaligen Sowjetunion stammen, bei denen der Antisemitismus „ungleich härter, offener und traditioneller als in Gesprächen mit in Deutschland geborenen Jugend- lichen mit türkischem oder arabischem Herkunftshintergrund oder auch autochthonen Jugendlichen“ auftritt; Wolfram Stender, Konstellationen des Antisemitismus, in: Wolfram Stender/Guido Follert/Mihri Özdogan (Hrsg.), Konstellationen des Antisemitis- mus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis, Wiesbaden 2010, S. 7–40, hier: S. 24. 2 Wolfram Stender/Guido Follert, „das kommt jetzt wirklich nur aus der muslimischen Welt“. Antisemitismus bei Schülern in der Wahrnehmung von Lehrern und Schulsozialarbeitern – Zwischenergebnisse aus einem Forschungsprojekt, in: Stender/Follert/ Özdogan, Konstellationen des Antisemitismus, S. 199–224, hier: S. 201. 3 Claudia Dantschke, Feindbild Juden – zur Funktionalität der antisemitischen Gemeinschaftsideologie in muslimisch geprägten Milieus, in: Wolfram Stender/Guido Follert/Mihri Özdogan (Hrsg.), Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusfor- schung und sozialpädagogische Praxis, Wiesbaden 2010, S. 129–146; zuvor erschienen in: „Die Juden sind schuld“. Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft am Beispiel muslimisch sozialisierter Milieus, Berlin 2009 (Amadeu-Antonio-Stiftung), http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/fi les/pdfs/diejuden.pdf [eingesehen am 28. April 2011], S. 14–19, hier: S. 19.

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Medien. Insofern unterscheiden sie sich etwa von Antisemitische Dispositionen jenen, die als Flüchtlinge aus dem Libanon oder den palästinensischen Gebieten nach Deutschland Seit Beginn der Zweiten Intifada im Herbst 2000, gekommen sind.4 als sich die Eskalation des Nahostkonfl ikts erneut als mobilisierender Faktor in Bezug auf antisemiti- Zur Problematik des Begriffs „Muslime“ sche Einstellungen und Aktionen erwies, zeigt sich, dass antisemitische Stereotypisierungen und Pro- Beim Begriff „Muslime“ gilt es, sich zu vergegen- paganda auch Muslime in verschiedenen europä- wärtigen, dass dieser vor allem im öffentlichen ischen Ländern beeinfl ussen, die selbst oder deren Diskurs gebräuchliche Terminus die bis zum Jahre Eltern und Großeltern aus der arabischen Welt, 2001 dominierenden ethnischen und national- dem Iran, aus Nord-Afrika oder der Türkei stam- staatlichen Bezeichnungen für „Ausländer“ (Ara- men. Diese antisemitischen Vorurteilsstrukturen ber, Türken, Iraner etc.) ersetzt hat. So suggeriert weisen allerdings kaum Anknüpfungspunkte an die Sammelbezeichnung „Muslime“ eine Einheit- etwaige Traditionen im Islam auf, sondern sind lichkeit „des Islam“ und „der Muslime“, die mittels vielmehr Ergebnis der von europäischen Vor- Zuschreibung vermeintlich religionsgemein- denkern des Antisemitismus in die muslimische schaftlich bedingter Eigenschaften eine Stereoty- Welt getragenen Topoi, die dort inzwischen einen pisierung, Kulturalisierung und schlimmstenfalls zentralen Stellenwert einnehmen.6 sogar „Islamisierung“ dieser Personengruppe be- fördert. Der pauschale Gebrauch des Begriffs „Mus- Die Aufmerksamkeit, die die Auseinandersetzun- lime“ anstelle von ethnischen und nationalstaat- gen im Nahen Osten in den europäischen Medien lichen Bezeichnungen ignoriert, dass „Muslime“ erfahren, hat den Konfl ikt mehr und mehr auch hinsichtlich ihrer ethnischen Herkunft, konfessi- zum Thema des öffentlichen Diskurses in den eu- onellen Zugehörigkeit, kulturellen Prägung und ropäischen Ländern werden lassen. Die Anschläge politischen Ausrichtung höchst verschieden sind. vom 11. September 2001 auf das World Trade Center Allein die in Deutschland lebenden 3,8 bis 4,3 Milli- und das Pentagon sowie der von den USA darauf- onen Muslime stammen aus 49 Herkunftsländern. hin ausgerufene „Krieg gegen den Terror“ lösten Sie unterscheiden sich vor allem ethnisch und erneut – in weit stärkerem Maße als zuvor – eine Dis- national (Türken, Araber, Iraner, Bosnier etc.) sowie kussion über die Ursachen des radikalen islamisti- konfessionell (74 Prozent Sunniten, 13 Prozent Ale- schen Terrorismus aus, die von manchen primär in viten, 7 Prozent Schiiten, 2 Prozent Ahmadiyya und der israelischen Besatzungspolitik und in der pro- weitere kleinere Gemeinschaften).5 israelischen Haltung der US-Politik gesehen werden (→ Antisemitismus im Islamismus). Vor diesem Gesicherte Aussagen darüber, ob sich Menschen Hintergrund verknüpfen sich antizionistische tatsächlich zuvorderst als „Muslime“ oder nicht und antiamerikanische Einstellungen zu einem eher als Bürger eines Staates (Ägypter, Tunesier, Vorurteilsmuster, das eine legitime Kritik an der Syrer, Deutsche) betrachten, die zugleich dem isla- israelischen Politik missbraucht, um antisemitische mischen Glauben angehören, gibt es nicht. Offen Dispositionen in einer vermeintlich legitimierten ist auch die Frage, inwieweit Muslime sich tatsäch- Form zu äußern. Das Zusammentreffen dieser Mo- lich als gläubig oder lediglich als „Kulturmuslime“ tive bedient die Kritiker von Kolonialisierung und verstehen. Dies gilt auch für die Muslimen zuge- Globalisierung auf der extremen Linken, den tradi- schriebenen religiösen und politischen Orientie- tionell antisemitischen Rechtsextremismus sowie rungen, die zwischen Indifferenz, konservativ- Teile der muslimischen/arabischen Bevölkerung orthodoxen Haltungen, striktem Säkularismus, mit Migrationshintergrund. Hier verbinden sich islamischer Mystik und islamistischen Positionen klassischer Antisemitismus, Antizionismus, aber variieren können. In Untersuchungen zu religiö- auch postkoloniale Traumata zu einem Weltbild, sen Einstellungen von Muslimen wird zudem die das durchaus gesellschaftliche Sprengkraft besitzt. Bedeutung, die der Islam bei den Befragten ein- nimmt, häufi g als Beleg für eine hohe Religiosität Bis heute fehlen für Deutschland belastbare interpretiert. Hierbei wird übersehen, dass die wissenschaftliche Befunde über die tatsächliche Bejahung des Islam nicht selten Ausdruck des Be- Verbreitung antisemitischer Stereotype unter dürfnisses nach Identität und Selbstpositionierung Muslimen. Über das Phänomen antisemitischer in einer anderen Kultur sein kann. Äußerungen und Übergriffe, die vor allem

4 Katrin Brettfeld/Peter Wetzels, Muslime in Deutschland. Integration, Integrationsbarrieren, Religion sowie Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt, Hamburg 2007. 5 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.), Sonja Haug/Stephanie Müssig/Anja Stichs, Muslimisches Leben in Deutschland, Nürnberg 2009, S.11, 324. 6 Michael Kiefer, Antisemitismus in den islamischen Gesellschaften. Der Palästina-Konfl ikt und der Transfer eines Feindbildes, Düsseldorf 2002; Kurt Greussing, „Esel mit Büchern“, Agenten und Verschwörer. Von den Judenbildern des Koran zum modernen islamischen Antisemitismus, in: Loewy, Gerüchte, S. 149–172

79 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu- Nach Beginn der Zweiten Intifada im Jahr 2000, als geschrieben werden, stehen empirische Unter- insbesondere in Frankreich ein signifi kanter An- suchungen nach wie vor aus. Daten darüber, ob die stieg antisemitischer Übergriffe von Jugendlichen bisher bekannten antisemitischen Übergriffe von mit maghrebinischem Migrationshintergrund aus Tätern mit muslimischem Migrationshintergrund den Banlieue festzustellen war, schien es, als wür- nur Einzelfälle sind oder tatsächlich eine höhere den die Ereignisse im Nahen Osten keinen Einfl uss Disposition insbesondere bei Jugendlichen mit auf die mehrheitlich türkischstämmige muslimi- arabischem/türkischem Migrationshintergrund sche Bevölkerung Deutschlands haben. Selbst der besteht, liegen bisher nicht vor. Versuch des inzwischen verstorbenen führenden FDP-Politikers Jürgen Möllemann, mit antisemi- Einzelne Aspekte sind inzwischen Gegenstand tischen Stereotypen auch Wähler unter den wahl- islamwissenschaftlicher und soziologischer Stu- berechtigten „Muslimen“ in Deutschland zu dien, wie etwa jener von Michael Kiefer,7 Claudia rekrutieren, misslang und wurde von islamischen Dantschke,8 Jochen Müller,9 Wolfram Stender,10 Ver tretern im Land vehement zurückgewiesen. Albert Scheer/Barbara Schäuble11 und anderen. Er- Ausgelöst hatte die Debatte der aus Syrien stam- kenntnisse können wir auch aus Untersuchungen mende ehemalige Abgeordnete der Grünen Jamal im Bereich der pädagogischen Praxis gewinnen. Karsli, der am 30. Mai 2002 der FDP beitrat (→ Prä- senz und Wahrnehmung von Antisemitismus in Im Bereich antisemitischer Straf- und Gewalt- der Gesellschaft/Antisemitismus im politischen taten liegen Daten der Landeskriminalämter vor, Diskurs, in Kultur und Alltag). Nachdem er bereits die zumindest in Ansätzen einen Schluss über die in einer Pressemitteilung Mitte März der israeli- politische Einordnung solcher Taten zulassen. Es schen Politik „Nazi-Methoden“ vorgeworfen hatte, lässt sich eine deutliche Übergewichtung rechts- äußerte er in einem Interview mit der lange Zeit extremistischer Straftaten und Gewalttaten mit vom Verfassungsschutz beobachteten rechtsextre- antisemitischem Hintergrund konstatieren. men Wochenzeitung „Junge Freiheit“ im Mai 2002, Unter die schwammige und ungenaue Kategorie die „zionistische Lobby“ habe „den größten Teil der „Ausländer“ fallen nur einige wenige Fälle, an Medienmacht in der Welt inne und kann jede auch denen allerdings durchaus eine Zunahme in Zei- noch so bedeutende Persönlichkeit klein kriegen“.13 ten einer Radikalisierung des Nahost konfl ikts ab- Karsli rekurrierte hier eindeutig auf das klassische zulesen ist (2002/2003 Dschenin; 2006 Libanon- Muster einer angeblich jüdischen Weltverschwö- krieg und 2009 Gaza-Krieg). Für den Bereich der rung, das zum festen Bestandteil antisemitischer Gewalttaten mit antisemitischem Hintergrund Agitation sowohl der rechtsextremen Szene als auch liegen folgende Daten vor:12 der radikalislamistischen Propaganda zählt.

Antisemitische Gewalttaten (politisch motivierte Kriminalität)

Antisemitische 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 Straftaten PMK-rechts 27 30 38 40 50 44 61 44 31 31 PMK-links 0 1 0 1 1 0 0 2 0 0 PMK-Ausländer 1 7 7 3 3 7 3 1 9 6 PMK-sonstige 0 1 1 1 2 0 0 0 1 0

7 Michael Kiefer, Antisemitismus in den islamischen Gesellschaften; ders., Was wissen wir über antisemitische Einstellungen bei muslimischen Jugendlichen? Leitfragen für eine künftige Forschung, in: „Die Juden sind schuld“, S. 20–23; Klaus Holz/ Michael Kiefer, Islamistischer Antisemitismus. Phänomen und Forschungsstand, in: Stender/Follert/Özdogan, Konstellationen des Antisemitismus, S. 109–138. 8 Dantschke, Feindbild Juden. 9 Jochen Müller, „Warum ist alles so ungerecht?“ – Antisemitismus und Israelhass bei Jugendlichen: Die Rolle des Nahostkonfl ikts und Optionen der pädagogischen Intervention, in: „Die Juden sind schuld“, S. 30–36. 10 Stender/Follert, „das kommt jetzt wirklich nur aus der muslimischen Welt“. 11 Scheer/Schäuble, „Ich habe nichts gegen Juden, aber...“. 12 → Antisemitisch motivierte Straftaten: Die Daten wurden vom Bundesministerium des Innern, Referat ÖS II 4, auf Basis von Informationen des Bundeskriminalamtes zur Verfügung gestellt (Stand: 31. Januar des jeweiligen Folgejahres). 13 Junge Freiheit vom 3. Mai 2002.

80 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

In den letzten Jahren hat sich das Bild gewandelt. Der Soziologe Klaus Holz konstatiert zu Recht, dass Die eher als gering einzustufende Disposition der zwischen Herkunft und Antisemitismus keine mo- mehrheitlich türkisch-muslimischen Bevölkerung nokausale Beziehung bestehe. Der Antisemitismus in Deutschland für antisemitisch-antizionistische unter den „Muslimen mit Migrationshintergrund“, Denkmuster hat sich bei einem Teil vor allem der so Holz, entwickle sich häufig erst aufgrund der männlichen Jugendlichen dahingehend verän- Erfahrungen im Einwanderungsland.16 dert, dass sie sich als „Muslime“ solidarisch mit den Palästinensern fühlen, die sie als alleinige Eine Reihe von Einzelfällen, aber auch Probleme in „Opfer“ des Nahostkonflikts sehen. Diskriminie- Klassen mit einem hohen Anteil von Schülern mit rungs- und Exklusionserfahrungen machen gerade Migrationshintergrund sind bekannt, vor allem bildungsferne Jugendliche anfällig für radikalere weil sie von einer starken Medienaufmerksamkeit Positionen, die Teile der männlichen arabischen Ju- begleitet werden. Über die Motive kann nur gemut- gendlichen mit Migrationshintergrund vertreten. maßt werden. Allerdings gilt es festzuhalten, dass Antisemitische Propaganda, die sie aus arabischen antisemitische Stereotype bei Muslimen etwa mit Satellitenfernseh-Programmen rezipieren oder palästinensischem oder libanesischem Migrations- etwa durch eine Nähe zu radikalislamistischen hintergrund auch die Reaktion auf eine reale Kon- Gruppierungen erfahren, bleibt somit auch nicht fl iktsituation im Nahen Osten sind, von der sie sich ohne Einfl uss auf Muslime mit türkischem Migra- mehr oder weniger betroffen fühlen. Hier unter- tionshintergrund. scheidet sich die Motivlage deutlich von jener des Antisemitismus, der in der Mehrheitsgesellschaft In den letzten Jahren verstärkt sich der Eindruck, ebenso wie in extrem rechten und linken Milieus dass antisemitische Dispositionen vor allem bei virulent ist und auf keinem wie auch immer gear- Jugendlichen arabischer oder türkischer Herkunft teten realen Konfl ikt mit Juden basiert. Das heißt im Mittelpunkt des Interesses der Medien stehen. allerdings nicht, antisemitische Übergriffe oder In jüngster Zeit wird gar – ohne belastbare For- verbale Äußerungen von Gruppen, die von den schungserkenntnisse – in regelmäßiger Einmütig- Ereignissen im Nahen Osten direkt oder indirekt keit behauptet, der Antisemitismus unter diesen betroffen sind, zu dulden. Es geht hier einzig und Jugendlichen sei in ständigem Steigen begriffen. allein darum, die Ursachen für ein solches Ver- Zu Recht hat der Soziologe Wolfram Stender von halten zu erkennen, um entsprechend präventiv der Fachhochschule Hannover unlängst darauf dagegen vorgehen zu können beziehungsweise in hingewiesen, dass solche vermeintlichen Erkennt- der pädagogischen Arbeit adäquat zu reagieren. nisse nur „auf der Ebene des mehr oder weniger informierten Verdachts“ basieren.14 Die Erkenntnis, Erste Untersuchungen weisen auf die Bedeutung dass auch diese Bevölkerungsgruppe nicht frei von des Opferstatus hin, den vor allem Jugendliche, solchen Vorurteilen ist, hat sich erst allmählich deren Eltern und Großeltern aus dem Nahen Osten durchgesetzt und wurde lange Zeit verdrängt. Es stammen und die zum Teil in der zweiten oder drit- stellt sich allerdings die Frage, warum diese späte ten Generation in Deutschland leben, aber noch Einsicht nun umso mehr im Mittelpunkt der Auf- immer einen ungesicherten Aufenthaltsstatus merksamkeit steht. Übernimmt die Fokussierung haben und gesellschaftlich marginalisiert werden, auf den „islamisierten Antisemitismus“ in Deutsch- empfi nden. Sie solidarisieren sich mit dem Schick- land nicht eine Stellvertreterfunktion, die eine sal der Palästinenser, die sie ausschließlich als Verdrängung der Auseinandersetzung mit anti- Opfer israelischer Politik wahrnehmen. Israel, die semitischen Stereotypen in der Mehrheitsge- Israelis und gleichsam alle Juden, die ungeachtet sellschaft ermöglicht, und passt er nicht allzu gut ihrer ganz unterschiedlichen Affi nität zu Israel in das Bild einer islamfeindlichen Stimmung, die zum kollektiven Feindbild avancieren, werden ihn als willkommene Schuldzuschreibung gegen kategorisch zu Tätern und zum willkommenen „die Muslime“ in Deutschland nutzt? Die Konse- Sündenbock für die eigene Situation erklärt. quenz solcher Überlegungen darf allerdings nicht sein, das Thema auszusparen. Vielmehr sollte In Deutschland äußern sich solche antisemiti- Antisemitismus als ein gesamtgesellschaftliches schen Ressentiments zumeist in verbalen Entglei- Phänomen betrachtet werden, das in allen poli- sungen auf Schulhöfen. Dabei beschränkt sich tischen und gesellschaftlichen Spektren latent, das Schimpfwort „Jude“ im schulischen Bereich aber in unterschiedlichem Ausmaß vorhanden ist keineswegs auf Schüler mit migrantischem Hinter- und quer zu Herkunftshintergründen verläuft.15 grund, sondern gehört vielerorts fast schon zum

14 Stender, Konstellationen des Antisemitismus, S. 20. 15 Astrid Messerschmidt, Verstrickungen. Postkoloniale Perspektiven in der Bildungsarbeit zum Antisemitismus, in: Fritz Bauer Institut/Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Hrsg.), Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus, Frankfurt a. M. 2006, S. 150–171, hier: S. 168 f. 16 Klaus Holz, Neuer Antisemitismus? Wandel und Kontinuität der Judenfeindschaft, in: Ansorge, Antisemitismus in Europa, S. 51–80, hier: S. 53.

81 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Allgemeingut. Allerdings besteht die Gefahr der In Deutschland spielt auch die Präsenz der Erinne- Radikalisierung durch politische Indoktrination rung an den Holocaust im öffentlichen Diskurs eine aber auch durch eine Beeinfl ussung entsprechen- nicht unerhebliche Rolle, die bei den „Muslimen der Medien aus dem arabischen Raum (→ Antise- mit Migrationshintergrund“ den sicherlich zum mitismus im politischen Diskurs, in Kultur und Teil berechtigten Eindruck hinterlässt, die The- Alltag/ Antisemitismus in türkischsprachigen matisierung der postkolonialen Verfolgungsge- Medien). schichte der eigenen Familien würde weitgehend ausgeblendet. Allerdings trifft die Annahme, der In ihrer vom Bundesministerium des Innern in Auf- muslimische Bevölkerungsteil würde sich der trag gegebenen Studie befragten Katrin Brettfeld Beschäftigung mit der deutschen Geschichte und und Peter Wetzels „muslimische Jugendliche“ der hier insbesondere mit National sozialismus und 9. und 10. Jahrgangsstufe zu mehreren Themen. Holocaust entziehen, auch nur zum Teil zu. Im 15,7 Prozent stimmten der Aussage zu, dass „Men- Übrigen ist auch dies kein Phänomen, das nur Men- schen jüdischen Glaubens überheblich und geld- schen mit Migrationshintergrund betrifft, eine gierig“ seien. Nur 7,4 Prozent der Jugendlichen mit solche Verweigerungshaltung ist ebenso unter au- Migrationshintergrund, die keine Muslime waren, tochthonen Deutschen nicht unbekannt. Eine von und 5,7 Prozent der „nichtmuslimischen Einheimi- der „Zeit“ in Auftrag gegebene, im Januar 2010 von schen“ waren dieser Meinung.17 Zu berücksichtigen Emnid durchgeführte Umfrage bei 400 Menschen ist allerdings, dass die Mehrheit der zustimmenden mit türkischem Migrationshintergrund – teils mit Antworten innerhalb der muslimischen Jugendli- deutschem, teils mit türkischem Pass – ergab, dass chen aus dem Kreis der „fundamental-religiösen“ 46 Prozent der Befragten die Beschäftigung mit Gruppe kam, bei jenen, die als gering religiös dem Holocaust auch als ihre Sache ansehen. 78 Pro- eingestuft wurden, waren es nur 3 Prozent. Auch zent lehnten die Aussage ab, „die heute in Deutsch- wenn diese Erhebung eine deutliche Diskrepanz land lebenden Türken müssen einen ähnlichen zumindest zwischen den „fundamental-religiösen Druck ertragen wie die Juden in Deutschland vor Muslimen“ und den Nichtmuslimen zeigt, so ihrer Verfolgung“. „Fast 68 Prozent der Befragten verringert sie sich doch, wenn andere Umfragen räumten ein, ‚eher wenig‘ oder ‚fast nichts‘ über einbezogen werden, die nicht auf Jugendliche den Holocaust zu wissen, nur 31 Prozent meinten, beschränkt waren und keine Unterscheidung in sie wüssten darüber ‚sehr viel‘ oder ‚eher viel‘. Das Bezug auf die Herkunft trafen. Im Oktober 2002 deckt sich mit einer anderen Zahl: Drei Viertel der ließ das American Jewish Committee von Infratest Deutschtürken geben an, noch nie eine KZ-Ge- eine Umfrage in Deutschland durchführen, in denkstätte, ein jüdisches Museum oder das Holo- der 45 Prozent der Befragten vollkommen oder caust-Mahnmal in Berlin besucht zu haben. Dieses weitgehend der Aussage zustimmten, dass Geld Ergebnis hat freilich viel mit dem Bildungsstand zu für die Juden eine wichtigere Rolle spielen würde tun: Fast 50 Prozent der befragten Deutschtürken als für andere Leute.18 Die Anti-Defamation League mit Abitur oder einem Hochschulabschluss waren hat 2005, 2007 und 2009 Einstellungsdaten in schon einmal an einem solchen Erinnerungsort.“20 verschiedenen europäischen Ländern erhoben. In Deutschland hielten etwas über 20 Prozent der Albert Scheer und Barbara Schäuble haben in ihrer Befragten die Statements „Juden haben zu viel Untersuchung über „Ausgangsbedingungen und Macht in der Geschäftswelt“ und „Juden haben zu Perspektiven gesellschaftspolitischer Bildungs- viel Macht in der Finanzwelt“ für ziemlich wahr- arbeit gegen Antisemitismus“ festgestellt, dass scheinlich19 (→ Antisemitische Einstellungen in „eine dezidierte Ablehnung und Feindseligkeit Deutschland). Insofern unterscheiden sich diese gegenüber Juden sich ‚nur‘ dann“ abzeichne, traditionellen Stereotype der Jugendlichen mit „wenn Jugendliche mit Migrationshintergrund Migrationshintergrund nicht von jenen, die in der sich politisch – und dies steht in keinem unmittel- Mehrheitsgesellschaft virulent sind. Unterschiede baren Zusammenhang mit ihrer religiösen Orien- bestehen wohl eher in den Motiven. tierung – in einer Weise als ‚Muslime‘ defi nieren,

17 Brettfeld/Wetzels, Muslime in Deutschland, S. 275. 18 German Attitudes Toward Jews, The Holocaust and the U.S, 16. Dezember 2002, http://www.ajc.org/site/apps/nl/content3.asp?c=ij ITI2PHKoG&b=846741&ct=1032137 [eingesehen am 28. April2011]. 19 Anti-Defamation League, Attitudes Toward Jews in Twelve European Countries, May 2005, http://www.adl.org/anti_semitism/ european_attitudes_may_2005.pdf; Attitudes Toward Jews and the Middle East in Six European Countries, May 2007, http://www.adl.org/anti_semitism/European_Attitudes_Survey_May_2007.pdf; Attitudes Toward Jews in Seven European Countries, February 2009, http://www.adl.org/Public%20ADL%20Anti-Semitism%20Presentation%20February%202009%20_3_. pdf [alle eingesehen am 28. April 2011]. 20 Die Zeit vom 21. Januar 2010. 21 Scherr/Schäuble, „Ich habe nichts gegen Juden, aber [...]“.

82 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft die von einem grundlegenden weltpolitischen die sich sonst zuweilen untereinander entlang Konfl ikt zwischen ‚dem Westen‘ und der ‚muslimi- ethnisch-nationalistischer Linien bekämpfen.“ 22 schen Welt‘ ausgeht und die mit einer antisemi- tisch konturierten Israelkritik in Referenz auf den Ähnliche Erkenntnisse hat auch die „Kreuzberger Nahostkonfl ikt einhergeht.“21 Initiative gegen Antisemitismus“ in ihrer jahre- langen Arbeit mit Jugendlichen gewonnen, die Im Rahmen des Projekts „amira – Antisemitismus einen muslimischen Migrationshintergrund ha- im Kontext von Migration und Rassismus“, das ben. Bei der Bewertung der Problematik müssen Angebote zum Umgang mit Antisemitismus unter herkunftsspezifi sche Einfl üsse und Unterschiede Jugendlichen mit Migrationshintergrund für die genauer differenziert werden, vor allem sind offene Jugendarbeit in Kreuzberg und vergleich- einfache, einseitige Zuschreibungen zu vermei- baren Stadtteilen erarbeitet, fand im September den. Al-Quds-Tag-Demonstranten oder radikale 2008 eine Tagung zum Thema statt. Die Ergebnis- islamistische Gruppierungen machen nur einen se treffen bis heute zu: „‚Klassische‘ antisemiti- verschwindend kleinen Teil der muslimischen sche Stereotype scheinen unter den Kreuzberger Communities aus. Pauschalisierungen und Jugendlichen weniger stark verbreitet zu sein. Am Allgemeinplätze über „die Muslime“ ebenso wie häufi gsten wird noch das Stereotyp vom ‚reichen‘ unrefl ektierte Antisemitismusvorwürfe gegen und ‚geschäftstüchtigen Juden‘ genannt […]“ (wie „die Muslime“ lassen jegliche Differenzierung sich ja auch in der vom Bundesinnenministerium vermissen, stilisieren einen überaus heterogenen in Auftrag gegebenen Studie von Wetzels/Brett- Teil der Gesellschaft zu einer Gruppe, die ver- feld zeigte). „Interessant ist“, so die Dokumenta- meintlich von ihrer Religion bestimmt wird, und tion von amira weiter, „dass religiös begründeter zeichnen ein Schwarz-Weiß-Bild, das jeglichen Antisemitismus unter den Jugendlichen eine selbstkritischen Umgang konterkariert und Men- weniger große Rolle zu spielen scheint, als dies oft schen pauschal ins Abseits stellt, die so zu einer vermutet wird […]. Antisemitische Äußerungen leichten Beute für radikale Gruppierungen wer- der Jugendlichen bleiben in der Regel auf einer den können. Insbesondere für die pädagogische verbalen, meist wenig ideologisierten (Sprüche-) Arbeit erscheint es wichtig festzustellen, dass sich Ebene, hinter der kein großes eigenes Engage- Jugendliche – ob mit oder ohne Migrationshinter- ment steht. In einzelnen Einrichtungen bzw. in grund – häufig antisemitischer Stereotype eher ihrer direkten Umgebung gab es jedoch auch als Gruppenzugehörigkeitsmerkmal bedienen, massive Beleidigungen oder gar tätliche Angriffe als dass dies auf eine verfestigte Weltanschauung auf jüdische Passant/innen bzw. jüdische Einrich- hindeuten würde. In jedem Fall aber bieten anti- tungsmitarbeiter/innen. […] In den Jugendein- semitische Zuschreibungen für Jugendliche, die richtungen wird Antisemitismus vor allem als eigene Diskriminierungserfahrungen kompen- Problem wahrgenommen, das von Jugendlichen sieren wollen, einfache Erklärungen für komplexe mit arabischem bzw. palästinensischem Hin- wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche tergrund ausgeht. Unter ihnen ist das Feindbild Sachverhalte, denen sie sich hilflos ausgesetzt ‚Israelis = Juden‘ häufi g stark. […] Türkisch-und fühlen. Hier müssen pädagogische Konzepte ent- kurdischstämmige Jugendliche dagegen […] wickelt und spezifi sch auf das Phänomen Antise- werden von den Jugendarbeiter/innen meist als mitismus zugeschnitten werden. Allerdings kann weniger antisemitisch beschrieben. Vertreter/ dies erst in zufriedenstellendem Maße geschehen, innen von Migrant/innen-Organisationen be- wenn entsprechende belastbare empirische Er- richten jedoch, dass Antisemitismus auch in den gebnisse zum Antisemitismus in der Migrations- türkischen und kurdischen Communities verbrei- gesellschaft vorliegen. tet sei, wenngleich er meist nicht offen geäußert werde. […] Israelfeindlichkeit und Antisemitismus können so zum ‚gemeinsamen Nenner‘ zwischen Jugend lichen unterschiedlicher Herkunft werden,

22 Amira, „Du Opfer, Du Jude“. Antisemitismus und Jugendarbeit in Kreuzberg. Dokumentation der amira-Tagung am 16. September 2008 in Berlin-Kreuzberg, Berlin 2008.

83 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

4. Tradierung antisemitischer Die vorliegenden Ausführungen können nur einen ersten Einblick in verschiedene Sozialisations- Stereotype durch instanzen geben, da es bisher kaum Untersu- gesellschaftliche chungen über die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in den verschiedenen gesellschaft- Sozialisationsinstanzen lichen Bereichen gibt. Einzelne Vorkommnisse in Schulen, Universitäten, Kirchen und Fußball- Bis heute existieren in unserer Gesellschaft antise- vereinen sind zwar in den Medien thematisiert mitische Vorurteile oder doch zumindest Stereo- worden und haben zum Teil Debatten ausgelöst, type und Klischees über Juden in einem größeren – sind aber bisher noch kaum in breit angelegten bisher für manche gesellschaftliche Gruppen nur empirischen Studien genauer analysiert worden. ansatzweise erforschten – Umfang. Während die Dass hier manche gesellschaftlichen Bereiche aus- Verbreitung solcher Stereotype und Vorurteile in führlicher dargestellt werden, hat wenig mit der Familien- oder Stammtischdiskursen für Außen- Intensität antisemitischer Vorurteile, Stereotype stehende kaum nachvollziehbar ist, lassen sich oder Klischees in den jeweiligen Milieus zu tun, gesellschaftliche Bereiche benennen, in denen sondern ist vielmehr auf die stärkere Wahrneh- solche Mechanismen evident, empirisch belegbar mung in der Öffentlichkeit zurückzuführen. Die und damit beeinfl ussbar sind. Dies ist insbesondere im Folgenden zusammengetragenen Beobach- in solchen Einrichtungen gegeben, deren Arbeit tungen sind daher eher explorativ und erheben durch Rahmenrichtlinien festgelegt beziehungs- keinen systematischen Anspruch. weise auf der Grundlage von verfügbarem Material nachvollziehbar ist. Die Frage, inwieweit in den Kirchen – über Erklä- rungen der Kirchenleitungen hinaus – eine leben- Zu den wichtigsten gesellschaftlichen Soziali- dige Auseinandersetzung mit tradierter christlicher sationsinstanzen, die dieses Kriterium erfüllen, Judenfeindschaft stattfi ndet und ob solche Debatten gehören Kindergärten, Schulen, Universitäten, einen Einfl uss auf die praktische kirchliche Arbeit Kirchen und Vereine, wobei die Bedeutung dieser besitzen, wurde in den Beratungen des Experten- Einrichtungen je nach Region oder sozialem Mili- kreises immer wieder als ein wichtiges offenes eu unterschiedlich ausfallen kann. Im Folgenden Problem thematisiert. Deshalb hat sich der Exper- werden einige ausgewählte Institutionen und tenkreis dazu entschlossen, zwei externe Exper- Organisationen beispielhaft in den Blick genom- tisen – zur katholischen und evangelischen Kirche – men, um die Frage zu diskutieren, ob (und gege- erstellen zu lassen, die erste Einblicke vermitteln. benenfalls in welcher Form) sich Anhaltspunkte dafür bieten, dass innerhalb dieser Sozialisati- Kitas und Kindergärten onsinstanzen antisemitische Stereotype weiter- gegeben werden beziehungsweise Einzelnen die Kitas und Kindergärten, vor allem in ländlichen Möglichkeit eröffnet wird, antisemitische Vorur- Gegenden, waren und sind in den letzten Jahren teile in das Milieu hineinzutragen. Dabei geht es immer wieder Ziel rechtsextremer Aktivitäten dem Expertenkreis nicht um pauschalisierende geworden, mit der Absicht, in einem vermeintlich Verdächtigungen, sondern es sollen beispielhaft unpolitischen Feld rassistische und antisemitische Defi zite aufgezeigt werden, die bei der Analyse Ideologien zu verbreiten. Selbst wenn der Antisemi- der gesellschaftlichen Verbreitung antisemi- tismus in diesem Umfeld eher eine untergeordnete tischer Stereotype nach wie vor bestehen. Die Rolle spielt, so wird er doch über rechtsextreme Verbreitung solcher Vorurteile erfolgt häufi g Inhalte tradiert und ist ein integraler Bestandteil in scheinbar „harmloser“ oder verdeckter Form des Rechtsextremismus (→ Antisemitismus im oder sie geschieht unbewusst, ja entgegen den Rechtsextremismus). Rechtsextreme versuchen, besten Absichten der jeweiligen Organisation. Im durch ehrenamtliche Angebote und die Mitarbeit in Folgenden wird unterschieden, ob antisemitische Elternvertretungen Einfl uss zu gewinnen. So sollen Stereotype von Dritten in die Einrichtung getra- mit der Ausrichtung von Kinder- und Familienfesten gen werden, ob diese Stereotype in der Institution oder durch die Mithilfe bei der Renovierung des selbst verankert sind und die Tradierung bewusst Spielplatzes neue Zielgruppen angesprochen, ihr und willentlich geschieht oder aber unbewusst Vertrauen gewonnen und sukzessive rechtsextreme beziehungsweise aus Unwissenheit erfolgt. Eine Ideologien verbreitet werden.1 Diese Strategie kann solche Unterscheidung ist vor allem in Bezug auf schließlich dazu führen, Kindertagesstätten mit die Frage der Prävention von Bedeutung. Deshalb rechtsextrem eingestellten Erziehern und Erzie- ist dieser Teil in engem Zusammenhang mit dem herinnen zu besetzen oder deren Trägerschaft zu Kapitel „Präventionsmaßnahmen“ zu sehen. übernehmen, wie dies im Februar 2010 in Bartow,

1 Hierzu Berichte der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft, Internetseite der Kindertagesstätten, http://kita-live-mv. de/, u. a.: http://www.svz.de/artikel/article//rechtsextreme-draengen-in-kitas.html?cHash=53f7c9d54f&no_cache=1&sword_ list[0]=rechtsextreme&sword_list[1]=kita [eingesehen am 5. Mai 2011].

84 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Mecklenburg-Vorpommern versucht wurde.2 Der beeinfl usst werden sollen.4 Die CDs verbreiten Versuch scheiterte, und in Zukunft soll Vergleich- überwiegend rassistisches Gedankengut, ver- bares mit einem „Kita-Erlass zur Gewährung der mitteln aber auch auf subtile Art und Weise anti- grundgesetzlichen Wertordnung“3 verhindert semitische Denkmuster durch die Bezugnahme auf werden. Empirische Untersuchungen, in wie vielen „das Kapital“ oder „die Kriegstreiber“ mit eindeutig Fällen Erzieher und Erzieherinnen oder Eltern, anti semitischer Konnotation.5 Wie erfolgreich im die der rechtsextremen Szene zuzurechnen sind, Sinne der rechtsextremen Szene diese Aktionen Einfl uss auf Kitas und Kindergärten nahmen, liegen durchgeführt werden können, hängt von den bislang nicht vor. Ebenso fehlen entsprechende For- jeweiligen Schulleitungen und ihrem Gebrauch des schungen, inwieweit antisemitische Vorurteile im Hausrechts ab.6 Während von der „Schulhof-CD“ Bereich der Kindergärten tradiert werden. anlässlich der Landtags- und Bundestagswahlen im Jahr 2005 angeblich 200.000 Stück vor Schulen ver- Schulen teilt wurden, ging die Zahl in den folgenden Jahren auf 10.000 bis 25.000 Stück zurück. Allerdings ist Schulen können bei der Tradierung antisemi- der Verbreitungsgrad deutlich höher einzuschät- tischer Stereotype in mehrfacher Hinsicht eine zen, weil die entsprechenden Ausgaben (aktuellste Rolle spielen. Dabei sind alle im Folgenden ge- Fassung „Schulhof-CD“ 2011) von einer eigenen Web- nannten Punkte nachvollziehbar und belegbar seite herunterzuladen sind. und könnten vielfach vermieden werden. Gleich- zeitig ist jedoch zu betonen, dass die untenstehen- Tradierung antisemitischer Stereotype über den Ausführungen insbesondere in Bezug auf die Rahmenpläne und Schulbücher: Die einseitige Lehrpläne und -bücher nicht zwangsläufi g zur Ent- Hervorhebung von Juden als Opfer stehung und Tradierung antisemitischer Stereo- type führen müssen. Sie sind hier aufgeführt, um Antisemitische Einstellungen können durch die auf vermeintlich unwichtige Aspekte aufmerksam unzulängliche und unangemessene Beschäftigung zu machen, die in ihrer Gesamtheit in einem nicht mit jüdischer Geschichte, dem Judentum oder Isra- unerheblichen Maße zum Antisemitismus im All- el im Unterricht entstehen. Anknüpfungspunkte tag beitragen können. zur Beschäftigung mit diesen Themen fi nden sich im Religions-, Lebenskunde- und Ethikunterricht Tradierung antisemitischer Stereotype sowie im Geschichts-, Politik- und Deutschunter- von außen richt. Der Kontext kann je nach Unterrichtsfach die Geschichte der Weltreligionen, die Geschichte des Schulen sind in den letzten Jahren zu einem belieb- Mittelalters und des Nationalsozialismus, Konfl ikte ten Aktionsfeld rechtsextremer Gruppierungen seit 1945 oder die Beschäftigung mit dem Phäno- geworden, die auf Schulhöfen und im näheren men „Extremismus“ sein. Seit Jahrzehnten weisen Schulumfeld Propagandamaterial verbreiten. So Wissenschaftler auf die Tradierung antisemiti- verteilt zum Beispiel die NPD seit 2004 kostenlos scher Stereotype in Schulbüchern hin. Durch die sogenannte Schulhof-CDs an Schülerinnen und Fokussierung auf Einzelaspekte bei der Behand- Schüler, die mit Hilfe des Mediums Musik politisch lung der genannten Themen würden historische

2 Siehe hierzu u. a. http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/aktuelles/gegen-rechtsextreme-kita-betreiber/ und http://www.fr-online.de/politik/gegen-rechte-kinderfaenger/-/1472596/4507854/-/index.html [beide eingesehen am 5. Mai 2011]. 3 Der „Kita-Erlass zur Gewährung der grundgesetzlichen Wertordnung“ gilt bislang in Mecklenburg-Vorpommern. Der Zentralrat der Juden in Deutschland fordert, dass alle anderen Bundesländer diesem Beispiel folgen. [http://www.ndr.de/ regional/mecklenburg-vorpommern/schwesig144.html und http://www.zentralratdjuden.de/de/article/3060.html, beide eingesehen am 18. Mai 2011]. 4 Jugendschutz.net, http://www.jugendschutz.net/materialien/synopse_aktion_schulhof.html [eingesehen am 2. Mai 2011]: „Trotz versuchter konspirativer Planung wurde die Aktion vorab bekannt. In mehreren Presswerken konnte die Produktion gestoppt oder CDs beschlagnahmt werden. Bei einer Hausdurchsuchung im Juli 2004 wurden bei einem Betreiber eines rechtsextremen Versandhauses dennoch unter anderem ein Lieferschein über 50.000 Exemplare dieser CD sichergestellt. […] Das Amtsgericht Halle ordnete am 04.08.2004 die allgemeine Beschlagnahme der CD an, da sie offensichtlich geeignet ist, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemein- schaftsfähigen Persönlichkeit schwer zu gefährden. Mit diesem bundesweit gültigen Beschluss wurde Rechtssicherheit im Umgang mit der CD geschaffen. Sachsen-Anhalts Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad erklärte: ‚Das Verteilen [...] ist eine Straftat nach Paragraf 27, Absatz 1, Nummern 1 und 2 des Jugendschutzgesetzes in der ab 1. April 2004 geltenden Fassung. Es kann mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe geahndet werden.‘ Außerdem seien auch einige Texte nach Paragraf 90a des Strafgesetzbuches (Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole) strafbar.“ 5 Zum Beispiel „Die letzten Deutschen“ von Agnar auf der „Schulhof-CD“ 2010 „Freiheit statt BRD“. 6 Die Arbeitsstelle Neonazismus in Düsseldorf bietet eine „Argumentationshilfe gegen die ‚Schulhof-CD‘ der NPD“ an, siehe http://www.netz-gegen-nazis.de/files/Argumente_gegen_NPD_CD.pdf [eingesehen am 5. Mai 2011]. 7 Besonders ist hierzu Chaim Schatzer zu nennen, Historiker, ab 1981 Mitglied der deutsch-israelischen Schulbuchkommission. Publikationen u. a.: Die Juden in den deutschen Geschichtsbüchern. Schulbuchanalyse zur Darstellung der Juden, des Judentums und des Staates Israel, Bonn 1981.

85 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Phänomene verkürzt, vereinfacht und damit Darüber hinaus besteht das Risiko, dass jüdische verfälscht und schlichte Täter-Opfer-Dichotomien Geschichte auf Verfolgungsszenarien reduziert verbreitet.7 wird und der ursächliche Antisemitismus eine Fol- ge jüdischer Geschichte zu sein scheint. So sollen Die Mitarbeiter eines Forschungsprojekts zu nar- zum Beispiel nach den Vorgaben in den baden- rativen Strukturen jüdischer Geschichte in Schul- württembergischen Lehrplänen, im Rahmen der geschichtsbüchern, das vom Pädagogischen Zen- Behandlung der Geschichte des Nationalsozialis- trum des Fritz Bauer Instituts in Kooperation mit mus, die Themen „Rassenlehre und Antisemitis- dem Jüdischen Museum Frankfurt a. M. und dem mus, Boykott/Nürnberger Gesetze, Reichspog- Georg-Eckert-Institut für internationale Schul- romnacht und Reaktionen der Bevölkerung“ auf buchforschung durchgeführt wird, beklagen, dass gleicher Ebene behandelt werden wie „Erkundun- trotz der erstaunlichen Forschungsleistung der gen: Spuren jüdischen Lebens am lokalen Beispiel“. letzten Jahrzehnte im Hinblick auf die Geschichte Eine solche Parallelisierung kann schnell zu einer jüdischen Lebens in Lehrplänen und Schulbüchern Verschiebung der Ebenen von Ursache und Wir- die Darstellung der Verfolgung von Juden domi- kung führen.11 niere und Juden im Wesentlichen als Opfer wahr- genommen werden.8 Wenn auch mit historischen Vergleichen die nach- vollziehbare Intention verbunden wird, Schüle- Obwohl die deutsch-israelische Schulbuchkom- rinnen und Schüler für die historische Dimension mission bereits seit 1985 fordert, dass jüdische Ge- bestimmter Phänomene zu sensibilisieren, so kann schichte – und damit auch die Geschichte des An- ein solches Vorgehen durchaus problematisch sein. tisemitismus – nicht allein auf die Darstellung von Beispiele finden sich – wahrscheinlich vor dem Konfl ikten und die Geschichte der Shoa reduziert Hintergrund, historische Sachverhalte für eine werden darf,9 und die Leo-Baeck-Gesellschaft seit vermeintlich eingeschränkt lernfähige Adressaten- 2003 fundierte Empfehlungen für den Unterricht gruppe möglichst einfach erklären zu wollen – vor und die Lehrerbildung veröffentlicht, wird Antise- allem in den in Haupt- und Realschulen eingesetz- mitismus nach wie vor vielfach ausschließlich im ten Lehrbüchern. So werden in einem Geschichts- Kontext der Geschichte des Nationalsozialismus buch für die Hauptschule Abbildungen von einem thematisiert. Dies ist etwa im Religionsunterricht „Judenring“ – der vorgeschriebenen Kennzeich- in mehreren Bundesländern der Fall oder im Ge- nung für Juden im 16. Jahrhundert – und des „Juden- schichtsunterricht der Realschulen in Sachsen und sterns“ aus der Zeit des Nationalsozialismus mit der Hessen.10 Durch die ausschließliche Fokussierung Intention einer Parallelisierung unterschiedlicher auf diese historische Phase wird die Gelegenheit Epochen nebeneinander gestellt. Auch wenn der verpasst, Juden als Minderheit in der deutschen „Judenring“ als Vorläufer des „Judensterns“ gese- Geschichte kennenzulernen, deren Haltung und hen werden kann, handelt es sich um Kennzeich- Handlungen sich immer wieder entsprechend nungen in unterschiedlichem Kontext. Die beab- eines sich wandelnden Umfelds veränderten. sichtigte Bildbotschaft verstärkt die Überschrift des Gleichzeitig erscheint der Antisemitismus damit, Begleittextes „Die Juden werden ausgegrenzt“.12 Im mangels fehlender historischer Einordnung, als ein Text wird verkürzend darauf verwiesen, dass Kirche ausschließlich den Nationalsozialisten zuzuord- und Kaiser die Juden ausgrenzen wollten und Juden nendes Phänomen, das 1933 quasi aus dem Nichts in Ghettos wohnen mussten. Der Arbeitsauftrag erschien und 1945 wieder verschwand. Juden schließlich lautet „Die Judenfeindschaft hat im werden in dieser verkürzten – und historisch ver- Mittelalter viele Wurzeln, zum Beispiel Aberglau- fälschenden – Darstellung ausschließlich als Opfer be, Furcht, Fremdenhass, religiöse Feindschaft, wahrgenommen. Von einem solchen Opferstatus Neid. Suche im Text Beispiele: Aberglaube: Die aber wollen sich Schüler explizit abgrenzen (siehe Juden benutzten angeblich das Blut der Christen. nächster Abschnitt). Furcht [...]“13 Trotz der guten Absicht, den Schülern

8 Martin Liepach, Wie erzählt man jüdische Geschichte? Narrative Konzepte jüdischer Geschichte in Schulbüchern, in: Einsicht 4 (2010), S. 38–43; OSCE/ODIHR (Hrsg.), Antisemitismus Thematisieren: Warum und Wie? Leitfaden für Pädagoginnen und Pädagogen, o. O. 2007, S. 9. 9 Deutsch-israelische Schulbuchempfehlungen. Zur Darstellung der deutschen Geschichte und der Geographie der Bundesrepublik Deutschland in israelischen Schulbüchern, Frankfurt a. M. 1992 sowie http://www.lehrerfortbildung-leo-baeck. de/seite_05.html [eingesehen am 5. Mai 2011]. 10 Gottfried Kößler, Antisemitismus als Thema im schulischen Kontext, in: Fritz Bauer Institut/Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Hrsg.), Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus, Frankfurt a. M. 2006, S. 172–186, hier: S. 176. 11 Ebenda. 12 Das Beispiel stammt aus dem genannten Forschungsprojekt. Die ausführliche Darstellung, Analyse und Kritik fi nden sich bei Liepach, Wie erzählt man jüdische Geschichte? 13 „Zeitlupe A 1“, Braunschweig 2003, S. 102 f.

86 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft antijüdische Stereotype zu verdeutlichen und zu Tradierung antisemitischer Stereotype zeigen, dass sie jeglicher Grundlage entbehren, über Kinder- und Jugendliteratur besteht angesichts der Auswahl und Gestaltung der Aufgabe, vor allem durch die Einführung des Auch Kinder- und Jugendbücher, die im Schulunter- Begriffs Fremdenhass, das Risiko, bei den Schü- richt insbesondere in den unteren Jahrgangsstufen lern den Eindruck zu hinterlassen, Juden wären zu im Deutsch-, Religions- und Lebenskundeunterricht jedem Zeitpunkt der Geschichte Fremde gewesen gelesen werden, können – sofern nicht eindeutig und deswegen gehasst worden.14 Auch hier erfolgt von Lehrkräften problematisiert – antisemitische wieder eine Fokussierung auf Juden als Opfer: Opfer Stereotype an Schüler vermitteln. Prominentestes im Mittelalter, Opfer in der Zeit des Nationalsozia- Beispiel ist das 1961 erschienene Buch „Damals war lismus, Opfer im Laufe der Geschichte. „Opfer“ ist es Friedrich“ von Hans-Peter Richter. Inzwischen in dabei für viele Jugendliche gleichbedeutend mit 13 Sprachen übersetzt, erschien 2008 die 57. deut- „Schwäche“ und „nicht handeln“, also etwas, wovon sche Aufl age. Die Schullektüre, zu der umfangrei- sie sich abgrenzen wollen. Vor diesem Hintergrund ches Unterrichtsmaterial vorliegt, wurde über eine ist die Parallelität der aktuell gebräuchlichen Million Mal alleine in Deutschland verkauft. Viele Schimpfwörter „Du Opfer“ und „Du Jude“ zu sehen. Lehrkräfte haben noch heute kaum ein Problembe- Häufig fehlt die Sensibilität der Lehrenden, auf wusstsein für die im Buch tradierten Klischees über solche Konstrukte einzugehen. Juden entwickelt, die vorurteilsbehaftete Muster be- dienen, wie etwa das des „reichen Juden“. Der Vater Neben der Opferrolle der Juden finden sich in des jüdischen Jungen Friedrich ist Postbeamter, wird Schulbüchern aber auch andere Vorurteile über aber – wenig realistisch – als reich beschrieben und Juden, so zum Beispiel ihre angebliche Affinität kann selbst in Zeiten großer wirtschaftlicher Not zum Geld. Das Klischee, Juden hätten Geld gegen die Familie des nichtjüdischen Jungen zum Rummel Zins verliehen, weil dies Christen verboten war, hat einladen. Der Lehrer der beiden Jungs – als positive sich zu einem gängigen Erklärungsmuster ent- Figur dargestellt – vermittelt die Vorstellung, die wickelt, sodass selbst christliche Geldverleiher Kreuzigung Jesu durch die Juden sei ein Faktum, als jüdische identifi ziert werden15 (→ Antisemi- das den Juden bis heute viele nicht verziehen hätten. tismus im politischen Diskurs, in Kultur und Er versucht – ein klassisches antisemitisches Ste- Alltag). Das Bild vom „Geldjuden“ kann nur allzu reotyp nutzend – damit, die ablehnende Haltung leicht auf das im Rahmen vieler Verschwörungs- gegenüber Juden in den 1930er-Jahren, in denen der theorien genutzte Bild vom „internationalen Jugendroman spielt, zu begründen. Mit vereinfa- Finanzjudentum“ übertragen werden, das auch chenden und damit schiefen Erklärungen wie etwa von Schülern rezipiert und weiter tradiert wird. In der, die Motivation des nichtjüdischen Vaters, in die Schul büchern und anderen Lehrmedien wird das NSDAP einzutreten, liege einzig und allein in dem Klischee dahingehend erweitert, dass behauptet Wunsch nach einem Arbeitsplatz, werden histori- wird, die christliche Bevölkerung sei aufgrund des sche Kontexte verfälscht.18 jüdischen Wuchers verarmt und habe aus Rache Pogrome verübt.16 Wenn sich schließlich in einem In dem insbesondere auch für jüngere Kinder Schulbuch im Kontext des Themenclusters „Privi- immer wieder empfohlenen Kinderbuch „Judith legien, Verfolgung, Vertreibung“ eine Assoziation und Lisa“19 von Elisabeth Reuter aus dem Jahr 1988 zur Verfolgungsgeschichte der Juden im National- können sich antisemitische Stereotype über kind- sozialismus aufdrängt, werden Begriffe so zusam- gerechte Illustrationen tradieren. Lisa entspricht mengebracht, dass der Terminus „Privilegien“ als mit ihren blonden Haaren und blauen Augen Erklärungsmuster für die Shoah erscheint.17 gänzlich dem „arischen“ Idealbild, während Judith

14 Liepach, Wie erzählt man jüdische Geschichte? 15 So geschehen beim Bild „Le prêteur et sa femme“ (1514) von Quentin Metsys im Schulbuch „Rückspiegel 2“ vom Schöningh Verlag. Das Beispiel gehört zu der ausführlichen Darstellung von Wolfgang Geiger Christen, Juden und das Geld. Über die Permanenz eines Vorurteils und seine Wurzeln, in: Einsicht 4 (2010), S. 30–37. 16 Brockhaus 2004, „Juden: Stellung im Mittelalter“, zitiert nach Geiger, Christen, Juden und das Geld, S. 31. 17 „Geschichte und Geschehen Oberstufe A 1“; Geiger, Christen, Juden und das Geld, S. 31. 18 Hierzu Zohar Shavit, Gesellschaftliches Bewusstsein und literarische Stereotypen, oder: Wie Nationalsozialismus und der Holocaust in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur behandelt werden, in: Werner Anders/Malte Dahrendorf/Maria Fölling- Albers (Hrsg.), Antisemitismus und Holocaust. Ihre Darstellung und Verarbeitung in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur, Oldenburg 1988, S. 97–107; Juliane Wetzel, Damals war es Friedrich. Vom zähen Leben misslungener guter Absicht, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Vorurteile in der Kinder- und Jugendliteratur, Berlin 2010, S. 183–211. 19 So zum Beispiel in dem Sonderheft von „Mit Kindern Schule machen. Die Grundschulzeitschrift. Pädagogische Zeitschriften bei Friedrich in Velber in Zusammenarbeit mit Klett“ zum Thema „Holocaust als Thema in der Grundschule“ vom September 1996 (Heft 97), S. 40. 20 Shavit, Gesellschaftliches Bewusstsein.

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mit braunen Haaren und Augen als „typische“ daran liegen, dass sie sich von den an sie gestellten Jüdin dargestellt wird. So wird den jungen Kindern Erwartungen überfordert fühlen.23 zu einem Zeitpunkt, an dem sie noch über keinerlei Wissen über das von der rassistischen NS-Propa- Für Jugendliche, deren Familien einen anderen ganda kolportierte vermeintliche Aussehen von (Leidens-)Hintergrund haben, kann darüber hinaus Juden und Nichtjuden verfügen, auf subtile Art und die hohe moralische Konnotation der Geschichte Weise genau dieses vermittelt.20 Darüber hinaus der Shoah zu Erinnerungskonkurrenzen führen, wird hier, wie in vielen anderen Kinderbüchern, die unter Umständen antijüdische Gefühle bedin- die Unterscheidung „Deutsche“ und „Juden“ gen können.24 tradiert, die Juden zu „Fremden“ werden lässt. Risiken der Vermittlung rassistisch-antisemi- Mögliche Erzeugung von (sekundärem) tischer Bilder durch unrefl ektierte Einführung Antisemitismus durch moralische Erwar- und Nutzung von NS-Propagandamaterial tungen an die Schülerinnen und Schüler im im Unterricht Kontext der Behandlung des Holocaust und mangelnde Selbstrefl exion Sowohl in Lehrbüchern als auch im Unterricht und in Materialien, die über das Internet frei erhältlich Die Vermittlung der Geschichte jüdischen Lebens sind, werden häufi g Propagandabilder von Juden in Deutschland, des Nationalsozialismus sowie der aus der Zeit des Nationalsozialismus gezeigt und Verfolgung der europäischen Juden ist von weitrei- eingesetzt. Obwohl dies in der Absicht geschieht, chenden moralischen Erwartungen, insbesondere Jugendliche gegen die Wirkung des Propaganda- gegenüber den Schülern, geprägt.21 Da die Ver- materials zu wappnen, besteht das Risiko, das mittlung dieser Themen einerseits zur Prävention Gegenteil zu erreichen und Jugendlichen über- gegen jegliches undemokratisches Gedankengut haupt erst antisemitische Klischees über das ver- beitragen soll und die Lehrkräfte häufi g emotional meintliche Aussehen von Juden und die angeblich beteiligt sind, werden Reaktionen von Schülerin- damit verbundenen Charaktereigenschaften zu nen und Schülern oftmals als nicht „angemessen“ vermitteln.25 Einerseits fehlt es vielen Lehrkräften eingestuft. Was jedoch „angemessen“ bedeutet, an der nötigen Kompetenz, die Bilder zu dekon- richtet sich in der Regel nach den persönlichen struieren, deren Wirkungspotenzial vielfach erst Befi ndlichkeiten der Lehrkraft und nicht nach nach einer eingehenden Analyse zu verstehen ist, klar defi nierten Bildungsstandards. So besteht die andererseits wird eher selten darauf eingegangen, Möglichkeit, dass Lehrer enttäuscht reagieren, was die Propaganda für die betroffenen Menschen wenn Schüler nicht die vermeintlich notwendige bedeutete, sodass die nötige Empathie für eine Betroffenheit zeigen.22 Diese Erwartungshaltungen Distanzierung von der Bildsprache ausbleibt. Wird können bei Jugendlichen zur Entwicklung einer antisemitisches Propagandamaterial unsachge- Abneigung gegenüber den Themen und implizit mäß im Unterricht eingesetzt, besteht die Gefahr, auch gegenüber Juden führen. Wenn zum Beispiel dass Schüler es in anderen Kontexten verwenden. Jugendliche anführen, sie wollten nichts mehr von der Geschichte des Nationalsozialismus hören, Auch die fehlende Auseinandersetzung mit histo- weil sie ständig damit konfrontiert seien, kann dies rischen Fotos als Quelle kann zu Missbrauch führen.

21 U. a. Kößler, Antisemitismus als Thema im schulischen Kontext; Wolfgang Meseth, Aus der Geschichte lernen. Über die Rolle der Erziehung in der bundesdeutschen Erinnerungskultur, Frankfurt a. M. 2005. 22 Im Rahmen der Studie „Holocaust Education“ zu „Perspektiven der schulischen Thematisierung von Nationalsozialismus und Holocaust“ konnten solche Reaktionen abgefragt werden, da sich das Interesse der Studie nicht auf die objektiven Ereignisse im Unterrichtsgeschehen richtete, sondern auf die subjektive Art und Weise, wie Schüler und Lehrer den Unterricht erleben und werten. Veröffentlichung der Landeszentrale für Politische Bildung, Bayern 2008. 23 U. a. Matthias Heyl, „Erziehung nach Auschwitz“ und „Holocaust Education“. Überlegungen, Konzepte und Vorschläge, in: Ido Abram/Matthias Heyl (Hrsg.), Thema Holocaust. Ein Buch für die Schule, Hamburg 1996, S. 61–66. 24 U. a. Elke Gryglewski, Diesseits und jenseits gefühlter Geschichte. Zugänge von Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu Shoa und Nahostkonfl ikt, in: Viola B. Georgi/Rainer Ohliger (Hrsg.), Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft, Hamburg 2009, S. 237–245. 25 Obwohl bislang noch nicht in einer Monographie oder einem Aufsatz schriftlich fi xiert, gehört dies zu den regelmäßig disku- tierten Problemfeldern im Kontext der historisch-politischen Bildung zur Geschichte des NS und der Shoah, ebenso wie bei der Erarbeitung von Ausstellungen für NS-Gedenkstätten, Dokumentationszentren oder von pädagogischen Materialien. So zum Beispiel im Kontext des Aufbaus des Dokumentationszentrums Nürnberg, der Erarbeitung der Dauerausstellung in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, der Nutzung von NS-Propaganda-Spielfi lmen wie „Der ewige Jude“ oder „Jud Süß“ im Rahmen von Bildungsveranstaltungen oder im Rahmen der Erarbeitung von Materialien zum Thema Antisemitismus der Anne-Frank-Stiftung; OSCE/ODIHR, Antisemitismus Thematisieren, S. 17. 26 Diese Frage wird immer wieder im Kontext der historisch-politischen Bildung zur Geschichte des NS und der Gedenkstätten- pädagogik diskutiert, so zum Beispiel bei der Entstehung des Dokumentationszentrums Nürnberg, der Erarbeitung der Materialien „Konfrontationen“ etc. Siehe etwa Hans-Jürgen Pandel, Bildinterpretation. Die Bildquelle im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2008; Kristin Land/Hans-Jürgen Pandel, Bildinterpretation praktisch: Bildgeschichten und verfi lmte Bilder/

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Sofern sie nicht explizit darauf hingewiesen wer- Allen genannten Mechanismen liegt unter an- den, fehlt Schülern die notwendige Kompetenz zu derem die Unwissenheit und mangelnde Selbst- erkennen, dass beispielsweise Fotos aus den Ghettos refl exion von Lehrkräften zugrunde. Wenn sie mit der Absicht aufgenommen wurden, Zerrbilder sich nicht eigene Ambivalenzen und vorhandene von Juden zu zeigen, die die Notwendigkeit der Er- Vorurteile (nicht nur antisemitische) eingestehen, richtung von Ghettos bestätigen sollten. Auch wei- verschließen sie sich der Erkenntnis der Not- sen die wenigsten Lehrkräfte ihre Schüler darauf wendigkeit von Fortbildungen und Supervision. hin, dass selbst Fotos von der Vernichtung in vielen Bisher wird leider das vorhandene Material für Fällen dazu dienten, ein bestimmtes abwertendes Lehrer fortbildungen zum Thema Antisemitismus Bild vom „Feind“ zu propagieren.26 in seinen aktuellen Formen zu wenig genutzt (→ Präventionsmaßnahmen). Tradierung von Vorurteilen durch Nicht- thematisierung des Nahostkonfl ikts Freie Jugendarbeit

Bislang ist der Nahostkonfl ikt im Unterricht kaum Die Tradierung antisemitischer Stereotype in Thema, und vielfach wird die Gründung des Staa- der offenen Jugendarbeit lässt sich eher schwer tes Israel nur im Kontext internationaler Krisen nachweisen, weil die tägliche konkrete Arbeit nach 1945 behandelt. Themen wie Entkolonialisie- von jeweils unterschiedlichen Richtlinien sehr rung, Friedensinitiativen oder Juden in Israel heute vielfältiger Träger abhängt und im Gegensatz zu bleiben somit häufi g außen vor.27 Wie groß die De- verbandsorientierter Jugendarbeit auch mit stark fi zite in diesem Themenbereich sind, zeigt sich da- wechselnden Adressaten zu tun hat. Nachweisbar ran, dass Lehrkräfte regelmäßig den Wunsch nach ist jedoch, wie die Untersuchung von Heike Radvan Unterstützung bei der Bearbeitung des Themas „Pädagogisches Handeln und Antisemitismus. Eine formulieren und nach geeignetem Unterrichtsma- empirische Studie zu Beobachtungs- und Interven- terial fragen.28 Angesichts der sich ständig wandel- tionsformen in der offenen Jugendarbeit“ zeigt, nden Situation im Nahen Osten oder aber auch dass Pädagogen in der offenen Jugendarbeit bei aufgrund der eigenen Unsicherheit im Hinblick vermeintlichem und tatsächlichem Antisemitis- auf den Konfl ikt gehen Lehrkräfte häufi g nicht auf mus bei Jugendlichen vielfach unsicher reagieren antisemitische Aussagen von Schülerinnen und und Unterstützung wünschen. Als Grund für die Schülern ein beziehungsweise vermeiden es, in Unsicherheit gibt Radvan an, dass das Handlungs- Situationen, in denen ein offensichtliches Bedürf- feld Antisemitismus bei Jugendlichen moralisch nis vorhanden ist, sich mit dem Nahen Osten zu überfrachtet wird, angstbesetzt ist und bei den beschäftigen, das Thema aufzugreifen. Vorurteile Pädagogen auf eigene Ambivalenzen trifft. Wie bleiben auf diese Weise unwidersprochen, und repräsentativ die von ihr erkannten Reaktionen Jugendliche sind dann eher geneigt, sie in ihrer von Pädagogen sind, die unbewusst zu einer „Peer-Funktion“ an andere weiterzugeben. Zudem Tradierung antisemitischen Gedankenguts bei- können Schülerinnen und Schüler, deren Familien tragen, kann aufgrund der vorliegenden Daten aus der Region des Nahen Ostens stammen, im bislang nicht beurteilt werden.29 Kreis der Mitschüler die Diskurse eher dominieren, wenn das Thema nicht in einem geregelten Verfah- Antisemitische Stereotypisierungen im ren angesprochen und behandelt wird. Darüber universitären Umfeld hinaus kann die Missachtung des wiederholt geäu- ßerten Wunsches nach Information bei Schülern, Antisemitische Vorurteile und Stereotypen, die Teil die Familienangehörige in den Palästinensergebie- der Mehrheitsgesellschaft sind, fi nden sich auch im ten oder etwa im Libanon haben, zu Opferkonkur- universitären Umfeld. Ihre Verbreitung ist bisher renzen führen, die davon ausgehen, der Konfl ikt weder umfassend erfasst noch analysiert worden. würde aus Rücksicht auf Israel nicht thematisiert – Die folgenden Beispiele sollen verdeutlichen, in wel- mit der Folge der Entwicklung antisemitischer cher Form sich solche antisemitischen Tendenzen Einstellungen. im universitären Milieu äußern.

Bildinterpretation II, Schwalbach/Ts. 2009; Geschichte Lernen, Heft 91/2003: Historische Fotografi e (Themenheft); Christoph Hamann, Bilderwelten und Weltbilder. Fotos, die Geschichte(n) mach(t)en, hrsg. vom Berliner Landesinstitut für Schule und Medien, Teetz 2001; Christoph Hamann, Geschichtsaneignung durch Fotografi e, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 31 (2003), S. 23–38; Detlef Hoffmann, Ein Foto aus dem Ghetto Lodz oder: Wie die Bilder zerrinnen, in: Hanno Loewy (Hrsg.), Holocaust. Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 233–246. 27 Stichprobe in Kößler, Antisemitismus als Thema im schulischen Kontext. 28 U. a. Lisa Rosa, Unterricht über Holocaust und Nahostkonflikt: Problematische Schüler oder problematische Schule?, in: Amadeu Antonio Stiftung (Hrsg.), „Die Juden sind schuld“. Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft am Beispiel muslimisch sozialisierter Milieus; Beispiele, Erfahrungen und Handlungsoptionen aus der pädagogischen und kommunalen Arbeit, Berlin 2009, S. 47–50. 29 Heike Radvan, Pädagogisches Handeln und Antisemitismus. Eine empirische Studie zu Beobachtungs- und Interventionsformen in der offenen Jugendarbeit, Bad Heilbrunn 2010.

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Im Rahmen einer Untersuchung an sechs Hoch- Neuere empirische Daten zur Haltung und Verbrei- schulen in Ost- und Westdeutschland im Frühsom- tung antisemitischer Vorurteile unter Studenten mer 1992 fanden mehr als ein Drittel der Studenten liegen bisher nicht vor, deshalb können hier nur Juden „eher sympathisch“, 5 Prozent bekannten einige Schlaglichter auf die aktuelle Situation offen, dass sie ihnen eher unsympathisch seien. präsentiert werden: Zu jener Zeit konnte man noch konstatieren, dass die den Juden gegenüber gezeigte Sympathie Als auf der Mailing-Liste der Promovierenden offensichtlich das Ergebnis eines Lernprozesses der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung war, wobei eine unterschwellige Tabuisierung im Jahr 2003 Verschwörungstheorien von einem antisemitischer Einstellungen durchaus eine Rolle Doktoranden mit wohl arabischem Hintergrund spielte. Bereits damals lag die Antipathie gegenüber auftauchten, die von anderen zum Teil mit antise- Israelis deutlich höher: Unter den West-Studenten mitischen Inhalten kommentiert wurden, gab es hegten 18,5 Prozent (Sympathie 20,9 Prozent) eine heftige Diskussionen über mögliche antisemitische Antipathie und unter jenen aus Ostdeutschland Tendenzen unter den Stipendiaten. Daraufhin 30,1 Prozent (Sympathie 12,4 Prozent). Die Sympathie organisierte eine Gruppe von Studenten aus dem gegenüber den Palästinensern hingegen zeigte Stipendiatenprogramm der Stiftung im November einen etwas höheren Ausschlag (West: 24,1 Prozent; 2004 eine Tagung in Berlin zum Thema „Antisemi- Ost: 21,5 Prozent).30 tismus in der deutschen Linken“. Die Tagungsbei- träge wurden schließlich in einem Sammelband Acht Jahre später, im Wintersemester 2000/2001, veröffentlicht, der auf verschiedene Aspekte bewies eine Umfrage an der Universität Essen, antisemitischer Stereotypisierungen in der Linken welche Rolle dem sekundären Antisemitismus eingeht.33 Die Publikation sollte als Grundlage zukommt. Schlussstrichmentalitäten und Schuld- für weitere Debatten dienen und gleichzeitig ein zuschreibungen an „die Juden“ im Sinne einer Zeichen setzen für die kritische Beschäftigung mit Täter-Opfer-Umkehr waren unter Studenten stark antisemitischen Positionen in der Studentenschaft, verbreitet. 13 Prozent der befragten Studenten die keinesfalls nur in der Böckler-Stiftung virulent waren der Meinung, dass „viele Juden versuchten, waren und sind, allerdings nach wie vor eher nur Geschichte heute für ihre Zwecke zu instrumenta- vereinzelt auftreten. lisieren und aus der Vergangenheit des Deutschen Reiches ihren Vorteil zu ziehen und die Deutschen Auch wenn die Boykott-Aktionen gegen israelische dafür zahlen zu lassen“, und dass die Juden „ganz Wissenschaftler, wie sie etwa in Großbritannien gut verstehen, das schlechte Gewissen der Deut- in den letzten Jahren häufiger erfolgt sind, in schen auszunutzen“. Ein großer Teil der Studen- Deutschland keinerlei Nachahmung fanden, so ten, die diesen Formulierungen zustimmten, war haben doch immer wieder einzelne Wissenschaft- über den Holocaust informiert und vertrat keine ler auf sich aufmerksam gemacht, weil sie Vorträge Holocaust leugnenden Positionen.31 Interessant oder Veranstaltungen mit Rednern organisierten, allerdings war das Ergebnis insofern, dass 34 Pro- die sich durch die Verbreitung antisemitischer zent der Lehramtsstudenten der Schlussstrich- Klischees oder Ressentiments gegen Juden her- these zustimmten und damit deutlich über dem vorgetan hatten.34 In der Folge einer Veranstal- Prozentsatz der anderen Kommilitonen lagen. tungsreihe der Universität Leipzig im Jahr 2006 Die Ergebnisse der Essener Umfrage bestätigten entstand das Internet-Forum „Antisemitismus die Erhebungen der Wochenzeitung „Die Woche“ und Antizionismus im akademischen Milieu“. Dort vom Mai 2000, die ergaben, dass eine Schluss- zeigten manche Studenten deutlich ihre Ressenti- strichmentalität unter den Jugendlichen und ments, die auf einem sekundären Antisemitismus jungen Erwachsenen (15–17 Jahre alt: 81 Prozent; basieren und einen Schlussstrich unter die Vergan- 19–29 Jahre alt: 69 Prozent) weiter verbreitet ist als genheit fordern. Sie bedienten das Klischee eines unter den über 60-Jährigen.32 angeblichen Tabus, Israel zu kritisieren. Andere

30 Manfred Bursten, Wie sympathisch sind uns die Juden? Empirische Anmerkungen zum Antisemitismus aus einem Forschungs- projekt über Einstellungen deutscher Studenten in Ost und West, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 4 (1995), S. 107–129, hier: S. 110. 31 Klaus Ahlheim/Bardo Heger, Die unbequeme Vergangenheit. NS-Vergangenheit, Holocaust und die Schwierigkeiten des Erinnerns, Schwalbach/Ts. 2002, S. 48 ff. 32 Ebenda, S. 26. 33 Brosch u. a., Exklusive Solidarität. 34 Im Sommersemester 2005 wurde zum Beispiel an der Universität Leipzig eine Vorlesungsreihe mit dem Titel „Deutschland-Israel- Palästina“ angeboten, zu der mehrere Vortragende eingeladen wurden, die eine einseitige Position im Nahostkonfl ikt gegen Israel vertreten. Eine Reihe von Studenten verteilte Flyer und versuchte, die Vortragsveranstaltungen zu stören. Im Januar 2006 begann auf dem Internet-Forum „Antisemitismus und Antizionismus im akademischen Milieu“ eine studentische Debatte als Reak- tion auf die interdisziplinäre Veranstaltungsreihe.

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Studenten widersprachen diesen mit Antisemitis- von der bundesrepublikanischen Staatsdoktrin men durchsetzten Forumsbeiträgen und fragten abzulassen und das „besondere“ Verhältnis zu sich, was diese Studenten wohl für ein Weltbild Israel neu zu justieren. In dem Manifest wird mit haben müssen, um solche Argumente anzuführen. falschen historischen Schlussfolgerungen eine „Maria“ ließ am 10. Januar 2006 ihrer Wut freien Ursächlichkeit des Holocaust für den Nahostkon- Lauf: „ihr schreibelinge in der mehrzahl... habt fl ikt konstruiert und der deutschen Erinnerungs- euch schon mal gefragt warum ausgerechnet kultur ein „problematischer Philosemitismus“ immer israel im mittelpunkt steht wenn es um un- vorgeworfen.36 rechtsstaaten geht? habt ihr studierten schon mal was davon gelesen wieviele konflikte auf dieser Burschenschaften welt kriegerisch ausgetragen werden die nieman- den interessieren? […]schon mal ne statistik oder In Burschenschaften und Studentenverbindun- erhebung über antisemitische einstellungen in der gen, die sich nicht eindeutig vom rechtsextremen welt (insb. deutschland) gelesen? und verstanden? Umfeld abgrenzen beziehungsweise Rechts- schon mal drüber nachgedacht, dass antisemitis- extremen als Betätigungsfeld dienen, um Ein- mus auch zum kotzen ist wenn er ‚nur‘ als latent fl uss an Hochschulen zu gewinnen, sind immer bezeichnet werden kann oder in der art die das wieder entsprechende Aussagen zu konstatieren attribut sekundär verlangt auftaucht? das antizio- beziehungsweise werden einschlägige Redner nismus nix anderes ist?“35 eingeladen, wie etwa bei der pfl ichtschlagenden Münchner Burschenschaft Danubia, die bis 2007 Heftige Debatten löste das „Manifest der 25“ aus, vom bayerischen Verfassungsschutz beobachtet das im November 2006 in der „Frankfurter Rund- wurde. Auch andere Verbindungen wie die Dres- schau“ veröffentlicht wurde. Die 25 Unterzeichner, densia-Rugia zählen Rechtsextreme zu ihren Mit- in der Mehrheit Politikwissenschaftler deutscher gliedern.37 Jugendorganisationen verschie dener Universitäten, hatten in einem Aufruf mit dem Parteien, aber auch der Ring Christlich-Demokra- Titel „Freundschaft und Kritik. Warum die ‚be- tischer Studenten setzen sich aktiv gegen solche sonderen Beziehungen‘ zwischen Deutschland Tendenzen ein, organisieren Demonstra tionen und Israel überdacht werden müssen“ gefordert, gegen einschlägig bekannte Burschenschaften

35 Forum Die StudentInnen der Politikwissenschaft, Universität Leipzig, http://www.uni-leipzig.de/fsrpowi/forum/showthread. php?id=2651 [eingesehen am 15. Januar 2006]. Im Juni 2008 vertrat Arnd Krüger, Sporthistoriker und Leiter des Instituts für Sportwissenschaft an der Universität Göttingen, in seinem Vortrag „Hebron und München. Wie vermitteln wir die Zeitge- schichte des Sports, ohne uns in den Fallstricken des Antisemitismus zu verhaspeln“ auf einer Tagung der Deutschen Vereini- gung für Sportwissenschaft die These, die 1972 beim Olympiaattentat durch palästinensische Terroristen getöteten israelischen Athleten hätten von den mörderischen Plänen gewusst und seien freiwillig in den Tod gegangen – „um der Sache Israels als ganzer zu nutzen“. Dieser spektakuläre Opfergang hätte die Schuld (und auch die Schulden) Deutschlands gegenüber dem Staat Israel verlängern sollen. Die Universitätsleitung distanzierte sich von Krügers Thesen, und auch Krüger selbst relativierte seine Behauptung später, nicht ohne darauf hinzuweisen, er sei kein Antisemit. Sein Redebeitrag wurde nicht in den Tagungsband aufgenommen. Süddeutsche Zeitung vom 30. Juni 2008; taz vom 4. Juli 2008. 36 Dokumentation: Das „Manifest der 25“, „Freundschaft und Kritik“ und die darauffolgende Debatte, gesammelt und herausge- geben von Reiner Steinweg für die Tagung der Ev. Akademie Iserlohn: BESONDERE BEZIEHUNGEN? Was Deutschland zum Frieden zwischen Israelis und Palästinensern beitragen kann. In Kooperation mit den Autoren des „Manifests der 25“, dem „Forum Crisis Prevention“ und der „Gustav-Heinemann-Initiative“, 20. bis 22. April 2007 im Evangelischen Johannesstift, Berlin, http://www.kircheundgesellschaft.de/akademie/documents/tg1611_reader.pdf [eingesehen am 20. Oktober 2010]. Weitere Ausschnitte aus dem Manifest, das zwar Formen des Antisemitismus in Deutschland konstatiert, aber einseitig Israel für den Nahostkonfl ikt verantwortlich macht und eine stringente Linie vom Holocaust zu den Auseinandersetzungen zwischen Israel und den Palästinensern heute zieht: „Es ist der Holocaust, der das seit sechs Jahrzehnten anhaltende und gegenwärtig bis zur Unerträglichkeit gesteigerte Leid über die (muslimischen wie christlichen und drusischen) Palästinenser gebracht hat. Das ist nicht dasselbe, als hätte das Dritte Reich einen Völkermord an den Palästinensern verübt. Aber zahllose Tote waren auch hier die Folge, das Auseinanderreißen der Familien, die Vertreibung oder das Hausen in Notquartieren bis auf den heutigen Tag. Ohne den Holocaust an den Juden würde die israelische Politik sich nicht berechtigt oder/und gezwungen sehen, sich so hartnäckig über die Menschenrechte der Palästinenser und der Bewohner Libanons hinwegzusetzen, um seine Existenz zu sichern. Und ohne den Holocaust erhielte Israel dafür nicht die materielle und politische Rückendeckung der USA, wie sie sich vor allem seit den neunziger Jahren entwickelt hat. (Die amerikanische Finanzhilfe an Israel beläuft sich auf 3 Milliarden US-Dollar jährlich und entspricht damit 20 Prozent der gesamten Auslandsfi nanzhilfe der USA.) Der seit nunmehr fast sechs Jahrzehnten andau- ernde, immer wieder blutige Nahostkonfl ikt hat unbestreitbar eine deutsche und in Abstufungen eine europäische Genese; europäisch insofern, als der deutsche Gedanke einer ‚Endlösung der Judenfrage‘ aus dem europäischen Antisemitismus und Nationalismus hervorgegangen ist. Und die palästinensische Bevölkerung hat an der Auslagerung eines Teils der europäischen Probleme in den Nahen Osten nicht den geringsten Anteil.“ 37 Gabriele Nandlinger, „Ehre, Freiheit, Vaterland!“. Burschenschaften als Refugium für intellektuelle Rechtsextremisten, http://www.bpb.de/themen/TGE8K9,0,Ehre_Freiheit_Vaterland!.html [eingesehen am 2. Mai 2011]. 38 Die 1953 in Jordanien gegründete Hizb ut-Tahrir (Hizb al-Tahrir al-islami; Befreiungspartei; HuT), die in verschiedenen Ländern eigene Gruppen unterhält und vor allem in Usbekistan aktiv ist, verbreitet über ihre Homepage in Arabisch, Englisch, Deutsch, Dänisch und Türkisch antisemitische Inhalte. Siehe → Antisemitismus im Islamismus. 39 Nachdem das Bundesinnenministerium im Januar 2003 die Hizb ut-Tahrir verboten hatte, entzog der Präsident der Technischen Universität der Gruppe den Status einer an der TU Berlin registrierten Vereinigung. Bei diesem Anlass wies die TU Berlin erneut

91 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

und schließen Mitglieder aus ihren Reihen aus. miteinander kommunizieren, wegen antisemiti- Untersuchungen, inwieweit solche vereinzelten scher Äußerungen in die Kritik geraten. Besonders Affinitäten zum Rechtsextremismus auch die intensiv wird unter den rund 1000 Mitgliedern Verbreitung antisemitischer Inhalte befördern, der „Israel-öffentlich-kritisieren-können-Gruppe“ liegen bisher nicht vor. diskutiert. Neben NS-Propagandaplakaten waren Sprüche wie „Ich hasse Judenschweine!!!“ und Beeinfl ussung durch islamistische Gruppierungen „Alle vergase muss man die Drecks_Ferkel!“ zu lesen. Die Gruppe „Simon Wiesenthal-Center im Aufsehen erregte die islamistische Organisation StudiVZ“ sammelte Material über die antisemi - Hizb ut-Tahrir38 im Oktober 2002 mit einer Veran- tischen Einträge und wandte sich an den Betreiber staltung zum Thema „Der Irak – Ein neuer Krieg des Internetportals, der nicht auf die Kritik rea- und die Folgen“, die von der „Aqida-Hochschul- gierte, sondern die Wiesenthal-Center-Gruppe gruppe für Kulturwissenschaft“39 in den Räumen schloss. Gegenwehr kommt aber vor allem aus des Studentenwerks der Technischen Universität den Reihen der Studenten selbst, die auf StudiVZ Berlin ermöglicht worden war. Die Öffentlichkeit kommunizieren. Es gelingt ihnen immer wieder, und die Medien beschäftigt hatte nicht nur der Gruppen zum Aufgeben zu veranlassen, wie etwa Umstand, dass dort mit rassistischen, antisemiti- eine NPD-nahe Gruppe.42 Erst allmählich setzt sich schen und verfassungsfeindlichen Äußerungen auch bei den Betreibern die Erkenntnis durch, Stimmung gemacht wurde, sondern auch dass dass das Eintreten für die absolute Meinungsfrei- Horst Mahler und der Vorsitzende der NPD Udo heit auch Grenzen hat. Im Sommer 2009 schloss Voigt unter den Teilnehmern waren. Der dama- StudiVZ die sogenannten Zeitgeistgruppen, weil lige Bundesinnenminister Otto Schily hat den sie verschwörungstheoretische antisemitische deutschen Ableger der Organisation am 10. Januar und Holocaust leugnende Inhalte verbreiteten. Im 2003 verboten. Die Klage von Hizb ut-Tahrir gegen Internet haben sich Plattformen und Blogs gebil- das Verbot und den Einzug ihres Vermögens hat det, die StudiVZ sowie deren virtuelle Pinnwände, das Bundesverwaltungsgericht am 25. Januar aber auch andere soziale Netzwerke durchforsten 2006 abgewiesen.40 Bis zu ihrem Verbot versuchte und solche mit rassistischem und antisemitischem die Organisation vor allem, an universitären Stät- Inhalt dokumentieren. ten mit Propagandamaterial Einfl uss auf Studenten zu nehmen. Kirchen

Jüngstes Beispiel ist der Versuch des „Türkisch- Vor dem Hintergrund eines jahrhundertealten idealistischen Studenten Vereins – Harun Yahya- christlichen Antijudaismus ist die Frage der Team Berlin“, der den „Grauen Wölfen“ zuzurech- Einstellung der Kirchen zu Juden, Judentum und nen ist, in der TU Berlin am 15. April 2011 eine gegenüber Antisemitismus auch heute noch von „Harun Yahya-Konferenz“ mit dem Titel „Die großer Relevanz. Kirchliche Einrichtungen spielen Evolutionstheorie im Lichte der Wissenschaft“ nach wie vor eine wichtige Rolle für die Wert- durchzuführen. Harun Yahya, dem die Konferenz orientierung der Gesellschaft und sind insbeson- gewidmet sein sollte, leugnete lange Zeit den dere für die Sozialisation von Jugendlichen, wenn Holocaust und verbreitet bis heute antisemitische auch regional in unterschiedlicher Weise, relevant. Verschwörungstheorien. Die Leitung der Tech- Über 60 Prozent der Deutschen sind als Mitglieder nischen Universität reagierte sofort, als sie von einer christlichen Konfession eingetragen, wobei mehreren Seiten über die bevorstehende Veran- die Mehrheit der römisch-katholischen (24,9 Mill- staltung informiert wurde, und untersagte die ionen Mitglieder)43 und der Evangelischen Kirche Konferenz41 (→ Antisemitismus im Islamismus). in Deutschland (24,5 Millionen Mitglieder)44 angehört. Das Wirken der christlichen Kirchen Soziale studentische Netzwerke im Internet (Seelsorge, Gesprächskreise, Religionsunterricht etc.) beschränkt sich nicht nur auf das religiöse In den letzten Jahren ist die Internetplattform Gemeindeleben, sondern zu nennen sind hier auch StudiVZ, auf der etwa zwei Millionen Studierende die Arbeit der christlichen Wohlfahrtsverbände,

darauf hin, dass die Veranstaltung nicht in ihrem Verantwortungsbereich stattgefunden hätte, siehe Pressemitteilung TU Berlin vom 30. Oktober 2002 und vom 15. Januar 2003. 40 Urteil siehe http://lexetius.com/2006,604 [eingesehen am 5. Mai 2011]. 41 U. a. durch die zeitnah erfolgte Intervention von Claudia Dantschke und Juliane Wetzel. 42 Der Spiegel vom 5. September 2007, http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,503637-2,00.html [eingesehen am 20. Oktober 2010]. 43 Stand vom 31. Dezember 2009. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Katholische Kirche in Deutschland. Statistische Zahlen, Bonn 2010. 44 Stand der Erhebung 2008. Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Evangelische Kirche in Deutschland. Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben, Hannover 2010, S. 6.

92 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft wie Caritas (römisch-katholische Kirche) oder und ihrer Gemeinden möglicherweise ein gewisser Diakonisches Werk (EKD). Da es sich hier um einen latenter Antisemitismus auszumachen ist, legitim einflussreichen Teil der deutschen Gesellschaft ist und einer Antwort bedarf. handelt, müssen die empirischen Befunde, nach denen Antisemitismus und die Zustimmung zu Öffentliche Debatten, die interne Entscheidungen antisemitischen Äußerungen primär bei reli- der christlichen Kirchen auslösten, haben Defi zite giösen Befragten zu konstatieren sind, besonders in der Auseinandersetzung mit judenfeindlichen beunruhigen (→ Antisemitische Einstellungen Strömungen deutlich gemacht. Im Jahr 2009 wur- in Deutschland). den Missstände in der römisch-katholischen Kirche offenbar, als Papst Benedikt XVI. die 1988 erfolgte Derartige Haltungen stehen im eindeutigen Exkommunikation von vier Bischöfen der „Bruder- Widerspruch zu den offi ziellen Positionierungen schaft Papst Pius X“ aufhob,47 zu denen der Brite der Kirchen. Seit Jahrzehnten verurteilen sowohl Richard Williamson gehört, der in der Vergangen- die römisch-katholische Kirche als auch die EKD in heit mehrfach durch Holocaustleugnung aufgefallen ihren Veröffentlichungen Antisemitismus45 und war.48 Dieser Vorgang wurde und wird auch von thematisieren beispielsweise in ihren Lehrbüchern Würdenträgern der römisch-katholischen Kirche für den Religionsunterricht zunehmend kritisch kritisiert und entfachte zahlreiche Debatten über religiösen Antijudaismus und antisemitische Vor- den Umgang mit Antisemitismus in der katholi- urteile. Das heißt allerdings nicht, dass interne schen Kirche. Diskussionen frei von solchen Inhalten sind. Vor- fälle innerhalb der Kirchen gelangen nur selten Nach Aussage der Kirchen in Deutschland wurden an die Öffentlichkeit. Allgemein gültige Aussagen in der jüngsten Vergangenheit die Aufklärungsbe- sind noch kaum zu leisten, dazu bedarf es weiterer strebungen intensiviert und Projekte zur Präven- Forschung. So ist etwa zu fragen, inwieweit der tion und Bekämpfung von Antisemitismus initiiert christlich-jüdische Dialog zu einer Überwindung (→ Präventionsmaßnahmen). Empirische Unter- antisemitischer Vorurteile in den Kirchen beiträgt suchungen sind jedoch in diesem Bereich bisher und nicht nur auf einer Metaebene stattfindet, nicht beziehungsweise nur ansatzweise erfolgt, die die Mitglieder der Kirchen an der Basis nur deshalb können kaum Aussagen darüber getroffen selten anspricht. Sind solche Gesprächskreise zum werden, inwieweit die offi zielle Politik der Kirchen Beispiel geeignet, in der Evangelischen Kirche die Basis erreicht und von dieser akzeptiert oder auch jene Gruppen zu erreichen, die nach wie gar befolgt wird. vor am Dogma der Judenmission festhalten? Wie kann etwa die „eigentümliche Gemengelage von Was die zentrale Frage der Sozialisationsinstanzen prozionistischen und antisemitischen Positionen von Jugendlichen anbelangt, so lässt sich der innerhalb evangelikaler Gruppierungen und Expertise von Albert Scherr (→ Expertise Scherr) deren Affi nität zu rechtspopulistischen Kreisen“46 zur evangelischen Kirche entnehmen, dass zur Zeit überwunden werden? Welche Auswirkungen keine neueren Studien vorliegen, die gesicherte haben Überlegenheitsansprüche der christlichen Aussagen über den evangelischen Religionsunter- Religion gegenüber Juden oder Gefühle einer richt, die Inhalte der Schulbücher oder die Wir- Bedrohung der eigenen christlichen Identität? kungen des Unterrichts ermöglichen. Vereinzelte Werden trotz Überarbeitung Schulbücher für den Fallstudien ergaben, dass die Schülerinnen und Religionsunterricht noch immer dominiert von der Schüler nur „wenig bis keine Kenntnis über das Vorstellung, Juden seien als Gegner der christ- Judentum haben“. Dies mag ein Hinweis darauf lichen Religion zu sehen? Inwieweit erfolgt in die- sein, dass möglicherweise der evangelische Reli- sen Materialien eine kritische Auseinandersetzung gionsunterricht in seiner heutigen Form den mit Antisemitismus? Die vom Expertenkreis in Erwartungen, zu einer informierten kritischen Auftrag gegebenen Expertisen von Albert Scheer Auseinandersetzung mit Antisemitismus beizu- zur evangelischen Kirche und von Matthias Blum tragen und zum christlich-jüdischen Dialog zu zur katholischen Kirche haben bedenkenswerte befähigen, nicht hinreichend gerecht wird. Ein Anhaltspunkte dafür aufgezeigt, dass die Frage, fundiertes Urteil muss jedoch weiteren Forschun- ob und in welchem Ausmaß innerhalb der Kirchen gen vorbehalten bleiben, da aktuelle und systema-

45 Innerhalb der römisch-katholischen Kirche geschah dies während des Zweiten Vatikanischen Konzils in der Erklärung „Nostra aetate“ (→ Expertise Blum), und die EKD bezieht seit den 1980er-Jahren in regelmäßigen Presseerklärungen Stellung zum Antisemitismus (→ Expertise Scherr). 46 Expertise Scherr, S. 15. 47 Giovanni Battista Re, Dekret der Kongregation für die Bischöfe. Aufhebung der Exkommunikation von vier Bischöfen der Bruderschaft „St. Pius X“, Rom 21. Januar 2009, http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cbishops/documents/ rc_con_cbishops_doc_20090121_remissione-scomunica_ge.html [eingesehen am 13. April 2011]. 48 Peter Wensierski, Problem für den Papst, in: Der Spiegel 4 (2009), S. 32 f.; Stefan Berg/Christoph Schult u. a., So bitter, so traurig, in: Der Spiegel 6 (2009), S. 40–53; Richard Williamson, Entschuldigung für Leugnung des Holocaust, in: FAZ vom 26. Februar 2009; Williamson entschuldigt sich, in: Die Zeit vom 30. Januar 2009.

93 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

tische Analysen der Bildungspläne und Unter- inwieweit Antisemitismus innerhalb der Vereine richtsmaterialien nicht vorliegen. überhaupt thematisiert wird. Vor allem unter Berücksichtigung der verhängnisvollen und im Laut der Expertise von Matthias Blum (→ Experti- öffentlichen Leben kaum rezipierten Rolle, die se Blum) werden antijüdische Vorurteile heute zahlreiche Vereine bei der Ausgrenzung von „weder im Katechismus der katholischen Kirche Juden – schon vor 1933 – übernahmen, erscheint noch im Gotteslob, in den Religionsbüchern oder eine Bestandsaufnahme zur Frage nach der im Religionsunterricht legitimiert“. Im Gegen- Tradierung antisemitischer Stereotype und der satz zu den Religionsbüchern können aber der Auseinandersetzung mit der eigenen (Vereins-) Katechismus und das als „Gotteslob“ bezeichnete Geschichte notwendig. Dies soll hier an zwei katholische Gebet- und Gesangbuch diese Vorur- Beispielen, den Fußballvereinen und dem Deut- teile „an einschlägigen Stellen durch einschlägige schen Feuerwehrverband, erläutert werden, die Rezeptionen ggf. bedienen“. Demgegenüber muss exemplarisch für die vielfältige Vereinskultur in jedoch berücksichtigt werden, dass die aktuellen Deutschland stehen. Religions bücher die Neubesinnung der katholi- schen Kirche widerspiegeln: „Der Religionsun- Antisemitismus in Fußballvereinen terricht ist ebenfalls fern von einer Tradierung christlicher Antijudaismen, weist aber aktuell Im Jahr 2005 verlieh der Deutsche Fußball-Bund das Problem der Marginalisierung des Judentums erstmals den Julius-Hirsch-Preis an den FC Bayern sowie der Unkenntnis antijüdischer Vorurteile auf München für die Ausrichtung eines Freundschafts- Seiten der Schüler auf. Eine besondere Herausfor- spiels der U-17-Mannschaft gegen eine israelisch- derung stellt – wie auch in anderen Fächern – die palästinensische Auswahl des „Peres Center for Korrektur des häufi g verzerrten Bildes vom Staat Peace“, das 50.000 Schulkinder sahen. Mit der Israel der Schüler dar.“ Blum ist zuzustimmen, Stiftung des Preises, der jährlich vergeben wird, wenn er zu dem Schluss kommt, dass trotz „aller erinnert der DFB an den ehemaligen Fußball- aktuellen thematischen Diskurse und einer viel- Nationalspieler Julius Hirsch (1892–1943) und an schichtigen Programmatik […] eine breit angelegte alle Opfer des NS-Regimes. Der DFB stellt sich damit und repräsentative Untersuchung, die den Ge- auch explizit seiner eigenen Geschichte während brauch, die Rezeption und Wirkung der Schulbü- des Nationalsozialismus und betont, dass in der Zi- cher erhebt sowie den Religionsunterricht und die vilgesellschaft, in der Demokratie, Menschenrech- Lehrpläne einer einschlägigen Analyse unterzieht, te sowie der Schutz von Minderheiten unveräußer- weiterhin ein Desiderat“ bleibt. liche Werte sind. DFB-Präsident Theo Zwanziger erhielt 2009 vom Zentralrat der Juden in Deutsch- Wenig bekannt ist auch darüber, ob sich kirchliche land den Leo-Baeck-Preis für seine Verdienste um Verbände, wie der Bund der Katholischen Land- eine tolerantere Gesellschaft und sein Engagement jugend, die Evangelische Jugend, die konfessio- gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Unter nellen Pfadfinderverbände etc., mit möglichen dem Motto „Am Ball bleiben – Fußball gegen anti semitischen Stereotypen, die auf christlichen Rassismus und Diskriminierung“ fördert der DFB Antijudaismus zurückgehen, auseinandersetzen. gemeinsam mit dem Bundesministerium für Fami- Dies konkreter zu untersuchen, wäre gleicher- lie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) aktiv den maßen wünschenswert wie die Frage, ob mög- Kampf gegen jegliche Form der Diskriminierung licherweise antisemitische Stereotype im Kontext im Fußball (→ Präventionsmaßnahmen). Dieses christlicher Friedensinitiativen, die sich im Nah- öffentlichkeitswirksame Engagement ist wichtig, ostkonfl ikt engagieren und denen sich vielfach weil es Zeichen setzt und Fans deutlich macht, dass Mitglieder dieser Jugendorganisationen anschlie- der Dachverband des deutschen Fußballs keine ßen, tradiert werden. Diskriminierungen von Minderheiten duldet. Allerdings heißt dies noch nicht, dass Rassismus Neben den beiden großen Kirchen sollten auch und Antisemitismus aus dem fußballerischen andere christliche Religionsgruppen wie die Alltag verschwunden sind. russisch-orthodoxe Kirche, die Freikirchen oder die Pietisten bezüglich ihres Umganges mit Anti- Antisemitismus im Kontext von Fußball hat eine semitismus analysiert und in Folgeberichten zum lange Tradition. Insbesondere in den 1980er- und Antisemitismus aufgenommen werden. 1990er-Jahren waren antisemitische Fangesänge in beiden Teilen Deutschlands in den Stadien Antisemitismus im Vereinswesen am Beispiel üblich. Zahlreiche Berichte machen deutlich, dass Fußball und Feuerwehr auch heute noch antisemitische – neben rassis- tischen, nationalistischen, homophoben und Angesichts der traditionellen Bedeutung des rechtsextremen, wie auch allgemein gewaltver- Vereinswesens in der deutschen Gesellschaft muss herrlichenden – Parolen auf deutschen Fußball- sich eine explorative Untersuchung zunächst mit plätzen in allen Ligen zum Alltag gehören, wobei der bisher wenig erforschten Frage beschäftigen, sich das Problem in den letzten Jahren eher in die

94 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft unteren Ligen verschoben hat. In der ersten und Aber auch Spieler und Fans gegnerischer Mann- zweiten Bundesliga haben öffentlichkeitswirksame schaften werden als „Juden“ beschimpft, ein Maßnahmen wie Fanprojekte, Programme gegen Verhalten, das enge Verbindungen zur Verwen- Rassismus und Vereinsaktionen sowie ein erhöhtes dung des Wortes als Beleidigung im jugendlichen Aufkommen von Sicherheitskräften zu positiven Sprachgebrauch aufweist. Bei einem in bestimm- Veränderungen geführt. Eine häufi g vermutete ten Gruppierungen der Fanszene beliebten Sprech- stärkere Ausprägung in den neuen Bundes- chor wird vor Nennung des Ortsnamens des ländern ist empirisch nicht nachgewiesen. Alltags- gegnerischen Vereins mehrfach das Wort „Jude“ Antisemitismus im Fußball betrifft heute mehrere skandiert. Antisemitische Inhalte fi nden sich Bereiche. Nach wie vor werden jüdische Spieler auch auf Transparenten, Fanaccessoires sowie in diskriminiert, beschimpft und angegriffen. Insbe- internen Medien der Kommunikation, sei es im sondere bei Spielen gegen Mannschaften, die eine Internet oder in gedruckten „Fanzines“. Ebenso unmittelbare Verbindung zum Judentum haben, werden Bekleidungsstücke mit antisemitischem namentlich dem TUS Makkabi, kommt es immer Aufdruck getragen.54 wieder zu offenen Anfeindungen, die sowohl von gegnerischen Spielern als auch von Fans ausgehen. Antisemitische Beschimpfungen sind vornehm- lich dann virulent, wenn es sich um Wettkämpfe Fangesänge sind eine Komponente. Besonders mit Fußballvereinen handelt, die einst von Juden bekannt ist das sogenannte U-Bahnlied, in dem gegründet wurden oder früher jüdische Spieler die Rede von einer U-Bahn ist, die aus der Stadt der hatten, beziehungsweise in solchen Fällen, in de- gegnerischen Mannschaft nach Auschwitz gebaut nen zu den Fangemeinden in überdurchschnittlich wird.49 Sprechchöre wie „Gib Gas, gib Gas, wenn hohem Maße Personen gehören, die in den meis- der [...] [gegnerische Verein] durch die Gaskammer ten Fanblocks abgelehnt werden, so etwa linke/ rast“ oder „Fußball in der Mauerstadt, Union spielt alternative Jugendliche, Homosexuelle usw. Zu jetzt hinter Stacheldraht – was Neues in der DDR diesen Mannschaften zählen zum Beispiel Babels- der BFC ist jetzt der Herr – Zyklon B für Scheiß berg 03, FC St. Pauli, Roter Stern Halle, Roter Stern Union – in jedem Stadion ein Spion – selbst Ordner Leipzig, Tennis Borussia Berlin, Eintracht Frank- sind in der Partei – Deutschland, Deutschland, furt, FC Bayern München oder die Stuttgarter alles ist vorbei“50 sind aufgrund vieler Fanprojekte Kickers.55 So wird zum Beispiel der von Juden mit- seltener geworden. Auch gibt es eine größere begründete Verein Tennis Borussia Berlin regel- Bereitschaft, Fanclubs mit eindeutigen Namen mäßig mit dem antisemitischen Stereotyp des Wu- wie „Zyklon B“, „Endsieg“ oder „Wannsee-Front“ cherns mit Geld konfrontiert. In den 1930er-Jahren den Einlass in die Stadien zu verweigern.51 Häufi g hatte der Verein, in dem damals viele jüdische werden Schiedsrichter von Fans oder Spielern als Spieler aktiv waren, auch zahlreiche jüdische Mit- „Juden“ tituliert, wenn sie Entscheidungen treffen, glieder. Nach 1945 gehörte Tennis Borussia Berlin die für die eigene Mannschaft als nachteilig emp- (TeBe) zu den wenigen Vereinen, in denen wieder funden werden.52 Dem Stereotyp des ewig wan- jüdische Funktionäre tätig waren. Seit der Verein dernden Juden entsprechend, gehört der Schieds- in den 1990er-Jahren vergleichsweise erfolgreich richter nirgendwohin, ist also heimatlos, pfeift das spielte und von einer Sponsorengruppe unterstützt Spiel „kaputt“ und ist vermutlich gekauft.53 wurde, die wegen fi nanzieller Ungereimtheiten in

49 Zum Beispiel „Wir bauen eine U-Bahn von Dortmund bis nach Auschwitz.“ 50 Zitiert nach Martin Endemann/Gerd Dembowski: Immer noch U-Bahnen nach Auschwitz – Antisemitismus im Fußball, in: Die- thelm Blecking/Gerd Dembowski (Hrsg.): Der Ball ist bunt – Fußball, Migration und die Vielfalt der Identitäten in Deutschland, Frankfurt a. M. 2010, S.181–189. 51 Hertha BSC Blog, veröffentlicht am 9. November 2009, http://www.hertha-blog.de/hertha-bsc-und-die-folgen-des-geteilten- deutschlands.html [eingesehen am 13. September 2010]. 52 Reichelt, Das Lexem. 53 Endemann/Dembowski, Immer noch. 54 Dieses Eindringen antisemitischer Inhalte in die Alltagskultur, vermittelt über Produkte der industriellen „Massenkultur“, be- darf auch unter dem Gesichtspunkt des Alltagsantisemitismus noch eingehender Erforschung. Allerdings sind die Produzenten solcher Bekleidung in der Regel der rechtsextremen Szene verbunden. 55 Endemann/Dembowski, Immer noch. 56 Berichterstattung Jungle World vom 26. Juli 2000, taz vom 30. Oktober 1998, Spiegel Online vom 2. April2006 und hagalil.com vom 10. August 2008; zitiert nach: Endemann/Dembowski, Immer noch. 57 Maegerle, Antisemitismus, S. 5. 58 Information über http://www.amballbleiben.org/html/themenfelder/antisemitismus-03.html [eingesehen am 5. Mai 2011]. 59 http://www.n-tv.de/politik/dossier/Antisemitismus-nimmt-zu-article271576.html [eingesehen am 5. Mai 2011].

95 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

die Schlagzeilen geriet, wurde TeBe mit antisemi- weg.“63 Beim Spiel SV Mügeln-Ablaß 09 gegen Roter tischen Schmähungen überhäuft.56 Beim Hallen- Stern Leipzig am 24. April 2010 kam es ebenfalls zu turnier der Berliner Regional- und Oberligisten am rechtsextremen, neonazistischen Sprechchören. 11. Januar 2009 in Berlin-Charlottenburg beleidig- Es wurde nicht nur der Hitlergruß gezeigt, son- ten beispielsweise Fans des 1. FC Union wiederholt dern auch gesungen „Wir bauen eine U-Bahn von die Fans von Tennis Borussia mit dem Ruf „Alle Jerusalem nach Auschwitz“. Die Verantwortlichen Juden sind Schweine“.57 reagierten und ließen das Spiel abbrechen.64

Von antisemitischen Aktionen betroffen sind Ob und inwiefern Antisemitismus im Kontext von auch die etwa 30 heute in Deutschland aktiven Fußball tradiert wird, lässt sich meist nur schwer jüdischen Makkabi-Fußballvereine,58 bei denen beantworten, da selbst eindeutig antisemitische nicht nur jüdische Spieler spielen. Sätze wie „Juden Aktionen häufi g unter die Kategorie Rassismus gehören in die Gaskammer“, „Auschwitz ist wieder subsumiert werden. In der Zeitschrift „Lotta. da“ und „Synagogen müssen brennen“ sind bei Antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland- Wettkämpfen in der Regionalliga keine Selten- Pfalz und Hessen“ etwa erschien zum Schwer- heit.59 Seit einigen Jahren sind auch zunehmend punktthema „Fußball, Rassismus und extreme Anfeindungen von Jugendlichen mit Migrations- Rechte“ ein Artikel,65 in dem ausschließlich von hintergrund festzustellen. So wurden in Frankfurt- rassistischen Vorkommnissen die Rede war. Der Zeilsheim Spieler der A-Jugend von TUS Makkabi Text allerdings ist mit einem Foto illustriert, auf Frankfurt am 11. Februar 2009 beim Endspiel dem Fans ein Transparent in die Höhe halten, das eines Jugendturniers gegen den SV Zeilsheim als mit der Aufschrift „Juden“ versehen ist, wobei das „Kindermörder“ und „Besatzer“ beschimpft.60 TUS „d“ durch das Wappen von Dynamo Dresden er- Makkabi Berlin beklagt eine inkonsequente Ahn- setzt wurde. Auch in der Bildunterschrift wird der dung derartiger Vorfälle.61 antisemitische Inhalt nicht thematisiert.

Insbesondere in Regionen mit einer zahlenmäßig Feuerwehr starken und gut vernetzten rechtsextremen Szene sind antisemitische Vorfälle in den Vereinen und Im deutschen Vereinswesen nimmt der Deutsche bei Spielen häufi ger. Die Strategie, mit rechtsex- Feuerwehrverband mit 1,34 Millionen66 Mitglie- tremistischem, rassistischem und antisemitischem dern in Freiwilligen, Jugend-, Berufs- und Werk- Gedankengut Fußballvereine zu beeinflussen, feuerwehren eine wichtige Rolle ein und stellt hat in einigen Fällen bereits Erfolg gehabt. In damit eine bedeutende Sozialisationsinstanz dar. Laucha, Sachsen-Anhalt trainiert ein Abgeord- Begrüßenswert ist, dass vor allem im Bereich der neter der NPD im Stadtrat den Nachwuchs des Jugendfeuerwehr, in der sich 240.000 Personen im BSC 99 Laucha. Im Kader der ersten Mannschaft Alter von 8 bis 18 Jahren engagieren,67 ein wach- spielt ein 20-Jähriger, der am 16. April 2010 einen sendes Problembewusstsein gegenüber antisemi- 17-jährigen Jugendlichen israelischer Herkunft tischen Inhalten zu konstatieren ist. brutal zusammenschlug und ihn dabei als „Juden- schwein“ beschimpfte.62 Bei der Stadtligapartie Zwischen 2008 und 2010 nahm die Deutsche Halle am 15. August 2009 prügelten Anhänger des Jugendfeuerwehr am Bundesprogramm „kom- Vereins Motor II auf Fans von Roter Stern Halle ein petent. Für Demokratie – Beratungsnetzwerke und beschimpften sie mit den Worten: „Ihr seid gegen Rechtsextremismus“ teil und initiierte das Zecken, ihr seid die neuen Juden, wir machen euch Modellprojekt „Jugendfeuerwehren strukturfi t für

60 Maegerle, Antisemitismus, S. 8; Hans Riebsamen, Auf dem Fußballplatz als „Kindermörder“ beschimpft, in: FAZ vom 12. Februar 2009. 61 http://www.youtube.com/watch?v=oadHWod1-Dw [eingesehen am 12. August 2010]. 62 http://www.fr-online.de/politik/ein-ueberfall-in-laucha/-/1472596/4460310/-/index.html [eingesehen am 5. Mai 2011]. 63 Maegerle, Antisemitismus, S. 14. 64 http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/die-stiftung-aktiv/gegen-as/antisemitismus-heute/chronik-antisemitischer-vorfaelle/ chronik-antisemitischer-vorfaelle-2010/ [eingesehen am 13. August 2010]. 65 Martin Endemann, Am Tatort Stadion. Versuch einer Bestandsaufnahme, in: Lotta. Antifaschistische Zeitung aus NRW, Rhein- land-Pfalz und Hessen, Nr. 39, Sommer 2010, S. 7. Die Zeitschrift „Lotta“ wurde eine Zeit lang vom Verfassungsschutz Nordrhein- Westfalen als linksextremistisch eingestuft. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat 2009 in einem Beschluss festgestellt, dass das Organ keine verfassungsfeindlichen Bestrebungen vertritt. [http://npd-blog.info/2009/06/12/urteil-antifaschistisches-maga- zin-lotta-nicht-mehr-im-verfassungsschutzbericht/, eingesehen am 5. Mai 2011]. 66 http://www.dfv.org/ [eingesehen am 18. Mai2011]. 67 Benno Hafeneger/Reiner Becker, Deutsche Jugendfeuerwehr – strukturfi t für Demokratie. Ein Jugendverband in Bewegung. Ergebnisse der quantitativen Erhebung, Marburg 2010, S. 7. 68 Ebenda, S. 3. 69 Ebenda, S. 12.

96 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Demokratie“,68 das erste empirische Erkenntnisse ungen zur Vereinsgeschichte. Ein Blick in die große zur Verbreitung von rechtsextremen, fremden- Zahl der Chroniken der Freiwilligen Feuerwehren feindlichen und antisemitischen Einstellungen in Deutschland zeigt zum Beispiel, dass die Rolle lieferte. Im Rahmen der wissenschaftlichen der Wehren während der „Reichskristallnacht“ Begleitung des Modellprojekts fand 2009 eine wenig thematisiert und das Narrativ der „Deut- qualitative und quantitative Befragung in Hessen, schen als Opfer“ eindeutig im Vordergrund steht: Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sach- Damit stellt sich die Frage, welches Geschichtsbild sen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Thüringen statt. in dieser Institution an Jugendliche vermittelt wird Obwohl das Sample der quantitativen Erhebung und ob die Entstehung antisemitischer Stereotype, mit 571 Teilnehmern eher klein war, lassen sich zum Beispiel des sekundären Antisemitismus, eine doch Tendenzen erkennen: So gaben 3,7 Prozent Folge dieser Vermittlung sein könnte. Allerdings ist der Befragten an, „dass es in ihren Jugendgruppen auch das Trainingshandbuch zum Modellprojekt Ereignisse beziehungsweise Vorfälle mit einem „Jugendfeuerwehren strukturfi t für Demokratie“ rechtsextremen, fremdenfeindlichen und/oder nicht frei von Narrativen, die den Widerstand antisemitischen Hintergrund gegeben hat“.69 Bei Einzelner während der Novemberpogrome 1938 in einer Erweiterung auf das allgemeine persön liche den Vordergrund stellen, wenn sie gegen Anwei- Umfeld äußerten 5,3 Prozent, dass ihnen solche Er- sungen verstießen und Synagogen löschten. Dabei eignisse beziehungsweise Vorfälle bekannt seien.70 wird freilich nicht verschwiegen, dass sich viele Im Vergleich dazu hatten weitaus mehr Personen, Feuerwehrleute an Diskriminierungen beteiligten 25 Prozent, Kenntnis von rechtsextremen Ereig- und rassistischen beziehungsweise antisemiti- nissen in ihren Kommunen oder in ihrer Region.71 schen Ideologien während des Nationalsozialismus Ein Großteil der bekannten Vorkommnisse sowohl anhingen.75 Das Modellprojekt der Jugendfeuer- im regionalen Bereich als auch im Kontext der Feu- wehr lieferte erste Ergebnisse, die nur der Beginn erwehr überhaupt ist dabei nach Einschätzung der einer weiteren Auseinandersetzung der verschie- Studienteilnehmer der Kategorie „Sprüche, Paro- denen Feuerwehreinheiten, aber auch des Dach- len und Witze“ zuzurechnen.72 16,2 Prozent gaben verbandes, des Deutschen Feuerwehrverbandes, an, diese Vorfälle in der Gruppe zu thematisieren, sein können, sich nicht nur mit der Vereinsvergan- 27,2 Prozent versuchten, diese im Einzelgespräch genheit, sondern auch mit aktuellen Formen von zu klären, und 11,5 Prozent nahmen sie zum Anlass, Antisemitismus und Rassismus zu beschäftigen. um „sich selbst fortzubilden“. Von allen Teilneh- mern hatten nur 11,4 Prozent in der Vergangenheit Hilfe gesucht oder in Anspruch genommen,73 über die Hälfte (50,6 Prozent) äußerte Bedarf an Infor- mationsmaterial, und 24,4 Prozent würden Fort- bildungen zum Thema begrüßen.74 Besonders die letzten Aspekte offenbarten bestehende Defi zite, denen das Modellprojekt der Jugendfeuerwehr ent- gegentreten sollte (→ Präventionsmaßnahmen).

Aussagen über antisemitische Vorkommnisse oder Diskriminierungserfahrungen innerhalb der Verbandsstrukturen waren bis 2010 nur implizit möglich, zum Beispiel anhand der Veröffentlich-

70 Ebenda, S. 14. 71 Ebenda, S. 25. 72 Mehrfachnennungen waren möglich. Ebenda, S. 12. 73 Im Rahmen der Befragung wurde jedoch nicht erfasst, welche Motive oder Gründe fast 90 Prozent dazu bewogen hatten, keine Hilfe zu suchen, oder weshalb knapp 30 Prozent rechtsextremistische Vorfälle „ignorierten“. Ebenda, S. 25. 74 Ebenda, S. 18. 75 Deutsche Jugendfeuerwehr (Hrsg.), Demokratie steckt an – Trainingshandbuch für die JuLeiCa-Ausbildung und den Jugendfeuerwehralltag, Berlin 2010, S. 23.

97 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

5. Klischees, Vorurteile, Der Nahostkonfl ikt in den Medien

Ressentiments und Auf nicht immer unberechtigte Kritik stößt die Stereotypisierungen bisweilen einseitige Berichterstattung über den Nahostkonfl ikt, die durchaus zur Bestätigung in den Medien beziehungsweise Verbreitung latent vorhandener antisemitischer Klischees beitragen kann. Der Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern Nahostkonfl ikt bestimmt die Wahrnehmung Israels (zum Beispiel Frankreich, Griechenland, Groß- und der israelischen Gesellschaft in der Öffentlich- britannien und die skandinavischen Staaten) keit und den Medien gleichermaßen. Die Bericht- finden sich in der deutschen Qualitätspresse erstattung ist konfl iktorientiert, im Fokus steht beziehungsweise in den Fernsehmedien kaum die physische Gewalt. Israelischer Alltag und die dezidiert antisemitische Stereotype. Allerdings Vielfalt der Gesellschaft sind nur selten eine Nach- fl ießen etwa im Zusammenhang mit der Bericht- richt wert, allenfalls in Features, Reportagen und in erstattung über den Nahostkonflikt, aber auch Hintergrundberichten wird der Normalität israeli- mit der jüngsten Finanzkrise, häufi g unbewusst, schen Lebens Raum gegeben. Der Nahostkonfl ikt seltener mit Absicht, über Generationen tradierte und insbesondere Israel standen im Gegensatz zu Vorurteile in die Texte ein beziehungsweise wer- anderen Krisenherden in der Welt schon immer im den über Illustrationen transportiert. In rechts- Mittelpunkt des medialen Interesses. Bereits nach extremen Postillen, aber auch in Presseerzeug- dem Sechs-Tage-Krieg 1967 und mehr noch nach nissen, die dem Islamismus nahestehen, fi nden dem ersten Libanonkrieg 1982 hat sich in großen sich hingegen explizit antisemitische Inhalte. Teilen der deutschen Gesellschaft ein Stimmungs- Offen antisemitische Aussagen im Sinne eines wandel hin zu einer einseitig kritischen, wenn nicht möglichen Straftatbestandes werden dabei im gar negativen Haltung gegenüber Israel angedeu- Wesentlichen auf entsprechenden Internetplatt- tet. Seit Beginn der Zweiten Intifada im Herbst 2000 formen verbreitet, die über ausländische Provider legt die Entwicklung den Schluss nahe, dass es heute ins Netz gespeist werden. legitim, manchmal sogar en vogue erscheint, eine antiisraelische/antizionistische Haltung einzuneh- Anhand einiger ausgewählter Beispiele soll hier men. Damit schleichen sich antisemitische Denk- ein Überblick über Stereotypisierungen von Juden strukturen mehr und mehr in den öffentlichen und in den Print- und Fernsehmedien und im Internet privaten Diskurs ein und werden von Gesellschaft, gegeben werden, der – insbesondere was die Quali- Politik und Presse seltener thematisiert und kriti- tätspresse und die Fernsehanstalten betrifft – keine siert. Auf diese Weise steigt die Akzeptanz antisemi- pauschale Verurteilung intendiert, sondern gegen tischer Stereotype nahezu unbemerkt an. Welche die Verbreitung von Klischees sensibilisieren soll. Folgen dies für latent vorhandene antisemitische Da im Zusammenhang mit der Radikalisierung Ressentiments haben kann, wurde in der Umfrage des Nahostkonflikts seit der Jahrtausendwende zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ eine Tendenz zu beobachten ist, die jüdische unter Wilhelm Heitmeyer im Jahr 2004 deutlich, Bürger eines Landes gleichsetzt mit Israelis und als über 44 Prozent der Befragten der Aussage zu- damit gleichzeitig auch als „Fremde“ sieht, muss stimmten: „Bei der Politik, die Israel macht, kann ich hier das Thema „Israel in den Medien“ ebenfalls gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat.“ 1 berücksichtigt werden. Häufi g erscheinen solche Stereotype, die nicht immer eine judenfeindliche Die Präsenz des Nahostkonfl ikts in den Medien, Absicht intendieren, aber durchaus auch als linke Diskurse mit einer zum Teil unwiderspro- antisemitisch konnotiert gelesen werden können, chen einseitig propalästinensischen Haltung, die nur unterschwellig, nehmen subtile Formen des sich in der Berichterstattung niederschlagen und jahrhundertealten Ressentiments an oder werden damit auch im Mainstream verfestigen, und eine über Codes transportiert, die im Allgemeinen ohne Gleichsetzung von Israelis und Juden tragen dazu weitere Erklärung verstanden werden. So steht bei, jüdische Bürger des Landes zu stigmatisieren, der Begriff „Ostküste“ im rechtsextremen Diskurs um eine negative Haltung oder gar den Hass gegen für eine konstruierte Verbindung zwischen der Israel auszuleben. Jugendliche mit arabischem/tür- Finanzwelt und den in New York lebenden Juden, kischem Migrationshintergrund fühlen sich in ihrer „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ fi ndet immer wie- zum Teil antiisraelischen Haltung bestätigt und ver- der Verwendung, um „den Juden“ beziehungsweise suchen, mit antisemitischen Äußerungen, seltener „den Israelis“ religiös bedingte Vergeltungssucht mit Übergriffen, auch die eigene schlechte soziale zu unterstellen. Lage und persönliche rassistische Erfahrungen zu

1 Aribert Heyder/Julia Iser/Peter Schmidt, Israelkritik oder Antisemitismus? Meinungsbildung zwischen Öffentlichkeit, Medien und Tabus, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 3, Frankfurt a. M. 2005, S. 144–165, hier: S. 151.

98 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft kompensieren. Einen nicht zu unterschätzenden parteien“. Palästinensische Terroranschläge seien Einfl uss haben hier vor allem arabische/türkische nie im Fernsehen zu sehen, nur deren Folgen. Der Medien, die antisemitische Stereotype – oft auch in Zuschauer sieht Bilder mit Leichen, Opfer und Täter manifester Form – transportieren und in den euro- gleichermaßen, Ursache und Wirkung werden päischen Ländern zugänglich machen. verwischt. Ins Bild gerückt werden Panzer, die in Flüchtlingslager eindringen oder nach einem Neutralität in solchen Auseinandersetzungen ist Selbstmordattentat auf Wohngebiete feuern. Dass schwerlich zu gewährleisten, zumal, wenn es sich sich dort möglicherweise Terroristen aufhalten, um ein derart schwieriges Beziehungsgefl echt wie kann der Rezipient nicht sehen, es sei denn, er wird im israelisch-palästinensischen Konfl ikt handelt. darüber aus dem Off informiert. Die Bilder aber Emotionalität und unterschiedliche Interessen ste- wirken stärker und vermitteln den einseitigen Ein- hen einem neutralen Blick auf das Geschehen häu- druck von Israelis als Täter und Palästinensern als fi g entgegen. Nachrichten werden heute bestimmt Opfer. Dabei spiele die Visualisierung der Gewalt von visuellen Darstellungen, Journalisten lassen eine Schlüsselrolle, so das Ergebnis der Studie.2 Bilder sprechen, häufi g ohne genauere Kontextua- lisierung der Aufnahmen. Den Konfl ikt, der längst Das Bonner Medienforschungsinstitut Media-Tenor ein Konfl ikt der Bilder geworden ist, sehen paläs- Deutschland kam in seiner von „Bild am Sonntag“ tinensische Kameraleute oder Fotografen, ebenso in Auftrag gegebenen Untersuchung der Haupt- wie israelische Bildjournalisten, jeweils mit ihren abendnachrichten in ARD und ZDF in der Zeit des Augen. Der Zuschauer muss mit der Auswahl von Libanonkonfl ikts im August 2006 zu dem Ergebnis, Bildern und Filmsequenzen der Nachrichtenagen- beide Sendeanstalten würden ihrer überparteili- turen oder der Fernsehredaktionen vorlieb neh- chen Berichterstattung über die Vorgänge im Na- men, er bekommt die Sicht des Journalisten, des hen Osten nicht gerecht. Als Täter würde in erster Kameramanns oder des Fotografen vorgesetzt, Linie Israel und als Opfer die Zivilbevölkerung im häufi g ohne deren Biographie zu kennen. Bil- Libanon dargestellt. Israelische Soldaten seien der aus den palästinensischen Gebieten werden ständig im Bild, Hisbollah-Kämpfer hingegen überwiegend von palästinensischen Kameraleuten würden kaum gezeigt.3 Kritiker werfen der Studie oder Fotografen erzeugt, dies gilt umgekehrt auch allerdings mangelnde Transparenz vor. Der kurze für Israel, allerdings gehören kritische Stimmen Untersuchungszeitraum von nur zwei Wochen, in diesem einzigen demokratischen Staat in der vom 21. Juli bis 3. August 2006, dem Höhepunkt Region zur Normalität. Im Gegensatz zu den paläs- des Konfl ikts, kann tatsächlich nur eine Moment- tinensischen Gebieten, Syrien oder dem Libanon, aufnahme sein. Aufschlussreicher scheint hier wo Journalisten nur innerhalb der eng gesteck- eine Langzeitstudie desselben Instituts über das ten Grenzen der Machthaber arbeiten können, Medienbild Israels in den deutschen Fernsehnach- herrscht dort Pressefreiheit. Beschränkungen richten und dessen Auswirkungen auf die Tou- unterliegen Journalisten aber auch in Israel, wenn ristenzahlen von 1998 bis 2005. Danach lag die sie über kriegerische Auseinandersetzungen wie Krisenberichterstattung in den Jahren 1999 und etwa den Libanonkrieg im Sommer 2006 oder den 2000 nur bei einem Anteil von 20 Prozent, bis zum Gaza-Krieg 2008/2009 berichten. Jahr 2002 vervierfachte sich ihr Stellenwert auf 80 Prozent. Seit 2003, so Media-Tenor, zeigten die Medienforschung TV-Nachrichten wieder vermehrt Bilder jenseits von Krieg und Terror. Das Kölner Institut für empirische Medienfor- schung untersuchte im Auftrag der Bundes zentrale Eine Studie, die die „Süddeutsche Zeitung“, die „taz“ für politische Bildung die Nahost-Wortbericht- und die „Welt“ im Hinblick auf die Berichterstat- erstattung in den Hauptnachrichten für den tung zum Libanonkrieg 2006 untersuchte, kam zu Zeitraum 1999 bis März 2002 und kam zu dem dem Ergebnis, dass SZ und taz in Kommentaren und Ergebnis, dass diese in den Sendern ARD, ZDF, RTL Nachrichten Israel zu über 60 Prozent die Täterrolle und SAT1 überwiegend neutral gewesen sei, anders zuwiesen, die „Welt“ hingegen ausgewogener zu verhielt es sich hingegen bei visuellen Darstel- berichten schien. Dort wurde Israel tendenziell lungen. Durch die Fokussierung der Bildbericht- (51 Prozent, gegenüber 49 Prozent Täter rolle) eher erstattung auf spektakuläre Bilder der Gewalt und als Opfer des Konfl ikts beschrieben.4 Einseitige Zu- ihre Folgen, so die Analyse, entstehe eine „Asym- schreibungen an die „Israelis“ als Verantwortliche metrie der Konfliktstruktur und der Konflikt- für die Eskalation des Konfl ikts kann im Sinne einer

2 bpb-Studie Nahostberichterstattung in den Hauptnachrichten des deutschen Fernsehens, http://www.bpb.de/fi les/EGYUH2.pdf [eingesehen am 20. August 2010]. 3 Die Darstellung des Krieges im Nahen Osten, 7. August 2006, http://www.zum-leben.de/aktuell/medienanalyse.pdf [eingesehen am 20. August 2010]; erfasst wurde nicht nur die Berichterstattung über den Libanonkrieg, sondern auch die Darstellung des Nahostkonfl ikts insgesamt seit dem 1. Juli 2001. 4 Hannah Bloch, Hochgerüstete High-Tech-Armee gegen ziellose Guerilla-Truppe? Synchronisation der Berichterstattung deutscher Zeitungen über den Libanonkrieg 2006, München 2009.

99 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Opfer-Täter-Umkehr, die andeutet, die ehemaligen sche Welle auslöste, titelte der Spiegel „Auge um Opfer des Nationalsozialismus seien nun zu Tätern Auge – Der biblische Krieg“. Eine Fotomontage setzt geworden, durchaus Wirkung auf latent vorhande- Arafat und Scharon ins Bild, vor dem Hintergrund ne antijüdische Ressentiments haben. biblischer Motive auf der oberen Bildhälfte, in der Mitte ein Kruzifi x. Ganz im Sinne des falsch ver- Stereotypisierungen standenen Bibelzitats übermittelt die Collage das vermeintlich rachsüchtige Vorgehen der Israelis.8 Vergeltung – Rache, das sind Attribute, die einige Medien immer wieder Israel zuschreiben. Beson- Ein weiteres Beispiel für die stereotypisierende Dar- ders zugespitzt erfolgt dies, wenn Israel nach dem stellung von Juden/Israelis bot das Magazin „Stern“ falsch interpretierten Bibelzitat unterstellt wird, am 3. August 2006. Die zentrale Figur des Titelbil- eine Politik „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ zu ver- des ist ein junger Mann, der mit niedergeschla- folgen. Das Zitat wird von Politikern, TV-Dokumen- genen Augen in konzentrierter Andacht verweilt. tationen und in vielen deutschen Zeitungen nicht Über seinen Schultern liegt ein Gebetsschal, um nur, aber doch auffällig oft im Zusammenhang den Kopf sind die Gebetsriemen gelegt und über mit dem Nahostkonfl ikt verwendet. Es stammt aus seiner Stirn erheben sich die Kapseln der Gebets- dem 2. Buch Mose (Exodus 21:24). Die Übersetzung riemen, in den Händen hält der etwa 20-Jährige ein des Originals „ajin tachat ajin“ als „Auge um Auge“ Büchlein. Unter dem rituellen Gewand ist erst bei ist falsch, richtig vielmehr ist „Auge für Auge“. Das genauerem Hinsehen eine grüne Uniformkleidung Bibelzitat betont die Verhältnismäßigkeit der Forde- zu erkennen. Der betende Soldat wächst förmlich rungen des Geschädigten und den Schadensersatz. aus dem die Bildmitte einnehmenden Schriftzug Die jüdische Ethik widersetzte sich damit der in „Israel“ heraus. Der Untertitel „Was das Land so biblischen Zeiten üblichen Tradition, Gleiches mit aggressiv macht“ liefert die zentrale Botschaft. Gleichem zu vergelten. In keiner jüdischen Quelle wird die Forderung aufgestellt, einem Menschen, Ist es nur die Einfallslosigkeit der Journalisten, oder der einem anderen – mit oder ohne Absicht – ein kann man den deutschen Printmedien Einseitig- Auge ausgestochen hat, als Strafe das Gleiche keit unterstellen, wenn sie Parlamentswahlen in anzutun. Bis heute verbindet sich aber mit diesem Israel nahezu ausschließlich mit ultra-orthodoxen Sprachduktus die Vorstellung von Rache.5 Ob inten- Juden illustrieren? Bereits im Januar 2003 bebil- diert oder aus Gedankenlosigkeit, Journalisten derten viele Tageszeitungen ihre Berichte über scheinen einen besonderen Gefallen an gerade die Wahlen mit strenggläubigen Juden. Kritische diesem Bibelzitat zu fi nden, wenn sie über Israel Stimmen gegen diese Art der Berichterstattung berichten.6 „Spiegel-TV“ etwa brachte im Februar blieben offensichtlich folgenlos oder waren drei 2006 einen Bericht mit dem Titel „Auge um Auge, Jahre später in Vergessenheit geraten. Ende März Zahn um Zahn. Israels Rache für München 1972 – 2006 wiederholte sich diese Szenerie. Vom Zwanzig Jahre nach dem Attentat auf die israeli- „Handelsblatt“ über die „Süddeutsche Zeitung“, schen Sportler im Olympischen Dorf in München die „Welt Kompakt“, den „Tagesspiegel“ bis hin zur lässt der Mossad den letzten Mann auf seiner Todes- „Zeit“ bebilderten seriöse Tages- und Wochen- liste liquidieren“. Anlass war ein Interview mit dem zeitungen ihre Berichte zu den Parlamentswahlen Chef-Logistiker einer der israelischen Geheimdienst- mit Pajes tragenden, schwarz gekleideten ultra- einheiten, die die Hintermänner des Münchner orthodoxen Israelis.9 Bei den Parlamentswahlen Attentats verfolgt haben.7 Bereits im April 2002, im Februar 2009 scheinen die kritischen Stimmen als der Nahostkonfl ikt im Mittelpunkt des Medien- gegen die illustrative Stereotypisierung schließlich interesses stand und europaweit eine antisemiti- Gehör gefunden zu haben, vereinzelt wurden zwar

5 So hatte zum Beispiel auch der US-amerikanische Journalist John Sack 1992 ein Buch unter dem Titel „An Eye for an Eye“ veröffentlicht, dessen deutscher Titel „Auge um Auge“ die falsche Übersetzung wiederholt und mit seinem Untertitel „Die Geschichte von Juden, die Rache für den Holocaust suchten“ zurecht heftigen Widerspruch erntete, weil es jüdische Überlebende zu rachsüchtigen Peinigern stilisierte. 6 Dazu den Kommentar von Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (SZ vom 23. Juli 2006), der die infl ationäre Verwendung der biblischen Formel kritisch hinterfragt und feststellt, sie würde Verwendung fi nden, um einen „angeblich religiös-genetischen Defekt“ zu intendieren, aus dem dann ein „politisches Deutungsmuster“ kreiert würde. Unter der Rubrik „Bilder des Tages“ veröffentlichte „Der Stern“ am 23. Oktober 2010 auf seinem Onlineportal ein Foto mit der Bildunterschrift „Auge um Auge, Zahn um Zahn. Jerusalem, Israel. Während des Leichenzugs für einen Palästinenser, der von dem Sicherheitsmann einer jüdischen Siedlung erschossen worden war, wurden orthodoxe Juden in einem Bus von Palästinensern angegriffen. Demonstranten bewarfen Polizisten mit Steinen, die wiederum mit Tränengasbeschuss reagierten. Die Spannungen am Ostrand der Stadt sind durch den Siedlungsbau wieder deutlich angestiegen.“ [http://www.stern.de/bdt/ bilder-des-tages-auge-um-auge-zahn-um-zahn-1501450-ccb7aee0cf79601b.html, eingesehen 29. September 2010]. 7 Spiegel-TV, http://www.spiegel.de/sptv/special/a-397518.html [eingesehen am 29. Oktober 2010]. 8 Auch in Webportalen fi ndet sich das falsch verstandene Bibelzitat, so betitelt ein gewisser Dirk seinen Beitrag über den Gaza- Krieg 2009 auf dem Blog „soldatenglück.de“ mit „Auge um Auge, Zahn um Zahn: Hamas feuert weiter Kassam-Raketen auf Israel, Israels Luftwaffe fl iegt Luftangriffe auf Gaza“, 2. Februar 2009. 9 Zum Beispiel Der Tagesspiegel vom 2. März 2006; Die Zeit vom 28. März 2006.

100 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft noch immer ultraorthodoxe Juden an der Wahl- ziehungsweise eine unterstellte „jüdische Lobby“ urne gezeigt (zum Beispiel Associated Press), aber würde jegliche Kritik unterbinden. Hier zeigt sich, es überwogen die Bilder von Wahlplakaten der dass es nicht um eine kritische Beurteilung des Parteien und der zur Wahl stehenden Kandidaten. Sachverhalts geht, sondern vielmehr darum, wie eine solche Kritik geäußert wird und ob sie mögli- Hatten kritische Stimmen gegen die illustrative cherweise antisemitische Klischees transportiert. Stereotypisierung offensichtlich zu einer grö- ßeren Sensibilität bei der Auswahl der Bilder im Obgleich Stereotypisierungen besonders augen- Zusammenhang mit der Wahlberichterstattung fällig im Zusammenhang mit der Berichterstat- geführt, so bedeutete dies allerdings nicht, dass die tung über den Nahostkonfl ikt sind, fi nden sich für Bebilderung von Texten über den Nahostkonfl ikt den Sachverhalt unerhebliche Markierungen von beziehungsweise über israelische Wahlen frei von Personen als Juden auch in Artikeln, die eher unter solchen Klischees ist. Die „Frankfurter Rundschau“ die Rubrik „Vermischtes“ fallen, wie etwa jüngst etwa berichtete kurz vor den Wahlen im Februar anlässlich der Hochzeit von Chelsea Clinton und 2009 unter dem Titel „Schießen und reden“ über Marc Mezvinsky. Die „Süddeutsche Zeitung“ cha- Debatten innerhalb der israelischen Regierung rakterisierte Mezvinsky als „Investmentbanker“ bezüglich des weiteren Vorgehens im Nahostkon- und „jüdischen Jugendfreund“ der Braut, obwohl fl ikt.10 Der Bericht ist seriös, sachlich und kompe- diese Zuschreibung keinerlei sachdienliche Infor- tent verfasst. Illustriert wird der Beitrag allerdings mation vermittelte.11 Zum gleichen Thema veröf- mit einem dpa-Foto einer antiisraelischen Protest- fentlichte die „Welt“ einen Text, in dem die Frage demonstration in Indien: Ein junges Mädchen hält gestellt wurde, nach welchem Ritus die Brautleute ein Plakat in die Höhe, auf dem sich eine Karikatur wohl heiraten würden, ob nach christlichem oder der Webseite von „aljazeera“ befindet. Auf der nach jüdischem.12 Vielleicht gelang es dem Repor- linken Seite ist in großen Lettern „GUPS“ zu lesen, ter mit dieser Formulierung, die jüdische Herkunft die Abkürzung der Generalunion der Palästinen- des Bräutigams nur geschickter zu verpacken, sischen Studenten. Die Karikatur nimmt 80 Prozent möglich wäre aber auch, dass es sich hier um eine der Abbildung ein und zeigt den mittleren Teil verklausulierte Fragestellung handelte, die mit eines männlichen Körpers, dessen Hände mit dem Adjektiv „jüdisch“ beim Leser bestimmte Gabel und Messer ein auf einem Teller liegendes Assoziationen wachrufen möchte. Jedenfalls kam palästinensisches Kind zerschneiden. Das Messer der „Tagesspiegel“ in seinem Bericht über die Hoch- trägt den Schriftzug „GAZA“. Der Mann hat ein zeitsfeierlichkeiten gänzlich ohne eine entspre- Lätzchen um, auf dem sich in der Mitte ein David- chende Markierung des Bräutigams aus.13 stern befi ndet. Die Karikatur bedient das Klischee kindermordender Israelis und verweist damit auf Als weiteres Beispiel sei hier noch der Artikel „Er die jahrhundertealte antisemitische Ritualmordle- bezahlt seine Schuld. Amerikas berüchtigtster gende, die behauptet, Juden würden Kinder töten, Lobbyist arbeitet heute in einer Pizzeria“ aus der um mit ihrem Blut ihr Pessach-Brot zu backen. Die „Süddeutschen Zeitung“ vom Juni 2010 genannt.14 Demonstration in Indien steht in keinerlei Zusam- Jack Abramoff, vormals ein bekannter US-ameri- menhang mit dem Beitrag, in dem es nicht um kanischer Lobbyist, der wegen Betruges verurteilt antiisraelische Demonstrationen geht, sondern um wurde, verdient sich nach seiner Haftstrafe sein die politische Auseinandersetzung innerhalb der Geld heute in einer einfachen Pizzeria. Eine solche israelischen Regierung. kurze, uninteressante Nachricht hätte es nicht auf die Seite 8 einer Tageszeitung gebracht, wenn Solche visuellen Darstellungen scheinen – ebenso sie nicht entsprechend ausgeschmückt worden wie Interviews mit extrem kritischen Stimmen aus wäre. Der Autor markiert Abramoff nicht explizit Israel – das Ziel zu verfolgen, die eigene Meinung als Juden, aber er schreibt, dass es sich um eine des Journalisten oder der Redakteure zu untermau- „koschere Pizzeria“ handele, „CDs und Kassetten ern, die glauben, sie könnten oder dürften auf- eines Rabbi“ an der Kasse erhältlich seien und grund der historischen deutschen Verantwortung der ehemalige Lobbyist seine Mitgefangenen im selbst keine Kritik üben. Israelis, die sich vehement Gefängnis „in der Tora“ unterrichtet und „einen gegen die Politik ihres Landes stellen, werden häu- Gebetskreis“ abgehalten habe. Am Ende fragt man fi g nicht zitiert, um die Vielfalt der Meinungen in sich, was der Gehalt dieser Nachricht ist und ob ein Israel zu dokumentieren, sondern sie übernehmen entsprechender Text, in dem über einen bekann- eine Alibifunktion. Indirekt wird hier die These ten politischen Aktivisten katholischen Glaubens kolportiert, Israel zu kritisieren, sei ein Tabu, be- berichtet wird, der in einer katholischen Pizzeria

10 Frankfurter Rundschau vom 12. Januar 2009. 11 Süddeutsche Zeitung vom 2. August 2010. 12 Die Welt vom 29. Juli 2010. 13 Der Tagesspiegel vom 30. Juli 2010. 14 Süddeutsche Zeitung vom 25. Juni 2010.

101 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

arbeitet, in der Bibeltexte zu erwerben sind, ebenso pagne gegen Jakob, dessen Art und jiddisches Idiom eine Nachricht wert sein könnte. Der durch seine ihn durchaus unsympathisch erscheinen lassen. schwarze Rahmung hervorgehobene Text, der Stereotype Bilder über Juden bleiben unwiderspro- immerhin die Hälfte einer Spalte ausmacht, ist chen, und der ständig jüdische Gesetze zitierende nicht antisemitisch, aber der Leser könnte die Jakob Leeb wird zum Fremden aus einer klischee- Informationen über Abramoff, der Indianer- haft skizierten anderen Welt. Auch wenn sich stämme in den USA um mehrere Millionenbeträge schließlich herausstellt, dass Jakob nicht der Mörder geprellt hat, durchaus zu einem Konstrukt formen, ist, so verkehrt sich die eigentlich gute Absicht, dem das klassische antisemitische Stereotype bedient. Zuschauer das Judentum näherzubringen, ins Gegenteil, weil antisemitische Klischees trans- Ein weiteres Beispiel aus der „Süddeutschen Zei- portiert werden. tung“ vom 18. Januar 2011 zeigt, wie unterschwellig Zuschreibungen tradiert werden, die völlig uner- Am 11. Januar 2004 wurde eine Sendung der Krimi- heblich für den Sachverhalt eines Artikels sind. serie „Schimanski“ mit dem Titel „Das Geheimnis Unter dem Titel „Hübsches Strohfeuer“ beschreibt des Golem“ ausgestrahlt, der eine Emmy-Nominie- eine Kommentatorin im Feuilleton, wie sich rung erhielt. Der ehemalige Tatortkommissar wird Berlin für seine Kunstszene feiern lässt, ohne sich verdächtigt, den jüdischen Diamantenhändler um deren Zukunft zu kümmern. In dem Beitrag Rosenfeldt aus Antwerpen ermordet zu haben. werden einige Immobilien erwähnt, die bisher die Schimanski fl ieht ins jüdisch-chassidische Viertel Kunstszene beherbergten und nun an Investoren in Antwerpen. „Gemeinsam mit Schimanski tau- veräußert wurden. Es wird etwa vom ehemaligen chen wir in die fantastische, für die meisten Leute Postfuhramt in Berlin berichtet, das an die unbekannte jüdische Kultur ein. Wir werden mit „jüdische Investorengruppe Elad verkauft wurde“. Schimanski mit unseren Vorurteilen, Berührungs- Im Gegensatz zu einem weiteren Areal, das ein ängsten und Schuldgefühlen konfrontiert“, so „türkischer Privatinvestor“ gekauft habe, wird Produzentin Sonja Goslicki.17 In Antwerpen trifft im Zusammenhang mit dem Postfuhramt eine Schimanski auf die „schöne“ Lea Kaminski, die Zuschreibung vorgenommen, die jeglicher sach- ihm bei der Aufklärung des Mordes behilfl ich ist. lichen Information entbehrt. Die Investoren- Auch dieser Krimi transportiert eine Reihe von gruppe Elad ist eine zur israelischen Tschuva-Grup- Klischees, nicht nur mit der Figur der „schönen pe gehörende Gesellschaft. Anstatt von einem isra- Jüdin“, sondern auch durch den Beruf des Toten, elischen Investor zu sprechen, bringt die Autorin der einen klassisch den Juden zugeschriebenen eine religiöse Konnotation ins Spiel, die keinerlei Berufszweig kolportiert, der mit negativen Stereo- sachdienliche Hinweise bietet und durchaus einer typen besetzt ist.18 „Die Juden“, so der Literatur- Klischeebildung Vorschub leisten kann.15 wissenschaftler Matthias N. Lorenz, „erscheinen im Film als okkultes, exotisches Völkchen, das aus Etikettierungen in guter Absicht einer anderen Zeit zu stammen scheint: Das jüdi- sche Viertel von Antwerpen wird gezeigt wie ein Auch die Krimiserien der öffentlich-rechtlichen ostjüdisches Stetl im 19. Jahrhundert.“19 Fernsehanstalten sind nicht frei von Stereotypi- sierungen, die Klischees wie die „schöne Jüdin“ Die Finanzkrise 2008/2009 bedienen oder in gut gemeinter Absicht Juden und Judentum erklären oder über Ressentiments auf- Anders als die Berichterstattung über einen klären wollen, aber Vorurteile transportieren. Im schwierigen Konfl ikt im Nahen Osten, dessen Dezember 2003 strahlte das Erste Deutsche Fern - komplexe Sachlage im journalistischen Tagesge- sehen den Tatort „Der Schächter“ aus.16 Der ortho- schäft selten vermittelt werden kann und so häufi g doxe Jude Jakob Leeb war erst kurz zuvor in seine unbeabsichtigt zu klischeehaften Wahrneh- ehemalige Heimatstadt Konstanz zurückgekehrt, mungen beim Rezipienten führt, sind Artikel über als in seinem Garten eine Leiche gefunden wird. Er andere Themen – wie etwa im Zusammenhang mit gerät unter Mordverdacht, weil das Opfer mit einem der Finanzkrise – durchaus eindeutiger als ressenti- tödlichen Schnitt am Hals getötet wurde, der an mentbeladen zu verifi zieren. Dies lässt sich an der den jüdischen Ritus des Schächtens erinnert. Der Berichterstattung über den Fall des Fondsmaklers Staatsanwalt entfesselt eine antisemitische Kam- Bernard Madoff illustrieren.

15 Süddeutsche Zeitung vom 18. Januar 2011. 16 Das Drehbuch basierte auf einer wahren Geschichte: In Xanten am Niederrhein wurde 1891 ein Schächter für den Tod eines Jungen zu Unrecht verantwortlich gemacht. 17 Homepage http://horstschimanski.info/2003.html [eingesehen am 30. Oktober 2010]. 18 Matthias N. Lorenz, Im Zwielicht. Filmische Inszenierung des Antisemitismus: Schimanski und „Das Geheimnis des Golem“, in: Juden. Bilder – TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur, 9 (2008) 180, S. 89–102. 19 Ebenda, S. 91.

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Der „Tagesspiegel“ veröffentlichte am 23. März 2009 nachvollziehen. Die Ergebnisse der Umfragen einen Kommentar unter dem Titel „Bernard Ma- der Forschungsgruppe „Gruppenbezogene Men- doff und die Juden“, in dem zu lesen war, dass eine schenfeindlichkeit“ für das Jahr 2009 zeigen, wie Reihe von bekannten Persönlichkeiten wie Steven hoch der Prozentsatz derer in der Bevölkerung Spielberg oder Elie Wiesel, die von dem Betrüger um ist, die solche Vorurteile hegen: 54,8 Prozent der ihr Geld gebracht worden waren, refl exartig, nach Befragten stimmten dem Item „Ursache der Krise altem Muster gehandelt hätten, weil sie Madoff als sind die ‚Banker und Spekulanten‘“ voll und ganz Juden ihr Geld anvertrauten. Unterschwellig wird zu, und 34,1 Prozent stimmten dem eher zu. Die suggeriert, „die Juden“ seien selbst schuld, wenn sie Forscher konnten mit Hilfe weiterer Fragen eine ihr Geld aufgrund ihres Vertrauens in das „jüdische starke Korrelation mit antisemitischen Stereo- System“ verloren haben. Warum wird überhaupt die typen feststellen. Je höher die zustimmenden Tatsache thematisiert, dass Madoff jüdischen Glau- Werte bei den Befragten ausfi elen, desto ausge- bens ist? Haben Spielberg und Wiesel tatsächlich ihr prägter waren ihre antisemitischen Ressentiments, Geld in die Hände des Vermögensberaters gegeben, so das Fazit der Studie.23 weil er jüdisch ist, oder hatte es nicht vielmehr damit zu tun, dass sie ihm als bekanntem Investmentmana- An der Berichterstattung über den Fall Madoff lässt ger und ehemaligem Nasdaq-Verwaltungsratschef sich auch zeigen, wie antiamerikanische mit antise- vertrauten?20 Die Reaktionen auf einen Artikel in der mitischen Vorurteilen korrelieren können. Es wird Welt vom 29. Januar 2009 unter dem Titel „Bernard häufi g nicht nur auf Madoffs jüdische Religions- Madoff – charmant, intelligent und eiskalt“ zeigen, zugehörigkeit Bezug genommen, sondern gleich- wie stark antisemitische Ressentiments durch die zeitig auch auf seine Herkunft aus Queens hinge- Thematisierung des jüdischen Glaubens von Madoff wiesen. Antiamerikanismus und Antisemitismus angesprochen werden. Ein Kommentator schreibt fi nden nicht nur parallel, bisweilen sogar synonym unter dem Namen Hans Lang: „Erstaunlich und Verwendung, vielmehr rangieren antisemitische überraschend, WELT schreibt über Menschen mo- Vorurteilsmuster nicht selten gewissermaßen als saischen Glaubens und lässt Kommentare zu!“, und Überbau antiamerikanischer Einstellungen, wobei nochmal: „es sind billionen (reales geld) die systima- sie sich durchaus gegenseitig bedingen. Für Letzte- tisch transferiert wurden und nicht lächerliche 750 res steht die Parole „Jews rule America“, die bereits milliarden...... ein teil davon ist in sicherheit wird in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurückreicht, in sicherheit in israelischen banken gebunkert und aber heute vor allem auf dem World Wide Web keiner (weder politiker noch unsere freien medi- rechtsextreme und radikale islamistische Seiten en) wagen es in diese richtung nachzuforschenn bestimmt. [Schreibfehler im Original].“21 Auch die Berichterstattung über den Verkauf der „Die Welt“ veröffentlichte am 17. März 2009 unter Kirch-Mediengruppe an den amerikanischen dem Titel „Der große Bluff des Bernard Madoff“ Investor Haim Saban im Jahr 2003 transportierte einen Artikel, in dem zu lesen ist: „Bernie Madoff ist bisweilen unterschwellig antisemitische und Jude, ein Aufsteiger aus Queens.“22 Die Erwähnung antiamerikanische Stereotypenmuster. Unter dem der Religionszugehörigkeit ist völlig unerheblich Titel „Wer ist Haim Saban?“ zeichnete der „Tages- für den Sachverhalt. Der Autor mag dies erwähnt spiegel“ im März 2003 den Lebenslauf des Investors haben, ohne weiter darüber nachzudenken, aber nach: „Geboren wurde Haim Saban im ägyptischen solche Aussagen bedienen das klassische Stereo- Alexandria, er wuchs in ärmlichen Verhältnissen typ des angeblichen jüdischen „Wucherers“ und auf. Sein Vater verkaufte Spielzeug, seine Mutter „Finanzspekulanten“. war Näherin. Nach dem Suez-Krieg, Saban war zwölf, zog er mit seiner jüdischen Familie nach Zahlreiche Artikel über den Finanzskandal Tel Aviv.“ 24 Es ist von luxuriösen Partys die Rede, erwähnen, dass „Bernie“ Madoff Jude ist. Welche von den engen Kontakten zur Clinton-Familie. Mit antisemitischen Klischees diese Zuschreibung solchen Aussagen werden mehrere Stereotype freisetzt, lässt sich an den Kommentaren in den bedient – zum einen, dass Juden reich sind und sich Onlineausgaben der verschiedenen Zeitungen alles kaufen können, zum anderen, dass „die Juden“

20 Der Tagesspiegel vom 23. März 2009, http://www.tagesspiegel.de/meinung/kommentare/bernard-madoff-und-die- juden/1479976.html [eingesehen am 24. August 2010]. 21 Die Welt vom 29. Januar 2009, http://www.welt.de/fi nanzen/article3113153/Bernard-Madoff-charmant-intelligent-und-eiskalt.html [eingesehen am 24. August 2010]. 22 Die Welt vom 17. März 2009, http://www.welt.de/fi nanzen/article3392698/Der-grosse-Bluff-des-Bernard-Madoff.html [eingesehen am 24. August 2010]. 23 Julia Becker/Ulrich Wagner/Oliver Christ, Ursachenzuschreibung in Krisenzeiten: Auswirkungen auf Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 8, Berlin 2010, S. 128–143, hier: S. 133, 137. 24 Der Tagesspiegel vom 13. März 2003, http://www.tagesspiegel.de/medien/wer-ist-haim-saban/397508.html [eingesehen am 24. August 2010].

103 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

die Medien kontrollierten und damit die Meinung Haim Saban steht in dem Buch nicht nur exem- zu ihren Gunsten beeinfl ussten. Unterschwellig plarisch für den Ausverkauf deutscher Medien- spielen dabei auch die US-amerikanischen Verbin- unternehmen, sondern auch für die einseitig dungen Sabans eine Rolle. prozionistische Politisierung dieser.“ Auf der Bestell- seite verweist „Amazon“ wie üblich auf Publikatio- Wie nicht anders zu erwarten, griff auch die nen, die von Kunden neben dem angebotenen Buch „National-Zeitung“ den Kauf der Mediengruppe auf gekauft wurden. Hier erscheint das höchst umstrit- und titelte mit eindeutig antisemitischer Konno- tene Werk „Antisemitismus als politische Waffe“ von tation „Bestimmt Israel deutsches Fernsehen? Norman Finkelstein.27 Spätestens mit dem Namen Haim Sabans Machtübernahme und die Folgen.“25 des Vorwortverfassers des Brendle Buches – Alfred Die „National-Zeitung“ spricht eine Klientel an, die Mechtersheimer – wird klar, dass es sich hier um ein ein antisemitisches Weltbild hegt und dieses be- Elaborat des äußersten rechten Randes handelt, das stätigt sieht. Hier wird der Unterschied zur seriösen die klassischen Vorurteile gegen Juden transportiert. Medienlandschaft deutlich, bedienen die einen – meist gedankenlos – Stereotypen, die durchaus jahr- Die Onlineverkaufsplattform „Amazon“ bie- hundertealte Vorurteile refl ektieren können, aber tet darüber hinaus auch Werke einschlägiger in der Regel nicht absichtlich impliziert sind, so rechtsextremer Verlage an beziehungsweise machen sich rechtsextremistische Printmedien wie Bücher von ehemaligen Nationalsozialisten, wie die „National-Zeitung“ antisemitische Topoi dienst- etwa des ehemaligen Chefs der wallonischen bar, die sie nur aufgrund befürchteter Strafverfol- Waffen-SS Léon Degrelle, des engen Mitarbeiters gung in moderate Anspielungen verpacken. Eine von Joseph Goebbels Wilfred von Oven oder des solche Praxis ist vor dem rechtsextremen Hinter- SS-Obersturmbannführers Otto Skorzeny, der grund der „National-Zeitung“ nicht verwunderlich. als der „Befreier“ Mussolinis gilt, aber auch des Problematischer wird es jedoch, wenn das Verkaufs- Holocaustleugners David Irving. Selbst indizierte portal „Amazon“ das Buch „Michel Friedman, Bücher sind über diesen Internetvertrieb erhält- Haim Saban und die deutsche Medienlandschaft“ lich.28 Durchaus kritischer ist allerdings zu sehen, von Tobias Brendle anbietet, das im Sinne verschwö- dass auch die Onlinebuchshops der „Süddeut- rungstheoretischer Ansätze eine „Friedman- schen Zeitung“, der „Frankfurter Allgemeinen Shaban-Connection“ unterstellt und auf subtile Art Zeitung“ und des „Spiegels“ solche Titel anbieten. und Weise antisemitische Ressentiments bedient.26 Nach Recherchen von „Report Mainz“ im Herbst Ein Kunde, ein gewisser Erwin Meier, hat den Band 2010 werden mehr als 150 Werke dieser „Nazi- rezensiert: „Das vorliegende Buch wirft ein paar Literatur“, die vom Großdienstleister „Libri“ ge- Schlaglichter auf die Frage nach der Funktions- liefert werden, über die Internetplattformen die- fähigkeit der Demokratie in diesem Lande. Schon ser seriösen Presseorgane vertrieben. Bereits im lange wird diskutiert, ob nicht das Kapital, die von Juli 2010 hatte der Blog, der die „menschenfeind- ihm dominierten Medien und kleine Minderheiten lichen Einstellungen“ der NPD dokumentiert, über zu viel Macht besitzen. […] Das Problem ist nur, daß den Vertrieb solcher Machwerke, darunter auch hier mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen solche, bei denen zumindest der Verdacht besteht, wird. Während der eine kriminell wurde und volksverhetzendes Gedankengut zu verbreiten, damit gut weiterleben kann, wurden andere, wie bei den Onlineshops der Zeitungen berichtet. Auf Hohmann, Möllemann, usw. in ihrer Existenz Nachfrage räumte die „Süddeutsche Zeitung“ ein, getroffen, indem man sie irreparabel gesellschaft- mehrfach Beschwerden erhalten zu haben, aber lich und wirtschaftlich geschädigt hat. [...] keine „Zensur“ ausüben zu wollen.29

25 National-Zeitung vom 22. August 2003. In einem Internetblog http://www.politik.de/forum/innenpolitik/36161-bestimmt.html [eingesehen am 16. März 2011], der sich auf den Artikel vom August 2003 bezieht, fügt der Autor „condor“ dem Titel „Haim Sabans Machtübernahme und die Folgen“ noch hinzu: „Der Griff Zions zur Machtübernahme im deutschen Fernsehen“. Siehe auch: „Verleger Dr. Christian Hornig über Tobias Brendles Studie ‚Michel Friedman, Haim Saban und die deutsche Medienlandschaft‘“, National-Zeitung vom 24. November 2006. Abbildung auf der Titelseite mit Hinweis auf den Artikel: „Wem dient Merkel wirklich? Haim Sabans genialer Deal“. Bundeskanzlerin Merkel in herzlicher Umarmung mit dem „US-jüdischen Milliardär und Medien- mogul Haim Saban“. 26 Tobias Brendle, Michel Friedman, Haim Saban und die deutsche Medienlandschaft, Gauting 2005. 27 Amazon-Verkaufsportal, http://www.amazon.de/Michel-Friedman-Saban-deutsche-Medienlandschaft/dp/3936169101 [eingesehen am 25. August 2010]. 28 Zum Beispiel Léon Degrelle (übersetzt von Wilfred von Oven), Denn der Hass stirbt...: Erinnerungen eines europäischen Kriegsfreiwilligen, Dresden 2006. Der Winkelried-Verlag publiziert auch Bücher des Holocaustleugners David Irving, von Hans-Ulrich Rudel und anderen. [Amazon.de, eingesehen am 16. März 2011]. Es handelt sich bei dem hier angebotenen Band von Degrelle um eine Neuaufl age des 1992 im Univeritas/Herbig Verlag erschienenen Buches Léon Degrelle, „Denn der Hass stirbt. Erinnerungen eines Europäers“, aus dem Spanischen übersetzt von Wilfred von Oven. 29 Report Mainz, 8. November 2010, http://www.swr.de/report/-/id=233454/did=7136226/pv=video/nid=233454/1qwyhku/index.html und http://www.swr.de/report/naziliteratur/-/id=233454/nid=233454/did=7133134/mpdid=7137200/mtmh2x/index.html [beide eingesehen am 11. November 2010]; http://npd-blog.info/2010/11/08/sz-spiegel-und -faz-verbreiten-nazi-literatur/ [eingesehen am 8. November 2010].

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Das Internet – Web 2.0 Blick auf die tatsächlichen Ereignisse wich. Dies war auch der Fall, weil die Qualitätspresse sich Die Gefahren antisemitischer Indoktrination zunächst schwer tat damit, über die Ereignisse liegen heute im weltweiten elektronischen Daten- differenzierter zu berichten und nicht nur die austausch politisch unterschiedlicher Gruppie- Friedensaktivisten zu Wort kommen zu lassen. rungen, die den Antisemitismus als einigendes Thema entdeckt haben und das Internet als Die neuesten Ergebnisse von „jugendschutz.net“ Agitations- und Kommunikationsmedium zeigen, dass insbesondere die Aktivitäten rechts- nutzen.30 Hier findet in den letzten Jahren auch extremer Gruppen im Netz zugenommen haben, der fundamentalistische Islam, der sich etwa seit die immer auch antisemitische Inhalte verbreiten. Mitte der 1990er-Jahre mehr und mehr der „Ausch- 2010 konnten 1708 rechtsextreme Webseiten (2009: witzlüge“ als eines politischen Instrumentes 1872, davon 67 Prozent über deutsche Server) iden- bedient, Anknüpfungspunkte.31 Als Transport- tifi ziert werden. 2009 waren 107 rechtsextreme mittel dieser sich im Wesentlichen gegen Israel, Blogs über den Szeneanbieter „logr“ zugänglich, aber auch gegen die Juden in der Welt insgesamt und 93 soziale Neonazinetzwerke standen zur richtenden Vorurteile dienen Weltverschwörungs- Verfügung. Trotz des im Vergleich zum Vorjahr phantasien und die Verharmlosung, wenn nicht verzeichneten leichten Rückgangs des Gesamtan- gar Negation des nationalsozialistischen Genozids gebots stieg die aktive Beteiligung von Kamerad- an den Juden. Das World Wide Web als leicht schaften im Jahr 2010 um 20 Prozent an.33 Gerade zugängliches, anonymes Kommunikations- und die jüngsten Entwicklungen im Internet machen Propagandamedium wird nicht nur von radikalen deutlich, dass entgegen mancher Pressemittei- Islamisten genutzt, um solche Inhalte zu verbrei- lungen in den letzten Jahren – die stark auf den ten. Auch die Rechtsextremen vernetzen sich Islamismus und Jugendliche mit Migrationshinter- unter einander weltweit über diese Themen. In den grund fokussiert waren – die Gefahr des rechtsex- letzten Jahren wurde deutlich, dass Gruppierun- tremen Antisemitismus nicht unterschätzt werden gen aus beiden Lagern über Internet und News- darf. Entsprechende Inhalte werden vor allem groups beziehungsweise Chatforen und Blogs in über Musik transportiert und stehen nicht nur auf Verbindung stehen und, trotz unterschiedlicher rechtsextremen Seiten zur Verfügung, sondern politischer Ziele, mit der Verbreitung der „Ausch- können auch über „iTunes“oder „YouTube“ her- witzlüge“ ein gemeinsames Interesse vertreten. untergeladen werden, jedenfalls so lange, bis die Betreiber auf die strafbaren Inhalte aufmerksam Die Zunahme antisemitischer Postings nach dem gemacht werden und sie löschen. Die Bundeszent- israelischen Angriff auf die Gaza-Flottille am rale für politische Bildung und „jugend schutz.net“ 31. Mai 2010, in denen mit Sprüchen wie „scheiss berichteten im August 2010, dass rechtsextreme juden, am besten alle vergasen …“ etwa auch Beiträge bei „YouTube“, „MyVideo“, „Facebook“ und zum Mord gegen Juden aufgerufen wurde,32 war „Twitter“ gegenüber dem Vorjahr von 2000 auf sowohl in sozialen Netzwerken wie Facebook, 6000 gestiegen seien.34 Bereits zwei Jahre zuvor, im aber auch auf rechtsextremen und islamistischen August 2007, hatte „Report Mainz“ darauf hinge- Seiten evident. Die verbreitete antiisraelische Hal- wiesen, dass Musik der rechtsextremen Gruppe tung beschränkte sich weder auf die Gruppe der „Zillertaler Türkenjäger“, die Ausländerhass, Ho- Jugendlichen noch auf rechtsextreme beziehungs- mophobie und Antisemitismus verbreitet, lange weise islamistische Kreise, sie war in privaten Zeit über „YouTube“ zugänglich war und trotz Debatten und in Medien präsent, deren einseitige starker Kritik erst sehr spät vom Netz genommen Berichterstattung erst allmählich einem genaueren wurde.35 Die Videoplattform versucht, entspre-

30 Juliane Wetzel, Antisemitismus im Internet. Die Vernetzung der rechtsextremen Szene, in: Bundesprüfstelle für jugend gefährdende Medien, BPjS Aktuell, Sonderheft Jahrestagung 1999, Mönchengladbach 2000, S. 16–25; dies., Rechtsextreme Propaganda im Internet. Ideologietransport und Vernetzung, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Auf dem Weg zum Bürgerkrieg? Rechtsextremismus und Gewalt gegen Fremde in Deutschland, Frankfurt a. M. 2001, S. 134–150. 31 Juliane Wetzel, Die internationale Rechte und der arabische Antizionismus im World Wide Web, in: Jahrbuch für Antisemi- tismusforschung 12 (2003), S. 121–144; dies., Antisemitismus und Holocaustleugnung als Denkmuster radikaler islamistischer Gruppierungen, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Extremismus in Deutschland. Erscheinungsformen und aktuelle Bestandsaufnahme, Berlin 2004, S. 253–272. 32 Facebook-Einträge 2010 zum Beispiel.: Borak G.: „Gib jeden Juden ein Kopfschuss“, 1. Juni 2010 um 17.18 Uhr; Momo O.: „einfach nur ausrotten die scheiss juden“, 2. Juni 2010 um 19.28 Uhr; Bülent B: „scheiss juden, am besten alle vergasen…“, 2. Juni 2010. 33 Jugendschutz.net (Hrsg.), Rechtsextremismus online beobachten und effektiv bekämpfen. Bericht 2009 über Recherchen und Maßnahmen, Mainz 2010, S. 17 f., http://www.hass-im-netz.info/fi leadmin/dateien/PK_Berlin/Projektbericht_2009.pdf [eingesehen am 26. August 2010]; Jugendschutz.net (Hrsg.), Jugendschutz im Internet. Ergebnisse der Recherchen und Kontrol- len, Bericht 2010, Mainz 2011, http://www.jugendschutz.net/pdf/bericht2010.pdf [eingesehen am 2. August 2011]. 34 Ebenda. 35 Hass frei Haus. Wie YouTube verbotene Nazi-Musik massenweise verbreitet, 27. August 2007, 21.45 Uhr, REPORT MAINZ, Das Erste, http://www.swr.de/report/-/id=233454/nid=233454/did=2478134/kei2w4/index.html [eingesehen am 26. August 2010].

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chende Inhalte zeitnah zu löschen, kann aber nicht Das hat sich schnell verbreitet über Neonazi-Blogs verhindern, dass sie immer wieder von Usern hoch- und Videoplattformen wie Youtube und sogar in geladen und angeboten werden. Schüler-Communitys. Es gibt auch eine ganze Menge Erfolgserlebnisse. Zum Beispiel, dass alles, Aufklärung im Netz was wir an Facebook, SchülerVZ oder Youtube gemeldet haben, auch entfernt wurde. Für uns Inzwischen hat „YouTube“ auf die Kritik an der hat schon immer dazugehört, die Communitys zu Bereitstellung rassistischer und antisemitischer sensibilisieren. Es kann nie nur darum gehen, dass Inhalte reagiert und einen Jugendwettbewerb eine einzelne Stelle aktiv wird, sondern wir brau- ausgelobt, der unter der Schirmherrschaft von chen eine Kultur gemeinsamer Verantwortung.“38 Familienministerin Kristina Schröder steht: „Filmt Eure Botschaft gegen Ausgrenzung und Dass nicht nur die Betreiber von „YouTube“, son- ladet sie auf YouTube“. Bis Mitte Oktober 2010 dern auch die Onlineredaktionen von Zeitungen konnten Schüler und Auszubildende zwischen 13 inzwischen verantwortlicher handeln, wird nicht und 18 Jahren ihre Videos im „361 Grad Respekt“- zuletzt daran deutlich, dass sie immer häufi ger die „YouTube“-Kanal einstellen.36 14 Videos wurden als Möglichkeit ganz unterbinden, Kommentare zu Gewinner auf der Seite vorgestellt, die zu Respekt, eingestellten Filmen oder Beiträgen abzugeben. gegen Mobbing, gegen Nazis und andere Diskrimi- Entweder standen bereits volksverhetzende nierung mit musikalischen und künstlerischen Inhalte kurzfristig im Netz, bis die Kommentar- Beiträgen aufrufen.37 leiste deaktiviert wurde, oder kommentierende Einträge werden von vorneherein unterbunden, Stefan Glaser von „jugendschutz.net“ gab im weil die Betreiber der Seiten strafbare Inhalte August 2010 im WDR ein Interview, in dem er die befürchten.39 Seit Juni 2010 stellt „jugendschutz. neuesten Entwicklungen im Netz zusammenfasste: net“ gemeinsam mit der Bundeszentrale für „Früher stellten wir oft fest, dass viele rechtsextre- politische Bildung und dem International Network me Inhalte zulässig waren, weil die Rechten sehr Against Cyber Hate die Webseite „hass-im-netz. genau wussten, was sie dürfen und was nicht. Da info“ bereit, die über Rechtsextremismus im hat man die Angebote bewusst unterhalb der Straf- Internet aufklärt.40 „jugendschutz.net“ engagiert barkeitsgrenze gehalten. Das hat sich neuerdings sich dafür, rechtsextreme Inhalte vom Netz zu in den Neonazi-Communitys umgekehrt: Schein- verbannen, Provider im In- und Ausland werden bar wähnt man sich hier in einem unbeobachteten über problematische Inhalte informiert und dazu Zirkel, wo man tatsächlich alles machen kann. Die aufgefordert, diese zu löschen. In circa 80 Prozent User verabreden sich zu Aktivitäten, sie verbreiten der Fälle gelingt dies auch. und tauschen zum Teil strafbares Neonazi-Material mit eindeutig volksverhetzendem Inhalt. Ein Ebenso aktiv ist die Webseite „Netz gegen Nazis – Beispiel: eine CD mit Gutenachtliedern, die schon Mit Rat und Tat gegen Rechtsextremismus“, die im Mai 2010 in Neonazi-Foren aufgetaucht ist. Da von der Amadeu Antonio Stiftung in Kooperation hat ein junger Neonazi zur Melodie von 21 Schlaf- mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ und einer Reihe und Kinderliedern rassistische, auch zum Mord an von Mitinitiatoren betrieben wird. 2010 erhielt Schwarzen und Juden anstachelnde Texte verfasst. „Netz gegen Nazis“ als „Leuchtturm im Internet-

36 Bild-online vom 25. August 2010, http://www.bild.de/BILD/digital/internet/2010/08/25/rechtsextrem-soziale-netzwerke-npd/ neonazis-youtube-facebook-studivz-twitter.html [eingesehen am 27. August 2010]; Netz gegen Nazis, YouTube Schülerwett- bewerb, http://www.netz-gegen-nazis.de/artikel/schuelerwettbewerb-361-grad-toleranz-rechtsextremismus-auf-youtube- gestartet-2910 [eingesehen am 30. August 2010]; http://www.youtube.com/user/361gradtoleranz [eingesehen am 18. Januar 2010]. 37 http://www.youtube.com/user/361gradtoleranz [eingesehen am 18. Januar 2010]. 38 Interview mit Stefan Glaser, 24. August 2010, WDR.de, http://www.wdr.de/themen/politik/deutschland02/internet/ rechtsextremismus/interview_glaser.jhtml?rubrikenstyle=politik [eingesehen am 25. August 2010]. 39 Zum Beispiel mehrteilige ARD-Sendung „Die jüdische Lobby – Spurensuche in Amerika“, 30. Juni 2010 auf YouTube, http://www.youtube.com/watch?v=IDcVdaqEEAE&feature=related [eingesehen 31. August 2010]. 40 http://www.hass-im-netz.info/. 41 http://www.civismedia.eu/tv/civis/02wettbewerbe67_09.phtml [eingesehen am 30. August 2010]. 42 So nahm Altermedia etwa auch zur Einsetzung unseres Expertengremiums „Antisemitismus“ Stellung: „Unterm Strich betrachtet, liegt die Aufgabe dieser illustren Runde lediglich darin, daß zu tun, was Verfassungsschutz, linke Antifa-Postillen und art- verwandte Nutznießer staatlicher Anti-Rechtsprogramme bereits seit Jahr und Tag tun, Denunziationsberichte verfassen und Vorschläge formulieren, wie man alles, was in Sachen Israel und Judentum nicht so denkt wie die Bundesregierung und das etablierte Parteienkartell, nachhaltig bekämpft. […] Was man mit Gremien dieser Art jedoch erreichen wird, ist lediglich die Bestätigung dessen, was Antijudaisten schon immer gesagt haben, daß in diesem Staat einzig und allein das Judentum das Kommando hat, vor dessen politischer Hegemonie sich alle etablierten Parteien und Organisationen in vorauseilendem Gehorsam ducken, um ihm jeden Wunsch von den Lippen abzulesen.“ In den Kommentaren zum Beitrag werden eindeutig antisemitische Inhalte verbreitet. Altermedia vom 6. August 2009, http://de.altermedia.info/general/die-experten-06-08-09_33158.html#more-33158 [eingesehen am 16. März 2011].

106 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Dschungel“ den europäischen CIVIS Online zieren, weil dies nur ein zugelassenes Mitglied der Medienpreis. 41 „Netz gegen Nazis“ informierte Netzgemeinschaft könne. Auffällig seien bei einer im Juni 2010 etwa auch über das Neonazi-Portal Suche mit bestimmten Begriffen wie „Jude“ über „Altermedia/Störtebekernetz“, das sich als seriöse die Seite „Openbook“, dass die Postings in deut- Onlinenachrichtenseite präsentiert und täglich scher Sprache häufi g mit ausländisch klingenden Beiträge und Kommentare bereitstellt,42 die Namen versehen seien. Die Autoren des Artikels zum Teil aus seriösen Medien übernommen und vermuten, dass deutsche Neonazis geschickt ihre entsprechend umformuliert beziehungsweise Einträge verschlüsseln und auf nicht so leicht kommentiert werden. Drei Klagen aus den Jahren zugänglichen Seiten verbreiten, sodass sie über 2008 und 2009 gegen die Betreiber des deutschen „Openbook“, das eine Suchfunktion für öffentli- Ablegers der Neonazi-Plattform sind noch anhän- che „Facebook“-Inhalte bereitstellt, nur schwer gig, ihnen wird unter anderem vorgeworfen, „Ar- auszumachen sind.44 Deshalb sollte von vorschnel- tikel verbreitet zu haben, in denen der Holocaust len Verurteilungen und Zuschreibungen an verharmlost, gebilligt oder geleugnet“ wurde.43 Jugendliche mit Migrationshintergrund abgese- hen und nicht aus einer namentlichen Kennzeich- Verkaufsplattformen wie „Ebay“ setzen in ihrer nung auf die tatsächliche Identität des Verfassers deutschen Seite Suchmaschinen ein, die proble- geschlossen werden. matische Angebote herausfiltern, und beschäf- tigen eine größere Anzahl von Mitarbeitern, die Hingewiesen sei hier noch auf eine Problematik, anschließend noch einmal „per Hand“ prüfen. die häufi g bei der Beobachtung von Hass verbrei- Auszuschließen ist dennoch nicht, dass zumindest tenden Webseiten außer Acht gelassen wird. Im zeitweise NS-Devotionalien, einschlägige Publika- Fokus stehen vor allem solche Internetauftritte, die tionen oder Musikangebote im Netz zur Verfügung antisemitische und allgemein rassistische Inhalte stehen. Es wäre zu wünschen, dass sich dieser Pra- verbreiten. Viel weniger Aufmerksamkeit erfahren xis auch Onlineshops und Versandplattformen wie Seiten wie „Politically Incorrect“ oder „Die Grüne Amazon anschließen. Pest“, die in höchstem Grade islamfeindlich sind, wenn nicht gar einen gegen alle Muslime gerich- Einseitige Zuschreibungen teten Hass verbreiten und sich dabei gleichzeitig mit ihrer bedingungslosen proisraelischen Hal- In jüngster Zeit scheint die Verbreitung antisemi- tung philosemitisch gerieren.45 tischer Inhalte durch rechtsextreme Gruppie- rungen im Internet in der medialen Aufmerk- Fazit samkeit in den Hintergrund zu treten. Im Fokus stehen vielmehr Jugendliche mit Migrations- Kritischen Stimmen über die Medienbericht- hintergrund, die durchaus die Möglichkeit des erstattung in Bezug auf den Nahostkonfl ikt ist unkomplizierten Datenaustausches als Agi- insofern recht zu geben, dass sich immer wieder tationsplattform nutzen und antisemitische Stereotypisierungen einschleichen, die antisemi- Inhalte verbreiten, allerdings noch keineswegs tische Konnotationen bedienen können. In keiner die Präsenz rechtsextremer Hetze erreichen. So seriösen Zeitung allerdings fi nden sich solche Kli- berichtete „Die Zeit“ im Juni 2010 unter dem Titel schees durchgängig, zumal viele große Zei tungen „Judenhass auf Facebook“ über rechtsextreme unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen Inhalte und verwies darauf, dass der „Facebook“- lassen, die einen differenzierteren Blick auf Sach- Gruppe „We respect you hitler“ zahlreiche verhalte zulassen. Auch Markierungen ein zel ner Holocaustleugner beitraten. Detaillierte Er- Personen als Juden, die durchaus latent antisemi- kenntnisse über die Inhalte der NPD-Community tische Haltungen in der Leserschaft unterstützen auf „Facebook“ seien allerdings schwer zu verifi - können, sind kein verbreitetes Muster.

43 Das Amtsgericht Stralsund verurteilte den Administrator des deutschen Portals im März 2010 wegen Volksverhetzung und Beleidigung zu 150 Tagessätzen. Netz gegen Nazis, http://www.netz-gegen-nazis.de/artikel/altermediainfo [eingesehen am 30. August 2010]. Seit dem 5. August 2011 ist die internationale Domain von Altermedia (inklusive ihrer nationalen Unterseiten) in- folge einer Sperrung durch den Registrar nicht länger erreichbar. Der Eintrag im Domain Name System (DNS) vermerkte als Grund, dass „die Domain gegen Geschäftsbedingungen verstieß oder Spam verbreitete“. Laut Aussage der deutschen Betreiber sei bereits eine alternative Adresse registriert und ein neuer Server im Ausland gefunden, über den das deutsche Angebot von Altermedia zukünftig abrufbar wäre. Blick nach rechts, http://www.bnr.de/content/umleitung-ins-off [eingesehen am 11. August 2011]. 44 Die Zeit vom 4. Juni 2010, http://www.zeit.de/digital/internet/2010-06/antifa-antisemitismus-facebook [eingesehen am 31. August 2010]. 45 Yasemin Shooman, Islamfeindschaft im World Wide Web, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Islamfeindschaft und ihr Kontext. Dokumentation der Konferenz „Feindbild Muslim – Feindbild Jude“, Berlin 2009, S. 71–84. 46 „Das beanstandete Schreiben der Bundeszentrale für Politische Bildung wird ihrer Aufgabe, die Bürger mit Informationen zu versorgen und dabei Ausgewogenheit und rechtsstaatliche Distanz zu wahren, nicht gerecht und verletzt den Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht.“ Bundesverfassungsgericht, Pressestelle, Pressemitteilung Nr. 87/2010 vom 28. September 2010, http://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg10-087.html [eingesehen am 18. Januar 2011].

107 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Im Unterschied zur Berichterstattung über gesperrt. Die Einträge der ersten Google-Ergebnis- den Nahostkonflikt, die nicht immer ohne anti- seiten bieten eine Vielzahl von seriösen Platt- jüdische Stereotypisierungen auszukommen formen, in denen etwa das antisemitische Mach- scheint, berichten Print- und Fernsehmedien in werk „Die Protokolle der Weisen von Zion“, des der Regel seriös über den Antisemitismus der NS- auf rechtsextremen, aber auch auf manchen Zeit, setzen sich kritisch mit Apologeten auseinan- Web seiten von Ufologen, Esoterikern und sektie- der und thematisieren revisionistische wie neona- rerischen christlichen Gruppen sowie auf islamis- zistische Tendenzen. Jüngstes Beispiel ist die Rüge tischen Plattformen zu finden ist, als solches des Bundesverfassungsgerichts vom August 2010 eingeordnet, erläutert und dechiffriert wird und gegenüber der Bundeszentrale für politische Bil- Antisemitismus generell, aber auch die Leugnung dung, die nach der Einschätzung des Gerichts un- des Holocaust, pädagogisch beziehungsweise verhältnismäßig gehandelt habe, als sie sich 2004 wissenschaftlich aufgearbeitet wird. von dem Aufsatz „Deutsche Identität in Verfassung und Geschichte“ in der Zeitschrift „Deutschland- Archiv“ des emeritierten Politikprofessors Konrad Löw distanzierte und die verbliebenen Hefte einstampfen ließ.46 Die Bundeszentrale hatte damit auf heftige Kritik gegen den Beitrag von Löw in ihrer Fachzeitschrift reagiert, dem vorgeworfen wurde, gegen sämtliche historischen Sachverhal- te argumentiert und antisemitische Stereotype bedient zu haben.47 Die FAZ hatte Löw noch im März 2007 ein Podium gegeben, seine Thesen zu präsentieren,48 die der Historiker Wolfgang Benz als „uralte Lebenslüge“ bezeichnete. Seine Zitate seien „willkürlich zusammengeklaubt und das äußerst dilettantisch“.49 Inzwischen haben die Printmedien – auch die FAZ – Löws Thesen kritisch beleuchtet und Unverständnis über die Entschei- dung der Ersten Kammer des Ersten Senats des Verfassungsgerichts geäußert, die in jüngster Zeit durch Urteile aufgefallen ist, die auch Neo- nazis Meinungsfreiheit zubilligen, weil rechte Gesinnung nicht ausreiche, um die öffentliche Ordnung zu gefährden.50

Im Gegensatz zu den Print- und Fernsehmedien ist im Internet eine Flut von antisemitischen Texten zugänglich, es bedarf freilich einer besonderen Kenntnis, um sie ausfi ndig zu machen. Die deut- sche Google-Suchmaschine bietet bei entsprechen- der Eingabe erst ab der vierten beziehungsweise fünften Seite Links zu einschlägigen Webseiten, viele Einträge sind zudem aus Rechtsgründen

47 Siehe Die Welt vom 29. September 2010; Die Zeit vom 28. September 2010; Süddeutsche Zeitung vom 28. September 2010; Die Frankfurter Rundschau vom 29. September 2010 titelte gar mit „Karlsruher Verfehlung“: „Es wird hängenbleiben, dass man jetzt endlich wieder unwidersprochen sagen darf, dass die Juden selbst schuld an ihrer Vernichtung sind. Es sind die Richter, die ihr Ziel weit verfehlt haben.“ 48 FAZ vom 1. März 2007. 49 Die Welt vom 14. April 2007. 50 Die Welt vom 5. Januar 2011.

108 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Antisemitismus in einige wenige liberale Intellektuelle kritisieren die türkischsprachigen Medien zunehmende Judenfeindschaft in der Gesellschaft. Soziologische Forschungen zeigen vor allem eine Die türkische Öffentlichkeit wurde nach den isla- allgemeine Intoleranz gegenüber unterschied- mistischen Terroranschlägen auf zwei Synagogen lichen Lebensformen, darunter auch deutliche in Istanbul am 17. November 2003 mit dem Problem Ressentiments gegenüber Juden. Ersin Kalaycıoğlu des Antisemitismus konfrontiert.1 In der darauf- von der Sabancı Universität in Istanbul stellte schon folgenden kurzen Debatte zeigte sich deutlich, 2004 einen starken Rechtsruck in der Gesellschaft dass in der Gesellschaft kein Bewusstsein für die fest: Das geistige Klima in der Türkei habe sich hin antisemitische Dimension dieser Taten besteht. Die zu einem religiösen und nationalistischen Konser- Mehrheit der Medien, Politiker und Intellektuellen vatismus entwickelt, der zunehmend intolerant, bewertete die Anschläge als einen ausschließlich fremdenfeindlich und antisemitisch sei.5 Das terroristischen Akt. Für den Istanbuler Historiker amerikanische Forschungszentrum The Pew Rifat Bali stellen die Reaktionen auf die Attentate Research Center (PEW) bestätigte den Trend einer eine entschiedene Verweigerung der türkischen steigenden Judenfeindschaft seit 2004. Danach Gesellschaft dar, sich mit dem Antisemitismus, der hatten 2004 49 Prozent der türkischen Bevölke- dem politischen Islam inhärent ist, auseinander- rung eine negative Einstellung gegenüber Juden. zusetzen.2 Der Anteil erhöhte sich bis 2006 auf 65 Prozent und im Jahr 2008 auf 76 Prozent.6 Es ist zu ver- Seit den Terroranschlägen auf die Istanbuler muten, dass der negative Trend durch den Gaza- Synagogen im Zuge politischer Ereignisse wie Krieg 2009 und durch die Ereignisse um die Gaza- dem Libanon-Krieg 2006, dem Gazakrieg 2009, Flottille weiter zunimmt. der „One-Minute“-Krise3 oder der Erstürmung der Gaza-Flottille 2010 sind Antisemitismus und Trotz dieser eindeutigen Ergebnisse ist in der türki- Israelfeindschaft in der Türkei in bisher nicht schen Gesellschaft kaum eine Reaktion zu spüren, gekanntem Maße virulent. Verstärkt werden dieser Tendenz entgegenzuwirken. Obwohl die die in der türkischen Gesellschaft vorhandenen bestehenden Gesetze die juristische Verfolgung Ressen timents gegenüber Juden und Israel durch von antisemitisch motivierten Hassverbrechen die von der Regierung Erdoğan verfolgte israelkri- einschließen, sind bisher nur zwei Fälle bekannt, in tische Außen- und Innenpolitik. Ein Novum in der denen die Staatsanwaltschaft eingeschaltet wurde, Geschichte des Landes war etwa die vom Erzie- darunter die Verherrlichung Hitlers und die Befür- hungsministerium in allen Schulen angeordnete wortung des Holocaust. Gedenkminute für die getöteten Aktivisten der Gaza-Flottille. Landesweit fanden israelfeindliche Der historisch einmalige Aufruf „Antisemitiz- Massendemonstrationen statt. Kritik an dieser me sıfır tahammül – Null Toleranz gegenüber politischen Entwicklung, die während des Liba- Antisemitismus“7 im Oktober 2004 fand kein gro- non-Kriegs 2006 noch politisch und medial wahr- ßes Echo unter den Intellektuellen, sondern erntete nehmbar gewesen war, blieb in diesem Fall nahezu eher Kritik von linken Publizisten. Antisemitismus aus. Sowohl unter den staatlichen als auch unter ist schlicht kein Thema für die Linken, Linkslibe- den zivilgesellschaftlichen Akteuren – über die ralen, Kemalisten, islamischen Intellektuellen politischen und konfessionellen Grenzen hinweg – und Menschenrechtsaktivisten in der Türkei. Die besteht ein weitestgehender Konsens darüber, dass Aussage des türkischen Ministerpräsidenten Recep es in der Türkei keinen Antisemitismus gibt.4 Nur Tayyip Erdoğan „In der Geschichte dieses Landes

1 Bei den Anschlägen haben 24 Menschen ihr Leben verloren, und es gab über 400 Verletzte. Zu dem gesamten Themenbereich Antisemitismus in türkischsprachigen Medien siehe auch Aycan Demirel, Antisemitismus in türkischsprachigen Medien, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 20 (2011), S. 211–237. 2 Rıfat N. Bali: Anne, baba susmayın, peri masallarını anlatmaya devam edin..., in: Birikim 177 (2004), http://www.rifatbali.com/images/stories/dokumanlar/anne_baba_susmayin.pdf [eingesehen am 15. Oktober 2010]. 3 Im Februar 2009 löste die „One-Minute“-Krise eine politische Krise zwischen Israel und der Türkei aus. Als auf dem Weltwirt- schaftsforum in Davos über den Gazakrieg debattiert wurde, erhielt der türkische Ministerpräsident Erdoğan keine Möglichkeit, auf die Rede des israelischen Präsidenten Shimon Peres zu antworten. Erdoğan war entrüstet und verließ Davos umgehend. 4 Marcel Russo, Post Gazze Antisemitizmi, in: Şalom vom 4. März 2009. 5 Yunus Emre Kocabaşoğlu, Bilimin boy aynasi, 23. Januar 2010, http://bianet.org/biamag/biamag/119627-bilimin-boy-aynasi [eingesehen am 14. Oktober 2010]. 6 Studie vom PEW Research Center, Unfavourable views of Jews and Moslems on the increase in Europe, 17. September 2008, http://pewglobal.org/fi les/pdf/262.pdf [eingesehen am 9. Oktober 2010]. 7 Der von 117 jüdischen und nichtjüdischen Personen unterschriebene Aufruf wurde in der linksliberalen Theoriezeitschrift Birikim abgedruckt. Der Aufruf ist bei dem Nachrichtenportal bianet.org dokumentiert: Antisemitizme Karşı Ezberi Bozmak..., http://bianet.org/biamag/bianet/45212-antisemitizme-karsi-ezberi-bozmak [eingesehen am 10. Oktober 2010].

109 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

und in der Geschichte dieser Nation hat es Anti- „Zaman“ zum Netzwerk des Predigers Fethullah semitismus nie gegeben“8 ist exemplarisch für die Gülen gehört. Haltung staatlicher Akteure zum Antisemitismus. Die Aufl agen der türkischen Zeitungen in Europa Ähnlich verhalten sich auch türkische Vertreter sind in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen in Deutschland. Ein Beispiel dafür ist eine Veran- und bewegen sich zwischen wenigen Tausend staltung, die vom Zentralrat der Juden in Deutsch- und 60.000. Vermutlich liegt dies daran, dass die land und dem türkisch-islamischen Dachverband Türkei keinen unmittelbaren Bezugspunkt mehr DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für die Leser darstellt; hinzu kommen mangelnde für Religion e. V.) unter der Schirmherrschaft Türkischkenntnisse der jüngeren Generationen der türkischen und israelischen Botschafter im sowie der fehlende Bezug der türkischen Zeitun- Mai 2006 organisiert wurde. Türkische Vertre- gen auf die gesellschaftliche Realität der Migran- ter betonten den toleranten Umgang mit Juden ten in Europa.11 in der türkischen Geschichte und sprachen von einer 500- jährigen türkisch-jüdischen Symbiose. Türkischsprachige Medien spielen für Menschen In seiner Eröffnungsrede erwähnte Botschafter mit entsprechendem Migrationshintergrund eine Mehmet Ali İrtemçelik mit keinem Wort den Anti- wichtige Rolle, allerdings, so die Ergebnisse der semitismus unter der türkischen Bevölkerung. Ein Forschung, beschränkt sich der Konsum nicht anderer Redner, der als Türkei-Experte eingela- darauf; deutschsprachige Medien werden ebenso dene damalige Leiter des Zentrums für Türkei- genutzt. Damit lässt sich die These einer medialen studien, Faruk Sen, trieb die allgemeine Haltung Parallelgesellschaft („mediales Ghetto“) widerle- auf die Spitze, indem er behauptete, dass die gen.12 Für bestimmte Segmente der Bevölkerung Türken keine Antisemiten sein können, weil mit türkischem Migrationshintergrund, etwa ein sie Türken seien.9 älteres Publikum, haben türkische Tageszeitungen und Fernsehbeiträge mehr Relevanz als deutsch- Türkischsprachige Medien in Deutschland sprachige Medien.13 Es ist davon auszugehen, dass gerade diese eher ältere Zielgruppe, die heimat- Seit Ende der 1960er-Jahre gibt es türkischsprachi- sprachige Medien konsumiert, und die von ihnen ge Medien in Deutschland. Dauerhaft sind auf dem politisch sozialisierten Folgegenerationen in den deutschen Markt „Hürriyet“ (seit 1969), „Türkiye“ Interessenvertretungen des organisierten Teils (seit 1986) und „Zaman“ (seit 1992) vertreten. „Milli- der türkisch-deutschen Migranten-Community yet“ wurde nach fast 40 Jahren im Mai 2010 einge- ein nicht zu unterschätzendes Gewicht haben. stellt. Derzeit werden in Deutschland die Tageszei- Auf diese Weise besitzen die in der türkischen tungen „Hürriyet“, „Sabah“, „Türkiye“, „Zaman“, Berichterstattung artikulierten antisemitischen „Taraf“ und „Milli Gazete““ vertrieben. Deutungen auch einen gewissen Einfluss auf den Meinungsbildungsprozess der türkischen Die Zentralen der türkischen Medien in Deutsch- Migranten in Deutschland. Eine besondere Rolle land befinden sich im Frankfurter Raum. Dort spielen dabei die hier vorgestellten Tageszei- erfolgt die Produktion der Europaseiten der tungen, da sie als Mainstream-Medien die große Zeitungen, der Mantelteil wird aus der türkischen Bandbreite des politischen Spektrums in der Ausgabe übernommen. Die Europaseiten behan- türkischen Gesellschaft bedienen. deln Themen aus Deutschland und dem übrigen Europa, die für türkische Leser relevant erschei- Buchmarkt nen.10 „Zaman“ und „Milli Gazete“ werden nicht am Kiosk verkauft, sondern nur im Abonnement In der Türkei sind traditionell die islamistischen vertrieben. „Milli Gazete“ ist die halbamtliche und extrem nationalistischen Strömungen die Tageszeitung der „Milli Görüş“-Bewegung, die wie Hauptträger des Antisemitismus. Nach Rıfat N. Bali

8 ADL Press Release vom 10. Juni 2005: Prime Minister Erdogan Tells ADL That „Anti-Semitism Has No Place in Turkey“, http://www.adl.org/PresRele/ASInt_13/4730_13.htm [eingesehen am 14. Oktober 2010]. 9 Am 23. Juni 2006 fand in Berlin die Veranstaltung „Antisemitismus, Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit“ im Türkischen Haus in Berlin statt. 10 Ismail Kul, Türkische Medien als Brücke zwischen den Kulturen. Vortrag zur Tagung der Evangelischen Akademie Hofgeismar: „was guckst du? Der Islam in den Medien“, http://www.ekkw.de/akademie.hofgeismar/publ/Vortraege/07189_Kul.pdf [eingesehen am 5. November 2010]. 11 Ismail Kul, Türkische Medien. 12 Für den aktuellen Forschungsüberblick Sünje Paasch-Colberg/Joachim Trebbe, Mediennutzungsmuster türkischstämmiger Jugendlicher und junger Erwachsener in Nordrhein-Westfalen, in: Medien & Kommunikationswissenschaft 3 (2010), S. 368–387, hier: S. 370. 13 Ebenda, S. 372.

110 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft bedienen zwar beide Strömungen dieselben Im Jahr 2005 wurde auf der Messe für die inzwi- antisemitischen Mythen. Dabei wird jedoch die schen in Deutschland verbotene islamistische Ta- antisemitische Schrift „Die Protokolle der Weisen geszeitung Vakit geworben, die antisemitische In- von Zion“ primär vom islamistischen Spektrum halte verbreitet. Ebenfalls waren Henry Fords „The verbreitet, während von den extremen Natio- International Jew“, „Die Protokolle der Weisen von nalisten Hitlers „Mein Kampf“ propagiert wird.14 Zion“ sowie die ins Türkische übersetzten Schrif- Die „Protokolle“ wurden bis zum Jahr 2005 über ten Sayyid Qutbs und jene von Adnan Oktar alias 100-mal aufgelegt.15 Die „Protokolle“ gelten für Harun Yahya, der zumindest bis in das Jahr 2000 diese beiden extremen Milieus als authentische als Holocaustleugner galt, erhältlich (→ Antisemi- Belege für Weltherrschaftspläne der Juden. Sie tismus im Islamismus). Im Jahr 2006 wurde auf werden in wissenschaftlichen und populären der Messe „Müslümanın Müslümanlaşması“ („Mus- Publikationen zitiert, die zum Teil auch von limisierung der Muslime“) von Ahmed Kalkan, Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in dem ein angeblicher Abfall der muslimischen in Europa gelesen werden. Hitlers „Mein Kampf“ – Identität als „Verjudung“ beurteilt wird, angebo- in türkischer Übersetzung zwischen 1940 und ten. Die Messe lieferte auch eine antisemitische 2005 über 40-mal fast ausschließlich von nationa- VCD-Produktion: die vom staatlichen iranischen listischen Verlagen aufgelegt – stellt eine wichtige TV-Kanal Sahar-1, dem „Milli Görüş“-Sender TV5 ideologische Basis für das extrem nationalistische und von Hilal TV ausgestrahlte TV-Serie „Zahras Spektrum dar. Einen Boom erreichte das Buch im Blaue Augen“ in türkischer Übersetzung. Jahr 2005, als es mit 13 Neuaufl agen zum Bestseller wurde. Das gestiegene Interesse wurde dabei in der Die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus Öffentlichkeit nicht mit Antisemitismus in Verbin- e. V. (KIgA) machte im Jahr 2006 die Öffentlichkeit dung gebracht, sondern nur mit dem steigenden auf das Vorhandensein von islamistischen und Nationalismus begründet, der sich besonders im antisemitischen Publikationen auf der Messe auf- Kontext des Kurdenkonfl ikts äußere.16 merksam und bat die Staatsanwaltschaft Berlin um die Überprüfung des Sachverhaltes unter dem Die antisemitischen Publikationen erreichen über Gesichtspunkt des Straftatbestandes der Volksver- das Internet oder türkische Buchläden auch Teile hetzung. „Zahras blaue Augen“, „Wer regiert die der türkischsprachigen Bevölkerung in Deutsch- Welt? Die geheime Weltregierung“ und „Musli- land. Bei dem Vertrieb solcher Inhalte spielen auch misierung der Muslime“ wurden einer genauen Buchmessen eine wichtige Rolle, die in der Regel inhaltlichen Untersuchung im Hinblick auf einen von religiös-politischen Organisationen und strafbaren Inhalt unterzogen. der islamistischen Strömung zuzuordnenden Moschee-Vereinen veranstaltet werden.17 Die Die Überprüfung der Videofilmproduktion Buchmessen sprechen ein Publikum jenseits des „Zahras blaue Augen“ ergab, dass diese keinen unmittelbaren Umfelds der Organisationen an, verfolgbaren Straftatbestand aufwies. Es würden da sie in der Regel breite Angebote haben und mit zwar antisemitische Inhalte verbreitet, aber „die einem politisch-kulturellen Rahmenprogramm Handlung des Films [überschreite] trotz des unver- angeboten werden. hohlen antisemitischen Inhalts und der extrem einseitigen Darstellung des israelitisch-palästinen- Antisemitische Publikationen auf sischen Konfl iktes unter Berücksichtigung von türkischen Buchmessen im Umfeld der Art. 5 Abs. 3 GG (Grundrecht der Kunstfreiheit) „Milli Görüş“-Moscheen noch nicht die Grenze zur Volksverhetzung […], zumal eine fi ktive Geschichte erzählt werde und Die Türkische Buchmesse Berlin (Berlin Kitap das menschenverachtende rassistische Vorgehen Fuari), auf der türkische Verlage ihre Bücher prä- des Generals nicht auf alle Juden oder deren über- sentieren und verkaufen, fi ndet seit 2002 jährlich wiegende Mehrheit übertragen werde.“18 in Berlin-Kreuzberg statt. Im Jahr 2005 und 2006 wurde sie im Hinterhof der Mevlana-Moschee Auch bei dem Buch „Muslimisierung der Muslime“ veranstaltet, die der türkisch-islamistischen stellte die Ermittlungsbehörde fest, dass dieses „Milli Görüş“-Bewegung nahesteht. strafbare volksverhetzende Passagen enthalte.

14 Rıfat N. Bali, Musa‘nın Evlâtları, Istanbul 2001, S. 315 ff. 15 Rıfat N. Bali gibt eine ausführliche Bibliographie der „Protokolle“ in der Türkei in seinem Buch „Musa‘nın Evlâtları“, S. 322–340. 16 Ayşe Hür, Küreselleşen Anti-Semitizm ve Türkiye, in: Birikim vom 18. Oktober 2005, http://www.birikimdergisi.com/birikim/ makale.aspx?mid=62 [eingesehen am: 28. April 2011]. 17 Dantschke, Feindbild Juden, S. 140. 18 Schreiben der Staatsanwaltschaft Darmstadt an die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus vom 2. Februar 2010. Tatbestand der Volksverhetzung in den Alternativen des böswillig Verächtlichmachens und Verleumdens gemäß §130 Abs. 1 Nr. 2 und §130 Abs.2 Nr. 1 2. und 3. Alt. StGB.

111 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Das Ermittlungsverfahren gegen die Verkäufer Wandlungsprozesse im Zusammenhang mit der wurde schließlich mangels eines begründbaren Säkularisierung in der islamischen Welt scheinbar und hinreichenden Tatverdachts eingestellt, da erklärt werden. den beiden Mitarbeitern der OKUSAN GmbH „eine strafrelevante Beteiligung an der Verbreitung der Ein anderer wirkungsmächtiger Geschichts- beiden Bücher volksverhetzenden Inhaltes nicht mythos der Islamisten ist die These von der soge- mit der für eine Anklageerhebung erforderlichen nannten Lausanne-Verschwörung. Sie rekurriert Sicherheit bewiesen werden“19 konnte. auf die Teilnahme von Hayim Nahum, des letzten Oberrabbiners des Osmanischen Reiches, an der Es ist zu vermuten, dass die Betreiber solcher Buch- Lausanner Friedenskonferenz von 1923, wo dieser messen und Buchläden die scheinbare „Norma- als Berater türkischer Diplomaten tätig war. Der lität“ der Publikationen in Referenz auf den gesell- einfl ussreiche Publizist der islamistischen „Milli schaftlichen Umgang in der Türkei übertragen. Görüş“-Bewegung Mehmet Şevket Eygi deutet diese Eine Ausnahme bildet Hitlers „Mein Kampf“, da Begebenheit so, dass Hayim Nahum als Jude inzwischen bekannt ist, dass dieses Machwerk in bewusst und gezielt dazu beigetragen habe, das Deutschland verboten ist.20 Kalifat und die islamische Gesetzgebung abzu- schaffen sowie europäische Gesetze einzuführen. Erscheinungsformen und Deutungsmuster Nahums Interessen seien schließlich in geheime Protokolle des Vertragswerks eingefl ossen.23 Verschwörungstheorien als Welterklärungsmuster Antisemitisch interpretiert werden häufi g auch Terroranschläge, die sich gegen jüdische oder als Der linksliberale Publizist Tanıl Bora charakterisierte jüdisch wahrgenommene Institutionen richten. schon im Jahr 1996 in der kritischen Theoriezeit- Zahlreiche Artikel islamistischer Autoren impli- schrift „Birikim“ die Türkei als „Vorzeigeland“ für zieren, dass für die terroristischen Anschläge auf eine Verschwörungsmentalität.21 Heutige Analysen das World Trade Center in New York (2001) oder auf und der Boom der Verschwörungsliteratur bestätigen Synagogen in Istanbul (2003) nicht etwa islamisti- diese Annahmen. Im Folgenden wird unter Einbezug sche Terroristen verantwortlich seien, wie die Welt- der Besonderheiten des türkischen Diskurses auf öffentlichkeit glaube, sondern Juden. Angeblich verschiedene Stereotypisierungen eingegangen: dienten sie vor allem den politisch-strategischen Zielen des Zionismus, des Staates Israels und des Besonders unter Islamisten ist die Vorstellung „Weltjudentums. verbreitet, dass Zionisten, Freimaurer und Krypto- juden („Dönme“) den Sturz von Sultan Abdülhamid Antisemitische Verschwörung auf Türkisch: II. herbeigeführt hätten, nachdem dieser Theodor Der Dönme-Wahn Herzls Bitte um Zustimmung für eine zionistische Ansiedlung in Palästina abgelehnt hatte, um damit Das Bild von einer Dönme-Verschwörung bildet das Ende des Osmanischen Reiches herbeizu- eine spezifi sch türkische Variante antisemitischer führen.22 Die antisemitische Interpretation der Verschwörungsideologien. Als Dönme, oft auch historischen Ereignisse beruft sich auch auf die Sabbateisten genannt, werden in der Türkei zum Tatsache, dass die Oppositionsbewegung der Jung- Islam konvertierte Juden und ihre Nachkommen türken und aufklärerische Freimaurerlogen ihre bezeichnet.24 Zentralen in der von Juden und Dönme geprägten Stadt Thessaloniki hatten. Dieser Geschichts- Der Dönme-Mythos halluziniert die Beherrschung mythos bildet bis heute – und zwar weit über die der Türkei durch eine kleine unsichtbare Minder- türkischen Islamisten hinaus – ein zentrales heit von „Kryptojuden“. Anhänger dieser Verschwö- Deutungsmuster, mit dem gesellschaftliche rungsphantasie haben es sich zur Aufgabe gemacht,

19 Schreiben der Staatsanwaltschaft Darmstadt an die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus vom 2. Februar 2010. 20 In den 1970er- und 1980er-Jahren war die türkische Ausgabe vom „Mein Kampf“ an den Informationsständen der extremnationalistischen „Grauen Wölfe“ zu fi nden. 21 Tanıl Bora, Komplo Zihniyetinin Örnek Ülkesi Türkiye, in: Birikim 90 (1996), S. 42. 22 Für mehr Information siehe Bali, Musanin Evlatleri, S. 310 ff. Claudia Dantschke, Islamistischer Antisemitismus, in: Zentrum Demokratische Kultur der RAA Berlin, Amadeu Antonio Stiftung (Hrsg.), Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher – Antisemitismus und Antiamerikanismus in Deutschland, Leipzig 2004, S. 24–34, hier: S. 28 f. 23 Mehmet Şevket Eygi, Lozan‘ın Gizli Protokolleri, http://www.haberkalem.com/yazar/667-lozan39in-gizli-protokolleri.html [eingesehen am 2. Oktober 2010]. 24 Mehr über das Phänomen „Dönme“ auf Türkisch: Rıfat N. Bali, Musa‘nın Evlâtları Cumhuriyet’in Yurttaşları, Istanbul 2001, S. 411–450; auf Deutsch: Jochen Müller, Antisemitismus in der Türkei. „Das sind die Gefährlichsten, weil man sie nicht kennt“, in: Verein für Demokratische Kultur in Berlin e. V. (Hrsg.), Antisemitismus in der Türkei. Hintergründe – Informationen – Materialien, Berlin 2009, S. 4–17.

112 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft politisch unliebsame Personen als „Kryptojuden“ „Antizionistisch zu sein ist eine religiöse Handlung“. zu „enttarnen“ und sie für alle gesellschaftlichen Der Autor Abdullah Bir betonte darin die Bedeutung Missstände verantwortlich zu machen. Traditionell der Al-Aqsa-Moschee für die Muslime: „Dieses Hei- war der Dönme-Wahn in radikalnationalistischen ligtum in Besitz zu nehmen und die zionistischen und vor allem in islamistischen Kreisen verbreitet. Pläne zunichte zu machen ist eine ernste, nicht zu Unter den antisemitischen Publizisten des islamis- vernachlässigende religiöse Handlung.“26 Für den tischen Spektrums ist insbesondere Mehmet Şevket Kampf um die heilige Stätte würden die Muslime Eygi hervorzuheben, der sich dem Thema seit den „von Gott mit unzähligen Geschenken belohnt“, 1960er-Jahren widmet. wenn sie „ihre antizionistische Handlung als eine religiöse Handlung“ verstünden.27 Bestimmte antisemitische Stereotypisierungen treten im Diskurs um die Dönme immer wieder Religiöse Konnotationen fi nden sich auch in der auf. Eygi und andere islamistische Autoren werfen These einer angeblichen „Judaisierung“ der Mus- den Dönme vor, nur oberflächlich Türken und lime. Dieser antisemitische Diskurs wurde von Muslime, tatsächlich aber Juden geblieben zu sein, dem Prediger Mustafa İslamoğlu geprägt, der in die den Islam gezielt zu unterwandern versuchen. den islamistischen Zeitungen „Vakit“ und „Yeni Eygi schreibt in „Milli Gazete“: „Ihr Glaube ist nicht Şafak“ Kolumnen veröffentlicht. Mit Bezugnahme ehrlich. Ihre wahre beziehungsweise echte Iden- auf Koran und Hadith bezeichnet İslamoğlu tität ist jüdisch“.25 Das traditionelle antisemitische alle moralisch negativen Verhaltensweisen und Feindbild des Juden als „Zersetzer“ der Nation spielt Charakterzüge sowie vermeintliche Abweichun- ebenso eine wichtige Rolle. gen von der „wahren“ Lebensweise des Islams als Judaisierung.28 Ihm folgen inzwischen andere Die Etablierung des Dönme-Wahns in der Mitte der Autoren, die unzählige Texte und Bücher über Gesellschaft erfolgte in den letzten zehn Jahren eine „Judaisierung der Muslime“ veröffentlichten. dagegen durch bekannte linke Publizisten, wie den Einer dieser Autoren ist Ahmed Kalkan. Er sieht ehemaligen Marxisten und heutigen Linksnationa- nur zwei Wege im Leben: Den Weg des Propheten listen Yalçın Küçük, der seit 2000 zehn Monogra- oder den Weg der Judaisierung. Man habe die phien veröffentlichte, sowie Soner Yalçın, von dem Wahl zwischen Glückseligkeit und Katastrophe, vier größere Publikationen erschienen sind. Beide zwischen Paradies und Hölle. Autoren behaupten, das Geheimnis der türkischen Geschichte enthüllt zu haben: Die Gründergene- Holocaustleugnung/-relativierung ration und die heutige führende Elite der Türkei seien Dönme – eine von Islamisten seit langem Aufmerksamkeit erregte die türkisch-islamistische vertretene Theorie. Tageszeitung „Vakit“ in der deutschen Öffent- lichkeit, nachdem die damalige CDU-Bundes- Religiös begründete Judenfeindschaft tagsabgeordnete Kristina Köhler und heutige Familienministerin Schröder Strafanzeige wegen Ein dem Christentum vergleichbarer traditioneller, Volksverhetzung gegen das Blatt gestellt hatte. religiös begründeter Antisemitismus ist dem Islam Auslöser war ein Holocaust leugnender Artikel des nicht inhärent. Trotz einiger Passagen im Koran, Chefredakteurs Hasan Karakaya, in dem dieser in denen sich feindliche Äußerungen gegen Juden eine Kollaboration zwischen Nationalsozialisten fi nden, ist die Auseinandersetzung zwischen dem und Zionisten unterstellte. „Das Gerede von ‚Gas- Propheten und einigen jüdischen Stämmen auf der kammern‘ ist nichts anderes als ein ‚zionistisches arabischen Halbinsel für die klassische islamische Geschwätz‘“, durch das der „Grundstein des Staates Literatur ein relativ belangloses Ereignis. Israel“ gelegt worden sei.29 Als Reaktion auf die Klage wurden Verlag und Zeitung vom Bundesmi- Dennoch sehen Autoren einiger islamistischer nisterium des Innern 2005 wegen antisemitischer Presseorgane im Kampf der Muslime gegen die Inhalte verboten. Juden eine religiöse Aufgabe und Pfl icht. Im August 2006 zum Beispiel erschien in der türkisch-islamis- Die Leugnung beziehungsweise Relativierung tischen Zeitschrift „Vuslat“ ein Artikel mit dem Titel der Shoah erfolgt zum Teil über den Umweg, sich

25 Mehmet Şevket Eygi, Dönmeleri Uyarıyorum, Milli Gazete vom 24. Mai 2005. 26 Hamza Er, Anti-siyonist Olmak Bir İbadettir, in: Vuslat Dergisi, August 2006, http://www.tumgazeteler.com/?a=2683142 [eingesehen am 5. September 2010]. 27 Ebenda. 28 Mustafa İslamoğlu veröffentlichte 1995 sein antisemitisches Werk „Yahudileşme Temayülü“ (Judaisierung). Der Prediger studierte in Al Azhar und besitzt seit 2005 einen eigenen TV-Sender (Hilal TV). Er ist ein sehr angesehener Koran-Kommentator, der als Experte für Veranstaltungen von islamistischen Organisationen nach Deutschland eingeladen wird. 29 Hasan Karakaya, Hitler‘in „gaz“ı yalan, siyonistlerin „gaz“ı da, Vakit vom 1. Dezember 2004.

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mit „revisionistischen“ Autoren zu solidarisieren Der Kolumnist und Dichter İbrahim Tenekeci hält oder für die Meinungsfreiheit von „Revisionisten“ die Taten Hitlers für weniger schrecklich als jene zu plädieren. Nach der Niederlage des britischen von Scharon und Bush.34 Holocaustleugners David Irving vor dem Londo- ner High Court erklärte der Autor Mehmet Şevket Kinofi lme Eygi, dass es für ihn legitim und berechtigt sei, Zweifel am Holocaust zu äußern. In völliger Ver- „Tal der Wölfe – Irak“ kennung des Prozessgegenstands schreibt Eygi, dass die Verurteilung einer solchen Aussage eine Der Kinofi lm „Tal der Wölfe – Irak“ (Kurtlar Vadisi Menschenrechtsverletzung und nicht vereinbar Irak) des türkischen Regisseurs Serdar Akar kam mit der Meinungsfreiheit sei. Den eigentlichen 2006 auch in die deutschen Kinos und wurde hier Völkermord hätten die Amerikaner und Engländer von etwa 400.000 Menschen gesehen.35 Bisher ist während und nach dem Zweiten Weltkrieg durch der Film die teuerste türkische Filmproduktion und die Tötung von Millionen deutscher Zivilisten auch eine der erfolgreichsten. Er knüpft an eine und Soldaten verübt. Eygi bestreitet in der „Milli gleichnamige Fernsehserie an, in der der Prota- Gazete“ – bezugnehmend auf Revisionisten – den gonist, Polat Alemdar, als Geheimagent des fi kti- Völkermord an den Juden durch das nationalsozia- ven türkischen Geheimdienstes gegen die Mafi a listische Deutschland.30 kämpft. Der gleiche Filmheld reist in der Kino- version in den Irak, um sich nach der sogenannten NS-Vergleiche Sackaffäre an den US-Truppen für die Schmach der türkischen Armee zu rächen. In der „Sackaffäre“ im In der Israelkritik fi ndet die Bezugnahme auf den Jahr 2003 während des Irakkriegs waren türkische Nationalsozialismus auf verschiedene Weise statt. Armeeangehörige, die in Zivilkleidung im Norden Während des Libanonkriegs 2006 bezeichnete der des Irak operierten, von US-Truppen gefangen- liberale Kolumnist Hadi Uluengin in der Tageszei- genommen, mit Säcken über den Köpfen abgeführt tung „Hürriyet“ eine der israelischen Begründungen und verhört worden. Der Vorfall wurde als Ver- für den Kriegseinsatz, die Befreiung des entführten höhnung des türkischen Militärs gewertet und hat Soldaten Gilad Shalit, als einen Vorwand und setzte vorhandene antiamerikanische Einstellungen in diesen mit der Auslösung der Novemberpogrome der türkischen Gesellschaft verstärkt. 1938 durch die Nationalsozialisten gleich: „Heu- te begeht Israel ein ‚Verbrechen‘, das dem von Der liberale Autor Haluk Şahin von der Tageszei- Nazideutschland gleicht. […] Denn die Operation tung „Radikal“ ist der Meinung, „Tal der Wölfe“ ‚Sommerregen‘ […] bestraft das unterdrückte Volk würde die nationalistische Welle in der Türkei kollektiv und erinnert an das ‚Kristallnacht‘, befl ügeln, die sich in einem wahnhaften Gefühl das von Hitler gegen die Juden organisiert wurde.“ 31 von Bedrohung durch ein „Außen“ chauvinistisch, fremdenfeindlich, isolationistisch und expansi- In der liberalen Tageszeitung „Taraf“ bezich- onistisch äußert.36 Neben einer Befriedigung der tigt Cihan Aktaş Israel einer besonderen Art des nationalen Ehre und des Stolzes bedient der Film Völkermords. Der Umgang mit den Juden im hauptsächlich einen weitverbreiteten Antiameri- Nationalsozialismus sei, so Aktaş, weniger will- kanismus. Im manichäischen Weltbild der Filme- kürlich gewesen als jener der Israelis mit den macher stellen die amerikanischen Soldaten den Palästinensern im Gaza-Streifen, da hier nicht bösen Hauptfeind dar. Nebenbei wird in einigen unterschieden würde, „ob man schuldig oder un- Szenen mit antisemitischen Klischees gespielt. schuldig“ sei, wie es die Nationalsozialisten angeb- Besonders Anstoß erregend ist eine Szene im Film, lich bei der Verhaftung der Juden getan hätten.32 in der ein jüdischer Arzt den Irakern im Gefängnis Aus Sicht des islamisch-konservativen Intellek- in Abu-Ghuraib Organe entnimmt und diese nach tuellen Ali Bulaç handelte es sich in Gaza gar „um Tel Aviv, New York und London sendet. Der jüdische ein Konzentrationslager, das jene von den Nazis bei Organraub ist ein altbekanntes Stereotyp, das an weitem übertrifft“.33 bis heute tradierte Ritualmordlegenden anknüpft.

30 Mehmet Şevket Eygi, Holocaust, Milli Gazete vom 12. April 2006. 31 Hadi Uluengin, Kristal, Yaz ve Israil, Hürriyet vom 11. Juli 2006. 32 Cihan Aktaş, Her kayıttan şarttan muaf İsrail, Taraf vom 19. Januar 2009. 33 Ali Bulaç, İsrail!, Zaman vom 29. Dezember 2008. 34 İbrahim Tenekeci, Yanlış Adam, Milli Gazete vom 6. Juli 2006. 35 Reinhard Mohr, Tal der Wölfe – Buddha und Gandhi gegen die Ungläubigen, Der Spiegel vom 2. März 2006, http://www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,403976,00.html [eingesehen am 15. August 2010]. 36 Haluk Sahin, Radikal vom 10. Februar 2006, http://www.radikal.com.tr/haber.php?haberno=178295 [eingesehen am 28. April 2011]. 37 Lobend bewertet wurde der Film von der AKP-Regierung, während liberale Zeitungen, darunter „Milliyet“ und „Radikal“, den Film kritisierten. 38 Jörg Lau, Die Freude der Zwerge, Die Zeit vom 23. Februar 2006.

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Dabei spielt auch das Bild vom unmoralischen, die acht türkischen Landsleute zu rächen, die bei profi tsüchtigen Juden eine Rolle. dem Angriff auf das Gaza-Solidaritätsschiff „Mavi Marmara“ im Mai 2010 ums Leben kamen. Der Film löste in Deutschland eine öffentliche Debatte aus, blieb aber auch in der Türkei nicht Israel wird in dem Film als rassistischer Unrechts- unwidersprochen.37 Der Bundesvorsitzende der staat ohne Existenzberechtigung dargestellt. Partei Bündnis 90/Die Grünen Cem Özdemir kon- In einem Interview mit dem türkischen Nach- statierte: „Wer einen solchen Film produziert, der richtensender „ntv“ unterstellt Drehbuchautor will nicht einfach unterhalten, sondern rechnet Bahadır Özdener Israel beziehungsweise dem damit, dass er rassistische Einstellungen bedient Zionismus eine „rassistische Denkweise“: „Wir und den Dialog erschwert.“38 Der CSU-Politiker zielen in diesem Film auf eine faschistische und Edmund Stoiber forderte die Kinobetreiber auf, den rassistische Denkweise ab und versuchen, diese Film sofort abzusetzen. Dies stieß allerdings nicht vor dem Publikum quasi abzutöten.“ Intention des nur unter Menschen mit türkischem Migrations- Films, so die Filmemacher, sei es, das Publikum über hintergrund, sondern auch bei Politikern der SPD das Drama des palästinensischen Volkes aufzu- und der Linkspartei auf Ablehnung. klären.41 Letztlich ginge es darum zu zeigen, was aus einem friedlichen Volk und einer friedlichen Reli- Das deutsch-türkische Lifestyle-Magazin Pasha gion geworden sei. Der Subtext dieser Botschaft aus Berlin erschien im April 2010 mit dem Cover lautet: Die Opfer von gestern sind die Täter von des türkischen Schauspielers Necati Şaşmaz, heute. Das wird plakativ in Szene gesetzt: etwa, dem Darsteller des Polat Alemdar.39 Laut einer wenn der israelische Kommandant Moshe vom Umfrage des Zentrums für Studien zu politischen Fenster seines Hauptquartiers mit einem Gewehr und strategischen Fragen UPSAM (Uluslararası auf ein vorbeifahrendes Auto feuert, nur um die Politik ve Strateji Araştırmalar Merkezi) in der Wirkungsweise neuer Munition zu testen. Sein Türkei im November 2006 genießt die Figur unschuldiges Opfer – ein Araber. Das erinnert auf „Polat Alemdar“ eine wichtige Vorbildfunktion fatale Weise an den Film „Schindlers Liste“, als für Jugendliche. Auf die Frage „Welche Erwach- Amon Göth, Herrscher über das Lager Plaszow, nach senen nehmen Sie sich als Vorbild?“ gaben die dem Aufstehen aus Spaß Häftlinge niederschoss. meisten befragten jungen Leute die Antwort Polat Alemdar, noch vor der Nennung ihrer eigenen In der Tradition des christlichen Antijudaismus Eltern, Atatürks, Erdogans oder des Propheten lässt der Film die Kindermordlegende im Kontext Muhammed.40 Würde man Jugendlichen mit des Nahostkonfl iktes erneut wach werden. Der türkischem Migrationshintergrund in Deutsch- Kommandant Mosche, ein Sadist, veranlasst den land dieselbe Frage stellen, würde ein Teil von Abriss eines palästinensischen Hauses. Während ihnen sicher ähnlich antworten. Deshalb über- seine Soldaten die Familienangehörigen mit bruta- rascht es wenig, dass sich Pasha der Figur des ler Gewalt aus dem Haus jagen, betritt er das Haus. Polat Alemdar bedient, schließlich ist er eine der Er schleudert ein 11-jähriges querschnittsgelähm- populärsten Figuren nicht nur in der Türkei selbst, tes Kind aus dem Rollstuhl und lässt es lebendig sondern auch darüber hinaus. begraben, während er sadistisch die Szene genießt.

„Tal der Wölfe – Palästina“ Nur eine Jüdin wird mit menschlichen Zügen gezeigt – aus propagandistischen Gründen: Die Der neue Film „Tal der Wölfe – Palästina“ (Kurt- amerikanische Touristenführerin gerät zwischen lar Vadisi Filistin) kam am 27. Januar 2011 in die die Fronten und wird Zeugin der hasserfüllten deutschen Kinos, obwohl die Freiwillige Selbstkon- Vorgehensweise der Israelis. Mit der Figur, so trolle der Filmwirtschaft das umstrittene Werk Regisseur Zübeyr Şaşmaz, „haben [wir] versucht, zunächst nicht freigegeben hatte. In dem Film reist dem Zuschauer zu vermitteln, dass ein Jude, der der türkische Agent Polat Alemdar nach Israel, um Araber für Tiere hält, zu der Erkenntnis kommen

39 http://issuu.com/rescue-it.de/docs/pasha_08_april_2010 [eingesehen am 18. Mai 2011]. 40 Bei der UPSAM-Studie ging es um die Vorbilder der Jugendlichen in der Identitätsbildung. Die Forscher führten Interviews mit 1.850 Schülern aus den allgemein bildenden Schulen der Klassen 9 bis 11 in 17 Städten. Vgl.: http://ilef.ankara.edu.tr/gorunum/2006/11/genclerin-rol-modeli-polat-alemdar [eingesehen am 18. Mai 2011]. 41 Bahadır Özdener im Gespräch der Hauptnachrichten bei NTV. NTV-Ana Haber vom 25. Januar 2011, http://www2.yazete.com/video.asp?vid=7541 [eingesehen am 26. Januar 2011]. 42 Filmcrew zu Gast im Fernsehmagazin „Skala“ bei Habertürk. Kurtlar Vadisi Filistin Skala’da-1., gesendet am 24. Januar 2011, http://www2.yazete.com/video.asp?vid=7530 [eingesehen am 25. Januar 2011]. 43 Eine längere Fassung der Filmanalyse ist unter dem Titel „In tödlicher Mission“ in der Jüdischen Allgemeinen am 3. Februar 2011 erschienen. 44 http://www.welt.de/politik/deutschland/article12283038/Proteste-gegen-tuerkischen-Propaganda-Film.html [eingesehen am 28. April 2011]. 45 http://www.koordinierungsrat-gegen-antisemitismus.org/ [eingesehen am 28. April 2011].

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kann, dass auch sie Menschen sind“.42 Doch das geht im Gaza-Streifen sowie Kritik an Israel als „Mörder- nur, wenn Israel – als Symbol der Unmenschlichkeit – und Besatzerstaat“ waren die Folge. abgelehnt wird. Das ist die gefährliche Botschaft des Filmes.43 Für diese Medienanalyse wurden Meinungsbeiträge in türkischen Printmedien zum „Mavi-Marmara“- In Deutschland wurde der Film von allen bürger- Vorfall daraufhin untersucht, ob die ausgewählten lichen Parteien heftig kritisiert, vor allem wegen Zeitungen in ihrer Berichterstattung tendenziös des ausgewählten Kinostarts am Holocaust- waren oder antisemitische Streotypisierungen gedenktag.44 Der „Koordinierungsrat deutscher transportierten. Ausgewählt wurden die drei Nicht-Regierungsorganisationen gegen Anti- Zeitungen „Hürriyet“, „Sabah“ und „Türkiye“.49 semitismus e. V.“ verurteilte den Film, er zeige „antiamerikanische, antiisraelische und antise- Insbesondere bei „Sabah“ und „Türkiye“ erwiesen mitische Stereotyp-Bilder mit volksverhetzendem sich die Meinungsbeiträge als eindeutig tenden- Charakter“.45 Jüdische Organisationen in Deutsch- ziös. In den Kolumnen sind ausschließlich anti- land haben gegen die Ausstrahlung des Films pro- israelische, aber auch antisemitische Deutungen testiert, und nach Dieter Graumann, dem Präsi- zu lesen. Die Kolumnisten beider Zeitungen denten des Zentralrats der Juden in Deutschland, vertraten einhellig die Ansicht, dass es sich bei der fördere der Film eine antisemitische Atmosphäre: türkischen Hilfsorganisation „İnsan Hak ve Hürri- „Das Tal der Wölfe ist ein Film, der Hetze und Hass yetleri ve İnsani Yardım Vakfı“ (IHH), die einen Teil transportiert. Hier wird der Filmsaal quasi zum der Schiffe des Konvois stellte, um eine neutrale Ort von Hasspredigten.“46 Organisation handele, deren humanitäres Hilfs- unternehmen ohne moralische und rechtliche Auch in der Türkei erntete der Film harsche Kritik. Grundlage von israelischen Streitkräften vereitelt Der berühmte Filmkritiker Atilla Dorsay bezeich- wurde. In den Kolumnen von „Hürriyet“ hingegen nete ihn als eine „an Massenmord angrenzende Ge- fi ndet sich ein solcher tendenziöser Journalismus waltdarstellung“ und bezichtigte ihn, „ethnischen nicht. Die Analyse ergibt vielmehr ein heterogenes und religiösen Hass“ zu schüren.47 Der konservative Bild. So ist die Gesamtberichterstattung zwar als is- Autor Mustafa Akyol fand den Film dermaßen raelkritisch einzuordnen, gleichwohl werden aber peinlich und realitätsfern, dass er wohl von allen auch Meinungsbeiträge abgedruckt, die sich um anderen, außer „natürlichen Fans“, als lächerlich eine neutrale und distanzierte Analyse des Gesche- empfunden werden würde. In der regierungs- hens bemühen. nahen Tageszeitung Star kritisierte er die Darstel- lung der Israelis: „Das größte Problem bei dem Film In seiner Kolumne vom 4. Juni 2010 warnt der ist, dass beinahe alle israelischen Charaktere als Kolumnist Yavuz Donat von „Sabah“ seine mordlustige Sadisten dargestellt werden.“48 Leser vor Provokationsversuchen des israelischen Geheimdienstes in der Türkei. Dieser sei wie eine Der Fall „Mavi Marmara“ – eine Analyse der unsichtbare Hand in der Türkei äußerst aktiv und Berichterstattung türkischer Tageszeitungen möglicherweise auch bereit, die türkische Gesell- in Deutschland schaft zu extremen antiisraelischen Reaktionen wie etwa im Zusammenhang mit dem „Mavi- Der Vorfall um die „Mavi Marmara“, der Gaza- Marmara“-Vorfall aufzuwiegeln, um so Israel für Flottille im Mai 2010, löste in der türkischen Öffent- die Durchsetzung eigener Interessen eine größere lichkeit und türkischen Politik eine Welle der Legitimationsbasis zu gewähren. Haşmet Babaoğlu Empörung aus, die zu einer deutlichen Verschlech- schrieb am 2. Juni 2010, dass es in der türkischen terung der israelisch-türkischen Beziehungen, Presse „Armselige mit Agentengeist“ gäbe, die aber auch des Images Israels in der türkischen die täuschende Meinung verbreiteten, Israel habe Öffentlichkeit führte. Eine Zunahme der Solida- sogar an religiösen Feiertagen dafür gesorgt, dass ritätsbekundungen gegenüber den Palästinensern die Hilfe rechtzeitig in Gaza ankommt.50

46 http://de.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-299/_nr-881/i.html [eingesehen am 28. April 2011]. 47 Eleştirmenlerden Kurtlar Vadisi Filistin‘e kötü not. Habertürk vom 28. Januar 2011, http://www.haberturk.com/kultur-sanat/ haber/595999-elestirmenlerden-kurtlar-vadisi-fi listine-kotu-not [eingesehen am 3. Mai 2011]. 48 Mustafa Akyol, Kurtlar Vadisi ve Kahpe İsrail, Star vom 7. Februar 2011, http://www.mustafaakyol.org/islam-dunyasi-ve-ortadogu/ kurtlar-vadisi-ve-kahpe-israil [eingesehen am 3. Mai 2011]. 49 In der Untersuchung wurden 133 Beiträge aus den türkischen Tageszeitungen „Sabah“ (48), „Türkiye“ (22) und „Hürriyet“ (63) im Zeitraum vom 2. bis 11. 2010 der Analyse unterzogen. Berücksichtigt wurden dabei lediglich die Meinungsbeiträge in den Kolumnen, die sich entweder unmittelbar auf den Vorfall oder auf das Israel-Türkei-Verhältnis beziehen. 50 Haşmet Babaoğlu, Olup biteni bu medyayla anlayabilir miyiz?, Sabah vom 2. Juni 2010. 51 İsmail Kapan, İsrail‘in beşinci kol faaliyetleri, Türkiye vom 8. Juni 2010. 52 İsmail Kapan, İsrail‘in beşinci kol faaliyetleri.

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İsmail Kapan bezeichnet in „Türkiye“ vom 8. Juni 2010 Israel als Banditenstaat, der weltweit seine unsichtbaren Handlanger mobilisiere, um die Beweise, die gegen Israel sprächen, zu unter- drücken und falsches Beweismaterial zu verbrei- ten. Betitelt ist der Beitrag mit „Die Aktivitäten der fünften Kolonne Israels“.51 Die „fünfte Kolonne“, so der Autor, sei auch in der Türkei in Form des jüdischen Kapitals tätig. Die altbekannten Gestal- ten versuchten jetzt in der Presse, die Türkei in eine falsche Richtung zu lenken. Es gäbe ein zweites Israel in der Türkei, das versucht, den Blick auf die Wahrheit zu trüben. Hamas sei keine terroristische Organisation, sondern eine Widerstandsorgani- sation wie die PLO.52

Über das angeblich „weltweit operierende jüdi- sche Netzwerk und Kapital“ hinaus bedient „Tür- kiye“ Verschwörungstheorien, die die geheime Verbindung zwischen dem Vorfall im Mittelmeer und weiteren tagespolitischen Ereignissen auf- zudecken versuchen. Der Kolumnist Nuri Elibol behauptet am 2. Juni 2010, dass es zwischen dem PKK-Angriff auf den Marinestützpunkt in Iskenderun am selben Tag, bei dem sechs tür- kische Soldaten getötet wurden, und dem „Mavi- Marmara“-Vorfall einen Zusammenhang gebe. Die PKK sei, so der Autor, seit Jahren von Israel unterstützt worden, um die Türkei im Inneren z u s c h w ä c h e n . 53

Okay Gönensin54 vertrat gar in einem Beitrag in „Sabah“ die Meinung, dass nicht nur der am selben Tag geschehene PKK-Angriff, sondern auch die Ermordung des Bischofs Padovese von seinem türkischen Chauffeur in Antalya im Zusammen- hang mit dem israelischen Angriff auf die „Mavi Marmara“ gestanden hätten. Mit einer ähnlichen Logik glaubte Yılmaz Öztuna in seinem Artikel in „Türkiye“ vom 2. Juni 2010 zu wissen, dass Israel mit dem Angriff auf das Hilfsgüterschiff eigentlich die Türkei gegen die USA aufbringen wollte, um später gegen die dann isolierte Türkei effektiver vorgehen zu können.55

53 Nuri Elibol, PKK İsrail‘e taşeronluk yapıyor, Türkiye vom 2. Juni 2010. 54 Okay Gönensin schreibt für die Tageszeitung Vatan. Sabah druckte am 6. Juni 2010 seine israelkritische Kolumne aus der Vatan nach. 55 Yilmaz Öztuna, İsrail‘in hedefi , Türkiye vom 2. Juni 2010.

117 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Antisemitismus in arabisch - 1945 gebräuchlich waren, hauptsächlich antizio- nistischen Antisemitismus. Dies betrifft vor allem sprachigen islamistischen die Popularisierung einer – in erster Linie gegen Fernsehsendern: „Al-Manar-TV“ Israel gerichteten – Ideologie des militärischen „Widerstands“ 3 (Arabisch „Muqawama“), die poli- und „Al-Aqsa-TV“ tischen Aktivismus und eine spezifi sch schiitische Leidensmythologie miteinander kombiniert4 und die die „Hizb Allah“ selbst bei Angriffen auf Israel Antisemitismus im Kontext der Entwicklung für legitim erklärt.5 moderner Medienkommunikationssysteme Programminhalte und Verbreitungsgrad Seit den 1990er-Jahren lässt sich auch in der ara- bischen Welt eine tiefgreifende Modernisierung Mit einer Mischung aus politischen Statements, der Medienlandschaft beobachten, die insbeson- Nachrichten, Frontberichterstattung sowie Spiel- dere die elektronischen Medien betrifft. Dies gilt und Rateshows, die sämtlich die vermeintliche vor allem für Satellitenfernsehsender, von denen Legitimität der militärischen „Widerstands“-Ideo- inzwischen etwa 120 arabische beziehungsweise logie der „Hizb Allah“ zum Gegenstand haben, arabischsprachige existieren. Diesbezüglich gibt es betreibt der Sender ein 24-Stunden-Programm, das neben den nationalstaatlichen Sendern eine Reihe eine Vielzahl von Menschen im Nahen und Mitt- nichtstaatlicher kommerzieller Sender, die – wie leren Osten sowie in Europa erreicht. Der Satelliten- etwa „al-Jazeera“ oder „al-Arabiya“ – eine gesamt- sender „Al-Manar“ hat im gesamten arabischen arabische Perspektive einnehmen. Zunehmenden Raum und Europa einen Verbreitungsgrad von Erfolg haben allerdings auch Fernsehsender poli- mehreren Dutzend Millionen Empfängern. Im Ver- tischer Organisationen, die eine explizit islamisti- gleich zu „al-Jazeera“ gilt er als einer der „meistge- sche und antisemitische Ausrichtung aufweisen. sehenen militanten Nachrichtensender in der Hierzu zählen vor allem der libanesische Fern- Region“,6 mit einem hohen Mobilisierungspotenzial.7 sehsender „Al-Manar“ sowie das palästinensische „Al-Aqsa-TV“. Zielgruppen

Das Fallbeispiel „Al-Manar-TV“ Im Nahen Osten fungiert „Al-Manar“ vor allem für die palästinensischen militanten Gruppen Der Parteisender der „Hizb Allah“ HAMAS und „Palästinensischer Islamischer Jihad“ (PIJ) als ein Ideologie, politische Ziele und Das 1991 gegründete libanesische „Al-Manar-TV“ Kampfpraktiken anbietender Impulsgeber.8 Von („der Leuchtturm“) ist der parteieigene Fernseh- zentraler Bedeutung ist hierbei die Visualisierung sender der islamistischen „Hizb Allah“ („Partei militärischer Kampfszenen von Palästinensern Gottes“) mit Sitz in Beirut. Nach Darstellung der und Libanesen sowie die Verherrlichung der – auch „Hizb Allah“ gehört „Al-Manar“ einem Privat- von der „Hizb Allah“ als „Märtyrer-Operationen“ unternehmen, an dem die Organisation 55 Prozent verbrämten – Praxis der Selbstmordanschläge der der Anteile hält.1 Der als „Kommunikationsorgan“2 militärischen Flügel der „Hizb Allah“, der HAMAS der „Hizb Allah“ fungierende Sender hat eine und des „Palästinensischen Islamischen Jihad“.9 ausgewiesen antiisraelische Agenda: Er negiert Die permanente Thematisierung des andauernden grundsätzlich das Existenzrecht Israels, propagiert israelisch-palästinensischen Konfl ikts in Kom- den bewaffneten Kampf gegen den jüdischen Staat bination mit der Werbung für die Anwendung und ruft unmissverständlich zu dessen Zerstörung terroristischer und militärischer Gewalt übt auf auf. In teils hochprofessioneller Weise verbreitet viele Zuschauer, insbesondere auf Jugendliche, „Al-Manar“ neben Antisemitismusformen, die vor eine starke Anziehung aus. Dies gilt nicht allein

1 Thanassis Cambanis, A Privilege to Die. Inside Hezbollah’s Legions and Their Endless War against Israel, New York 2010, S. 131. 2 Ebenda, S. 67. 3 Amal Saad-Ghorayeb, Hizbu’llah. Politics and Religion, London 2002, S. 142 ff. 4 Stephan Rosiny, Islamismus bei den Schiiten im Libanon, Berlin 1996, S. 235–240. 5 Zu der vom antizionistischen Antisemitismus der „Hizb Allah“ ausgehenden Gefährdung, Olaf Farschid, Antisemitismus im Islamismus. Ideologische Formen des Judenhasses bei islamistischen Gruppen, in: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2009/2010, S. 435–485, hier: S. 483 ff. 6 Hugh Miles, Al-Dschasira. Ein arabischer Nachrichtensender fordert den Westen heraus, Hamburg 2005, S. 65. 7 Cambanis, A Privilege to Die, S. 5. 8 Der Sender ist – trotz ideologischer Unterschiede – Vorbild für transnationale Jihadisten wie al-Qa’ida im Irak. Diese kopieren die von „Al-Manar“ eingeführte Praxis, terroristische Anschläge zu fi lmen, propagandistisch aufzubereiten und als Videoclips massenwirksam zu verbreiten, Ebenda, S. 224 f. 9 Croitoru, Der Märtyrer als Waffe, S. 152 ff.

118 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft für nahöstliche Staaten, wo „Al-Manar“ gegenüber absuchen, der in seinem Geist und Verstand, seiner den nationalstaatlichen Fernsehsendern einen Weltanschauung und Religion feiger, niederträch- erheblichen Popularitätsvorsprung genießt. Auch tiger, schwächlicher und gebrechlicher [als andere] in Deutschland ist „Al-Manar“ bei Jugendlichen ist, werden wir niemand anderen fi nden als den arabischer beziehungsweise palästinensischer und Juden – und ich sage hier [ausdrücklich] nicht: den libanesischer Herkunft populär. Die einschlägigen Israeli: Den Feind, den wir bekämpfen, sollten wir Programminhalte und Aufmachung des Senders kennen.“15 Das Stereotyp der „zionistischen Lobby“ sorgen dafür, dass selbst in der zweiten und dritten bemühte wiederum Ahmed Kassir, Direktor von Einwanderergeneration antisemitische Einstel- „Al-Manar“, der seinen Sender als mit dieser „in lungen befördert werden und sich ein „Feindbild einem harten kalten Krieg“ befi ndlich bezeich- von Israel“ verfestigt.10 nete.16 Zu anderem Anlass präsentierte „Al-Manar“ Funktionäre der „Hizb Allah“, die die Politik Israels Antisemitischer Ideologietransfer mit der des nationalsozialistischen Deutschland gleichsetzten.17 2001 verbreitete der Sender da- In seinen Nachrichten und politischen Statements rüber hinaus das Gerücht, Juden stünden hinter bezeichnet „Al-Manar“ Israel vorwiegend mit – den Anschlägen des 11. September. So behauptete dessen Existenzrecht delegitimierenden – Begrif- „Al-Manar“, angeblich 4.000 im New Yorker World fen wie „das zionistische Gebilde“ und „der soge- Trade Center beschäftigte Juden seien vorab davor nannte jüdische Staat“.11 In Fällen, in denen die gewarnt worden, an dem Tag ihre Arbeitsplätze Bezeichnungen „Israel“ beziehungsweise aufzusuchen.18 „israelisch“ verwendet und visualisiert werden, geschieht dies ausschließlich mit Anführungs- Parallel zu diesen eher „klassischen“ antisemiti- zeichen.12 Zentrale Funktion des Senders ist hier- schen Stereotypen – zu denen die Serie „al-Shatat“ bei der verbale und visuelle Transfer der vor allem („Diaspora“)19 sowie Verweise auf die historische gegen Israel gerichteten politischen Agenda der Schlacht von „Khaibar“20 gehören – dominiert „Hizb Allah“. Dies betrifft unterschiedliche Formen bei „Al-Manar“ ein ausgewiesen eliminatorisch von Antisemitismus: Für religiösen Antisemitis- konnotierter Antizionismus, der der Maxime der mus steht etwa eine Äußerung Hassan Nasrallahs, „Hizb Allah“, die Zerstörung Israels nicht allein zu des Generalsekretärs der „Hizb Allah“, von 1998, propagieren, sondern auch auf der Handlungsebene der – entsprechend dem bereits von Khumaini zu betreiben, Ausdruck verleiht.21 Diese Zielsetzung betriebenen Rückgriff auf das koranische Juden- belegt nicht allein die massive, Israels Existenzrecht bild13 – Israel als „Staat der zionistischen Juden, der negierende Propaganda des Senders – etwa in Form Nachkommen von Affen und Schweinen“ diffa- von Videoclips mit dem Kampfmotto „Israel wird mierte.14 Bei anderer Gelegenheit sprach Nasrallah unweigerlich aufhören zu existieren“.22 Vielmehr anstelle von „Israelis“ ausdrücklich von „Juden“, propagiert „Al-Manar“ durchgängig und unzwei- die vor allem durch Feigheit gekennzeichnet seien: deutig die Vernichtung Israels – etwa durch Wer- „Wenn wir den gesamten Erdball nach jemandem bung für den bewaffneten Kampf und für Selbst-

10 Jochen Müller, „Warum ist alles so ungerecht?“ – Antisemitismus und Israelhass bei Jugendlichen: Die Rolle des Nahostkonfl ikts und Optionen der pädagogischen Intervention, in: Amadeu Antonio Stiftung, Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft am Beispiel muslimisch sozialisierter Milieus, Berlin 2009, S. 30–36, hier: S. 31. 11 Cambanis, A Privilege to Die, S. 133. 12 The Full Speech of H.E. Sayyed Hassan Nasrallah: Hizbullahs New Political Manifesto, 30. November 2009. 13 Cambanis, A Privilege to Die, S. 104. 14 Ebenda, S. 8. 15 „If we search the entire globe for a more cowardly, lowly, weak, and frail individual in his spirit, mind, ideology, and religion, we will never fi nd anyone like the Jew – and I am not saying the Israeli: we have to know the enemy we are fi ghting.“, Nasrallah in einem Nachruf auf seinen bei einem militärischen Gefecht mit Israel getöteten Sohn Hadi Nasrallah, ebenda, S. 190. 16 Ebenda, S. 133. 17 Ebenda, S. 140. 18 Miles, Al-Dschasira, S. 118. 19 Wegen der Verbreitung des klassischen antisemitischen Ritualmordvorwurfs bildete diese Serie einen der zentralen Gründe für das 2004 erlassene Verbot der Ausstrahlung des Senders über den französischen Satellitenanbieter Eutelsat, auch Peter Philipp, Antisemitismus in nahöstlichen Medien, in: www.bpb.de/popup/popup_druckversion.html?guid=H71UMA [eingesehen am 28. April2011]. 20 Der Begriff Khaibar bezieht sich auf die Schlacht von Khaibar auf der Arabischen Halbinsel im Jahre 629, bei der jüdische Stämme vom Propheten Muhammad geschlagen wurden, Tania Puschnerat, Antizionismus im Islamismus und Rechtsextremismus, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Feindbilder und Radikalisierungsprozesse. Elemente und Instrumente im politischen Extremismus, Berlin 2005, S. 42–73, hier: S. 56. 21 Auch das 2009 aktualisierte Manifest der „Hizb Allah“ negiert ausdrücklich die „Legitimität der Existenz [Israels]“ und bezeichnet es als „unnatural creation that is not viable and cannot continue to survive“, Cambanis, A Privilege to Die, S. 110. 22 Zum Beispiel die „Al-Manar“-Sendung „Fackeln auf dem Weg nach Jerusalem“ (Arabisch) vom 22. Januar 2003.

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mordattentäter.23 Als nachzuahmende Beispiele „legitimen Projekt“ erklärte und öffentlich davor präsentiert „Al-Manar“ etwa Bekennervideos von warnte, dass Selbstmord anschläge „nirgendwo zu sogenannten lebenden Märtyrern, die Gott um verhindern“ seien.28 Erlaubnis für ihre bevorstehenden Selbstmordan- schläge anrufen.24 Essentieller Bestandteil der aus Diese Propaganda bleibt nicht ohne Wirkung. Zu zahllosen Videoclips mit Kampfszenen bestehenden den in Deutschland auf entsprechenden Kund- massiven Militärpropaganda sind auch – auf die gebungen – etwa gegen den Libanonkrieg 2006 Herabwürdigung des Feindes zielende – Bilddar- oder den Gazakrieg 2008/2009 – von Demons- stellungen israelischer Attentatsopfer. Dies gilt vor tranten aufgegriffenen Slogans des Senders gehört allem für die 2003 mittwochs um 20 Uhr deutscher auch der auf die historische Schlacht von Khaibar Sendezeit ausgestrahlte einstündige Reihe „Masha’il anspielende Schlachtruf „Khaibar, Khaibar ya ala tariq al-quds“ („Fackeln auf dem Weg nach yahud, jaish Muhammad saya’ud“ („Khaibar, Khai- Jerusalem“). In einem Kampfl ied dieser – auf die bar, oh Ihr Juden, die Armee Muhammads wird Anwerbung von Selbstmordattentätern sowie auf zurückkehren“).29 Es ertönte auch – neben dem die nachträgliche Rechtfertigung von Anschlägen persischsprachigen „Marg bar Esrail“ („Israel den abzielenden – Sendereihe heißt es unmissverständ- Tod“) – der arabischsprachige Kampfl iedrefrain lich: „O Schwester, dein Ring ist der Sprenggürtel! „al-Maut, al-Maut, al-Maut li-Israil“ („den Tod, den Wir treffen uns in der Ewigkeit des Himmels. Ihnen Tod, den Tod für Israel“). Das Ausmaß der Rezeption [den Juden] gebührt die Verachtung in der Hölle. Ihr der Vernichtungspropaganda von „Al-Manar“ in [der Schwester] Herz wird immer für den Jihad schla- Deutschland zeigt auch der insbesondere von ju- gen! Ich bin nicht tot, ich werde stets [alle] Grenzen gendlichen Demonstranten skandierte Schlachtruf durchbrechen. Mit menschlichen Bomben, die die „Ya Nasrallah, ya habib, nudammir, nudammir Tel Juden auslöschen! Und [werde] den Herzen der Abib“ („Oh Nasrallah, Du Geliebter, wir zerstören, Aggressoren den Schrecken einpfl anzen! Israel wird wir zerstören Tel Aviv“). Vor diesem Hintergrund in seiner ganzen Existenz vergehen!“25 ist zu konstatieren, dass die durch Satellitensen- der wie „Al-Manar“ verbreiteten antisemitischen Rezeption und Wirkung Stereotype und Deutungsmuster zunehmen und dass sich insbesondere „unter Migranten mit Parallel zu dieser einschlägigen Vernichtungspropa- arabischem und/oder muslimischem Familien- ganda ruft „Al-Manar“ ausdrücklich zur Teilnahme hintergrund“ in Deutschland „die Wahrnehmung an entsprechenden Demonstrationen in Europa auf26 von Juden mit den Ereignissen im Nahen Osten“ und verbreitet in diesem Zusammenhang eingängige vermengt.30 Kampfslogans.27 Dies gilt vor allem für Aufrufe zur Teilnahme an Demonstrationen zum alljährlichen Unterbindung der Ausstrahlung über Eutelsat „Al-Quds“-Tag, die von mehrstündigen Übertra- gungen entsprechender Demonstrationen und Mit der Begründung, dass „Al-Manar“ zu Hass und Militärparaden aus dem Libanon begleitet sind. Gewalt gegen Israel aufrufe und Sendungen mit Hierzu gehört auch die Ausstrahlung von Reden eindeutig antisemitischem Charakter ausstrahle,31 Hassan Nasrallahs, der 2005 – anlässlich einer wurde dem Sender von Frankreich und von den USA unter dem Motto „Qadimun!“ („Wir kommen 2004 die Lizenz entzogen. Seitdem ist die Ausstrah- [nach Jerusalem]!“) veranstalteten Militärparade lung von „Al-Manar“ über den Satellitensender zum „Al-Quds“-Tag – den von seiner Organisation Eutelsat in Europa unterbunden. Gleichzeitig setzte propagierten militärischen „Widerstand“ zu einem das amerikanische Außenministerium „Al-Manar“

23 Cambanis, A Privilege to Die, S. 9. 24 So zum Beispiel das zuvor aufgezeichnete Selbstbezichtigungsvideo des Selbstmordattentäters Isma’il Bashir al-Ma‘swabi, Mitglied der „Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden“ (HAMAS), in der „Al-Manar“-Sendung „Fackeln auf dem Weg nach Jerusalem“ (Arabisch) vom 15. Januar 2003. 25 U. a. die „Al-Manar“-Sendung „Fackeln auf dem Weg nach Jerusalem“ (Arabisch) vom 22. Januar 2003. 26 Avi Jorisch, Beacon of Hatred: Inside Hizballahs Al-Manar Television, Washington 2004, S. XVI. 27 Hierzu gehört auch der – ebenfalls auf zahllosen Postern – verbreitete Slogan „Gib mit den Worten Deines Jihads Israel den Tod zurück“. 28 So der Generalsekretär der „Hizb Allah“ in einer mehrstündigen Übertragung einer Militärparade zum „Al-Quds“-Tag in der libanesischen Stadt Baalbek, „Al-Manar“ vom 12. Januar 2005. 29 Das als Drohgebärde fungierende – und auch von der HAMAS verwendete – Sinnbild der Schlacht von Khaibar wurde von Hassan Nasrallah vor allem im Libanon-Krieg 2006 benutzt und von „Al-Manar“ gezielt verbreitet. Die „Hizb Allah“ verfügt darüber hinaus über eine Artillerierakete namens „Khaibar-1“. 30 Götz Nordbruch, Nahostkonfl ikt und Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Antisemitismus in Europa. Vorurteile in Geschichte und Gegenwart. Handreichungen für Lehrkräfte, Bonn 2008, S. 31–33, hier: S. 31. 31 Hierzu zählt vor allem die während des Ramadan 2003 ausgestrahlte Sendereihe „al-Shatat“ („Diaspora“), in der die Existenz einer seit Jahrhunderten bestehenden geheimen jüdischen Weltregierung unterstellt wird.

120 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft auf die Liste derjenigen terroristischen Organi- de „Al-Aqsa-TV“ zum einen „klassischen“ Antise- sationen, deren Unterstützung zu Einreisever- mitismus. Dies betrifft Vorwürfe der jüdischen weigerung oder Ausweisung führen kann („Terrorist Kontrolle amerikanischer Medien sowie expli- Exclusion List“). Allerdings ist „Al-Manar“ in zite Holocaustleugnungen beziehungsweise die Deutschland trotz Unterbindung der Ausstrahlung Gleichsetzung der Behandlung der Palästinenser über Eutelsat problemlos weiter über die in saudi- durch Israel mit dem Holocaust.34 Zum anderen schem beziehungsweise ägyptischem Besitz befi nd- propagiert der Sender moderne Formen eines lichen Satelliten Arabsat und Nilesat zu empfangen. antizionistisch-eliminatorischen Antisemitismus. Entsprechend der von der HAMAS verfolgten Ge- Vereinsrechtliches Betätigungsverbot 2008 waltstrategie bewirbt „Al-Aqsa-TV“ in seinem aus Nachrichten, politischen Kommentaren, Koranre- In Deutschland erließ das Bundesministerium des zitationen sowie Kindersendungen bestehenden Innern (BMI) am 29. Oktober 2008 darüber hinaus Programm den bewaffneten Kampf gegen isra- ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot gegen elische Juden, propagiert die Notwendigkeit der „Al-Manar-TV“. Begründet wurde dies damit, dass Zerschlagung Israels und präsentiert Attentäter als der Sender mit seinem Programm das friedliche Vorbilder. Zusammenleben von Deutschen und Ausländern sowie von verschiedenen Ausländergruppen Werbung für den militanten Jihad und im Bundesgebiet, die öffentliche Sicherheit und für Selbstmordanschläge Ordnung und sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Die Ver- In diesem Zusammenhang wirbt „Al-Aqsa-TV“ botsverfügung des BMI benennt ausdrücklich „Pro- für die Anwendung des militanten Jihad und von gramminhalte von aggressivster Hasspropaganda Selbstmordanschlägen. Dies gilt insbesondere für gegen Angehörige des jüdischen Glaubens, den Selbstmordanschläge, die – wie bei islamistischen Staat Israel und die USA“.32 Mit dem Betätigungs- Organisationen üblich – für islamrechtlich legitim verbot ist eine öffentliche Ausstrahlung ebenso erklärt und als „Märtyrer-Operationen“ (Arabisch untersagt wie die Einfuhr und Verbreitung von „Amaliyat istishhadiya“) bezeichnet werden.35 Dies Propagandamaterial oder die Verwendung von betrifft hauptsächlich von der HAMAS und vom Kennzeichen und Logos des Senders. PIJ verübte Selbstmordanschläge im israelisch- palästinensischen Konfl ikt.36 In diesem Kontext Das Fallbeispiel „Al-Aqsa-TV“ popularisiert „Al-Aqsa-TV“ eine spezifi sche, auf den Nahostkonfl ikt zentrierte Märtyrerideologie, Sender der HAMAS die der Sender nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in Deutschland verbreitet. Dies betrifft vor Bei dem 2006 gegründeten palästinensischen allem die Verherrlichung des „aktiven Märtyrers“, „Al-Aqsa-TV“ handelt es sich um den Fernseh- des aus Sicht der HAMAS islamrechtlich vermeint- sender der islamistischen HAMAS mit Sitz im lich legitimen Selbstmordattentäters. Ein „Mär- Gaza-Streifen. Der Name spielt sowohl auf die als tyrer“ ist hier ausdrücklich auch eine Person, die drittwichtigstes Heiligtum des Islam geltende und andere durch einen Sprengstoffanschlag tötet. in Ost-Jerusalem gelegene „Al-Aqsa-Moschee“ an Hierfür wird sowohl der Begriff des „Istishhadi“ als auch auf den – als „Al-Aqsa-Intifada“ bekannt (wörtlich „derjenige, der zum Märtyrertod bereit gewordenen – Aufstand der Palästinenser im Jahre ist“) verwendet als auch der des „al-Shahid al-hayy“ 2000. Mediendirektor des privatrechtlich orga- (wörtlich „der lebende Märtyrer“) oder manch- nisierten Senders ist mit Fathi Ahmad Hammad mal auch nur der Begriff „Shahid“ („Märtyrer“).37 ein führendes Mitglied der „Izz ad-Din al-Qassam- Welches Ausmaß eine derartige Verherrlichung Brigaden“ im Gaza-Streifen,33 die als militärischer annehmen kann, zeigt der Fall der Rim ar-Riyashi, Arm der HAMAS seit 2002 in der Terrorliste der EU Selbstmordattentäterin im Auftrag der „Izz ad-Din aufgeführt werden. In seiner Funktion als Sprach- al-Qassam-Brigaden“ und zweifache Mutter, die rohr und Propagandasender der – seit 2003 in der HAMAS-nahe Medien posthum als „eine vorbild- EU-Terrorliste ebenfalls verzeichneten – HAMAS liche Ehefrau und Mutter, die ihre beiden Kinder verbreitet das auch in Deutschland zu empfangen- liebt“, präsentierten.38

32 Bundesanzeiger Nr. 171 vom 11. November 2008, S. 4060. 33 http://wikipedia/Al-Aqsa TV. 34 „Hamas radikalisiert Kinder mit Hass-Hasen“, in: Welt-online vom 19. März 2008. 35 Croitoru, Der Märtyrer als Waffe, S. 193 ff. 36 Ebenda, S. 200 ff. 37 Ebenda, S. 181. 38 The Palestinian Media Centre, 17. August 2005 (Arabisch).

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Förderung antisemitischer Einstellungen bei die Kinderserie eine Biene namens Nahoul sowie der Zielgruppe Kinder einen Löwen, die ankündigten, den Kampf der Maus fortzuführen44 Ein für „Al-Aqsa-TV“ zentrales Medium der Ver- breitung von Antisemitismus sind Kindersen- Verbot der Ausstrahlung über Eutelsat dungen. Zu den hier verwendeten antisemitischen Stereotypen gehören Darstellungen von Juden Das im Vergleich zum libanesischen „Al-Manar- als Betrüger, Weltverderber, Landräuber, Mörder TV“ wesentlich kleinere und weniger professionel- sowie nicht zuletzt als „Feinde Allahs“. In einem le „Al-Aqsa-TV“ war bis Juni 2010 über drei Satelli- seit 2007 regelmäßig gesendeten Zeichentrickfi lm ten in Teilen des Vorderen Orients, Nordafrikas und untergraben – im Stil des nationalsozialistischen Europas zu empfangen. Bereits im September 2007 „Stürmer“ dargestellte – Juden das Fundament war dessen Ausstrahlung im Westjordanland von der Jerusalemer Al-Aqsa-Moschee, mit dem Ziel, der – laizistischen – palästinensischen Autonomie- diese zum Einsturz zu bringen.39 Durchgehendes behörde wegen aufhetzender Sendeinhalte verbo- Motto der hauptsächlich in Form von Shows und ten worden. In Europa erfolgte die Ein schränkung Puppenspielen gestalteten Kindersendungen sind des Wirkungsgrads von „Al-Aqsa-TV“ erst 2010. Aufforderungen, „die zionistischen Verbrecher [...] Nach mehreren 2008 und 2009 ergangenen for- zu bekämpfen“, „Jerusalem [...] zu befreien“ sowie mellen Mahnungen, dass „Al-Aqsa-TV“ eindeutig „Juden [zu] töten“.40 aufhetzende und antisemitische Programminhalte verbreitet, untersagte im Juni 2010 die französische Militarisierung von Kindern und Verbreitung Rundfunkaufsichtsbehörde CSA dem Satellitenan- von Vernichtungsantisemitismus bieter Eutelsat die Ausstrahlung des HAMAS-Sen- ders. Damit ist der Empfang von „Al-Aqsa-TV“ im Hierbei spielt die Militarisierung der Zielgruppe europäischen Raum eingeschränkt.45 Dessen un- Kinder eine wichtige Rolle. Visuell dargestellt wer- geachtet lässt sich der Sender in Europa aber weiter den vermummte Kinder im Kindergartenalter, die über den Satellitenanbieter Arabsat empfangen.46 Exerzierübungen mit Waffenattrappen ausführen und von den Moderatoren auf den militanten Jihad eingeschworen werden. Bestandteil der Kindersen- dungen von „Al-Aqsa-TV“ sind auch Tötungsauf- rufe. So rief in dem 2007 gesendeten arabischspra- chigen Mehrteiler „Ruwwad al-ghad“ („Pioniere von Morgen“) eine der Disney-Maus ähnelnde Figur namens Farfour zur Tötung von Juden auf. Zen trale Aussagen des Hauptdarstellers der Serie waren „Wir werden die Juden vernichten“41 oder „Wir wer- den niemals aufgeben im Kampf gegen den Feind – Kinder, Männer, Frauen und alte Menschen. Wir werden siegen, Bush! Wir werden siegen, Sharon – oh, Sharon ist tot! Wir werden siegen, Mofaz! Mofaz ist weg. Wir werden siegen, Olmert! Wir werden siegen, Condolezza!“42 In einer weiteren Folge wurde die Maus von einem „israelischen Agenten“ getötet, als sie sich weigerte, ihren Grundbesitz zu verkaufen.43 Nach ihrem „Märtyrertod“ präsentierte

39 „Fernsehsender verbreiten Antisemitismus“, in: Der Tagesspiegel vom 7. Juli 2010. 40 Vor allem die arabischsprachige Sendereihe „Ruwwad al-ghad“ („Pioniere von Morgen“) vom 6. April 2007, 24. April 2007, 29. Juni 2007 und 13. Juli 2007. 41 „Pioniere von Morgen“ (Arabisch) vom 6. April 2007. 42 Ebenda, Folge vom 24. April 2007. 43 Ebenda, Folge vom 29. Juni 2007. 44 Ebenda, Folge vom 13. Juli 2007. 45 „The European Foundation for Democracy (EFD) and the Coalition Against Terrorist Media (CATM) wholeheartedly applaud the decision by France’s High Audiovisual Council (CSA) ordering Eutelsat to desist immediately from broadcasting Al-Aqsa TV’s violent and hate-fi lled television programmes that incite hatred on grounds of race, sex, religion or nationality.“, http://europeandemocracy.org./index.php?option=com_content&view=article&id=13707&catid=4&Itemid=22 [eingesehen am 16. September 2010]. 46 „Fernsehsender verbreiten Antisemitismus“, in: Der Tagesspiegel vom 7. Juli 2010.

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Deutschsprachige iranische und Politischer Antisemitismus: mit dem iranischen Regime Verschwörungstheorien über 9/11 sympathisierende Medien Für das deutsche Programm des IRIB sind die Ver- schwörungstheorien des französischen Journalis- ten Thierry Missan (9/11 The Big Lie, London 2002) Der weltweit zu empfangende Sender „Islami- ein Dokument mit unbestreitbarem Wahrheits- sche Republik Iran Broadcasting“ (IRIB) sendet in gehalt. Ähnlich wie der zum Islam konvertierte Deutsch und in weiteren 26 Sprachen. Ayatollah französische Holocaustleugner Roger Garaudy hat Khomeini hatte zu Beginn der islamischen Revo- Missan eine linksradikale Vergangenheit. Missan lution von 1979 deutlich gemacht, dass die Medien behauptet, dass die „Anschläge vom 11. Septem- die Grundlage und das Mittel für den Export der ber in Washington“ geplant worden seien.1 Die revolutionären Ziele des Iran seien. Deutschspra- Anschläge seien lediglich ein „Vorwand für den US- chige iranische Staatsmedien sowie Pro-Khomeini- Angriff auf Afghanistan gewesen“. Missan bewun- Organe in Deutschland spiegeln die iranische dernd, schreibt IRIB: „Missan gehört zu den ersten Staatsdoktrin wider, wenn sich auch die deutsch- Personen, die dieses Ereignis angezweifelt haben.“ sprachige IRIB-Webseite weltoffen gibt. Die Hintermänner des Anschlages seien „in einer gemeinsamen Gruppe von mächtigen Militärs und Die Berichterstattung des deutschen Programms der Rüstungsindustrie“ zu fi nden, die „in Zusam- des staatlichen Senders IRIB, mit Sitz im Bundes- menarbeit mit England und Israel“ die Anschläge pressehaus in Berlin, ist deutlich antisemitisch. inszeniert habe. IRIB verbreitet in deutscher Sprache nicht nur ideo- logisch gefärbte antidemokratische und antiame- Nach der Rede des iranischen Präsidenten Ahma- rikanische Nachrichten, sondern eindeutig anti- dinedschad auf der UN-Vollversammlung am semitische Hetze. Das deutschsprachige Pro- 23. September 2010 übernahmen die linke Zeitung gramm des IRIB versucht, sich pluralistisch zu „Junge Welt“ und IRIB einen Artikel, in dem sie geben, indem auch prominente deutsche und Ahmadinedschads Positionen verteidigten.2 Der deutsch-iranische Gäste interviewt werden. Die iranische Präsident hatte erklärt, dass die USA anhaltende Bemühung der Redaktion, namhafte hinter den Anschlägen stünden. In der Rede und deutsche Interviewpartner zu bekommen, lässt in den Kommentaren des Textes wird nahegelegt, den Schluss zu, dass der deutschsprachige Konsu- dass der Mossad der Drahtzieher des Attentats war. mentenkreis erweitert werden soll. Wie groß dieser Wie dieses Beispiel zeigt, ist in Bezug auf die anti- allerdings ist, ist nicht bekannt. zionistische Politik eine ideologische Schnittstelle nicht nur zwischen der extremen Linken und dem Sender wie IRIB und die mit dem iranischen sunnitischen Islam, sondern auch zwischen dem Regime sympathisierenden Webseiten beweisen schiitischen Islam und der traditionellen Linken ihre politische Treue durch Loyalitätsbekundungen erkennbar.3 gegenüber dem iranischen Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamene’i. In Anbetracht der Tatsa- In den Bereich des politischen Antisemitismus che, dass das politische Staatsoberhaupt des Iran fallen auch jene Sendungen, in denen der „Zio- für manche extremistisch denkende Muslime auch nismus“ für alles Übel der Welt verantwortlich in Deutschland als ein spiritueller Führer gilt – gemacht wird. So haben nicht nur persischspra- Khamene’i ist beispielsweise der Schirmherr des chige iranische Medien, sondern auch das deut- Islamischen Zentrums Hamburg (IZH) –, wirken sche Programm von IRIB für das Vorhaben einer solche Botschaften von Ali Khamene’i direkt auf in Koranverbrennung durch einen evangelikalen Deutschland lebende Muslime, die sich der Staats- Pastor in den USA die „Zionisten“ als Drahtzieher doktrin des Iran verbunden fühlen. ausgemacht.4 IRIB veröffentlichte ebenso wie die Nachrichtenagentur Farsnews ein Foto, das hin- Der islamistische Antisemitismus in den iranischen ter dem US-amerikanischen christlichen Funda- Medien wird im Folgenden anhand der Katego- mentalisten Terry Jones einen Davidstern zeigte. rien politischer Antisemitismus, antizionistischer Terry Jones, der 1981 die christliche Gemeinde Antisemitismus, sekundärer Antisemitismus und Köln gegründet hatte und 2002 Pfarrer der „Dove- ideologischer Vernichtungsantisemitismus belegt. World-Outreach-Center-Gemeinde“ in Florida

1 IRIB, 12. September 2010, http://german.irib.ir/programme/politik/item/115158-schattenregierung-in-den-usa-planer- vom-11-september [eingesehen am 3. Dezember 2010]. 2 IRIB, 25. September 2010, http://german.irib.ir/analysen/kommentare/item/115637-berichtjwirib-alle-jahre-wieder [eingesehen am 3.12.2010]; siehe auch: http://www.jungewelt.de/2010/09-25/030.php [eingesehen am 3. Dezember 2010]. 3 Siehe dazu: Timo-Christian Heger, Antiimperialistische Solidarität? Ideologische Schnittstellen zwischen der extremen Linken und dem sunnitischen Islamismus, in: Botsch/Kopke/Rensmann/Schoeps, Politik des Hasses, Hildesheim 2010, hier: S. 320. 4 IRIB, 14. September 2010, http://german.irib.ir/component/k2/item/115230- [eingesehen am 28.Juli 2011]. ﺗﺠﻤﻊ ﻃﻼب ﺣﻮزه ﻋﻠﻤﻴﻪ ﻗﻢ در اﻋﱰاض ﺑﻪ ﻫﺘﮏ ﺣﺮﻣﺖ ﺑﻪ ﻗﺮآن ﮐﺮﻳﻢ در آﻣﺮﻳﮑﺎ

123 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

wurde, steht in keinerlei Verbindung mit Israel. Die kanzlerin Merkel verwendet, beanstandet Yavuz beabsichtigte Koranverbrennung von Terry Jones Özoguz.7 Özoguz schreibt über sein Verhältnis zum dient hier den iranischen Medien als willkomme- iranischen Revolutionsführer Ali Khamene’i: „In ner Grund, Israel dafür verantwortlich zu machen. einer Zeit, in der die meisten Länder der Erde durch Damit wird der Hass auf Juden und „Zionisten“ Frevler und Tyrannen regiert und von den Zionis- mittels staatlicher Propaganda geschürt. ten beherrscht werden, […] sind wir Muslime […] dankbar, dass wir mit Gottes Erlaubnis einen Imam Antizionistischer Antisemitismus haben, der das Gute in seiner Person symbolisiert.“8

Um den „zionistischen Feind“ zu entmenschlichen, Welchen fundamentalistischen Islam Yavuz Özoguz wird regelmäßig auch auf alte sowie auf religiöse tatsächlich vertritt, beschreibt er selbst wie folgt: Formen des Antisemitismus wie Ritualmord- „Für uns gibt es nur die Nation der Muslime, die stereotype zurückgegriffen. Am 19. August 2010 islamische Umma, und der Imam Khamene’i ist berichtete das deutsche IRIB-Programm, dass nicht nur ein Bürger dieser Nation, oder besser „Militärs des zionistischen Regimes die Hand dieser Umma, sondern ihr Oberhaupt. […] Der ein- eines 10 Monate alten palästinensischen Säuglings heitsstiftende Charakter Imam Khamene’is wird vorsätzlich“ gebrochen hätten. Die entsprechende zum Beispiel in seiner Aussage über die Sprachen Illustration zeigt in weißen Tüchern gewickelte Persisch und Arabisch deutlich: ‚Arabisch ist die verstorbene Kinder.5 Das Foto steht eindeutig in Sprache des Islam, und Persisch ist die Sprache der keinem Zusammenhang mit dem Bericht, dessen Islamischen Revolution‘.“9 Inhalt obendrein nicht zu überprüfen ist. Sekundärer Antisemitismus: Holocaustleugnung IRIB ist eng mit Internetportalen wie „Muslim- Markt“ verknüpft. Die Internetplattform wurde Die Holocaustleugnung und -relativierung ist 1999 gegründet, um nach eigenem Selbstverständ- eine Form des sekundären Antisemitismus. Wie nis allen Muslimen ein umfassendes Angebot aus einem am 19. Juli 2006 übergebenen Brief von bereitzustellen. Tatsächlich ist der „Muslim-Markt“ Ahmadinedschad an Bundeskanzlerin Merkel ein mit der Staatsideologie der „Islamischen Repu- hervorgeht, setzte der iranische Präsident bei dem blik Iran“ konform gehendes Sprachrohr für einen Wunsch mancher Menschen an, nicht mehr an kleinen Teil der in Deutschland lebenden Musli- den Holocaust erinnert werden zu wollen. In dem me. Das Portal wird von dem türkischstämmigen Brief schreibt der iranische Präsident: „Verehrte Verfahrensingenieur und Autor Yavuz Özoguz Frau Bundeskanzlerin, ich habe nicht vor, über den verantwortet, der die islamistische und antiisra- Holocaust zu streiten. Aber ist es nicht plausibel, elische Webseite zusammen mit seinem Bruder daß manche Siegermächte des Zweiten Welt- Gürhan Özoguz gegründet hat. Die Postadresse krieges vorhatten, einen Vorwand zu schaffen, der deutschsprachigen Seite ist in Delmenhorst. um die besiegten Völker auf Dauer in ihrer Schuld Texte von Yavuz Özoguz erscheinen oft parallel zu halten? Ihre Absicht war es, deren Moral und auf „Muslim-Markt“ und bei IRIB. Die ideologische Lebenskraft zu schwächen, um auf diese Weise Strategie von Özoguz ist kaum von der staat lichen deren Fortschritt und Kraft zu obstruieren. Über Propaganda des Iran zu unterscheiden. In seinen das deutsche Volk hinaus trugen auch die Völker Veröffentlichungen unterscheidet Özoguz zwi- im Nahen und Mittleren Osten das Zeichen des schen Judentum und Zionismus, was der irani- Holocausts.“10 Der iranische Präsident will gemein- schen Staatsdoktrin entspricht. Als Anhänger sam mit der deutschen Bundeskanzlerin den von Ali Khamene’i setzt Yavuz Özoguz Zionismus „Schatten des zweiten Weltkrieges vertreiben.“ gleich mit Rassismus, um Israel als einen rassisti- Ahmadinedschad fordert die Abwehr der Erinne- schen Staat zu delegitimieren.6 Gleichzeitig lehnt rung und ruft zur Rache auf, wegen des „Macht- er die Idee von Israel als der „Heimstätte der Juden“ strebens“ der Zionisten und der Israelis. Denn die ab. Eine solche „Sprachregelung“ stamme von Zio- wahren Opfer seien die Palästinenser und nicht nisten und würde sogar von der deutschen Bundes- die Juden. Die politische Strategie des Präsidenten

5 IRIB, 19. August 2010, http://german.irib.ir/nachrichten/politik/item/114275-militaers-des-zionistischen-regimes-brechen- palaestinensischem-saeugling-die-hand [eingesehen am 3. Dezember 2010]. 6 Muslim-Markt, 12. März 2010, http://www.muslim-markt.de/forum/messages/1642.htm [eingesehen am 3. Dezember 2010] und IRIB, 12.3.2010, http://german.irib.ir/analysen/beitraege/item/102590-yavuz-%C3%B6zoguz-us-vizepr%C3%A4sident- best%C3%A4tigt-zionisten-und-juden-sind-nicht-das-gleiche [eingesehen am 3. Dezember 2010]. 7 IRIB, 28. Januar 2010, http://german.irib.ir/analysen/beitraege/item/102509-yavuz-%C3%B6zoguz-warum-spricht-peres-die- unwahrheit? [eingesehen am 3. Dezember 2010]. 8 Yavuz Özoguz, Imam Khamenei. Das Leben des Imam-ul-Umma Ayatollah-ul-Uzma Seyyed Ali Al-Husaini Al-Khamene‘i, Bremen 2008, S. 111. 9 Ebenda, S. 107 f. 10 „Zwei große Nationen“, in: FAZ vom 1. September 2006.

124 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Ahmadinedschad besteht darin, an Tendenzen Tagung wurde Ramin als ‚Generalsekretär‘ der des sekundären Antisemitismus in Deutschland zuvor gegründeten ‚Weltstiftung für Holocaust- anzuknüpfen, den Hass gegen Israel zu schüren studien‘ vorgestellt, die auch die Frage aufge- und die Legitimität des Staates Israel in Frage zu worfen hat, ob man unabhängige historische stellen. Dem iranischen Präsidenten zufolge sei Forschung und Wissenschaft betreiben kann, durch die „Verlegung von Hinterbliebenen des wenn einem mit dem Strafgesetzbuch gedroht Holocaust nach Palästina“ eine neue „Bedro- wird, ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen.“13 hung“ entstanden. Ahmadi nedschad schreibt an Dies unterscheidet sich nicht von dem Sprachduk- die Bundeskanzlerin, dass „das kollektive Gewis- tus des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad. sen der Weltgemeinschaft“ unter den „täglichen Verbrechen der zionistischen Besatzer“ leiden Özoguz verrät zudem seinen deutschsprachigen würde. Für solche Aussagen bewundern deutsche Lesern nicht, wer eine solche unabhängige For- Islamisten und auch manche Linksextremisten schung durchführen soll, wenn er verschweigt, den iranischen Präsidenten. Solche Formen des dass an dieser Konferenz im Dezember 2006 David sekundären Antisemitismus finden sich auch auf Ernest Duke (Ex-Klu-Klux-Klan), der Holocaust- dem deutschsprachigen Internetportal „Islam.de“. leugner sowie der Revisionist und Holocaustleugner Gerald Fredrick Töben teil- Yavuz Özoguz ist nicht nur im „Muslim-Markt“ genommen haben. Als vermeintlicher Garant des aktiv, sondern auch beim islamistischen Portal Judentums war auch der selbsternannte Rabbiner „eslam.de“ in der Funktion der wissenschaftlichen von Wien, Moshe Aryeh Friedmann, der der Netu- Leitung. Sein Bruder Gürhan Özoguz fungiert als rei Karta angehört, anwesend. Geschäftsführer. Die deutschsprachige Webseite lobt Mohammad Ali Ramin, den Organisator der Hier wird deutlich, wie die Unterscheidung Konferenz „World without Zionism“, die am 26. Ok- zwischen Judentum und Zionismus politisch tober 2005 in Teheran abgehalten wurde. Über missbraucht wird, um nicht nur den Staat Israel eine den Holocaust relativierende beziehungs- zu delegitimieren, sondern auch den Holocaust zu weise leugnende Konferenz, die ein Jahr später am relativieren oder gar zu leugnen. 11. Dezember 2006 in Teheran stattfand, steht auf der deutschsprachigen Version des Internetportals Antisemitische Vernichtungsdrohungen zu lesen: „Er [Ramin] organisierte im Dezember gegen Israel 2006 in Teheran die ‚International Conference on Review of the Holocaust: Global Vision‘, die in IRIB zitierte am 5. Juni 2010 in deutscher Deutschland als Holocaust-Konferenz diffamiert Übersetzung aus der Rede des gegenwärtigen wurde. Obwohl zahlreiche jüdische Geistliche teil- Revolutionsführers Ali Khamene’i, der sich auf nahmen sowie auch Nachkommen von Holocaust- Ayatollah Khomeini bezieht: „Der Imam hat offen Überlebenden und die Frage und das Ausmaß Israel als Krebsgeschwür bezeichnet und es ver- des Holocaust kontrovers diskutiert wurden, galt steht sich von selbst, dass die Behandlung eines Ramin fortan in Deutschland als Antisemit.“11 Der Krebsgeschwürs in seiner Entfernung besteht.“14 „Muslim-Markt“ schrieb, die Holocaust-Konferenz Israel wird als ein „illegaler Staat“ bezeichnet, der habe einen „durchaus kontroversen Rahmen“ als „gefälschte geographische Einheit annulliert“ gehabt. Sogar jüdische Rabbiner seien anwesend werden muss, stattdessen müsse Palästina als der gewesen.12 Es wird verschwiegen, dass es sich um „wahre Staat“ entstehen. Vier Tage später, am Angehörige der jüdischen Sekte der Neturei Karta 9. Juni 2010, kommt in einem Artikel der deutsch- handelte, die das Existenzrecht Israels ablehnen. sprachigen IRIB-Version der iranische Revolutions- führer Ali Khamene’i abermals zu Wort, der den Die Özoguz-Brüder wollen weder als Fundamenta- „Zionismus als eine neue Form des Faschismus“ listen noch als Antisemiten bezeichnet werden. Auf bezeichnet. Israel wird mit Zionismus gleich- den islamistischen Webseiten, für die sie verant- gesetzt und als eine „brutalere Form des Faschis- wortlich sind, wird jedoch der Holocaust relativiert mus“ bezeichnet, die von westlichen Demokratien und geleugnet, wenn es heißt: „Während der unterstützt werde.15 Die Gründung des Staates

11 Siehe dazu Enzyklopädie des Islam (auf der Gebrüder-Özoguz-Webseite eslam.de), http://www.eslam.de/begriffe/r/ramin_mo- hammad-ali.htm [eingesehen am 3. Dezember 2010]. 12 http://www.muslim-markt.de/forum/messages/1250.htm [eingesehen am 3. Dezember 2010]. 13 http://www.eslam.de/begriffe/r/ramin_mohammad-ali.htm [eingesehen am 18. Mai 2011]. 14 IRIB, 5. Juni 2010, http://german.irib.ir/nachrichten/revolutionsoberhaupt/item/111496-freitagsgebetsansprachen-am-21-jahres- tag-des-dahinscheidens-imam-khomeinis-rs [eingesehen am 3. Dezember 2010]. 15 IRIB, 9. Juni 2010, http://german.irib.ir/nachrichten/revolutionsoberhaupt/item/111619-zionismus-als-neue-form-des-faschismus- standpunkte-des-revolutionsf%C3%BChrers [eingesehen am 3. Dezember 2010]. 16 IRIB, 19. August 2010, http://german.irib.ir/nachrichten/politik/item/114279-ayatollah-khamenei-im-falle-eines-us-angriffs-wird- das-konfrontationsfeld-des-iranischen-volkes-weit-ueber-unsere-region-hinausgehen [eingesehen am 3. Dezember 2010].

125 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Israel sei das „größte Unheil, welches in den letzten Epochen über die Muslime kam“. Im offi ziellen Sprachgebrauch des iranischen Staatsoberhaupts und Revolutionsführers Ayatollah Ali Khamene’i ist stets die Rede vom „zionistisch-israelischen Regime“.16

Karikaturen, die ähnliche Positionen in iranischen Zeitungen widerspiegeln, sind im Iran weit ver- breitet. Die Bezeichnung Israels als ein faschis- tischer Staat ist eine stereotype Schablone, die seit 30 Jahren im Iran auch in Form von Karikaturen sowie zur Relativierung und Leugnung des Holo- caust Verwendung fi ndet.

Fazit

Im Iran erschien im Jahr 2009 die nicht kommen- tierte und lediglich mit einem Vorwort versehene 18. Aufl age von Hitlers „Mein Kampf“. Die erste persische Übersetzung des Buches erschien Ende der 1940er-Jahre. Extremistische Nationalisten und Teile der iranischen Islamisten identifi zieren sich bewusst mit Nationalsozialisten und mit Ver- schwörungstheorien, wie sie etwa in dem antise- mitischen Machwerk „Die Protokolle der Weisen von Zion“ angelegt sind. Gebildete Schichten des Iran sind sich der Existenz des Holocaust und des nationalsozialistischen Antisemitismus sehr wohl bewusst. Dennoch werden diese historischen Fak- ten ideologisch missbraucht.

Europäische Revisionisten sind seit über zwei Jahrzehnten willkommene Gäste in iranischen Fernsehpolitshows und Radiosendungen. Wenn europäische Intellektuelle die Existenz des Holo- caust leugnen, dann stellen islamistische Journa- listen und Wissenschaftler gerne die revisionisti- sche Position als die einzige Wahrheit dar. Ferner wird behauptet, der Nationalsozialismus und der Holocaust seien zu wenig erforscht. Politisch werden auch nicht islamistische Verschwörer benutzt, um den Hass gegen Israel zum Ausdruck zu bringen. Eine solche Politik des Hasses vergif- tet auch muslimische Gemeinden in Deutschland, wobei wissenschaftliche Unter suchungen, die den Einfl uss iranischer Medien auf Leser oder Zu- schauer in Deutschland erfassen und analysieren, fehlen.

126 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

6. Präsenz und Wahrnehmung leicht in eine nachgeordnete Rolle, und insofern bleibt auch die Frage nach der Wechselwirkung von Antisemitismus in der zwischen beiden ungeklärt.5 Gesellschaft Hier und in vergleichbaren Situationen werden unterschiedliche Selbstverortungen gegenüber Dieser Abschnitt handelt von Realitäten, allerdings Antisemitismus fassbar. Von Bedeutung für die nicht von messbaren, und er befasst sich auch nur Intensität seiner Wahrnehmung und Wirkung ist mittelbar mit Ereignissen. Stattdessen geht es um der jeweilige individuelle Standort im Gefüge der Erfahrungen von und mit Antisemitismus; der Gesellschaft. Antisemitismus und judenfeindliche Abschnitt beschäftigt sich mit der Bedeutung Taten markieren eine Teilung der Gesellschaft in des Antisemitismus für den in Verbindung von Juden und Nichtjuden: Ob der/die Einzelne indivi- geschichtlichem Wissen und Gegenwartsereig- duell oder kollektiv Adressat antisemitischer Mani- nissen auf eigene Weise konditionierten Wahr- festationen ist und sich der persönlichen Betroffen- nehmungshaushalt der deutschen Gesellschaft heit kaum entziehen kann oder ob er/sie sich durch und ihrer Gruppen. die Tat als Glied einer offenen Bürgergesellschaft indirekt angesprochen und betroffen fühlt, ent- Insgesamt kann dieser Abschnitt nur Sondie- scheidet über die Zumessung von Bedeutung und rungen vornehmen und Eckpunkte für eine das Nachwirken des Geschehens. Antisemitische weitere Bearbeitung benennen. Denn trotz Manifestationen sind dazu angetan, Gefühle von mancher Anstöße und Vorarbeiten zum Thema Vereinzelung und Marginalisierung zu erzeugen; fehlt ein hinlänglich erschlossenes Forschungs- sie können einen Prozess der Entsolidarisierung feld. Bei Arbeiten zum Antisemitismus nach 1945 innerhalb der Gesellschaft in Gang setzen, und es haben Ereignisse und Reaktionsweisen im Vorder- ist anzunehmen, dass die Aussicht auf eben diesen grund der Forschung gestanden.1 Dagegen ist die Effekt bei den Motiven der Akteure eine herausra- Wirkung von Antisemitismus auf Gesellschaft, gende Rolle spielt. Gruppen und Individuen bislang nicht umfas- send, sondern nur in Einzelzusammenhängen Tatsächlich gibt es aber nicht einfach einheitliche und damit kaum systematisch belichtet worden.2 „jüdische“ und „nichtjüdische“ Reaktionen auf Arbei ten zur Geschichte und Gegenwart jüdi- Antisemitismus. Hier wirkt ein ganzes Set indivi- schen Lebens in Deutschland nach 1945 gehen auf dueller und kollektiver Faktoren mit. Je nach judenfeindliche Ereignisse und verwandte Pro- eigenem Standort kann die Beurteilung einer bleme ein, bieten aber kaum, zumal nicht jenseits antisemitischen Manifestation – oder ob es sich um der Schwelle von 1989, Ansätze für eine grund- eine solche handelt – zur Güterabwägung mit offe- sätzliche Bestimmung ihrer Auswirkungen.3 Ein nem Ausgang geraten. Eine Zugehörigkeit zu einer breiterer Zugriff wurde zuletzt im lokalen Kontext Partei oder die Abwägung zwischen Freiheit der geleistet.4 Ansonsten wird unsere Thematik vom Rede oder Freiheit der Kunst kann die individuelle anhaltenden Interesse für „Jüdische Identitäten“, Bewertung des Skandalons der antisemitischen gerade bei nichtjüdischen Beobachtern und Manifestation nachhaltig bestimmen. Zuletzt war insofern mit den Juden in einer Statistenrolle, es die Auseinandersetzung um die Wiederzulas- bestimmt, mit dem Fokus auf Traumabewältigung sung der Karfreitagsfürbitte nach der Fassung des und transgenerationelle Prozesse. Wahrnehmung Missale Romanum von 1962 für den außerordent- und Wirkung von Anti semitismus gerät dabei lichen Ritus, die einer einzelnen Gruppe, hier der

1 U. a. die wegweisende Studie von Werner Bergmann, Antisemitismus in öffentlichen Konfl ikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949–1989, Frankfurt a. M. 1997; ebenso Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Das Gewalt-Dilemma. Gesellschaftliche Reaktionen auf fremdenfeindliche Gewalt und Rechtsextremismus, Frankfurt a M. 1997; ferner ders., Deutsche Zustände, Bde. 1–8, Frankfurt a. M. 2002–10. 2 Franziska Becker, Ankommen in Deutschland. Einwanderungspolitik als biographische Erfahrung im Migrationsprozess russi- scher Juden, Berlin 2001, S. 16 f. 3 Einen über die im Folgenden zitierten Arbeiten hinausgehenden Forschungsüberblick bieten zum Beispiel: Stephanie Tauchert, Jüdische Identitäten in Deutschland, Berlin 2007, S. 19 f.; ferner Micha Brumlik, Zuhause. Keine Heimat? Junge Juden und ihre Zukunft in Deutschland, Gerlingen 1998. 4 Alexander Jungmann, Jüdisches Leben in Berlin. Der aktuelle Wandel in einer metropolitanen Diasporagemeinschaft, Bielefeld 2007, S. 337–426. 5 Stephanie Tauchert, Jüdische Identitäten, S. 18 f.; ferner Diana Treiber, Lech Lecha. Jüdische Identität der zweiten und dritten Generation im heutigen Deutschland, Pfaffenweiler 1998; Dieter Lamping (Hrsg.), Identität und Gedächtnis in der jüdischen Lite- ratur nach 1945, Berlin 2003; Ariane Eichenberg, Zwischen Erfahrung und Erfi ndung. Jüdische Lebensentwürfe nach der Shoah, Köln etc. 2004; Susanne Schönborn, Im Wandel – Entwürfe jüdischer Identität in den 1980er und 1990erJahren, München 2010; dazu auch Wolfgang Benz, Zwischen Antisemitismus und Philosemitismus – Juden in Deutschland nach 1945, in: Katja Behrens (Hrsg.), Ich bin geblieben – warum? Juden in Deutschland – heute, Gerlingen 2002, S. 7–33, hier: S. 8 f.; Salomon Korn, Heiteres Identitätenraten. Zum Dauerbrenner »Jüdische Identität in Deutschland«, in: ders., Geteilte Erinnerung. Beiträge zur „deutsch- jüdischen“ Gegenwart, Berlin 1999, S. 145–148.

127 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Katholiken, eine vom übrigen Teil der Gesellschaft mehr sind Standard; alles andere erschiene fahrläs- unterschiedene spezifi sche Beschäftigung mit dem sig. In letzter Zeit wurden allerdings, wie etwa im Gegenstand auftrug und im Ergebnis zu unter- Außenbereich der Frankfurter Westend-Synagoge, schiedlichen Folgerungen anleiten konnte.6 Schritte unternommen, den Eindruck der Abriege- lung jüdischer Einrichtungen durch Korrekturen Jüdisches Leben – die Außenperspektive in der Art und der Sichtbarkeit abzumildern.9

Antisemitismus ist ein Thema, das alle angeht, Diese Situation kann nicht ohne Wirkung auf die aber in getrennt erscheinenden Räumen wahrge- Wahrnehmung von jüdischem Leben in Deutsch- nommen wird. Dies fängt beim durchschnittlichen land und von Judentum überhaupt bleiben: Juden- Blick der Mehrheitsgesellschaft auf den Raum von tum wird vielfach als distanziert und in weiterer Judentum an. Von außen betrachtet bieten sich Konsequenz dann auch als different wahrgenom- jüdische Einrichtungen vielfach als höchst be- men. So stellt sich vielfach der Eindruck von Exter- wehrte Einrichtungen dar. Polizeipräsenz, Sperr- ritorialität jüdischen Lebens ein. Diese Situation ist zäune, Zugangsschleusen sind Folgen gegebener weitergehend geeignet, an ältere Wahrnehmungs- Bedrohung von tatsächlich unterschiedlicher, im muster anzuschließen und sie neu zu bestätigen: Grunde aber nicht genau bestimmbarer Intensität. Bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts reicht, auf Sicherheit ist ein zentrales Thema bei den Verant- ältere Denkmuster und Praktiken aufbauend, wortlichen vor Ort. An hohen Feiertagen und bei die Defi nition des Jüdischen als different und als besonderen Veranstaltungen steigt die Spannung, elementarer Gegensatz von „Juden und Deutschen“ zumindest im Raum der Verantwortlichen. Es ist zurück. Auch im Zuge des Emanzipationsprozesses eine Vielzahl einzelner und in ihrer Qualität und wurde diese Sicht nie überwunden10 und hat im Beobachtung verschiedener Ereignisse, die diese Nationalsozialismus dann schließlich ihre radikale Sorge speist. Anschläge auf jüdische Einrichtungen Steigerung erfahren. wie das Bombenattentat auf das Ignatz Bubis-Ge- meindezentrum in Frankfurt 1988 (angeblich als Solche Kontinuität ist beim heutigen Blick wohl „Vergeltung“ für die Ermordung des militärischen kaum einmal intendiert, aber deswegen nicht Kopfs der PLO in Tunis), die Brandanschläge auf minder wirkmächtig.11 Einschlägig sind Umschrei- die Synagogen in Lübeck 1994 und Düsseldorf bungen wie „jüdische Mitbürger“, „Menschen jüdi- 2000, der geplante Anschlag während der Grund- scher Abstammung“ oder „jüdische Menschen“12, steinlegung für die neue Synagoge am Münche- die vielfach aus Unbeholfenheit – einfach nur „Jude“ ner Jakobsplatz 2003 oder zuletzt 2010 die Brand- zu sagen fällt offenbar weiterhin schwer – gebo- anschläge in Worms und in Mainz7 unterstreichen ren sind, aber neue Irritationen erzeugen können. die Notwendigkeit solcher Maßnahmen.8 Um- Martin Walsers gleichermaßen vereinnahmendes fangreiche Sicherheitsvorrichtungen für Gemein- wie ausgrenzendes Konstrukt einer kollektiven dezentren, Synagogen, Schulen, Kindergärten, deutschen Identität, dem ein „anderes“ different bis Altersheime, Büros von Verbänden und anderes feindlich gegenüberstehe, vorgebracht im eigent-

6 Stellungnahme des Gesprächskreises „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) zur Karfreitags- fürbitte „Für die Juden“ in der Fassung für den außerordentlichen Ritus von 2008, http://www.vkpf.de/index.php?option=com_ content&view=article&id=195:stellungnahme-zur-karfreitagsftte-qfi e-judenq&catid=28:nachrichten&Itemid=44 [eingesehen am 28. Februar 2011]; dazu Hubert Wolf, „Pro perfi dis Judaeis“. Die Amici Israel und ihr Antrag auf eine Reform der Karfreitagsfür- bitte für die Juden (1928). Oder Bemerkungen zum Thema katholische Kirche und Antisemitismus, in: Historische Zeitschrift 279 (2004), S. 611–658. 7 Jungmann, Jüdisches Leben, S. 343, 347 ff. 8 Aus der Berichterstattung zur Eröffnung der neuen Münchener Hauptsynagoge „Nie mehr Hinterhof“, in: Focus vom 6. Novem- ber 2006, S. 48; ferner „Betroffenheit und Demo nach mutmaßlichem Synagogen-Anschlag in Mainz“, in: Allgemeine Zeitung [Mainz] vom 2. November 2010, http://www.allgemeine-zeitung.de/region/mainz/meldungen/9587922.htm. Dabei spielt es kaum eine Rolle, dass einem Bekennerschreiben zufolge der Mainzer Anschlag ein Versehen gewesen sein sollte, ein Halloween-Scherz: Ebenda, 10. November 2010, http://www.allgemeine-zeitung.de/region/mainz/meldungen/9619269.htm. Zuletzt kam es ohne nennenswerte Presseresonanz in zwei Fällen zu Attacken auf das Synagogengebäude in Kaiserslautern; vgl. http://www.swr.de/ blog/rp/?p=4370 [alle eingesehen am 29. Januar 2011]. 9 „100 Jahre Westend-Synagoge. Früher von Nazis bedroht, heute von Terroristen“, in: FAZ vom 28. September 2010, http://www.faz.net/s/RubFAE83B7DDEFD4F2882ED5B3C15AC43E2/Doc~E9B9B7FE8543E4D53B50521F279EBB436~ ATpl~Ecommon~Scontent.html [eingesehen am 30. Januar 2011]. 10 Die weiterhin umfassendste Darstellung zum 19. Jahrhundert bieten Rainer Erb/Werner Bergmann, Die Nachtseite der Juden- emanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780–1860, Berlin 1989; ferner Shulamit Volkov, Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990. 11 Salomon Korn, Erbschaft der Nachgeborenen, in: Katja Behrens (Hrsg.), Ich bin geblieben – warum? Juden in Deutschland – heute, Gerlingen 2002, S. 163–179; ferner Wolfgang Benz, Bilder vom Juden. Studien zum alltäglichen Antisemitismus, München 2001, S. 7–12. 12 Darauf hat bereits hingewiesen: Wolfgang Benz, Der schwierige Status der jüdischen Minderheit in Deutschland nach 1945, in: ders. (Hrsg.), Zwischen Antisemitismus und Philosemitismus. Juden in der Bundesrepublik, Berlin 1991, S. 9–21, hier: S. 9 f., 20 f.; ferner Charlotte Knobloch, Zur Lage der jüdischen Minderheit in der Bundesrepublik, in: Ebenda, S. 23–28, hier: S. 23 f.

128 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft lich zur Schlichtung der vorangegangenen Kon- häufi g genannte „neue Selbstbewusstsein“ von troverse vorgesehenen Gespräch mit Ignatz Bubis, Juden in Deutschland macht sich nicht erst heute spitzte diese Differenzierung noch zu und lud sie um bemerkbar, sondern wurde so auch schon früher eine ausgesprochen zeitbezogene Seite auf.13 Kaum formuliert. Der Begriff meint aber keine einfache minder problematisch ist der sich vielfältig äußern- „Normalität“, die von der anderen Seite so gerne de Rückzug in einen von Verkrampfungen gezeich- eingefordert wird, sondern verweist ganz im neten und letztlich ebenso stereotypengeleiteten Unterschied dazu auf einen komplexen Prozess der Philosemitismus samt der verschiedenen Spielarten Selbstvergewisserung und drückt durchgängig intensiv-engagierter Verbundenheit mit allem eine mehr oder minder deutlich artikulierte Jüdischen.14 Bis hin zu heftigen Umarmungsbewe- Fragilität individueller Verortung aus.17 gungen äußert sich eine oft verstörende Vorliebe für alles Jüdische oder was als „typisch“ jüdisch Wo Selbstbestimmungen stets durch eigene, konnotiert wird: Bagel, Klezmer und anderes,15 familiär erworbene oder gesellschaftlich ver- zumal die Rede von einer neuerlichen „jüdischen mittelte Erfahrungen mitgeprägt sind, ist der für Renaissance“, besonders wenn sie in den Köpfen jüdische Existenz in Deutschland zur Verfügung all derer stattfi ndet, die festlegen wollen, was diese stehende geschichtliche Fundus nicht nur nach- „Renaissance“ ausmachen solle, und über puren haltig belastet, sondern auch ausgesprochen Kulissendekor dann doch nicht hinausgelangen.16 heterogen. Wiedergewordenes jüdisches Leben in Deutschland kann heute als einigermaßen selbst- Antisemitismus, Identität und jüdisches Leben verständlich erscheinen, doch es ist seit seinen Anfängen mit bis auf den heutigen Tag reichenden Individuelle Selbstbestimmungen von Juden Auswirkungen provisorisch und paradox gewesen in Deutschland können die Einbeziehung des und von vielen Seiten angefochten geblieben.18 Moments von Antisemitismus kaum umgehen; erst danach werden ganz unterschiedliche Bis heute fl ießen in den Erfahrungshaushalt jüdi- Umgangsweisen möglich. schen Lebens in Deutschland ganz unterschied- liche familien- und lebensgeschichtliche Horizonte Fraglos begeben sich alle hier anzustellenden ein. Jüdische Gemeinden entstanden nach dem Überlegungen in die Gefahr des zuspitzenden Ende der NS-Herrschaft im Mai 1945 in den deut- Blicks. Die Frage nach der individuellen wie auch schen Städten in rascher Folge, aber in Ruinen und kollektiven Verortung eines Moments von für die wenigen Überlebenden und Rückkehrer gewiss zentraler, aber nicht gleichförmig erlebter als Provisorien, als Gemeinden mit kaum näher Dimension muss insgesamt weitaus komplexere umrissenen Zukunftsaussichten, meist auf den und generationell wie kulturell von ganz unter- Übergang hin. schiedlichen Faktoren und Entscheidungen bestimmte Lebenswelten des Einzelnen und der Im Rückblick ist kaum mehr zu ermessen, was es Gemeinschaft in Rechnung stellen. Es wird hier bedeutete, an wiedererkennbare Orte mit gleich- also keine gleichförmige Lebenswelt geschildert, wohl aufgekündigter, zerstörter Nachbarschaft sondern ein variables Moment darin. Jüdisches zurückzukehren und überhaupt in einer Umwelt Leben, um einen allgemeinen Nenner zu formu- zu leben, in der jeder in die Herrschaft des gerade lieren, ist mit Anfragen versehen, denen je nach untergegangenen Systems verstrickt gewesen Umständen und individueller Entscheidung mehr sein konnte. Was da Wissen oder nicht näher oder weniger Platz eingeräumt werden kann. Das bestimmte, aber tiefsitzende Ahnung war,19 wird

13 Ignatz Bubis/Salomon Korn/Frank Schirrmacher/Martin Walser, „Wir brauchen eine neue Sprache für die Erinnerung“, in: FAZ vom 14. Dezember 1998; Frank Schirrmacher (Hrsg.), Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation, Frankfurt a. M. 1999; Schönborn, Als jüdische Minderheit, S. 189 f. 14 Frank Stern, Philosemitismus statt Antisemitismus. Entstehung und Funktion einer neuen Ideologie in Westdeutschland, in: Benz (Hrsg.), Zwischen Antisemitismus und Philosemitismus, S. 47–61, hier: insb. S. 52 ff.; so auch Tauchert, Jüdische Identitäten, S. 284; Jungmann, Jüdisches Leben, S. 289–336. 15 Piritta Kleiner, Jüdisch, Jung und Jetzt. Identitäten und Lebenswelten junger Juden in München, München 2010, S. 38 f., 62 f. 16 Kleiner, Jüdisch, Jung und Jetzt, S. 40 f., 71 ff.; ferner Y. Michal Bodemann, Eine jüdische Renaissance aus der Hauptstadt Berlin, in: ders. (Hrsg.), In den Wogen der Erinnerung. Jüdische Existenz in Deutschland, München 2002, S. 185–195.

17 Brumlik, Zuhause. Keine Heimat?; auch Andreas P. Bechthold, Jüdische Jugend in Deutschland heute. Fotografi en und Interviews, Konstanz 2006. 18 Dass das auch zuletzt keineswegs allseits geteilte Überzeugung war, belegt der Umstand, dass nach dem Erscheinen der opulen- ten, aber gegenwartsblinden vierbändigen „Deutsch-Jüdischen Geschichte der Neuzeit“ (1996/7) in Regie des Leo Baeck Instituts man sich erst zuletzt darauf verständigte, die jüdische Geschichte Deutschlands nach 1945 in einem eigenen fünften Band beizu- geben: Michael Brenner, Vorwort, in: Susanne Schönborn (Hrsg.), Zwischen Erinnerung und Neubeginn – Zur deutsch-jüdischen Geschichte nach 1945, München 2006, S. 9. 19 Aus Sicht der frühen Jahre noch immer wichtig: Harry Maor, Über den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden in Deutschland seit 1945, Diss. Mainz 1961; ferner Benz, Der schwierige Status, S. 10 f.; Tamara Anthony, Ins Land der Väter oder der Täter. Israel und die Juden in Deutschland nach der Shoa, Berlin 2004.

129 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

ja – bedenkt man offenkundige Manifestationen süchtigen Überlebenden bewohnt gewesen seien.24 der Uneinsichtigkeit, wie sie Solidaritätsaktionen Solche und andere Faktoren beförderten ein Klima für verurteilte Funktionsträger des NS-Regimes an der Distanz, das sich den in Deutschland lebenden den Tag brachten,20 oder die Absorption ehemali- Juden und später ankommenden Zuwanderern ger NS-Mitglieder, -Mitläufer und -Sympathisan- ganz direkt mitteilte. Es sind Gründungserfahrun- ten – durch die rückblickend erkennbare Vielzahl gen, die sich transgenerationell weitervermitteln entsprechender Karriere-Verläufe bestätigt.21 konnten und zu einem Element der Selbstverortung Distanz zu einer nicht nur vermutet überwiegend der nachfolgenden Generationen junger Juden in feindseligen Umwelt und die – seinerzeit kaum rea- Deutschland wurden.25 Die Folge solcher Erfah- lisierbare – Absicht zu rascher Emigration prägten rungen und Deutungen war bis in die 1980er-Jahre erst recht die Existenz von Überlebenden, die Zu- hinein ein Rückzug jüdischen Lebens und damit fl ucht in den Camps für „Displaced Persons“ (DPs) auch jüdischer Erinnerung auf den gemeindlichen gefunden hatten, sei es in Nachfolge der Orte der und familiären Binnenraum, der nach außen auf Verfolgung, sei es in einer weiteren Etappe indivi- Unauffälligkeit der eigenen Lebensgestaltung und duell und kollektiv erlebter Verfolgungsgeschichte Abstand gegenüber einer distanziert beobachteten auf der Flucht vor neuen Pogromen in Mitteleuropa Umwelt bedacht war.26 (etwa Kielce 1946 bis zur „antizionistischen Kam- pagne“ von 1968).22 Innergemeindlich schuf der Die Entwicklung gemeindlicher und verbandlicher Abstand zwischen DPs osteuropäischer Herkunft Strukturen, etwa zu Entstehung und Wirken des und lokal verwurzelten Überlebenden, die – in der Zentralrats der Juden in Deutschland oder ein- durch die Nationalsozialisten geprägten und inso- zelner Gemeinden, hat in der Forschung zuletzt fern per se spannungsgeladenen Terminologie – immer breiteres Interesse gefunden; die Fülle von häufi g in „Mischehen“ oder als „Geltungsjuden“ Eingaben, Gesprächen und Manifestationen, die überlebt hatten, neue Spannungen.23 dabei zur Darstellung kamen, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Geschichte In völligem Kontrast zur gegebenen Heterogenität, sich seinerzeit zwar in Deutschland ereignete, aber die für die Situation nach 1945 bestimmend war, bis weit in die 1980er-Jahre hinein weitgehend wurde jüdisches Leben durch die nichtjüdische abgekoppelt von der Wahrnehmung durch eine Mehrheit der Gesellschaft im Nachkriegsdeutsch- breitere Öffentlichkeit blieb.27 Im Grunde be- land als homogenes Gegenüber wahrgenommen herrschte wechselseitige Sprachlosigkeit das Bild, und vielfach negativ konnotiert, anfangs auch ganz eine Sprachlosigkeit, die zur Umgehung absehba- offen in der Mitte der Gesellschaft. Bis heute teilen rer Konfl ikte letztlich auch gesucht sein konnte sich die damaligen Sichtweisen in der Erzählung und Ergebnis einer stillschweigenden Überein- von DP-Lagern als Orte der „Schieberei“ und des kunft war. Hier wirkte auf spezifische Weise, was Schwarzmarkts mit, die ansonsten von rach- Wolfgang Benz als „Opfer-Täter-Zirkel“ beschrie-

20 So etwa die Landsberger Solidaritätsdemonstration am 7.1.1951: http://www.buergervereinigung-landsberg.de/kriegsverbrecher/ LandsbergAntisemitismus.pdf und http://www.zeit.de/2011/05/Landsberg-Antisemitismus [eingesehen am 28. Februar 2011]. 21 Norbert Frei, Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945, Frankfurt a. M. 2001. 22 Benz, Der schwierige Status, S. 15; Angelika Königseder/Juliane Wetzel, Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt a. M. 1994; Beate Kosmala (Hrsg.), Die Vertreibung der Juden aus Polen 1968: Antisemitismus und politisches Kalkül, Berlin 2000; Jim G. Tobias, Vorübergehende Heimat im Land der Täter. Jüdische DP-Camps in Franken 1945–1949, Nürnberg 2002; ferner Yeshayahu A. Jelinek, Deutschland und Israel 1945–1965. Ein neurotisches Verhältnis, München 2004, S. 25–28; ferner http://www.buergervereinigung-landsberg.de/dplager/ juedischeraufstand/aufstand.htm [eingesehen am 21. Januar 2011]. 23 Tauchert, Jüdische Identitäten, S. 29–52. 24 Knappe Darlegung: Peter Waldbauer, Lexikon der antisemitischen Klischees – Antijüdische Vorurteile und ihre historische Entstehung, Murnau 2007, S. 167; ferner: Jacqueline Giere (Hrsg.), Ein Leben aufs neu. Das Robinson-Album. DP-Lager: Juden auf deutschem Boden 1945–1948, Wien 1995; Angelika Eder, Jüdische Displaced Persons im deutschen Alltag. Eine Regionalstudie 1945 bis 1950, in: Fritz Bauer Institut (Hrsg.), Überlebt und unterwegs: jüdische Displaced Persons im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt a. M. 1997, S. 163–188, hier: S. 167. 25 Als ungebrochene Aneignung elterlicher Erfahrungen mangels eigener gefestigter jüdischer Identität unvollkommen und verzerrt beschrieben bei Richard C. Schneider, In der Haut der Eltern, in: Benz, Zwischen Antisemitismus und Philosemitismus, S. 71–86, hier: S. 73; dagegen Kurt Grünberg, Trauma-Transfer. Über Kinder der Opfer im ‚Land der Täter‘, in: Schönborn, Zwischen Erinnerung und Neubeginn, S. 268–283; ferner Brumlik, Zuhause. Keine Heimat?; Treiber, Lech Lecha; Stephanie Tauchert, Die jüdische Identität der Juden in Deutschland seit 1945 bis zur Gegenwart, Hamburg 2001, S. 317–320. 26 Gabriele Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen, Frankfurt a. M. 1995, S. 120–130. 27 Allein den aussagekräftigen Titel bei Michael Brenner, Von den Hintertüren der Diplomatie auf die Bühne der Öffentlichkeit: der Wandel in der Repräsentation des Zentralrats der Juden in Deutschland, in: Fritz Backhaus (Hrsg.), Ignatz Bubis. Ein jüdisches Leben in Deutschland, Frankfurt a. M. 2007, S. 124–133; auch Jürgen Zieher, Weder Privilegierung noch Diskriminierung. Die Politik des Zentralrats der Juden in Deutschland von 1950 bis 1960, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 13 (2004), S. 187–211. 28 Benz, Der schwierige Status, S. 19 f.

130 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft ben hat,28 der auf der deutschen Gesellschafts- Entfernen zweier Israelfahnen durch Polizeikräfte landkarte bis heute, auch nach dem Anwachsen während einer durch „Millî Görüş“ angemeldeten der jüdischen Gemeinschaft von zunächst circa Palästina-Demonstration in Duisburg im Januar 30.000 Personen auf mehr als 100.000 seit 1990, 2009.32 Auch im Fall der Boykottaufrufe der ganz eigene Kreise zieht. Wo offene antisemiti- „Palästina/Nahostinitiative Heidelberg“ gegen sche Agitation strafbewehrt ist und sich Antise- die Heidelberg-Tel Aviver Theaterkooperation im mitismus eines dynamischen Sets verschleiernder Zuge des „Heidelberger Stückemarkts“ im Som- Codes und semantischer Grenzbegriffe bedient, mer 2010 und in der Spielzeit 2010/11 musste der ist selbiger Antisemitismus, ungeachtet einzelner Anschein entstehen, als solle es über die poli- offener Manifestationen, vielfach auf den Bereich tische Kritik hinaus letztlich um einen „Juden- latenter Haltungen begrenzt. Im Ergebnis dieser boykott“ gehen. Theaterbesucher wurden mit spezifi sch deutschen Ausgangssituation rechnen Flugblättern von Mitgliedern der Initiative am Juden wie auch Nichtjuden mit dem Vorhanden- engen Zugang zum Theater bedrängt und sollten sein nicht öffentlich artikulierter, aber dessen offensichtlich am Besuch der Aufführung gehin- ungeachtet vorhandener antisemitischer Haltun- dert werden.33 Zu nennen ist auch der Fall des gen in einem nicht näher bestimmbar großen Teil koscheren Lebensmittelladens im Berliner Bezirk der deutschen Bevölkerung.29 Reinickendorf, dessen Besitzer sich nach gutem Start mit antisemitischen Manifestationen, zu- Die Unzulässigkeit von Antisemitismus im öffent- nächst aus der NS-Szene, dann zunehmend aus lichen Raum kann – trotz dieser in Deutschland dem Kreis islamischer Akteure, konfrontiert sah zumindest besonders dichten Ausgangssituation – und sich nach zermürbenden Durchhalteversu- also nicht dessen völlige Abwesenheit meinen. chen, bei gleichzeitiger Schrumpfung des Kreises Einmal mehr: Für diesen Abschnitt spielen empi- der Laufkundschaft, am Ende zum Aufgeben rische Werte nur eine nachgeordnete Rolle. Für gezwungen sah.34 Ähnlich ergeht es den nicht- den persönlichen Erfahrungshorizont ist letztlich jüdischen Besitzern eines Teppichladens in einer das einzelne erlebte oder erfahrene Ereignis maß- süddeutschen Kleinstadt, die mit einer israeli- geblich.30 Zur Verdeutlichung bedarf es nicht ein- schen Künstlerin zusammenarbeiten und deren mal des Hinweises auf die skandalösen Steinwürfe Teppiche mit modern aufbereiteten Motiven aus von Jugendlichen in Hannover auf etwa gleich- der antiken jüdischen Kunstgeschichte ein Teil- altrige jüdische Mitglieder einer Tanzgruppe bei segment des Programms ausmachen; regelmäßig einem Stadtteilfest im Sommer 2010; hier folgte ergehen anonyme beziehungsweise auch na- immerhin eine öffentliche und auch polizeiliche mentlich gekennzeichnete Zuschriften, und der Reaktion mit gerichtlicher Ahndung, sofern die an einer Ausfallstraße gelegene Laden wird ver- Täter strafmündig waren.31 Unbenommen davon unreinigt und mit antisemitischen (und) israel- ist aber die Wirkung, die ein solches Ereignis und feindlichen Parolen beklebt.35 Besorgniserregend die Kunde davon entfalten. Überhaupt ist immer ist in diesen Fällen, die beispielhaft für eine nicht wieder ein subtil organisiertes Wegmobben des näher bestimmbare Zahl anderer Ereignisse öffentlichen und privaten Jüdischen aus dem stehen, dass sich trotz öffentlicher Aufmerksam- öffentlichen Raum zu beobachten. Eklatantestes, keit, einschließlich Medienreaktionen, die mit aber bei weitem nicht singuläres Beispiel war das der antisemitischen Initialaktion eingeleitete

29 Rensmann, Demokratie und Judenbild.; Schwarz-Friesel/Friesel/Reinharz, Aktueller Antisemitismus; ferner Jungmann, Jüdisches Leben, S. 372 f. 30 Benz, Zwischen Antisemitismus und Philosemitismus, in: Behrens, Ich bin geblieben, S. 11 f., 18 f. 31 Die Welt vom 25. Juni 2010, http://www.welt.de/politik/deutschland/article8183559/Der-alltaegliche-Antisemitismus-in-Hanno- ver-Sahlkamp.html [eingesehen am 25. Februar 2011]. 32 Der Westen vom 15. Januar 2009, http://www.derwesten.de/waz/rhein-ruhr/Neue-Demonstration-gegen-Israel-in-Duisburg- id1331887.html [eingesehen am 26. Februar 2011]. 33 „Offener Brief der Palästina/Nahostinitiative Heidelberg“ an den Intendanten des Heidelberger Stadttheaters Peter Spuhler, http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=4342. Die Gruppe steht der BDS-Bewegung nahe („Boykott – Deinvestition – Sanktionen gegen Israel“). Die Äußerungen einer Jurorin in der SZ hatten zudem Anklänge eines umgekehrten Hostienfrevelvorwurfs: „In der Süddeutschen Zeitung (6. Mai 2010) schreibt die Stückemarkt-Jurorin Christine Dössel: Durch gemeinsamen Genuss von patriotisch blauweißen Butterkeksen würden die Besucher des Israel-Schwerpunktes des Stückemarktes ‚als Glaubensgemeinschaft eingeschworen‘. Wohl deshalb frage kaum jemand, ‚wo in diesem Zusammenhang eigentlich Palästina bleibt‘“; vgl. http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=4330&catid=126 [eingesehen am 6. März 2011]. 34 http://www.antisemitismus.net/deutschland/berlin.htm [eingesehen am 25. Februar 2011]. 35 Adresse bekannt. 36 Auch den Fall des jüdischen Jugendlichen Noam in Laucha/Unstrut, der Opfer eines antisemitischen Übergriffs wurde und trotz Reaktionen auch in der überregionalen Presse als Opfer vor Ort mit seiner Familie in zunehmende Isolation geriet: http://www.yasni.de/ext.php?url=http%3A%2F%2Fwww.dominik-brunner-stiftung.de%2Fuserfi les%2Ftraebert.pdf&name= Tsipi+Lev&cat=document&showads=1; http://www.zeit.de/2010/37/Laucha-Prozess [beide eingesehen am 25. Februar 2011].

131 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Dynamik nicht aufhalten lässt, ja durch die Veröf- Netz von gemeindlichen Einrichtungen und auf fentlichung womöglich noch beschleunigt wird.36 Verbandsebene (Zentralrat der Juden, Maccabi). Die Jugendlichen hätten ansonsten ja auch das Stärker als die lebensgeschichtlichen Erfahrungen verhandeln müssen, worüber ihre Eltern offen der Großeltern und deren innerfamiliäre oder zu sprechen oft kaum im Stande waren. Dieser gemeindliche Vermittlung sind es heute Ereignisse Befund gilt insbesondere für die frühen Nach- wie die oben bezeichneten, die gerade unter jüdi- kriegsjahre, wird aber immer noch auch für die schen Jugendlichen Irritation auslösen und auch Gegenwart berichtet und durch negative Erleb- Ängste freisetzen können. nisse, wie sie Jugendliche immer wieder schil- dern, bestärkt.38 Erinnert sei an den Fall eines Die Erfahrungen jüdischer Jugendlicher sind aus Schülers des Pforzheimer Kepler-Gymnasiums der Adoleszenzsituation heraus gewonnen, die im Jahr 2009, der nach antisemitischen Angrif- intensive örtliche Mobilität (Wege zu Schule, Sport fen durch Mitschüler, die relegiert, vor Gericht etc.) und vielfache, auch wechselnde Gruppenbe- aber mangels Beweisen freigesprochen wurden, züge (Schule, Vereine, Wohngebiet) verlangt. Die die Schule schließlich verließ.39 Auf der anderen Lebensumstände bringen gerade Jugendliche in Seite berichten Eltern auch von einem Wandel exponierte Situationen, die eine eigenständige im Bezugsgefüge. Wo es sich noch vor einigen Bewältigung erfahrener antisemitischer Anfech- Jahren selbstverständlich ergeben habe, dass die tungen, ganz gleich welcher Qualität, häufi g nicht Kinder nur jüdische Gleichaltrige mit nach Hause zulassen. Es können bis heute nur wenige jüdische brachten, habe sich die Situation bei dem nach- Gemeinden eigene Bildungseinrichtungen anbie- wachsenden jüngeren Kind geändert, und nun ten, erst recht wenn es, von Berlin abgesehen, um kämen auch nichtjüdische Gleichaltrige ins Haus. weiterführende Schulen geht. Insofern hat das Zu- Das sind Momentaufnahmen, die nur Indizien sammentreffen junger Juden mit anderen Jugend- bieten und auf dem Wege einer profunden fami- lichen als Normalfall zu gelten. Gemeinsames Ler- liensoziologischen Studie untermauert werden nen meint aber nicht unbedingt Zusammenleben, müssten. zumal wenn jüdische Schüler gerade von Seiten der Lehrenden, wie es immer wieder vorkommt, als Beim gegenwärtigen Kenntnisstand weist im Ver- willkommene Exoten mit spezifi schen Kompeten- gleich zu einer Studie des Jahres 1996 auf der Basis zen, auch und insbesondere in Angelegenheiten von Gesprächen mit 130 jüdischen Jugendlichen der des Nahostkonfl ikts, vorgestellt werden. Häufi g heutige Befund hinsichtlich der Konfrontation mit entstehen dabei asymmetrische Gespräche, die an Antisemitismus keine nennenswerte Veränderung das Jüdischsein eines einzelnen Kindes anknüpfen, auf. Differenzierter verhält es sich bei der Frage auch zwischen den Schülerinnen und Schülern, nach dem Umgang damit. Gestiegen ist die Bereit- und dies selbst im Grundschulbereich. Hier muss schaft, sich gegen Antisemitismus zur Wehr zu es nicht einmal um Antisemitisches gehen, aber setzen und bei entsprechenden Vorfällen entweder immerhin um das durch Eltern und Umwelt vermit- selbst zu reagieren oder Ordnungskräfte vor Ort telte „Wissen“, dass „Jüdisches“ etwas „Besonderes“ beziehungsweise die Polizei einzuschalten. Ansons- sei. Anlass zur Besorgnis bietet dann insbesondere ten gab 1996 ein Drittel der Befragten an, sich durch der Umstand, dass sich solche skurrilen Gespräche Antisemitismus „persönlich bedroht“ zu fühlen.40 besonders in einschlägigen Zusammenhängen An anderer Stelle lautet 2010, auf der Basis der Aus- ereignen, etwa in Gefolge des Disputs um die wertung einer geringeren Zahl von Gesprächspart- „Gaza-Flottille“ im Mai 2010.37 nern, der mit Beispielen illustrierte Befund, „fast jeder der Befragten [sei] mit dem Thema Antisemi- Entsprechend wurden außerschulische Kontakte tismus konfrontiert worden“. zur Vermeidung absehbarer Konfrontationen lange Zeit möglichst auf einen innerjüdischen Dabei sind es vor allem öffentliche Ereignisse Raum beschränkt, auf die Familien und ein wie Volksfeste oder klar als „jüdisch“ erkennbare

37 Namen bekannt. 38 Kahn, Juden in Deutschland, S. 288 f.; auch http://www.n-tv.de/politik/Angriff-auf-juedische-Schueler-article287892.html [17. Januar 2008; eingesehen am 28. Januar 2011]. 39 Stuttgarter Nachrichten vom 3. März 2009, vgl. http://content.stuttgarter-nachrichten.de/stn/page/1965302_0_2147_angriff-auf- juedischen-schueler-die-heile-welt-des-kepler-ist-zerbrochen.html; Stuttgarter Zeitung vom 5. November 2009, vgl. http://www. stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2266392_0_9223_-volksverhetzung-nicht-beweisbar-pforzheimer-schueler-freigesprochen. html; ferner FAZ vom 4. März 2009, vgl. http://www.faz.net/s/Rub5925252BCC9C45B880812B358AC3FFA4/Doc~ECF0A3F88C7C A4242858AC6067C0120FA~ATpl~Ecommon~Scontent.html; der Fall wurde in der rechtsradikalen Netzszene aufgegriffen und höhnisch kommentiert: http://de.altermedia.info/general/neulich-in-pforzheim-ein-neues-verbrechen-gegen-die-menschlich- keit-220209_23498.html [alle eingesehen am 30. Januar 2011]. 40 Ricarda Hartwich-Reick, Eine Umfrage unter jungen Juden. Antisemitismus gehört für jeden Dritten zum Alltag, in: AJW 51 (1996) 8, S. 3; Tauchert, Jüdische Identitäten, S. 283 mit Anm.

132 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Veranstaltungen, etwa ein Informationsstand der uns daran gewöhnt, Angst zu haben“ lautete die Zionistischen Jugend Deutschlands, des Bundes unbestrittene Aussage einer Teilnehmerin. Eine jüdischer Studierender, oder ein Auftritt mit einer Jugendliche hatte nach den Vorkommnissen um die Gliederung des Sportverbandes Maccabi, die offen „Gaza-Flottille“ Ende Mai 201047 Angst, in die Schule antisemitischen Manifestationen gegenüberste- zu gehen, absehend, dass man sie für Ereignisse hen.41 Die ständige Sorge vor solchen Übergriffen „haftbar“ machen werde, die außerhalb ihres (bei individuell sehr verschiedener Umgangsweise Lebenszusammenhangs lagen. Tiefsitzende Ängste damit) begleitet und beschränkt besonders die äußerten sich auch in einem freimütigen Bericht Lebenspraxis observanter Jüdinnen und Juden.42 eines Programmteilnehmers über Traumerlebnisse, Der „Kippa-Test“ – das Tragen der Kippa auf der in denen die eigene Familie vor der Realkulisse eines Straße43 – erfordert Mut und kann zu einschlägig KZ erlebt wurde. Gleichzeitig äußerte ein Jugend- negativen Erfahrungen führen. Im Umkehrschluss licher unter Zustimmung der anderen Gesprächs- stellt sich die Erfahrung ein, nicht frei jüdisch sein teilnehmer, dass „die Mehrheit der Leute positiv zu können. „Mimikry-Existenz“ hat das ein Jugend- reagieren, wenn sie erfahren, dass ich Jude bin“. licher genannt.44 Bezeichnend ist aber auch die folgende Einschrän- kung: „Wenn irgendetwas passiert, halten die den Thematisiert wird im Vorfeld der Antisemitismus- Mund.“ Auffallend war, dass die jüdischen Jugend- thematik auch das auf vielerlei Weise empfundene lichen ihre Erfahrungen für ganz selbstverständlich Gefühl, ob des eigenen Jüdischseins nicht zur deut- zu halten bereit waren und es offenbar zugleich schen Gesellschaft gerechnet zu werden. Als Bei- nicht gewohnt waren, diese Sorgen untereinander spiel wird neben dem Scheitern der Initiative, den zu artikulieren. Es wurde geäußert, nötigenfalls damaligen Zentralratsvorsitzenden Ignatz Bubis zur auch zu Gegenwehr bereit zu sein, ein derartiges Wahl für das Amt des Bundespräsidenten vorzu- Gespräch mit jüdischen Gleichaltrigen oder Ver- schlagen, insgesamt auf das Fehlen von Juden in wandten bislang aber noch nie geführt zu haben. hervorgehobenen öffentlichen Ämtern verwiesen, wofür ein stillschweigend wirkender Ausschluss- Nach alledem ist die Beobachtung, dass Antisemi- mechanismus verantwortlich gemacht wird.45 Ein tismus sich eher außerhalb des engeren Alltags und Gesprächsworkshop mit jüdischen Jugendlichen aus der persönlichen Erfahrungsfelder abspiele48 oder, Nordrhein-Westfalen im Alter von 16–18 Jahren im wie es in einer schon etwas älteren Dokumentation Rahmen eines Likrat-Ausbildungsseminars heißt, „die Angst […] bei der Frage nach jüdischer (→ Präventionsmaßnahmen) an der Hochschule Identität in Deutschland nicht identitätsstiftend“ für Jüdische Studien Heidelberg im Herbst 2010 be- sei,49 zumindest unvollständig und muss genauer stätigt diesen Befund grundsätzlich:46 Es sind Einzel- gefasst werden. Denn jenseits der Frage nach Adres- erlebnisse, die vor der Gruppe geäußert werden, sich saten, Ort und Form judenfeindlicher Manifestati- auf Erfahrungen der Eltern, von Gruppenleitern onen ist Antisemitismus für Juden ungleich stärker sowie auf eigene Erlebnisse gründen und sich in der ein lebensweltlicher Faktor als für andere Gruppen wechselseitigen Mitteilung zu einem konsistenten der Gesellschaft. Allein die große Zahl feindseliger Bild zusammenfügen. „Ich trage den Alien-Faktor Zuschriften, die den Zentralrat der Juden in Deutsch- mit mir herum“ war noch eine moderat-ironische land, Landesverbände, Gemeinden und Privatleute Beschreibung eines Gefühls permanenter, subtiler sowie andere jüdische wie auch nichtjüdische, aber Stigmatisierung durch die Umwelt. Alle Gesprächs- als „jüdisch“ markierte Institutionen täglich errei- beteiligten stimmen darin überein, mit einem chen, zeigen die Präsenz einschlägiger Haltungen Gefühl ständiger Gefährdung zu leben: „Wir haben und entsprechender Mitteilungsbedürfnisse in der

41 Der Befund für München: Kleiner, Jüdisch, Jung und Jetzt, S. 37; ähnlich für Berlin: Jungmann, Jüdisches Leben, insb. S. 330 f., 377, 385 f., 405 f. 42 Etwa Jungmann, Jüdisches Leben, S. 373 ff. 43 taz vom 2. März 2007, http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2007/03/02/a0203 [eingesehen am 24. Februar 2011]. 44 Beim Heidelberger Likrat-Seminar, von dem noch weiter berichtet wird. 45 Jungmann, Jüdisches Leben, S. 367; zur doppelten Ausgrenzungserfahrung – als Jude in Deutschland und als Jude aus Deutschland unter Juden anderer Länder zum Beispiel Benz, Zwischen Antisemitismus und Philosemitismus, in: Behrens, Ich bin geblieben, S. 29. 46 Gespräch des Autors an der HfJS mit 20 Jugendlichen aus dem Raum Düsseldorf/Duisburg im Rahmen eines Ausbildungswork- shops für das Programm „Likrat“, http://www.likrat.de/ [eingesehen am 30. Januar 2011]. 47 Für eine umsichtige Einschätzung des Ereignisses und seiner Umstände: http://www.kas.de/israel/de/publications/19846/ [eingesehen am 30. Januar 2011]. 48 Tauchert, Jüdische Identitäten, S. 284. 49 So der Befund aus einem Schreibwettbewerb, den die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland 1993 ausgeschrieben hatte; Alexa Brum (Hrsg.), Ich bin, was ich bin, ein Jude. Jüdische Kinder in Deutschland erzählen, Köln 1995, S. 11. 50 Monika Schwarz-Friesel, „Ich habe gar nichts gegen Juden!“ – Der „legitime“ Antisemitismus der Mitte, in: Schwarz-Friesel/Friesel/Reinharz, Aktueller Antisemitismus, S. 27–50; Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus?, Bonn 2004.

133 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Umwelt an,50 ganz zu schweigen von verstreuten aber differente Selbst- und Fremdbilder generie- Äußerungen in Blogs und anderen Netzangeboten, ren.53 In kritischer Fortschreibung älterer Deu- die stichprobenartig gesichtet, hier aber nicht aus- tungsmodelle ist diese unterschiedliche Teil habe gewertet werden konnten. am Gleichzeitigen auch als „negative Symbiose“ gefasst worden.54 Diese Beschreibung erscheint Antisemitismus gehört, ganz gleich welche allerdings unzureichend. Sie verlängert den histo- Bedeutung dem dann auf individueller Ebene rischen Befund in die Gegenwart hinein und un- zugestanden wird, zwangsläufi g zum Vorstel- terlässt es, den Blick für künftig mögliche Alterna- lungshaushalt von Juden; vielfach bedeutet er tiven in der Gestaltung des Beziehungsgefüges zu mehr als nur eine Vorstellung und ist nicht einfach öffnen. Zu betonen ist, dass trotz pro blematischer ein Thema, mit dem man sich (nicht) befasst und Anfänge und anhaltenden Lern bedarfs Judentum der einer einfachen souveränen Entscheidung und Juden in Deutschland kein Rand phänomen anheim gestellt bliebe.51 Zentral erscheint in vielen darstellen, sondern nachhaltig, womöglich unzer- Äußerungen gerade junger Juden die Frage nach trennlich in das Gesellschaftsgefüge eingewoben Verlässlichkeit und Sicherheit. Das Vertrauen in sind. Für die Bundesrepublik Deutschland und die freiheitlich-demokratische Ordnung von Staat nach dem Ende der DDR für Deutschland insge- und Gesellschaft sowie ihre Durchsetzung ist, wie samt erweisen sich der Umgang mit der antisemi- immer wieder betont wird, Voraussetzung für tischen Vergangenheit und die Selbstbestimmung das Vertrauen in die Verlässlichkeit der eigenen der wieder entstehenden jüdischen Gemeinden Lebenssituation. So wird es positiv bis beruhigend nach 1945 als Abfolge zweier zeitlich und inhalt- und ermutigend erlebt, wenn gesellschaftliche lich geschiedener, aber aufeinander bezogener Meinungsführer sich gegen Antisemitismus und Prozesse. Fremdenfeindlichkeit positionieren oder Polizei und Ordnungskräfte auf antisemitische Manifes- Der eine ist die Bändigung des antisemitischen tationen reagieren. Es können – etwa im Abstand Erbes als gesellschaftliche Unternehmung, der der Alltagsszenen zwischen Berlin, Frankfurt und andere das Heraustreten der jüdischen Gemein- München – auch Orte größerer und geringerer den aus der Zurückgezogenheit der frühen Jahre Sicherheit ausgemacht werden.52 Entsprechend hinein in den öffentlichen Raum. Die Schnitt- ist absehbar, wie leicht dieses Vertrauensgefüge stelle zwischen beiden Prozessen lag in den aus der Balance kommen kann und welche über 1980er-Jahren, nämlich in einer Reihe von signifi - den Moment hinaus verheerend wirkenden Folgen kanten politischen Ereignissen beziehungsweise gegen läufige Erfahrungen, wie oben an Einzel- wegweisender Reaktionen darauf. Diese Ereignis- fällen beschrieben, haben können. se und ihre Verläufe, für die so emblematische Mo- mente wie die Weizsäcker-Rede zum 8. Mai 1985, Fazit Bitburg, Fassbinder-Streit, Börneplatz und Histo- rikerstreit, aber auch die symbolträchtige Eröff- Jenseits der für Juden und Nichtjuden unterschied- nung des Jüdischen Museums Frankfurt am Main lich konturierten spezifischen Lebens- und durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Erfahrungswelten lassen sich Bereiche gemein- Kohl im November 1988 stehen können, gehören samer Erfahrungen und ungeteilter Überein- zu den formativen Momenten der Geschichte der künfte ausmachen: In Hinsicht auf Geschichte und Bundesrepublik. Sie haben wesentlich zu ihrer Judenfeindschaft gehört dazu das Bewusstsein für heutigen inneren Verfassung beigetragen; sie Kontinuitäten und Brüche sowie die zentrale Be- haben ein neues Gefüge zwischen Juden und deutung der Ereignisse der NS-Herrschaft und der Nichtjuden ermöglicht, das die bis dahin beste- Shoa bis in die Gegenwart hinein. Die Erfahrungen hende Polarität zwischen jüdischen und nicht- der damit einhergehenden Umbrüche und Verän- jüdischen Teilen der Gesellschaft aufhob und derungen, mit politischen Großereignissen, bilden neue Schnittstellen zuließ.55 gemeinsame Sozialisationsfaktoren, deren Beding- ungen, Verläufe und Konsequenzen jedoch nicht Für die jüdische Gemeinschaft war besonders die deckungsgleich sind, sondern im Ergebnis unter- Frankfurter Bühnenbesetzung von 1985 ein schiedlicher lebensgeschichtlicher, familiärer paradigmatisches Geschehen: Sie trat auf die Bühne und zeitgeschichtlicher Standorte nebeneinander der Öffentlichkeit, und dort wuchs ihr – zunächst verlaufen und beiderseits miteinander verwobene, zur eigenen Überraschung – sogleich eine weit

51 Tauchert, Jüdische Identitäten, S. 284. 52 Kleiner, Jüdisch, Jung und Jetzt, S. 39 f. 53 Norbert Frei, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2005, S. 23–40. 54 Dan Diner, Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a. M. 1988, S. 243. 55 Zuletzt: Monika Halbinger, Das Jüdische in den Wochenzeitungen. Zeit, Spiegel und Stern (1946–1989) – Berichterstattung zwischen Popularisierungsbemühung, Vereinnahmung und Abwehr, München 2010, S. 372 ff.

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über das Jüdische hinauswachsende Rolle zu. Diese Fokussierung auf den Nahostkonfl ikt und damit erscheint im Rückblick ausgesprochen ambivalent. einhergehende Zerrbilder betrachtet. Die osten- „Die Juden“ als abstrakte und mit einigen wenigen tative Verweigerung des Applauses für den isra- führenden Persönlichkeiten in Erscheinung elischen Staatspräsidenten Shimon Peres durch tretende Gruppe gerieten unbeabsichtigt in die Posi- einzelne Abgeordnete des Deutschen Bundesta- tion einer gesamtgesellschaftlichen Kontrollinstanz ges im Anschluss an dessen Rede aus Anlass des mit hohem Legitimationspotenzial, auch gegen- 65. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz am über dem Ausland. Besonders in der Debatte um das 27. Januar 201056 oder die zunehmende Akzeptanz Asylrecht und vor dem Hintergrund pogromartiger von Boykottaufrufen gegen israelische Waren Gewalttaten gegen Asylsuchende und Bürger aus- und gegen in Israel tätige deutsche und andere ländischer Herkunft in den frühen 1990er-Jahren internationale Unternehmen,57 aber auch der irri- gerieten die Repräsentanten der jüdischen Gemein- tierende Erfolg populistischer Zuspitzungen, wie schaft in die Rolle eines „Anwalts“ für Demokratie sie besonders in den Niederlanden durch Geert und Bürgerrechte, teilweise mit hohen Erwar- Wilders angestrengt und in Deutschland durch tungen seitens der nichtjüdischen Bevölkerung ver- Thilo Sarrazin und die folgende Debatte kennt- sehen, teilweise kritisch beäugt – bis hin zu stereo- lich wurden,58 müssen unter Juden für erhebliche typengeleiteter Abwehr. Irritation sorgen.

Die offene Situation, die über die kritischen 1980er- Verlässliche Prognosen über die weitere Gestal- Jahre erreicht wurde und in der Antisemitismus tung des Beziehungsgefüges zwischen Juden und und Fremdenfeindlichkeit zum von Juden wie Nichtjuden in Deutschland erlaubt der gegenwär- Nichtjuden gemeinsam bearbeiteten Themenfeld tige Befund nicht. Die Signale sind widersprüch- geworden sind, ist zwischenzeitlich einer kom- lich, und es ist trotz erheblicher ideeller und plexeren Konstellation mit widerstreitenden materieller Investitionen in die Zukunft einer Signalen gewichen. Neben der dankbar aufgenom- fruchtbaren Entwicklung des gemeinsamen menen breiten öffentlichen Unterstützung für den Gesellschaftsraums kaum abzusehen, wie trag- Ausbau der wachsenden jüdischen Gemeinden und fähig die in der Vergangenheit erreichte Basis ihrer Institutionen werden auch Anzeichen einer tatsächlich ist. neuen Verhärtung und neuer Selbstverständlich- keiten judenfeindlicher Manifestation erkannt. Auch über die Wirkung antisemitischer Mani- festationen auf Juden und auf die Gesellschaft Die Indizien dafür fi nden sich in ganz unterschied- insgesamt können beim gegenwärtigen Stand nur lichen Feldern, weisen aber Gemeinsamkeiten annähernde Aussagen gemacht werden. Sie lassen auf. Beispielhaft genannt sei der Zuspruch, den sich zunächst einmal auf die einfache Formel Martin Walser für seine bereits eingangs dieses bringen, dass das Thema weit davon entfernt ist, Abschnitts genannte Schuldabwehr-Rede anläss- als erledigt gelten zu können. Sicher ist, dass nur lich der Frankfurter Friedenspreis-Verleihung 1998 eine allseits offene, kritische Auseinandersetzung erhielt. Verschafften sich hier und in der folgenden mit Defi ziten, einschließlich der Themen, die als Debatte noch die sattsam bekannten Abwehrreflexe solche benannt werden, mittel- und langfristig Ausdruck, wird gerade innerhalb der jüdischen positive Aussichten auf die weitere Entwicklung Gemeinschaft, aber nicht nur dort, mit wachsender zulassen werden. Das Thema Antisemitismus Sorge die Überlagerung der Wahrnehmung von wird nicht aus den Schlagzeilen verschwinden. Judentum und Juden in Deutschland durch die Die Sorge von Juden wie auch Nichtjuden gilt

56 http://www.michael-leutert.de/articerung-zur-rede-von-shimon-peres-im-bundestag-am-27-januar-2010.html [eingesehen am 26. Februar 2011]; von der Seite der Bundestagsabgeordneten wurde die Erklärung offenbar heruntergenommen; vgl. http://www.sahra-wagenknecht.de/de/ung-zur-rede-von-shimon-peres-im-bundestag-am-27-januar-2010.html [eingesehen am 26. Mai 2010]; vgl. auch „Kaddisch im Bundestag“, in: Jüdische Allgemeine vom 4. Februar 2010, http://www.juedische-allgemeine.de//id/5199 [eingesehen am 26. Februar 2011]. 57 Mit einschlägigen antisemitischen Motiven („Informiert euch über die wahren Hintergründe des Judaismus!“) und Holocaustleug- nung unterlegt ist der Aufruf zum Israel-Boykott bei http://www.angelfi re.com/ar3/myimag.pdf [eingesehen am 1. März 2011]; so auch die Stellungnahme des Stellvertretenden Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Kassel, Grigori Lagodinsky, zur Vermie- tung von Räumen durch die Universitätsleitung an den Kassler Ableger von BDS („Boykott, Deinvestition und Sanktion gegen die völkerrechtswidrige und rassistische Politik Israels“) und die „Kritische Universität“, in: Nordhessische Zeitung vom 7. Juli 2010, http://www.nordhessische.de/news.php [eingesehen am 25. Februar 2011]. Zu den Aktivitäten der BDS-Initiative auch die Home- page der in Basel namenlos registrierten BDS-Initiative: http://www.bds-info.ch. Welche Reichweite Initiativen mittlerweile haben, verdeutlichen Blicke auf die Homepages der Rosa-Luxemburg-Stiftung, http://www.rosaluxemburg.ps/pdfs/RLe%20Boy- kottkampagne%20gegen%20Israel.pdf [eingesehen am 6. März 2011] und der katholischen Laiengemeinschaft Pax Christi, http://www.paxchristi.de/news/kurzm.news.km/index.html?entry=page.news.km.188 [die dort angegebenen Links sind bei Öffnung am 6. März 2011 abgeschaltet] 58 Stephan J. Kramer, Ach, die Gene – Vorsicht Rassismus: Versuche, Völker durch ihr Erbgut zu „erklären“, erliegen einem gefähr- lichen Wahn – eine Erwiderung auf Thilo Sarrazin, in: Jüdische Allgemeine vom 2. September 2010, http://www.juedische-allge- meine.de//id/8566 [eingesehen am 28. Februar 2011].

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dagegen der Möglichkeit, dass Antisemitismus in der allgemeinen Wahrnehmung als (gerade einmal noch peinliche) Normalität betrachtet werden könnte, die dann gerne unter „Kleine Mel- dungen“ versteckt oder überhaupt gefl issentlich übersehen wird. Nicht minder beunruhigt wird beobachtet, wie das Thema Antisemitismus an vielen Stellen zerredet und in der hybriden Welt der Blogs und Foren die Deutungshoheit darüber zum Gegenstand der Verhandlung offensichtlich sekundärer Interessen wird.

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7. Internationales europäischer Regierungen, auf diese antisemiti- schen Ausbrüche reagieren zu müssen, führten Engagement gegen dazu, dass die damals 55 Mitgliedsstaaten der Antisemitismus und Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sich entschlossen, im Juni 2003 Befunde aus anderen eine erste Konferenz in Wien abzuhalten, die sich ausschließlich dem Thema Antisemitismus wid- europäischen Ländern mete. Allerdings wurde rasch deutlich, dass es an einem Bewusstsein für die Besonderheiten des An- Der Beginn der zweiten Intifada im Herbst 2000 hat tisemitismus fehlte. Der Terminus Antisemitismus gezeigt, welchen Einfl uss Ereignisse im Nahostkon- erschien in Statements und Handouts – wenn über- fl ikt auf antisemitische Einstellungen in Europa haupt – immer erst am Ende einer Aufzählung von haben. In einer ganzen Reihe von europäischen Rassismus, Antidiskriminierung und Xenophobie. Ländern war ein deutlicher Anstieg von antisemi- Zweifellos sind dem Antisemitismus Teile dieser tischen Übergriffen und Straftaten zu beobachten. ausgrenzenden Verhaltensmuster immanent, aber Eine regelrechte antisemitische Welle schließlich Weltverschwörungstheorien, instrumentalisierte lösten zwei Jahre später, im Frühjahr 2002, zwei Holocaustleugnung, Antizionismus und Ausgren- Ereignisse aus: das in der internationalen Presse zung von Juden als vermeintlich Verantwortliche fälschlicherweise als „Massaker“ titulierte Eingrei- für die israelische Politik sowie eine imaginierte fen des israelischen Militärs im palästinensischen Macht „Der Juden“ sind Elemente eines Stereoty- Flüchtlingslager in Dschenin sowie die israelische penkatalogs, die nicht mit der Diskriminierung Belagerung der Geburtskirche Anfang April 2002, von Minderheiten im Allgemeinen gleichgesetzt in der sich bewaffnete Palästinenser verschanzt werden können.2 hatten. Obwohl die signifi kant höheren antisemi- tischen Vorkommnisse nach einigen weiteren Spit- Ein Jahr später lud die Bundesregierung zur zweiten zen, wie jene nach dem Ausbruch des Irak-Kriegs OSZE-Antisemitismuskonferenz am 28./29. April oder nach dem Libanonkrieg im Sommer 2006 2004 nach Berlin ein. Es zeigte sich, dass sich in der beziehungsweise nach dem Gazakrieg 2008/2009, Staatengemeinschaft durchaus ein Bewusstseins- wieder auf ein niedrigeres Niveau zurückgefallen wandel abzeichnete und eine ernsthafte Ausein- sind, lässt sich in etlichen Ländern, wie etwa in andersetzung mit dem Spezifi kum antisemitischer Großbritannien, Frankreich, Schweden, aber auch Stereotypisierungen nicht nur von NGOs gefordert in Deutschland, noch immer ein deutlich höheres wurde. Dies wurde nicht zuletzt durch die hohe Maß an manifestem Antisemitismus konstatieren Präsenz führender Politiker – unter anderem die als in den neunziger Jahren. Außenminister Colin Powell (USA), Joschka Fischer (Deutschland), Solomon Passy (Bulgarien) – zum Die Organisation für Sicherheit und Ausdruck gebracht. Allerdings war dies noch keine Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Garantie dafür, dass die „Berliner Erklärung“,3 wie das Abschlusscommuniqué lautete, auch prakti- Der europaweite Anstieg antisemitischer Übergrif- sche Folgen haben würde. In der Erklärung wurde fe und verbaler Ausbrüche gegen Juden in Europa unter anderem bekräftigt, dass die OSZE-Teilneh- zu Beginn des neuen Jahrtausends ist allerdings merstaaten „in der Erkenntnis, dass der Antisemi- nicht nur als Reaktion auf den Nahostkonfl ikt zu tismus nach seiner vernichtenden Ausprägung sehen. Antisemitische Stereotype und Klischees im Holocaust nun unter neuen Erscheinungs- und nahmen auch infolge der World Conference on Ausdrucksformen auftritt, die gemeinsam mit Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and anderen Formen der Intoleranz eine Bedrohung der Related Intolerance im südafrikanischen Durban Demokratie, der Werte der Zivilisation und somit Ende August/Anfang September 2001,1 bei der es der Sicherheit insgesamt in der OSZE-Region und vor allem auf den Treffen der Nichtregierungsor- darüber hinaus darstellen […], vorbehaltlos alle ganisationen (NGO) zu heftigen antisemitischen Erscheinungsformen des Antisemitismus und alle Ausbrüchen gekommen war, sowie der Anschläge anderen gegen Personen oder Gemeinschaften vom 11. September 2001 auf das World Trade Center gerichtete Akte von Intoleranz, Hetze, Übergriffen in New York, die insbesondere auf dem Internet zu oder Gewalt aufgrund ihrer ethnischen Herkunft antisemitischen Verschwörungstheorien führten, oder ihrer religiösen Überzeugung, wo immer sie zu. Kritische Debatten und das Bewusstsein einiger vorkommen“, verurteilen. Entsprechend der

1 Siehe dazu auch Mark Strauss, Antiglobalism’s Jewish Problem, in: Foreign Policy Nov./Dez. 2003, Onlineversion http://www.foreignpolicy.com/articles/2003/11/01/antiglobalisms_jewish_problem [eingesehen am 28. April 2011]. 2 Juliane Wetzel, Entwicklungen seit der Berliner Antisemitismus-Konferenz 2004, in: Horst Helas/Dagmar Rubisch/ Reiner Zilkenat (Hrsg.), Neues vom Antisemitismus: Zustände in Deutschland, Berlin 2008, S. 87–95, hier: S. 88 f. 3 „Berliner Erklärung“, OSZE, Bulgarischer Vorsitz. Der Amtierende Vorsitzende, OSZE Dokumente, PC.DEL /347/04, 29. April 2004, http://www.osce.org/cio/31432 [eingesehen am 28. April 2011].

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„Erklärung“ verpfl ichteten sich die OSZE-Teil- anderswo im Mittleren Osten, niemals Antisemitis- nehmerstaaten unter anderem, „gegebenenfalls mus rechtfertigen“ würden.6 Ein ähnlicher Passus erzieherische Programme zur Bekämpfung des war auch in der „Berliner Erklärung“ enthalten.7 Antisemitismus zu fördern; […] gegen Hassdelikte vorzugehen, zu denen durch rassistische, fremden- Bereits mit der „Berliner Erklärung“ waren erste feindliche und antisemitische Propaganda in den konkrete politische Schritte eingeleitet worden. Medien und im Internet angestiftet werden kann“, Beim ODIHR, dem Menschenrechtsbüro der OSZE sowie „verlässliche Informationen und Statistiken mit Sitz in Warschau, wurde im August 2004 das über antisemitisch motivierte Straftaten und andere Amt eines „Special Adviser on Antisemitism Issues“ Hassdelikte, die in ihrem Hoheitsgebiet begangen geschaffen. Es folgte eine Reihe von ODIHR-initiier- werden, zusammenzutragen und auf dem neues- ten Round-Table-Gesprächen mit Experten aus ver- ten Stand zu halten“. Zudem wurde mit der „Berli- schiedenen OSZE-Mitgliedsstaaten. 2005 schließlich ner Erklärung“ das OSZE-Büro für demokratische erarbeitete das ODIHR gemeinsam mit der Europä- Institutionen und Menschenrechte (BDIMR/ODIHR) ischen Beobachtungsstelle für Rassismus und Xe- beauftragt, „im gesamten OSZE-Raum Informatio- nophobie (EUMC), heute die Fundamental Rights nen über bewährte Praktiken zur Verhütung und Agency (FRA), und einigen jüdischen Organisatio- Bekämpfung des Antisemitismus systematisch zu nen eine „Arbeitsdefi nition zum Antisemitismus“ sammeln und zu verbreiten und die Teilnehmerstaa- (Working Defi nition of Antisemitism), die bis heute ten auf Ersuchen bei ihren Bemühungen im Kampf ihren „Arbeitscharakter“ nicht verloren hat, weil der gegen den Antisemitismus zu beraten“.4 erforderliche Konsens über eine Implementierung unter den OSZE-Mitgliedsstaaten kaum durchsetz- Die OSZE ist ein Konsens-Gremium, das heißt Be- bar wäre (→ Antisemitismus Defi nition). schlüsse basieren in der Regel auf einem Minimal- konsens, dessen Umsetzung und Auslegung den Die „Berliner Erklärung“ empfahl insbesondere die einzelnen Ländern überlassen bleibt. Wie brüchig Förderung von Bildungsprogrammen zur Bekämp- dieser Minimalkonsens war, zeigte die sogenannte fung von Antisemitismus. Deshalb initiierten das Folgekonferenz in Cordoba bereits im darauffol- ODIHR und das Anne Frank House in Amsterdam in genden Jahr 2005.5 Die spanische Regierung hatte Kooperation mit Experten aus sieben Ländern (Nie- bereits in Berlin die OSZE-Mitgliedsstaaten eingela- derlande, Deutschland, Polen, Ukraine, Dänemark, den, die Berliner Empfehlungen noch einmal aus- Litauen, Kroatien) im Jahr 2005 ein Pilotprojekt, führlich zu diskutieren und ihre Implementierung um Unterrichtsmaterialien zu erarbeiten, die sich zu überprüfen; allerdings war offi ziell nur noch ein mit verschiedenen Aspekten des Themas Antisemi- Tag der zweitägigen Konferenz dem Thema Antise- tismus und jüdische Geschichte beschäftigen. Die mitismus gewidmet. deutsche Ausgabe dieser Arbeitshefte wurde vom Zentrum für Antisemitismusforschung, TU Berlin Die „Erklärung von Cordoba“ verurteilte jedweden und dem Fritz Bauer Institut in Frankfurt a. M. „Rassismus, Fremdenhass, Antisemitismus und entwickelt. Das Unterrichtsmaterial thematisiert andere Formen von Intoleranz und Diskriminie- jüdische Geschichte sowie Antisemitismus in Euro- rung, darunter auch gegen Muslime, Christen und pa bis 1945, beschäftigt sich mit aktuellen Formen andere Religionen“, reduzierte damit aber den des Antisemitismus und setzt sich mit Eigen- und Antisemitismus auf einen Teilaspekt des Gene- Fremddiskriminierung auseinander. Der Antisemi- ralthemas Diskriminierungen aus rassistischen tismus wird dabei als paradigmatisches Vorurteil oder religiösen Gründen. Explizit genannt wurde im Rahmen anderer Formen der Diskriminierung der Antisemitismus in jenem Passus, der darauf von Minderheiten beleuchtet. Seit Mai 2008 ist die abhob, dass „internationale Entwicklungen oder deutsche Ausgabe der Materialien über die Bundes- politische Fragen, einschließlich jener in Israel oder zentrale für politische Bildung erhältlich.8

4 Ebenda. 5 Kerstin Müller, damalige Staatsministerin im Auswärtigen Amt, war eine der wenigen, die sich explizit zum Antisemitismus äußerte. Sie sagte unter anderem: „Wir sind es vor allem uns angesichts des Holocaust und unserer Geschichte schuldig, den scharfen Blick für die Besonderheiten, die Wurzeln und die Auswirkungen von Antisemitismus zu wahren. […] Die Zunahme antisemitischer Auffassungen, die jüngste Umfragen nicht nur für Deutschland aufgezeigt haben, muss uns mit großer Sorge erfüllen und zu praktischem und energischem Handeln herausfordern.“ Erklärung von Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen Amt, auf der OSZE-Konferenz zu Antisemitismus und anderen Formen der Intoleranz, 8./9. Juni 2005, Cordoba. Deutsche-Aussenpolitik.De – Online-Archive on German Foreign Policy, http://www.deutsche-aussenpolitik.de/daparchive/ anzeige.php?zaehler=5885 [eingesehen am 24. Mai 2011]. 6 CORDOBA DECLARATION by the Chairman-in-Offi ce, 9 June 2005, http://www.osce.org/cio/15548 [eingesehen am 28. April 2011]. 7 OSZE, Bulgarischer Vorsitz. Der Amtierende Vorsitzende, OSZE Dokumente, PC.DEL /347/04, 29. April 2004, http://www.osce.org/ cio/31432 [eingesehen am 28. April 2011]: „Die OSZE-Teilnehmerstaaten erklären unmissverständlich, dass internationale Ent- wicklungen oder politische Fragen, darunter auch jene in Israel oder andernorts im Nahen Osten, niemals eine Rechtfertigung für Antisemitismus sind.“ 8 Siehe http://www.bpb.de/publikationen/UAHJQ8,0,Antisemitismus_in_Europa_Arbeitsmaterialien.html [eingesehen am 28. April 2011].

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In Zusammenarbeit mit Yad Vashem hat das ODIHR nehmen, und „sicher zu stellen, dass religiöse Füh- darüber hinaus 2007 einen ausführlichen Leitfa- rungspersönlichkeiten auf allen Ebenen vermei- den für „Pädagoginnen und Pädagogen“ mit dem den, Antisemitismus zu schüren, und sie ermutigt Titel „Antisemitismus Thematisieren: Warum und werden, Verantwortung für die Lehren zu über- Wie?“ entwickelt, der in deutscher Fassung vor- nehmen, die an der Basis verbreitet werden“. Darü- liegt. Neben allgemeinen Bemerkungen zu metho- ber hinaus rief die ECRI dazu auf, sich der Tatsache dischen Grundsätzen werden Formen antisemiti- bewusst zu werden, dass Opfer von Rassismus und scher Stereotypisierungen ausführlicher behandelt Ausgrenzung in einigen europäischen Gesellschaf- und für die pädagogische Arbeit aufbereitet.9 ten manchmal selbst Träger von antisemitischen Vorurteilen sind.11 Das ODIHR veranstaltet in regelmäßigen Abstän- den Round-Table-Gespräche und Konferenzen in Die Vereinten Nationen kleinerem Rahmen zum Thema Antisemitismus – zuletzt im März 2011 in Prag zum „Antisemitismus Am 21. Juni 2004 veranstaltete die UNO erstmalig im öffentlichen Diskurs“10 –, an denen politische eine Konferenz zum Antisemitismus unter dem Vertreter und Experten aus der Wissenschaft, aber Titel „Confronting Anti-Semitism: Education for auch NGOs aus einer Reihe von Mitgliedsstaaten Tolerance and Understanding“, auf der der damali- teilnehmen. Der „Persönliche Vertreter des OSZE- ge Generalsekretär Kofi Annan die Resolution der Vorsitzenden zur Bekämpfung von Antisemitis- UN-Generalversammlung des Jahres 1975, die Zio- mus“ besucht regelmäßig die Mitgliedsstaaten und nismus mit Rassismus gleichgesetzt hatte, zurück- verfasst Berichte über die Ergebnisse seiner Gesprä- wies.12 Annan forderte, die Vereinten Nationen soll- che mit Experten und Regierungsvertretern in den ten die „Berliner Erklärung“ der OSZE-Konferenz jeweiligen Ländern. Eigene hochrangige Konfe- des Jahres 2004 übernehmen. Dies war allerdings renzen, die der Bekämpfung des Antisemitismus nicht konsensfähig. Die UN-Generalversammlung gewidmet sind, wurden seit Cordoba allerdings verabschiedete jedoch am 26. Oktober 2005 eine nicht mehr initiiert. Resolution, mit der der 27. Januar als internationa- ler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust Die Europäische Kommission gegen eingeführt und gleichzeitig jegliche Form der Rassismus und Intoleranz (ECRI) Holocaustleugnung zurückgewiesen wurde. Die UNO hatte am 24. Januar 2005 in New York erst- Die Europäische Kommission gegen Rassismus und mals in ihrer Geschichte bei einer UN-Generalver- Intoleranz (ECRI), die 1993 anlässlich des ersten sammlung der Holocaustopfer gedacht.13 Gipfeltreffens der Regierungsverantwortlichen der Mitgliedsstaaten des Europarates in Wien zur Die Task Force for International Cooperation Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlich- on Holocaust Education, Remembrance and keit, Antisemitismus und Intoleranz eingesetzt Research (ITF) wurde, verabschiedete im Juni 2004 als Reaktion auf den Anstieg antisemitischer Übergriffe konkre- Auf Initiative und Einladung des damaligen schwe- te Handlungsempfehlungen, die „Recommenda- dischen Premierministers Göran Persson trafen tions No. 9“. Nach der im März 2000 durch die ECRI sich 1998 Regierungsvertreter Schwedens, der Ver- erarbeiteten „Declaration of Concern and Intent on einigten Staaten von Amerika und Großbritanniens ‚Antisemitism in Europe today‘“ forderten die nun in Stockholm, um zu beraten, wie die Erinnerung erarbeiteten ECRI-„Recommendations No. 9“, dass an den Holocaust auch für künftige Generationen die Regierungen der über 40 Mitgliedsstaaten „der gestaltet werden könne. Aus dieser Arbeitsgruppe Bekämpfung des Antisemitismus hohe Priorität entstand die Task Force for International Coopera- einräumen und alle notwendigen Maßnahmen tion on Holocaust Education, Remembrance and zur Bekämpfung all seiner Erscheinungsformen Research (ITF).14 Inzwischen gehören der Organi- treffen, ohne Rücksicht auf deren Ursprung“ zu sation 28 Länder, darunter auch Deutschland, an.

9 Der Leitfaden steht in deutscher Sprache online zur Verfügung unter http://www.osce.org/de/odihr/29891 [eingesehen am 28. April 2011]. 10 „Anti-Semitism in Public Discourse“, ODIHR Press release: „Participants at OSCE meeting call for more decisive steps to confront anti-Semitism in public discourse“, http://www.osce.org/odihr/76202 [eingesehen am 28. April 2011]. 11 ECRI GENERAL POLICY RECOMMENDATION NO. 9 ON THE FIGHT AGAINST ANTISEMITISM, adopted 25 JUNE 2004, http://www. coe.int/t/dghl/monitoring/ecri/activities/gpr/en/recommendation_n9/Rec.09%20en.pdf [eingesehen am 28. April 2011]. 12 UN Chronicle Online Edition, http://www.un.org/Pubs/chronicle/2004/webArticles/062104_sg_remarks.asp [eingesehen am 28. April 2010]; siehe auch die Rede von Anne Bayefsky, abgedruckt in Übersetzung, Welt am Sonntag vom 27. Juni 2004. 13 Sixtieth General Assembly Plenary 42nd Meeting (AM), GENERAL ASSEMBLY DECIDES TO DESIGNATE 27 JANUARY AS ANNUAL INTERNATIONAL DAY OF COMMEMORATION TO HONOUR HOLOCAUST VICTIMS, S. 5, http://www.un.org/News/Press/docs/2005/ ga10413.doc.htm [eingesehen am 10. November 2010]. 14 Weitere Informationen auf der Webseite der ITF: http://www.holocausttaskforce.org/.

139 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Grundlage des Zusammenschlusses ist die „Stock- tisierten Ländern Frankreich, Großbritannien, holmer Erklärung“, nach der sich die Staaten unter Niederlande und Schweden stellen auch andere anderem dazu verpfl ichten, ihre „Anstrengungen Länder wie Kanada16 ähnliche Berichte über antise- zur Förderung der Aufklärung, des Erinnerns mitische Vorkommnisse zusammen.17 und der Forschung im Bereich des Holocaust zu verstärken, und zwar sowohl in den Ländern, die Frankreich bereits viel in dieser Hinsicht geleistet haben, als auch in denjenigen, die sich unseren Bemühungen In Frankreich, das seit 2000 eine steigende Anzahl anschließen möchten“.15 Die beteiligten nationalen antisemitischer Übergriffe zu verzeichnen hatte, Delegationen setzen sich aus Repräsentanten ihrer erhielt der Schriftsteller und Mitbegründer von jeweiligen Regierungen (der Außenministerien „Ärzte ohne Grenzen“, Jean-Christophe Rufi n, von beziehungsweise der Erziehungsministerien) und der Regierung den Auftrag, einen Bericht über die Experten aus Wissenschaft, Bildung und Gedenk- aktuelle Situation des Rassismus und Antisemitis- stätten zusammen. Damit ist ein enger Austausch mus in Frankreich zu verfassen. Rufi n konstatierte zwischen politischer und gesellschaftlicher Ebene in seinem Bericht „Chantier sur la lutte contre le gewährleistet. racisme et l’antisemitisme“,18 dass der überwiegende Teil antisemitischer Übergriffe in Frankreich von Im Jahr 2010 hat die ITF eine eigene Arbeitsgruppe Tätern verübt werde, „die in keinerlei Verbindung mit zum Thema Antisemitismus und Holocaustleug- der israelisch-arabischen Frage stünden, was deren nung eingerichtet. Sie nahm damit die Anregung mögliche Identifi kation mit den Palästinensern von Pädagogen aus verschiedenen Praxisfeldern als weitaus weniger ‚natürlich‘ erscheinen lässt“.19 der Mitgliedsstaaten auf, die darüber berichteten, Was die Täter allerdings verbinde, sei ein ähnliches dass Zweifel am Holocaust und die offene Artiku- Milieu, dessen Merkmale Entwurzelung, soziales lation antisemitischer Haltungen immer stärker Versagen, Orientierungsverlust und Identitätsproble- Einzug halten in pädagogische Einrichtungen me seien, alles Indikatoren, die eine „Armutskultur“ und Gedenkstätten. Ein Themenschwerpunkt ist kennzeichneten. Besonders anfällig für Antisemitis- die massive Verbreitung der Holocaustleugnung mus seien sie aufgrund einer Mischung aus Radi- über das Internet und die mögliche Beeinfl ussung kalität, Gewalt und Megalomanie, die sich in dieser Jugendlicher. Um nicht die Arbeit anderer inter- „Armutskultur“ entwickeln könne und verführeri- nationaler Organisationen zu duplizieren und das sche Muster bereitstelle, um sich eine eigene Identität eigene Mandat der „Stockholmer Erklärung“ zu be- zu verschaffen. Sowohl der radikale Islamismus wie achten, konzentriert sich die ITF auf die Leugnung neonazistische Ideologien, die sich beide des Antise- des Holocaust als eine spezielle Form des Antise- mitismus als Grundlage bedienten, fänden hier einen mitismus. Die ITF steht in diesem Arbeitsfeld noch fruchtbaren Boden. Einen Ausweg sah Rufi n darin, ganz am Anfang. Ihre Anstrengungen werden hier, Diskriminierungen und soziale Marginalisierung wie auch in den vergangenen 13 Jahren im Bereich einzelner Bevölkerungsgruppen zu bekämpfen, aber des Holocaustgedenkens, einen Schwerpunkt auf auch polizeiliche Repressionen und disziplinarische die pädagogische Arbeit legen. Sanktionen in den Schulen zu verstärken. Zudem sei es unerlässlich, dass intensiver als bisher über „Nazis- Entwicklungen in verschiedenen mus“ und Shoah aufgeklärt werde. europäischen Ländern Neben dem Rufin-Bericht liegt für Frankreich Parallel zu den Initiativen internationaler politi- seit 2005 auch eine wissenschaftliche Studie zum scher Organisationen widmeten sich auch einzelne Phänomen des Antisemitismus unter Franzosen Länder den Problemen des aktuellen Antisemitis- mit Migrationshintergrund vor. Der Forschungsdi- mus intensiver. Neben den im Folgenden thema- rektor an der École des Hautes Études en Sciences

15 Webseite der ITF, deutsche Fassung der „Stockholmer Erklärung“, www.holocausttaskforce.org/about-the-itf/stockholm-declara- tion.html?lang=de [eingesehen am 6. Juni 2011]. 16 2008 Rapport des incidents d‘antisémitisme – PRÉJUGÉS ET INTOLÉRANCE AU CANADA, http://bnaibrith.ca/publications/ audit2008/faudit2008.pdf [eingesehen am 3. März 2011]. Die B’nai Brith League for Human Rights Canada teilte im April 2011 mit, dass antisemitische Vorkommnisse für das Jahr 2010 gegenüber dem Jahr 2009 um 3,3 Prozent gestiegen seien. Insbesondere im Bereich antisemitischer Hassseiten im Internet wäre ein deutlicher Anstieg festzustellen. Für 2010 wurden 564 Fälle mit einem Bezug zu Kanada gemeldet, 2009 waren es 435 und 2008 405. B’nai Brith Canada, League for Human Rights (Hrsg.), 2010 Audit of Antisemitic Incidents. Patterns of Prejudice in Canada, Toronto 2011, http://jewishtribune.ca/tribune/PDF/audit2010/ENAudit2010.pdf [eingesehen am 14. April 2011]. 17 Erste länderübergreifende wissenschaftliche Studien geben einen Einblick in die Komplexität des aktuellen Antisemitismus im internationalen Rahmen. Siehe zum Beispiel Dirk Ansorge (Hrsg.), Antisemitismus in Europa und in der arabischen Welt, Frankfurt a. M. 2006; Lars Rensmann/Julius H. Schoeps (Hrsg.), Feindbild Judentum. Antisemitismus in Europa, Berlin 2009. 18 Ministere de l‘Intérieur, de la Sécurité Intérieure et des Libertés Locales (Hrsg.), Jean-Christophe Rufi n, Chantier sur la lutte contre le racisme et l’antisemitisme, 19. Oktober 2004, http://lesrapports.ladocumentationfrancaise.fr/BRP/044000500/0000.pdf, [eingesehen am 5. November 2010]. 19 Übersetzung nach Süddeutsche Zeitung vom 1. Dezember 2004.

140 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft sociales (EHESS) in Paris und Direktor des Centre ganz links. An der Spitze steht die „Antizionistische d‘Analyse et Intervention Sociologiques, Michel Liste“, die an den Europawahlen 2009 teilnahm Wieviorka, hat sie zusammen mit seinem Team und auf der Ile de France, die einzige Region, in der erarbeitet. Unter seiner Leitung hat ein Dutzend sie präsent war, 1,3 Prozent der Stimmen errang.22 Soziologen zwei Jahre lang insbesondere in den migrantischen Communitys Feldforschung Insgesamt notiert der Service de Protection della betrieben und die Ergebnisse in dem Band „La Communauté Juive für das Jahr 2009 (832) für tentation antisémite. Haine des Juifs dans la France Frankreich gegenüber 2008 (474) eine nahezu auf d’aujourd’hui“ (Die antisemitische Versuchung. das Doppelte gestiegene Anzahl antisemitischer Judenhass in Frankreich heute) veröffentlicht.20 Übergriffe, wobei die höchste Zahl im Januar 2009 (354), also im Zeitraum des Gaza-Krieges, ermittelt Das Team um Michel Wieviorka kam zu dem Ergeb- wurde. 43 Prozent der Taten waren antisemitische nis, dass sich Antisemitismus aus der Ausgrenzung Schmierereien, 10 Prozent gewalttätige Über- und Nichtanerkennung sowohl der Erinnerungs- griffe.23 Die höchsten Zahlen wurden allerdings kulturen als auch der Herkunft nähre. Außerdem in Frankreich im Jahr 2002 (936) und 2004 (974) stellten die Forscher fest, dass entgegen einer registriert. Damit erweist sich einmal mehr die verbreiteten Meinung die Muslime in Frankreich These als richtig, dass der Nahostkonfl ikt einen nicht mehrheitlich antisemitisch seien und auch starken Einfl uss auf antisemitische Vorkommnisse der radikale Islamismus eher schwach vertreten besitzt. 2002 waren es die Ereignisse in Dschenin, sei. Wieviorka widerspricht damit der lange Zeit als die europäische Presse das Vorgehen des isra- verbreiteten These, Menschen mit arabischem oder elischen Militärs im Flüchtlingslager fälschlich maghrebinischem Hintergrund trügen die zentrale als Massaker bezeichnete und dies in ganz Europa Verantwortung für den Anstieg des Antisemitismus eine antisemitische Welle auslöste, 2004 tötete das in Frankreich. Während der Projektphase trafen die israelische Militär Scheich Ahmad Yassin, einen Forscher aber auf junge Menschen, die unverblümt der Begründer und einfl ussreichen Funktionär der ihren Hass auf Juden äußerten. Wieviorka sieht die islamistischen HAMAS, der zu Mordanschlägen Ursache vor allem in den Identifi kationsproblemen gegen israelisches Militär und Zivilisten aufgeru- der Jugendlichen. Wenn die sozialen Unterschiede fen hatte. Die gezielte Tötung des schwer behinder- und die Probleme mit dem Vorgehen der Polizei von ten Scheichs löste in den Palästinensergebieten, der Politik thematisiert werden, scheint es hingegen aber auch darüber hinaus heftige Proteste aus, die weniger Raum für Antisemitismus zu geben.21 letztlich auch in Europa nicht ohne Folgen blieben und zu antisemitischen Übergriffen auf die dort Dass sich durchaus einige mit dem radikalen lebenden Juden führten. Islamismus identifi zieren, wird immer wieder bei propalästinensischen Demonstrationen, aber auch Maßnahmen der Regierung und die strafrechtliche bei Veranstaltungen deutlich, die von Islamisten Verfolgung antisemitischer Anschläge führten ab organisiert werden. Der Bericht des Service de 2004 zu einem Rückgang judenfeindlicher Vorgän- Protection de la Communauté Juive in Frankreich ge, allerdings ließ der Libanonkrieg 2006 das Pendel für das Jahr 2009 nennt eine solche Veranstaltung: wieder in die andere Richtung ausschlagen. Einfl uss Anlässlich der erstmals 2009 in Paris abgehaltenen auf den erneuten Anstieg hatte auch die Entführung, Al-Quds-Tag-Demonstration (→ Antisemitismus Misshandlung und Ermordung von Ilan Halami – im Islamismus) kam es zu gewalttätigen Übergrif- Sohn eines marokkanischen Juden – durch franko- fen auf Juden, die von schiitischen Teilnehmern arabische und franko-maghrebinische Jugendliche verübt worden seien. im Januar 2006. Obgleich der Mord allgemein verurteilt wurde, dezidiert auch von muslimischen Dies erklärt allerdings nur einen Teilaspekt des Verbänden, nahmen die Übergriffe auf Juden wieder Anstiegs antisemitischer Übergriffe im Jahr 2009. zu. Die Menschenrechtsorganisation (Commission Der Bericht des Service de Protection de la Commu- Nationale Consultative des Droits de l’Homme – nauté Juive konstatiert die Radikalisierung einer CNCDCH) hatte bereits in ihrem Bericht vom März antizionistischen Allianz aus verschiedenen poli- 2005 festgestellt, dass sich die Bedrohung der tisch extremen Gruppierungen von ganz rechts bis jüdischen Bevölkerung als eigenes Phänomen ver-

20 Michel Wieviorka, La tentation antisémite. Haine des Juifs dans la France d’aujourd’hui, Paris 2005. 21 Siehe die Zusammenfassung der Ergebnisse bei Michel Wieviorka, Antisemitismus in Frankreich, in: Jahrbuch für Antisemitis- musforschung 14 (2005), S. 285–292. 22 Service de Protection de la Communauté Juive, Rapport sur l’antisémitisme en France, Paris Januar 2010, S. 14 ff., http://www.spcj.org/publications/rapport2009.pdf [eingesehen am 8. November 2010]. 23 Ebenda. 24 Informationsdienst gegen Rechtsextremismus, online, 26. März 2005: „Menschenrechtskommission legt Jahresbericht vor.“ Siehe auch Danny Leder, Eine gefährliche Nachbarschaft? Juden und Muslime in Frankreich, in: Ansorge, Antisemitismus in Europa, S. 131–161.

141 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

selbständigt habe und eine Gefahr „dauerhafter Ver- to be evoked by modern depictions of ‚Zionism‘ and ankerung auf hohem statistischem Niveau“ bestehe.24 ‚Zionist‘.“27 Neben Vergleichen zwischen dem isra- elischen Vorgehen in den besetzten Gebieten und Großbritannien der nationalsozialistischen Judenverfolgung (zum Beispiel Gaza=Warschauer Ghetto)28 spielen antizi- Für Großbritannien, das in den letzten Jahren onistische Stereotype in allen politischen Spektren immer wieder eine hohe Zahl von antisemitischen eine nicht unerhebliche Rolle. Daneben sind Ver- Übergriffen zu verzeichnen hatte, stellte der Com- schwörungstheorien, die eine geheime jüdische munity Security Trust (CST) in London,25 der in enger Weltmacht unterstellen, nicht nur auf sektiererische Absprache mit der Polizei die jüdischen Gemeinden Gruppen beschränkt. Der CST-Bericht weist vor allem in Sicherheitsfragen berät, für das erste Halbjahr auch darauf hin, dass Blogs der Mainstream-Medien 2008 fest, dass von 135 antisemitischen Vorkomm- antisemitische Inhalte verbreiten, die sie in ihren nissen, 38 dem rechtsextremen politischen Spek- Printausgaben beziehungsweise in ihren regulären trum zuzurechnen seien, bei 66 Fällen handele es TV-Programmen nie publizieren würden.29 sich um antizionistische Motive, der Rest verteile sich auf andere Spektren. Michael Whine vom Michael Whine vom CST hatte bereits 2008 kon- CST äußerte sich im April 2008 in einem Interview statiert, dass in Großbritannien eine deutliche zum Thema „Muslim-Jewish interactions in Great Zunahme von antisemitischen Vorkommnissen in Britain“: Für das Jahr 2007 konstatierte er, dass von der Folge gewalttätiger Ereignisse im Nahen Osten physischen Übergriffen auf Juden in 129 Fällen festzustellen sei; insbesondere waren in diesen „weiße Briten“ die Täter gewesen seien, 15 hatten Fällen Täter mit muslimischem Migrationshinter- einen osteuropäischen Hintergrund, 27 waren grund stärker beteiligt – etwa während des zweiten Schwarze, 52 Asiaten, und 14 stammten aus einem Libanonkrieges im Sommer 2006. 2007 zeigten arabischen Milieu. Die Mehrheit der letzten beiden 46 gewalttätige Übergriffe eine direkte Koinzidenz Gruppen – so Whine – seien wohl Muslime. Soweit zu Ereignissen im Nahen Osten; 2006 waren es Täter ausgemacht werden konnten, hatten 2004 106 Fälle. Whine sieht damit die Ergebnisse einer 38 Prozent einen asiatisch beziehungsweise arabi- Analyse des Kriminologen Paul Iganski bestätigt. schen Hintergrund, 2005 waren es 30 Prozent, 2006 Dieser führte zusammen mit zwei Kriminologen 34 Prozent und 2007 27 Prozent, 53 Prozent der Täter des Metropolitan Police Service in den Jahren 2001 allerdings sind „Weiße“ gewesen. bis 2004 eine Untersuchung durch, die ergab, dass in diesem Zeitraum 50 Prozent der ermittelten Einen eklatanten Anstieg antisemitischer Übergriffe Täter von Hate Crimes gegen Juden „nicht-weiß“ verzeichnete der CST für das Jahr 2009. Gegenüber waren, das heißt Schwarze, Asiaten und Araber.30 2008 (546) hatte die Zahl (924) den Höchststand seit Inzwischen hat sich das Bild allerdings wieder ver- der ersten Erfassung solcher Daten 1984 erreicht. Zu ändert und mehr als die Hälfte sind „Weiße“. Der diesem extrem hohen Wert hatten vor allem die anti- CST stellte in seinem Bericht für 2007 fest, dass die semitischen Vorkommnisse im Januar 2009 (288) ge- Motive antisemitischer Übergriffe häufi g nicht mit führt.26 Ähnlich wie in anderen Ländern motivierte der politischen Einstellung oder Ethnie der Täter der Gaza-Krieg und die Präsenz des Nahostkonfl ikts korrelieren. Die Bezugnahme auf rechtsextreme in den Medien die Täter, ihre Wut auf Israel auf die Inhalte sei nicht mehr ausschließlich der rechtsex- Juden im Land zu projizieren. Solche Diskurse sind tremen Szene zuzuordnen, ebenso wenig wie der in Großbritannien durchaus auch in öffentlichen Bezug auf den Nahen Osten auf einen arabischen Debatten und im privaten Rahmen virulent, wie der oder muslimischen Hintergrund schließen ließe. CST Antisemitic Discourse Report 2009 konstatiert: Deshalb – so der CST – sind Israel und die NS-Zeit „Explicit antisemitism about Jews is rare in main- gleichermaßen Inhalte, die von Antisemiten aller stream British discourse. It is, however, disturbingly Couleur als Quellen genutzt werden, um juden- common for older antisemitic conspiracy themes feindlich zu agieren.

25 Der Expertenkreis lud Michael Whine am 15. Februar 2011 zu einem Gespräch, um von ihm über die Situation in Großbritannien und die Arbeit des CST informiert zu werden. 26 CST ANTISEMITIC INCIDENTS REPORT 2009, London 2010, http://www.thecst.org.uk/docs/CST-incidents-report-09-for-web.pdf [eingesehen am 28. April 2011]. 27 Antisemitic Discourse in Britain in 2009, S. 5, http://www.thecst.org.uk/docs/Antisemitic%20Discourse%20Report%20for%202009%20 -%20web1.pdf [eingesehen am 28. April 2011]. 28 „In 2009, the Gaza confl ict caused Israel to be compared to Nazi and its supporters to be compared to Nazis. Previously a fringe phenomenon, the Nazi comparison is now widespread and also appears in mainstream media. This causes signifi cant upset to Jews and is an antisemitic abuse of the memory of the Holocaust“; ebenda. 29 Ebenda. 30 Muslim-Jewish Interactions in Great Britain, Interview with Michael Whine, Institute for Global Jewish Affairs, No. 32, 15 May 2008, http://www.jcpa.org/JCPA/Templates/ShowPage.asp?DRIT=4&DBID=1&LNGID=1&TMID=111&FID=623&PID=0&IID=2200&TTL =Muslim-Jewish_Interactions_in_Great_Britain [eingesehen am 12. November 2008]; CST – Protecting the Jewish community, Antisemitic incidents report 2007, London 2008, S. 1 1ff.

142 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

Die Niederlande Schweden

In den Niederlanden zeigt sich ein ähnliches Bild Auch in Schweden haben antisemitische Übergrif- wie in Frankreich und Großbritannien, allerdings fe in den letzten Jahren zugenommen. Vor allem auf einem weit niedrigeren Niveau. Das 1974 ge- der politische Diskurs leistet antisemitischen gründete Centrum Informatie en Documentatie Ressentiments Vorschub, wie die Forscher Henrik Israel (CIDI) in Den Haag, das über Israel infor- Bachner von der Universität in Lund und Mikael miert, aber seit einigen Jahren auch eine Chronik Tossavainen, zur Zeit am Stephen Roth Institute in über antisemitische Übergriffe führt und gleich- Tel Aviv, belegen.34 Immer wieder erscheinen auch zeitig Meldeeinrichtung für solche Taten ist, in der seriösen Tagespresse Karikaturen mit anti- verwies in seinem Bericht für das Jahr 2009 (167) semitischem Inhalt. Verbreitet werden auch Ver- auf einen 55-prozentigen Anstieg antisemitischer schwörungstheorien wie jene, dass die israelische Taten gegenüber 2008 (108), verglichen mit 2007 Armee in Zusammenarbeit mit Ärzten getöteten lässt sich gar eine Zunahme um 106 Prozent kons- Palästinensern Organe entnähme und damit Han- tatieren.31 Die Werte lagen jedoch deutlich unter del betriebe, so jedenfalls die Unterstellung eines jenen des Jahres 2006 (261), als der Libanonkrieg freien Journalisten in einem Artikel in der Zeitung einen deutlichen Zuwachs auslöste. Die Spitze der Aftonbladet im August 2009.35 Das Swedish Natio- antisemitischen Vorkommnisse in den Niederlan- nal Council for Crime Prevention (SNCCP) stellt in den allerdings war in den Jahren 2002 (359), 2003 seinem Bericht für das Jahr 2009 fest, dass antise- (334) und 2004 (327) verzeichnet worden.32 mitische Hasskriminalität gestiegen sei und sich damit von Vorkommnissen gegenüber anderen Auch in den Niederlanden hatte der Gaza-Krieg Minderheiten unterscheidet, die gesunken seien.36 Ende 2008/Anfang 2009 einen starken Einfl uss auf Gegenüber 2008 mit 159 Fällen wurden 2009 251 die Zahl antisemitischer Übergriffe. Während des registriert, der höchste Wert, seit SNCCP 1999 mit Krieges wurden alleine 98 Fälle registriert. Die der Registrierung begann. Im Städte vergleich stie- über 50 bekannt gewordenen Hassmails an Juden gen die Zahlen in Malmö, aber auch in Göteborg und jüdische Einrichtungen lassen sich haupt- stark an.37 sächlich autochthonen Niederländern zuschrei- ben, rechtsextreme Slogans oder Illustrationen Berichte zur Situation weltweit fanden nur selten Verwendung, hingegen über- wogen Holocaustvergleiche, die das Vorgehen Das Stephen Roth Institute for the Study of Con- des israelischen Militärs oder die Politik Israels temporary Antisemitism and Racism in Tel Aviv mit dem nationalsozialistischen Völkermord an hat es sich zur Aufgabe gemacht, weltweit Infor- den Juden gleichsetzten. Antisemitische Über- mationen über antisemitische Tendenzen und griffe auf Personen wurden überwiegend von Vorfälle zusammenzutragen, die es in einzelnen Einwanderern mit marokkanischem Hintergrund Länderberichten und einer allgemeinen Analy- verübt beziehungsweise von Tätern, die als solche se jährlich auf seiner Webseite unter dem Titel wahrgenommen wurden. Im Jahr 2008 registrier- „Antisemitism Worldwide“ zur Verfügung stellt. te die niederländische Polizei 141 Vorfälle gegen Für das Jahr 2009 konstatiert das Institut einen Juden, „weil sie Juden sind“, aber auch 116 gegen extremen Anstieg antisemitischer Vorkommnisse Muslime, weil sie als Muslime wahrgenommen als Folge des Gaza-Krieges, was für eine Reihe von wurden.33 Ländern zutrifft, für andere aber nicht. Im Gegen-

31 CIDI, 2009: Antisemitische incidenten in Nederland scherp gestegen, http://www.cidi.nl/Monitor-incidenten/2009-Antisemitische- incidenten-in-Nederland-scherp-gestegen.html [eingesehen am 11. November 2010]. 32 CIDI – Monitor antisemitische incidenten in Nederland: 2008. Met een verslag van de Gazaperiod: 27-12-2008 – 23-1-2009, S. 9, http://www.cidi.nl/fi les/get/142.pdf [eingesehen am 28. April 2011]. 33 Ebenda. 34 Henrik Bachner, Återkomsten. Antisemitism i Sverige efter 1945 [Die Wiederkehr: Antisemitismus in Schweden nach 1945], Stock- holm 1999; Antisemitiska attityder och föreställningar i Sverige (med Jonas Ring) [Antisemitische Haltungen und Vorstellungen in Schweden], Stockholm 2006; Mikael Tossavainen, The Reepalu affair as a paradigm of Swedish Leftwing Antisemitism, Stephen Roth Institute for the Study of Contemporary Antisemitism and Racism Tel Aviv University, Topical Brief No. 6, 2010. 35 Siehe dazu etwa Die Welt vom 26. August 2009, http://www.welt.de/kultur/article4402053/Israel-und-Schweden-streiten-um- Pressefreiheit.html [eingesehen am 10. Oktober 2010]. 36 The Swedish National Council for Crime Prevention (Brottsförebyggande rådet – Brå), Hate crimes 2009 – Statistics of reports to the police where the motivation for crime includes ethnic background, religious faith, sexual orientation or transgender identity or expression, Stockholm 2010, S. 36, http://www.bra.se/extra/measurepoint/?module_instance=4&name=Summary_Hate_ crimes_2009.pdf&url=/dynamaster/fi le_archive/100819/f5301c2c8117cb8966a57c5dfad2df27/Summary%255fHate%255fcrimes% 255f2009.pdf [eingesehen am 12. November 2010]. 37 Annual Report 2009, Stephen Roth Institute for the Study of Antisemitism and Racism, http://www.tau.ac.il/Anti-Semi- tism/asw2009/sweden.html [eingesehen am 12. November 2010].

143 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

satz zu Frankreich, Großbritannien und Schweden wiesen wird, deren Täter vermehrt „muslimische war in Deutschland infolge des Gaza-Krieges kein Jugendliche“ seien.42 Es wird zwar einschränkend derartiger Anstieg an antisemitischen Straf- und bemerkt, dass keine genauen Zahlen zur Verfügung Gewalttaten zu verzeichnen. Die Zahlen blieben stünden, allerdings erneut undifferenziert die zwar auf hohem Niveau, erreichten in Bezug auf mediale Präsenz einer solchen Zuschreibung die Straftaten aber nicht die Werte der Jahre 2005 übernommen, obgleich die im Bericht einzeln auf- beziehungsweise 2006. Dies gilt auch für die Zahl geführten Fälle mit antisemitischem Hintergrund der antisemitischen Gewalttaten im Jahr 2007. In überwiegend dem rechtsextremen Spektrum der Ausgabe „Antisemitism Worldwide“ 2008/2009 zuzurechnen sind (→ Antisemitisch motivierte wird Deutschland als eines der Länder genannt, Straftaten). das neben der Schweiz und Kanada infolge des Gaza-Krieges zu jenen Staaten gehöre, in denen Fazit ein deutlicher Anstieg antisemitischer Manifesta- tionen zu verzeichnen sei.38 Im Bericht für das Jahr Die Bundesrepublik hat sich besonders in der Or- 2009 wird dies dann korrigiert und nur von einer ganisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in leichten Steigerung gesprochen.39 Europa (OSZE) für eine stärkere Aufmerksamkeit für das Thema Antisemitismus engagiert. In der Die Berichte des Stephen Roth Institute sind eine Folge der Berliner OSZE-Konferenz zum Antisemi- wertvolle Quelle, um sich einen Überblick über tismus im April 2004 wurde eine Reihe von Initiati- die Entwicklungen in verschiedenen Ländern zu ven angestoßen, die sowohl auf staatlicher Ebene verschaffen. Sie müssen aber vor dem Hintergrund, als auch im Bildungsbereich dem Thema „Antise- dass die Autoren der jeweiligen Länderberich- mitismus“ zu mehr Präsenz verholfen haben. So te über unterschiedliche Expertisen verfügen, hat etwa das Auswärtige Amt als Reaktion auf die kritisch hinterfragt werden. Die Einschätzung der politisch hochrangig besetzte Berliner Konferenz Gesamtlage weist zudem an manchen Stellen De- wesentlich dazu beigetragen, dass beim ODIHR fi zite auf. Der Bericht für das Jahr 2008/2009 etwa die Stelle eines „Special Adviser on Anti-Semitism thematisiert zu Recht die erste antisemitische Wel- Issues“ eingerichtet wurde. Zunächst vom Aus- le in Ländern wie Frankreich nach Beginn der zwei- wärtigen Amt fi nanziert, ist die Stelle heute eine ten Intifada. Die antisemitische Welle nach den feste Einrichtung der Menschenrechtsabteilung Ereignissen in Dschenin und Bethlehem 2002, die der OSZE. einen Großteil der europäischen Länder erfasste, aber wird nicht erwähnt. Zudem wird konstatiert, Im Bereich der Beobachtung und Quantifi zierung Umfragen und Analysen hätten ergeben, antisemi- antisemitischer Vorkommnisse gehört Deutschland tische Vorkommnisse seien bei der „wachsenden neben Großbritannien, Frankreich und Schweden Immigrationspopulation“ angestiegen.40 Diese zu jenen Ländern, die bisher als einzige systema- Aussage ist allerdings bisher nur unzureichend tisch entsprechende Daten sammeln und veröf- belegt. Auf der Forschungs- und Handlungsebene fentlichen. Die Ergebnisse stehen internationalen gibt es inzwischen erste Ansätze, eine umfassende Organisationen wie etwa dem ODIHR oder der FRA Analyse allerdings steht nach wie vor aus (→ Migra- zur Verfügung, um Trendanalysen zu erstellen. tionshintergrund und Antisemitismus). Allerdings erfolgt die Datenerhebung nach unter- schiedlichen Maßstäben, deshalb ist eine Vergleich- Neben dem Stephen Roth Institute veröffentlicht barkeit nur bedingt möglich. Um eine solche zu auch das amerikanische Außenministerium in erreichen, müssten zumindest EU-weite Standards unregelmäßiger Folge Berichte zum Antisemi- eingeführt werden. Im internationalen Rahmen tismus in seinen Länderberichten zu „Human bestehen nach wie vor Defi zite, sowohl was die Rights Practices“. Zuletzt erschien im April 2011 der Meldung der Vorfälle etwa an die Menschenrechts- Bericht für das Jahr 2010,41 in dem für Deutschland abteilung des ODIHR der OSZE überhaupt als auch insbesondere auf antisemitische Übergriffe hinge- was das staatliche Engagement betrifft.

38 Stephen Roth Institute for the Study of Contemporary Antisemitism and Racism, Antisemitism Worldwide 2008/9, General Analysis, S. 5, http://www.tau.ac.il/Anti-Semitism/asw2008/gen-analysis-08.pdf [eingesehen am 9. November 2010]. 39 Stephen Roth Institute for the Study of Contemporary Antisemitism and Racism Antisemitism Worldwide 2009, General Analysis, S. 1, http://www.tau.ac.il/Anti-Semitism/asw2009/general-analysis-09.pdf [eingesehen am 9. November 2010]. 40 Stephen Roth Institute for the Study of Contemporary Antisemitism and Racism, Antisemitism Worldwide 2008/9, General Analysis, S. 7, http://www.tau.ac.il/Anti-Semitism/asw2008/gen-analysis-08.pdf [eingesehen am 9. November 2010]. 41 U.S. Department of State Country Reports on Human Rights Practices: Germany, 8. April 2011, Section 6 Discrimination, Societal Abuses, and Traffi cking in Persons, http://www.state.gov/g/drl/rls/hrrpt/2010/eur/154426.htm [eingesehen am 15. April 2011]. 42 Ebenda: „A number of high-profi le anti-Semitic incidents indicated that Muslim youths were increasingly involved in attacks on, and harassment of, Jews“.

144 Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft

145 Rubrik

IV. Präventionsmaßnahmen

Einleitung 1. Maßnahmen staatlicher und gesellschafts- politischer Institutionen zur Prävention und Staatliche und nicht staatliche Einrichtungen ha- Bekämpfung von Antisemitismus ben in den letzten Jahren ein stärkeres Bewusstsein für das Problem Antisemitismus entwickelt. Dies Die hier präsentierten Ergebnisse basieren im zeigt sich sowohl an der Vielzahl von Maßnahmen, Wesentlichen auf einer Befragung derjenigen die unter dem Titel „Antisemitismusprävention“ Institutionen, die für die Prävention und Bekämp- durchgeführt werden, als auch an der Bereitschaft, fung antisemitischer Einstellungen als relevant sich mit Fragen des unabhängigen Experten kreises betrachtet wurden:2 entweder weil sie als Sozialisa- auseinanderzusetzen. Deutlich wird jedoch auch tionsinstanzen im Hinblick auf die Tradierung anti- eine große Unsicherheit dahingehend, was unter semitischer Stereotype in Betracht zu ziehen sind Antisemitismus zu verstehen ist und welche päda- (→ Tradierung antisemitischer Stereotype durch gogischen (und politischen) Schritte zu einer nach- gesellschaftliche Sozialisationsinstanzen) oder haltigen Prävention sinnvollerweise zu er greifen weil ihnen im Hinblick auf den gesellschaftlichen wären. Häufi g zeigt sich aber auch die mangelnde Diskurs und die konkrete Verfolgung antisemiti- Einsicht, Antisemitismus als ein eigenes, spezifi - scher Straftaten eine besondere Rolle zukommt sches Phänomen wahrzunehmen, dessen Brisanz (→ Antisemitisch motivierte Straftaten). Dabei nicht erfasst werden kann, wenn es nur als Teil von wurden an alle Einrichtungen sowohl Fragen zum Rassismus und Xenophobie begriffen wird, da Men- Verständnis und zur Defi nition als auch zu konkre- schenrechts- sowie Antirassismuspädagogik nur ten Präventionsmaßnahmen gestellt. So befragte bedingt geeignet sind, antisemitischen Tendenzen der Expertenkreis die Institutionen, ob Antisemi- entgegenzuwirken.1 tismus als gesondertes Phänomen im Kontext ihrer Tätigkeit berücksichtigt wird beziehungsweise ob Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden spezielle Maßnahmen zur Prävention von Antise- zunächst beschrieben, welche Maßnahmen mitismus erfolgen, aber auch ob antisemitische unterschiedliche staatliche und nicht staatliche Äußerungen innerhalb der Institutionen vorge- Institutionen zur Prävention von Antisemitismus kommen sind und diese eigens problematisiert ergriffen haben. Im Anschluss wird die Reduk- würden. Um die Aussagen überprüfen zu können, tion von Antisemitismusprävention auf die Aus- sollten die Institutionen ihre Antworten mit kon- einandersetzung mit dem Holocaust kritisch kreten Beispielen belegen. Schließlich wurden die diskutiert. Ebenso werden die nach Meinung des Einrichtungen gebeten, zu erläutern, ob in ihrem Expertenkreises für eine nachhaltige Präventi- Arbeitszusammenhang Projekte existieren, die on und Bekämpfung antisemitischer Haltungen sich präventiv gegen andere Formen gruppen- notwendigen Instrumente vorgestellt. Schließlich bezogener Menschenfeindlichkeit richten oder folgt eine Analyse und Bewertung des Programm- demokratiefördernden Charakter haben, ferner schwerpunkts „Historischer und Aktueller Antise- ob die Präventionsarbeit auch in Netzwerken oder mitismus“ des Bundesprogramms „Vielfalt tut gut“. Kooperationen mit anderen Behörden oder Institu- Abschließend werden die sich aus der Analyse erge- tionen stattfi ndet. Es muss hervorgehoben werden, benden Schlussfolgerungen und Empfehlungen dass es bei der Beurteilung der Maßnahmen zum des unabhängigen Expertenkreises benannt. Antisemitismus nicht darum geht, die insgesamt

1 OSCE/ODIHR (Hrsg.), Antisemitismus thematisieren: Warum und Wie? Leitfaden für Pädagoginnen und Pädagogen, Warschau 2007, S. 6. 2 Der Fragenkatalog (1. Wird Antisemitismus als gesondertes Phänomen im Kontext der Tätigkeiten der Institution berücksichtigt oder fällt er unter andere Bereiche – Rassismus, Rechtsextremismus? 2. Gibt es besondere Maßnahmen, um präventiv gegen Antisemitismus beziehungsweise antisemitische Äußerungen vorzugehen? 3. Wenn ja, welche sind es? 4. Können Sie Beispiele für antisemitische Vorfälle nennen, die innerhalb der Institution gesondert diskutiert wurden? 5. Gibt es Projekte, die präventiv gegen andere Formen von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wirken sollen beziehungsweise im Kontext der Arbeit „umerzieherischen“ Charakter haben sollen? 6. Existieren in diesem Bereich Netzwerke oder Kooperationen mit anderen Institu- tionen, pädagogischen oder wissenschaftlichen Einrichtungen?) entsprach – den jeweiligen Institutionen angepasst – dem immer gleichen Schema. Angeschrieben wurden (2010 beziehungsweise 2011) zunächst die jeweiligen Pressestellen, und sofern diese nicht antworteten, erfolgte – zum Beispiel die Parteien betreffend – eine Nachfrage bei den Parteivorsitzenden.

146 Präventionsmaßnahmen engagierte Haltung gegenüber diskriminierenden sichtigt würde und es von daher weder Richtlinien und menschenfeindlichen Einstellungen und die für die Ausbildung noch Fortbildungsveranstal- daraus resultierenden Strategien zu kritisieren. Im tungen gäbe. In den letzten Jahren sei nicht „über Rahmen unseres Arbeitsauftrags kommt es jedoch antisemitische Vorfälle (und ihre strafrechtliche auf die Feststellung an, dass in den meisten gesell- Aufarbeitung)“ berichtet worden.7 Der unabhän- schaftlichen Institutionen keine präzisen Hand- gige Expertenkreis wird darauf hingewiesen, dass lungsstrategien speziell zum Phänomen Antisemi- Prävention nicht die Aufgabe der Justiz sei, sondern tismus vorhanden sind. in andere Ressorts falle. Die Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, die ihr großes Die Ergebnisse haben angesichts der Form der Er- Engagement in Bezug auf andere Formen gruppen- hebung3 exemplarischen Charakter, weisen jedoch bezogener Menschenfeindlichkeit betont, verweist auf symptomatische Befunde hin. zum Thema Antisemitismus vor allem auf ihre Beteiligung an der Erinnerungsarbeit in Bezug auf 1.1. Justiz den Antisemitismus des Nationalsozialismus.8

Die Antworten auf die Fragen des Expertenkrei- Die Senatsverwaltung in Berlin berücksichtigt ses aus dem Bereich der Justiz4 zeigen, dass der Antisemitismus nicht als gesondertes Phänomen Umgang mit dem Phänomen Antisemitismus auf und hat keine speziellen Maßnahmen entwickelt, Bundes- und Landesebene durchaus nicht ein- um dagegen vorzugehen.9 In der Prävention wird heitlich ist. Nicht alle Länder haben auf die Fragen der Schwerpunkt auf die Auseinandersetzung mit des Expertenkreises reagiert, die eingegangenen anderen Formen gruppenbezogener Menschen- Antworten jedoch weisen auf ein hohes Engage- feindlichkeit gelegt. ment hin. Das Ministerium für Justiz in Sachsen-Anhalt sieht So legt etwa im Freistaat Sachsen jeden Monat die Antisemitismus vornehmlich „als Erscheinungs- Generalstaatsanwaltschaft dem Staatsministerium form des Rechtsextremismus“, weist gleichwohl für Justiz und für Europa – als Reaktion auf die mo- auf Aktivitäten hin, die sich spezifi sch gegen anti- natliche Anfrage einer Abgeordneten des Landtags semitische Tendenzen und Einstellungen richten. zum Thema „Antisemitische Überfälle, Sachbe- Es handelt sich dabei vor allem um Auseinander- schädigungen, Leugnung der Shoah und andere setzungen mit der NS-Vergangenheit sowie um antisemitische Straftaten“ – einen Bericht über alle Fortbildungsveranstaltungen zu den „modernen durch sächsische Gerichte erfolgten Verurteilungen Erscheinungsformen des Rechtsextremismus“.10 wegen antisemitischer Delikte vor.5 Gleichwohl werden jedoch keine besonderen Maßnahmen Das Ministerium der Justiz in Brandenburg er- ergriffen, um gegen Antisemitismus im Kontext der klärte, dass es „Straftaten mit antisemitischem Justiz vorzugehen, noch konnten antisemitische Hintergrund aufmerksam verfolgt“ und die Vorfälle genannt werden, die im Justizministerium Staatsanwaltschaften, die über besonders ge- gesondert diskutiert wurden. Das Ministerium ist in schulte Dezernenten verfügten, aufgefordert hat, einer ganzen Reihe von Aktivitäten im Kampf gegen dem Ministerium über einschlägige Straftaten zu Rechtsextremismus engagiert (unter anderem Prä- berichten.11 Das Brandenburger Justizministerium vention, Fortbildung, Maßnahmen im Strafvollzug).6 beteiligt sich unter anderem am Präventionspro- gramm „Tolerantes Brandenburg“, und zwar mit Die zuständige Abteilung des Senators für Justiz spezifi schen Maßnahmen, so etwa Informations- und Verfassung in Bremen teilte mit, dass Antise- veranstaltungen an Schulen sowie Trainings- mitismus nicht als gesondertes Phänomen berück- programme in Justizvollzugsanstalten.12

3 So wurde im Bereich der Justiz die Bundes- und die Länderebene befragt, die mehrheitlich antwortete. Im Hinblick auf die Polizei antworteten von 16 Bundesländern lediglich 8. Angesichts der hohen Zahl von kirchlichen und schulischen Initiativen gegen Antisemitismus wurden hier nur stellvertretend die Kultusministerkonferenz und die Kirchen auf Bundesebene befragt. 4 Aus den 16 Bundesländern reagierten lediglich 9 auf die Anfrage (Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen). 5 Schreiben des Sächsischen Staatsministeriums für Justiz und Europa vom 27. Januar 2011. 6 Mit dem Träger „Violence Prevention Network e. V.“ wird zum Beispiel das Projekt „Abschied von Hass und Gewalt“ durchgeführt, das speziell an Jugendstrafgefangene gerichtet ist, bei denen ein rechtsextremer Hintergrund als Motiv für die begangene Straftat erkennbar ist. 7 E-Mail des Senators für Justiz und Verfassung vom 7. Februar 2011. 8 „Kompetent für Demokratie – Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“. 9 E-Mail der Senatsverwaltung für Justiz vom 8. Februar 2011. 10 E-Mail des Ministeriums für Justiz Sachsen-Anhalt vom 31. Januar 2011. 11 Schreiben des Ministeriums der Justiz vom 3. März 2011. 12 http://www.tolerantes.brandenburg.de/sixcms/detail.php?template=titelregister_tbb [eingesehen am 4. März 2011].

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Das Justizministerium Thüringen informiert Wie die Justizministerien mancher Bundesländer darüber, dass bei der Fortbildung der Justiz- bezieht sich auch das Bundesjustizministerium bediensteten zwar Antisemitismus als gesonder- auf die Fortbildung für Richter und Staatsanwälte, tes Phänomen behandelt würde, jedoch keine bei der „Rassismus und Rechtsextremismus“ ein „schriftlich niedergelegten Richtlinien für die wichtiges Thema seien. Die von Bund und Ländern Aus- und Fortbildung, in denen dies Ausdruck gemeinsam getragene Deutsche Richterakademie fi ndet, existieren“; das Phänomen wird den Fort- biete regelmäßig Fortbildungsveranstaltungen an, bildungen zu „Rechtsextremismus im Vollzug“ die sich mit Fragen des politischen Extremismus als zugeordnet.13 Der Thüringer Landtag wird über Herausforderung an Gesellschaft und Justiz befass- antisemitische Straftaten aufgrund einer viertel- ten. Dort würden speziell die aktuellen Entwick- jährlich eingebrachten Kleinen Anfrage „Anti - lungen des Rechtsextremismus thematisiert, ana- semitische Überfälle, Leugnung des Holocaust lysiert und bewertet. Die Frage, ob es seitens des und andere Straftaten“ unterrichtet. Die Prä- Bundesjustizministeriums spezifi sche Maßnah- ventionsmaßnahmen reichen von Fortbildungs- men gibt, um gegen Antisemitismus vorzugehen, veranstaltungen für Justiz, Polizei, Schule und wird verneint. Auch sind dem Ministerium keine Jugendhilfe in der Gedenkstätte Buchenwald über Beispiele für antisemitische Vorfälle bekannt.17 Seminare zu Justiz und Geschichte bis zu Gewalt- präventionsprogrammen. Im Rahmen von Tagungen habe das Ministerium darüber hinaus die Möglichkeit angeboten, sich Das Justizministerium des Landes Nordrhein- fachübergreifend mit rechtsextremer Ideologie Westfalen weist darauf hin, dass Antisemitismus in (zum Beispiel im Internet) zu beschäftigen. Die der Fortbildung teilweise im Kontext „Rassismus, Ergebnisse eines Forschungsprojekts über unter- Rechtsextremismus“, teilweise im Zusammenhang schiedliche Ursachen und Motive rechtsextremer mit Justiz und Nationalsozialismus behandelt wer- Gewaltbereitschaft wurden ebenso veröffentlicht de. Das Ministerium erwähnt „zahlreiche Maßnah- wie die Ergebnisse einer vom Justizministerium men“ der Präventionsarbeit, wobei die spezifi sch initiierten Arbeitsgruppe, die sich insbesondere anti-antisemitischen Aktivitäten ausschließlich die mit der Prävention von Hasskriminalität befasste. Auseinandersetzung mit dem historischen Anti- semitismus betreffen.14 Im Hinblick auf gemeinsame präventive Aktivitäten mit anderen Institutionen weist das Bundesministe- Das Ministerium für Justiz, Gleichstellung und rium der Justiz (wie verschiedene Länderministeri- Integration des Landes Schleswig-Holstein ant- en) auf das im Jahr 2000 mit dem Innenministerium wortete, Antisemitismus werde „nicht speziell als gemeinsam gegründete „Bündnis für Demokratie gesondertes Phänomen berücksichtigt oder fällt und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt“ unter andere Bereiche“.15 (BfDT) hin, dessen Aufgabe es sei, zivilgesellschaft- liches Engagement für Demokratie und Toleranz – Das Bundesministerium der Justiz weist in seinem gegen Extremismus und Gewalt – zu sammeln, zu Schreiben an den unabhängigen Expertenkreis in bündeln, zu vernetzen und öffentlich zu machen. einer Vorbemerkung darauf hin, dass Justiz und Darüber hinaus wirke das Bundesministerium der Rechtspfl ege im Bereich Antisemitismus in der Justiz außerdem im Forum gegen Rassismus (FgR) Hauptsache eine Angelegenheit der Länder seien mit, das mit seinen 80 staatlichen Stellen und Nicht- und das Bundesministerium den Ländern keine regierungsorganisationen der Überwindung von Weisungen erteilen könne.16 Im Rahmen seiner Intoleranz und Gewalt dienen solle. Zuständigkeit, vor allem der Vorbereitung von Ge- setzen, aber auch der Überprüfung von Gesetzes - Die deutschen Justizbehörden, so könnte man diese entwürfen anderer Bundesministerien, tritt „das Umfrage zusammenfassen, sehen das Thema Anti- Bundesministerium der Justiz jedoch Rassismus, semitismus überwiegend im Kontext des Rechtsex- Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit ent- tremismus und setzen mit ihren präventiven Maß- schieden entgegen“. Das Ministerium befasse sich nahmen in erster Linie dort an. Falls sie spezifi sche „mit der Prävention und der Bekämpfung von Maßnahmen gegen eine Verbreitung des Antisemi- Antisemitismus in aller Regel im Zusammenhang tismus ergreifen, beziehen sich diese vorwiegend mit der Prävention und Bekämpfung von anderen auf die Aufklärung über die nationalsozialistische verfassungswidrigen beziehungsweise Individual- Politik, jedoch kaum auf Erscheinungsformen des rechte bedrohenden Bestrebungen wie zum heutigen Antisemitismus außerhalb des rechts- Beispiel Rechtsextremismus“. extremen Kontextes.

13 Schreiben des Justizministeriums Thüringen vom 16. Februar 2011. 14 Schreiben des Justizministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen vom 11. Februar 2011. 15 Schreiben des Ministeriums für Justiz, Gleichstellung und Integration des Landes Schleswig-Holstein vom 19. Januar 2011. 16 E-Mail des Bundesministeriums der Justiz vom 2. Dezember 2010. 17 Ebenda.

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Vollkommen offen bleibt nach dieser Umfrage, So wichtig diese Aufgabe prinzipiell ist, so unpräzise ob sich aus der Praxis der Rechtsprechung selbst ist sie jedoch im Hinblick auf die Frage formuliert, Anhaltspunkte für eine Perpetuierung von Stereo- wie Antisemitismus defi niert und mit welchen Mit- typen oder Klischees über Juden ergeben. So wurde teln er bekämpft werden soll. jüngst im Zusammenhang mit der Entscheidungs- praxis der Sozialgerichte in „Ghettorenten“-Fällen Die Bekämpfung und Prävention antisemitischer der Umgang der Richter mit Opferbiographien Einstellungen erfolgt bei der Polizei, wie in fast als zum Teil oberflächlich und unangemessen allen relevanten Instanzen, mehrheitlich im Kon- kritisiert.18 Es wäre nach Ansicht des unabhän- text historischer Bildung. Je nach Bundesland gigen Expertenkreises durchaus lohnend, der wurden Kooperationen mit den Gedenkstätten Frage nachzugehen, ob sich gegebenenfalls in den Dachau, Neuengamme und der Gedenkstätte verschiedenen Zweigen der Rechtsprechung be- SS-Sonderlager/KZ Hinzert geschlossen, sodass stimmte verfestigte Vorstellungen von Juden und die angehenden Polizisten während ihrer Ausbil- jüdischem Leben nachweisen lassen. dung diese Orte besuchen. Die inhaltliche Aus- einandersetzung mit dem Thema in den letzten 1.2. Polizei Jahren ist jedoch auch daran zu erkennen, dass einzelne Innenministerien für die Aus- und Fort- In Bezug auf Präventionsmaßnahmen bei der Polizei bildung ihrer Polizei Kooperationen mit Einrich- weisen mehrere Innenministerien der Länder dar- tungen geschlossen haben, die vorwiegend zu auf hin, dass dem Phänomen Antisemitismus eine aktuellen Formen des Antisemitismus arbeiten.21 gesonderte Rolle zukomme. Dies bestätigt sich in ei- nigen Bundesländern einerseits durch die explizite Mehrere Innenministerien verfolgen eine inte- Nennung antisemitisch motivierter Straftaten, die grative Aufgabenwahrnehmung und verzahnen im Kontext der Aus- und Fortbildungen von Polizei- Präventions- und Repressionsmaßnahmen sowie beamten als Gesprächsanlass genutzt werden. So Opferschutz. Dies führt in vielen Fällen zu Koopera- geht die Bayerische Polizei ausdrücklich auf den ge- tionen mit Schulen, im Rahmen derer Aufklärungs- planten Anschlag anlässlich der Grundsteinlegung maßnahmen und konkrete Gewaltpräventionspro- für das jüdische Kulturzentrum in München 2003 jekte durchgeführt werden. ein,19 und bei der Rheinland-Pfälzischen Polizei werden die „Übergriffe auf die Synagogen in Worms 1.3. Parteien im Mai 2010 und in Mainz am 30. Oktober 2010“20 ge- nannt. Gleichzeitig ist jedoch schwer zu beurteilen, Um den Stellenwert des Themas Antisemitismus ob und inwiefern die unterschiedlichen Behörden bei den Parteien zu erfassen, wurden sämtliche im Antisemitismus als spezifi sche Erscheinungsform Bundestag vertretenen Parteien schriftlich befragt. menschenfeindlicher Einstellungen behandeln. In Antworten, die in Gehalt und Länge allerdings der Regel wird das Phänomen der „Politisch Moti- deutlich differierten, sind von der CDU, der CSU, vierten Kriminalität“ (PMK) zugeordnet, in einem der SPD sowie der Partei „Die Linke“ eingegangen. Fall im Themengebiet „antisemitisch“ gesondert Von Seiten der FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ausgewiesen, mehrfach dem Bereich „Rechtsex- erfolgte auf die mehrfachen Anfragen des unab- tremismus“ zugeordnet sowie einmal unter dem hängigen Expertenkreises keine Reaktion, obwohl Oberbegriff „Hasskriminalität“ beziehungsweise bekannt ist, dass sich Vertreter beider Parteien dem Bereich „PMK – rechts“ subsumiert. Diese Zu- aktiv gegen Antisemitismus engagieren. ordnung erschwert die Feststellung, ob die Erklä- rungs- und Defi nitionsansätze für Antisemitismus, Die Christlich Demokratische Union anhand derer Präventionsmaßnahmen ausgerichtet Die CDU verweist in ihrem Antwortschreiben dar- sind, sich von denen zu Rassismus oder Xenophobie auf, dass Antisemitismus von der Partei regelmäßig unterscheiden. Ähnlich unspezifi sch sind die für verurteilt würde. Die Benennung und Bewertung die Thematisierung von Antisemitismus genannten antisemitischer Vorfälle sei darüber hinaus Kontexte. So ist vielfach von der Aufgabe der Polizei- einschlägigen Pressemitteilungen, Politiker- beamten die Rede, für die „Achtung und Wahrung Statements sowie der CDU-Homepage22 zu ent- der unantastbaren Menschenwürde“ einzutreten. nehmen.23 In diesem Zusammenhang versteht die

18 U. a. Stephan Lehnstaedt, Ghetto-„Bilder“. Historische Aussagen in Urteilen der Sozialgerichtsbarkeit, in: Jürgen Zarusky (Hrsg.), Ghettorenten. Entschädigungspolitik, Rechtsprechung und historische Forschung, München 2010, S. 89–100; Constantin Goschler, Ghettorenten und Zwangsarbeiterentschädigung. Verfolgungsnarrative im Spannungsfeld von Lebenswelt und Recht, in: Zarusky, Ghettorenten, S. 101–111. 19 Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 21. Dezember 2010. 20 Schreiben vom Ministerium des Innern und für Sport Rheinland-Pfalz vom 5. Januar 2011. 21 Zu nennen sind hier das Berliner und das Brandenburgische Innenministerium, die unter anderem in Kontakt mit dem American Jewish Committee, dem Zentrum für Antisemitismusforschung und dem Moses-Mendelssohn-Zentrum stehen; Schreiben des Polizeipräsidiums in Berlin vom 5. Januar 2011 und des Ministeriums des Innern des Landes Brandenburg vom 11. Januar 2011. Schulungen der Berliner Polizei wurden etwa zu den Themen Al-Quds-Tag und Nahostkonfl ikt angeboten.

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CDU Anti semitismus als Teilmenge des politischen den „sekundären Antisemitismus, Antizionismus Extremismus und verweist auf ihr Grundsatz- und Verschwörungstheorien“28 und die die Semi- programm: Man wehre sich „gegen jede Form von narteilnehmer mit unterschiedlichen Methoden zur Intoleranz, Extremismus und Gewalt. Es ist für uns Selbstrefl exion anregen sollten. Auf lokaler Ebene selbstverständlich, dass wir antisemitische Äuße- würden SPD-Ortsvereine zudem das Verlegen von rungen aufs Schärfste verurteilen und jede Form Stolpersteinen initiieren und Synagogen besuchen. von Antisemitismus politisch bekämpfen. Diese Auffassung spiegelt sich auch im Koalitionsvertrag Antisemitische Vorfälle innerhalb der SPD seien von CDU, CSU und FDP wider, wonach wir uns dazu nicht bekannt. Der Gesprächskreis gegen Rechts- bekannt haben, dass wir Extremisten jeder Art, sei extremismus sowie die Zukunftswerkstätten es Links- oder Rechtsextremismus, Antisemitismus Integration und Demokratie thematisierten neben oder Islamismus, entschlossen entgegentreten.“24 Antisemitismus noch andere Formen gruppen- bezogener Menschenfeindlichkeit. Im Hinblick auf Die Christlich Soziale Union Netzwerke und Kooperationen zur Anti-Antisemi- Analog zur CDU benennt die CSU die Vereinbarung tismusarbeit sei die SPD in der beim Berliner Büro im Koalitionsvertrag zum Umgang mit sämtlichen des American Jewish Committee angesiedelten Formen des politischen Extremismus. Auch die CSU „Task Force Education und Antisemitism“ vertre- verweist auf ihr Grundsatzprogramm, in dem das ten und arbeite mit der Amadeu Antonio Stiftung im „Christentum mit seinen jüdischen Wurzeln“ intensiv zusammen.29 Darüber hinaus biete die begründete Menschenbild der Partei benannt parteinahe Friedrich-Ebert-Stiftung sowohl ein wird.25 Aus diesem resultiere, dass es für Antisemi- umfangreiches, langjähriges Programm zur „Aus- tismus – „wie jede Form von Extremismus“ – keinen einandersetzung mit dem Rechtsextremismus“ als Platz gebe; er werde „schärfstens verurteilt und auch Konferenzen zum Antisemitismus an, deren politisch bekämpft“.26 Darüber hinaus betont die Ergebnisse in zahlreichen Publikationen veröffent- CSU, dass die Bekämpfung des Antisemitismus licht sind.30 Ferner veranstalte die SPD einschlägige das Regierungshandeln bestimme und dass die Podiumsdiskussionen und Lehrerfortbildungen Einrichtung des unabhängigen Expertenkreises zum Antisemitismus. Antisemitismus eine Folge davon sei.27 Die Linke Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands „Die Linke“ betont in ihrem Antwortschreiben, dass Die SPD betont in ihrem Antwortschreiben, dass der Antisemitismus durch die antifaschistische Tradition Kampf gegen Antisemitismus und Rechtsextremis- der Partei seit längerem ein Thema sei und dass man mus eine staatliche und gesellschaftliche Aufgabe sich mit dem Phänomen vielfältig auseinandersetze. sein müsse und dass deren Prävention nicht als ein So werde Antisemitismus „in den Strukturen und zeitlich begrenztes Projekt, sondern als eine dauer- Arbeitszusammenhängen der Partei bearbeitet, hafte und möglichst institutionalisierte Aufgabe die sich auch mit den Themen Rechtsextremismus zu behandeln sei. Diesbezüglich verweist sie auf oder Rassismus beschäftigen“.31 Darüber hinaus ihre Veranstaltungen zum Antisemitismus. Hierzu sähe die Bundestagsfraktion der Linken Anti- gehörten etwa Workshops wie „Antisemitismus semitismus als ein „eigenständiges, differenziertes entgegentreten“, die den historischen und den und zahlreiche Facetten umfassendes Phänomen“. aktuellen Antisemitismus ebenso thematisierten wie Hierzu gehörten sowohl der Nationalsozialismus als

22 Eine am 10. März 2011 auf www.cdu.de zum „Antisemitismus“ durchgeführte Stichwortsuche ergab jedoch keinen Treffer. 23 E-Mail vom 11. Januar 2011 sowie eine ausführlichere Stellungnahme vom 29. April 2011, in der es heißt: „Die CDU tritt jeder Form von Antisemitismus und Vergleichen, welche die Ungeheuerlichkeit der Shoa verharmlosen, oder der Infragestellung der Existenz Israels entgegen.“ Darüber hinaus wird darauf verwiesen, dass die CDU sich dafür einsetze, dass die „Gefahr des Antise- mitismus und die Geschichte des Staates Israel in den Lehrplänen behandelt“ wird. In der Anlage werden Veranstaltungen der Konrad-Adenauer-Stiftung genannt, die zum Themenkomplex Antisemitismus durchgeführt wurden. 24 Ebenda. 25 Schreiben des Hauptgeschäftsführers der CSU vom 27. Januar 2011. 26 Ebenda. 27 Ebenda. 28 E-Mail des SPD-Parteivorstands vom 17. Januar 2011. 29 Ebenda. 30 Hierzu gehörten etwa die am 15. September 2010 in Berlin zusammen mit dem „Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus“ veranstaltete Fachtagung „Antisemitismus heute – Forschungsstand und aktuelle Tendenzen“ sowie die Konferenz „Virtuelle Vernetzung des Rechtsextremismus“ – Was tun? am 30. Mai 2011. Siehe zu weiteren Veranstaltungen: http://www.fes-gegen-rechtsextremismus.de beziehungsweise zu den Publikationen http://www.fes-gegen-rechtsextremismus.de/ inhalte/Publikationen.php [beide eingesehen am 5. Mai 2011]. 31 E-Mail der Bundesgeschäftsstelle vom 24. Februar 2011; Konkret Bezug genommen wird auf den Rundbrief der Bundesarbeits- gemeinschaft (BAG), in dem regelmäßig Artikel zu historischem und aktuellem Antisemitismus abgedruckt sind. Neben der BAG gibt es innerhalb der Linksjugend den Bundesarbeitskreis Shalom, der sich regelmäßig mit Antisemitismus befasst.

150 Präventionsmaßnahmen auch der Antisemitismus im Kontext des israelisch- Querschnitts-AGs zum „Rechtsextremismus“ und palästinensischen Konfl ikts sowie im Extremismus- zur „Demokratisierung der Demokratie“. Darüber bereich des Islamismus. Zudem habe „Die Linke“ hinaus unterhielten Fraktionsvertreter Kontakte die Bekämpfung des Antisemitismus 2009 in ihr zu einschlägigen, mit der Bekämpfung des Anti- Wahlprogramm aufgenommen.32 Aufklärung und semitismus befassten Institutionen.37 Prävention würden darüber hinaus seitens der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung und in Form Auch wenn „Die Linke“ sich im Bereich der Be- von Publikationen verschiedener Arbeitskreise kämpfung des Antisemitismus stark engagiert, so betrieben. Innerhalb der Parlamente versuche die werden doch immer wieder problematische Äu- Stiftung, dem Thema durch diverse parlamentari- ßerungen aus den Reihen der Partei bekannt. In sche Initiativen mehr Öffentlichkeit zu verschaffen. jüngster Zeit sind zwei Ortsverbände der „Linken“ Hierzu gehörten regelmäßige kleinere und größere durch Boykottaktionen gegen Israel aufgefallen, Anfragen zu antisemitischen Straftaten, Schändun- die nicht frei von antisemitischen Konnotationen gen jüdischer Friedhöfe oder auch zur „Holocaust- waren. Das Bremer Friedensforum rief am 11. März Erziehung“ und zur deutsch-israelischen Schul- 2011 zum Boykott gegen Israel mit einer Demons- buchkommission.33 Auf politischer Ebene fordere tration vor einem Supermarkt auf.38 In Duisburg „Die Linke“ zudem seit längerem die Schaffung befand sich jahrelang ein Flugblatt auf der Home- einer Beobachtungsstelle zum Rechtsextremismus, page des Jugendverbands „solid“, das mit der Ab- Rassismus und Antisemitismus. Ferner organisiere bildung eines Davidsterns, in den ein Hakenkreuz sie Konferenzen zum Umgang mit Rechtsextremis- verwoben ist, gegen Israel hetzte und zum Boy- mus, Antisemitismus und Rassismus34 und beteilige kott aufrief. Die Vorlage dieses Flugblattes stammt sich an einer überparteilichen Arbeitsgruppe des von der antisemitisch-islamistischen Homepage Bundestages zur Bekämpfung des Antisemitismus, „Radio-Islam“. Nachdem das hetzerische Plakat die den gemeinsamen Antrag „Den Kampf gegen auf der Homepage im April 2011 in die Kritik Antisemitismus verstärken, jüdisches Leben för- geriet, wurde es von der Seite gelöscht.39 Bundes- dern“ erarbeitet habe. tagsabgeordnete der Partei „Die Linke“ waren auch an der Gaza-Flottille betei ligt. Obwohl sich Da zur Prävention gegen Antisemitismus auch Teile der Linkspartei und der Parteivorstand deut- die „historische Erinnerung an die Erfahrung des lich gegen solche antizionistischen Äußerungen Faschismus“35 gehöre, habe die Fraktion ferner Ini- positionieren, müsste eine intensivere Auseinan- tiativen ergriffen, die zum Erhalt der NS-Gedenk- dersetzung innerhalb der Partei über Positionen stätten beitragen sollen. Schließlich verweist die geführt werden, die eine Grenze zwischen legiti- Partei auf ihre Auseinandersetzung mit im Zuge mer Israelkritik und Antisemitismus überschrei- der Weltwirtschaftskrise verstärkt benutzten anti- ten.40 Aufgrund einer neuen Abhandlung41 zu semitischen Stereotypen sowie auf „die Frage der antisemitischen und israelfeindlichen Positionen Israelkritik und wo hier die Grenzen verlaufen“.36 in der Linkspartei wurde am 25. Mai 2011 auf An- Im Hinblick auf andere Formen gruppenbezogener trag der CDU/CSU und FDP eine „Aktuelle Stunde“ Menschenfeindlichkeit betreibe „Die Linke“ zwei im Deutschen Bundestag abgehalten.42

32 Antisemitismus wurde dem Kapitel 4.5. „Den Feinden entschieden entgegentreten“ zugeordnet. 33 Ebenda. Hier wird darüber hinaus auf Gespräche mit Vertretern von Yad Vashem oder dem Anne Frank Zentrum verwiesen, bei denen es um die Vermittlung von Wissen zu Antisemitismus und der Shoah, insbesondere an Jugendliche mit Migrations- hintergrund, ging. 34 24./25. Januar 2009, Konferenz in Berlin „Gemeinsam gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus – Für Demokratie, Vielfalt und Toleranz“, organisiert von der Bundestagsfraktion und der Abgeordnetenhausfraktion. 35 Ebenda. 36 Ebenda. 37 Genannt sind: Amadeu Antonio Stiftung, Anne Frank Zentrum, Moses-Mendelssohn-Zentrum, Zentrum für Antisemitismus- forschung, zahlreiche NS-Gedenkstätten, Träger und Projekte der Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus, Jüdische Gemeinde in Berlin, Zentralrat der Juden, weitere jüdische Einrichtungen, Internationale parlamentarische Koalition zur Bekämpfung des Antisemitismus (ICCA). 38 http://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/debatte/kommentare/bremer-linke-wollen-israel-durch-boykott-reinigen7654 [eingesehen am 4. Mai 2011]. 39 http://www.abbc.net/boycott-israel/fl ugblatt.pdf [eingesehen am 4. Mai 3011]. 40 Gegenpositionen fi nden sich unter anderem beim Bundesarbeitskreis Shalom der Linksjugend ['solid]. Pressemitteilung, 19. Mai 2011, „Parteiführung muss endlich konsequent handeln! – Genossinnen und Genossen dürfen Antisemitismus in der eigenen Par- tei nicht dulden!“, unter anderem wird dort Folgendes bemerkt: „Bereits vor zwei Wochen haben wir in einem Brief an die Partei- und Fraktionsführung auf die in den letzten Monaten extrem angestiegenen antisemitischen Vorfälle in der Partei hingewiesen. Bis heute haben wir keinerlei offi zielle Rückmeldung erhalten. Dies ist symptomatisch für den Umgang mit der Problematik des Antisemitismus von links: Zwar werden solche Vorfälle immer wieder durch Teile der Parteiführung klar kritisiert, eine genaue Analyse der Problematik und konkrete Auseinandersetzung fi ndet allerdings bis heute nicht statt.“, http://bak-shalom.de/index. php/2011/05/20/parteifuhrung-muss-endlich-konsequent-handeln [eingesehen am 25. Mai 2011].

151 Präventionsmaßnahmen

1.4. Schule Antisemitismus als spezifi sches Problem wird sehr unterschiedlich thematisiert. Orientiert man sich Angesichts der großen Zahl an Projekten, die an den Internetpräsenzen der Initiativen, ist festzu- von einzelnen Schulen, oder sogar nur einzelnen stellen, dass zum Beispiel bei „Tolerantes Branden- Schulklassen, im Kontext von Antisemitismus burg“ unter dem Stichwort mehrfach Einträge zu durchgeführt oder wahrgenommen werden, ist fi nden sind, bis hin zu einer Broschüre zu „Argu- eine realistische Bestandsaufnahme in diesem Feld mentationsmustern im rechtsextremistischen im Rahmen dieses Berichts schlicht unmöglich. So Antisemitismus“,44 während sich bei dem Pro- gehören beispielsweise 840 Schulen dem Netzwerk gramm „Werte machen stark“ erst durch verzweig- „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ an, tes Suchen auf Seite 198 von 320 Seiten im Bereich einem Zusammenschluss, der explizit auch das „Konkrete Umsetzungshilfe zur Werte erziehung Thema Antisemitismus aufgreift. In der Internet- an Schulen“, unter dem Stichwort externe Ausstel- präsenz im Abschnitt „10 Fragen zum Projekt“ heißt lungen, der Hinweis „Antisemitismus heute (eine es: „Deshalb nehmen wir zum Beispiel den Anti- Ausstellung der Amadeu Antonio Stiftung Berlin)“ semitismus oder die Homophobie eines (alt)deut- fi ndet.45 schen Jugendlichen genauso ernst wie den eines Jugendlichen mit türkischen oder arabischen Wur- Da alle Länderinitiativen eine Demokratisierung zeln.“ Adressaten von Präventionsprojekten von der Gesellschaft zum Ziel haben und von daher Ini tiativen wie die der Amadeu Antonio Stiftung, möglichst vielen undemokratischen Denk- und der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, Verhaltensweisen entgegentreten wollen, werden der Landes- und Bundesjugendringe oder anderer häufi g die zu bekämpfenden Phänomene unter- Träger außerschulischer historischer Bildung sind schiedlich benannt und bewertet. Auch im schuli- im Wesentlichen Schulen (→ Vielfalt Programm). schen Kontext wird Antisemitismus mehrheitlich Aus diesem Grund muss sich die Bestandsaufnah- nicht als eigenständiges Phänomen gesehen, me auf Aussagen übergeordneter Institutionen sondern unter andere Formen gruppenbezogener wie der Kultusministerkonferenz beschränken. Menschenfeindlichkeit subsumiert. Auch hier ist die Bereitschaft zur Auseinanderset- zung und Prävention mit und von Antisemitismus Inzwischen wurden von verschiedenen internati- festzustellen. Obwohl die Kultusministerkonferenz onalen und nationalen Organisationen mehrere in der Regel keine konkreten Richtlinien für die Unterrichtsmaterialien zum Thema Antisemi- Ausgestaltung von Unterricht oder Aus- und Fort- tismus erstellt. So haben etwa das OSZE-Büro für bildungen der Lehrkräfte herausgibt,43 bringt sie Demokratische Institutionen und Menschenrechte sich mit Empfehlungen und Erklärungen in die Dis- (ODIHR) und das Anne Frank House in Amsterdam kussion ein und beteiligt sich mit Partnerorganisa- in Zusammenarbeit mit Experten aus sieben Län- tionen an der Ausrichtung von Tagungen, in denen dern (Niederlande, Deutschland, Polen, Ukraine, sich Schulpersonal qualifi zieren kann. Speziell im Dänemark, Litauen, Kroatien) in den Jahren 2005 Hinblick auf Antisemitismus wurde zum Beispiel bis 2007 Unterrichtsmaterialien erarbeitet, die sich gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische mit verschiedenen Aspekten des Antisemitismus Bildung im November 2007 die Tagung „Antise- (die insgesamt drei Themenhefte behandeln „Anti- mitismus und Rechtsextremismus im Unterricht – semitismus in Geschichte und Gegenwart“; „Anti- Inhalte des Lernens und Herausforderungen für semitismus – immer noch?“; „Vorurteile. You 2?“) den Schulalltag“ durchgeführt. Auf Länderebene beschäftigen und vor allem auch aktuelle Formen richten sich Initiativen wie „Tolerantes Branden- des Phänomens thematisieren. Die deutsche Aus- burg“ oder „Werte machen stark“ an Lehrkräfte gabe dieser Arbeitshefte wurde vom Zentrum für sowie Schülerinnen und Schüler. Antisemitismusforschung in Berlin und dem Fritz

41 Samuel Salzborn/Sebastian Voigt, Antisemiten als Koalitionspartner? Die Linkspartei zwischen antizionistischem Antisemitismus und dem Streben nach Regierungsfähigkeit, http://www.fr-online.de/blob/view/-/8467798/data/5567673/-/ Studie+Antisemitismus+in+der+Linkspartei.pdf [eingesehen am 25. Mai 2011]. 42 Bundestagsdebatte am 25. Mai 2011, Plenarprotokoll 17/110, S. 12548–12584, http://www.bundestag.de/dokumente/protokolle/ plenarprotokolle/17110.pdf [eingesehen am 26. Mai 2011]. Die Fraktion der Partie „Die Linke“ hat – nach stundenlangen Debatten – am 7. Juni 2011 ein Grundsatzpapier verabschiedet, das sich mit der Formulierung „Rechtsextremismus und Antisemitismus haben in unserer Partei heute und niemals einen Platz“ klar von antisemitischen Positionen distanziert. Weiter heißt es in dem Papier: „Wir werden uns weder an Initiativen zum Nahost-Konfl ikt, die eine Ein-Staaten-Lösung für Palästina und Israel fordern, noch an Boykottaufrufen gegen israelische Produkte noch an der diesjährigen Fahrt einer ‘Gaza-Flottille‘ beteiligen.“ Pressemitteilung der Partei Die Linke vom 8. Juni 2011, http://www.die-linke.de/nc/dielinke/nachrichten/detail/zurueck/aktuell/ artikel/entschieden-gegen-antisemitismus [eingesehen am 9. Juni 2011]. Eine Reihe von Abgeordneten entzog sich allerdings der Abstimmung und verließ den Raum; Die Welt vom 9. Juni 2011. 43 Schreiben der Kultusministerkonferenz vom 13. Dezember 2010. 44 Liste der Veröffentlichungen auf der Homepage: http://www.tolerantes.brandenburg.de/sixcms/detail. php?template= titelregister_tbb [eingesehen am 26. Januar 2011]. 45 http://www.km.bayern.de/eltern/erziehung-und-bildung/werte.html [eingesehen am 26. Januar 2010 und 10. März 2011].

152 Präventionsmaßnahmen

Bauer Institut in Frankfurt a. M. entwickelt. Das von Schulen mit Gedenkstätten und jüdischen Unterrichtsmaterial besteht aus drei Bausteinen Gemeinden oder Lehrerfortbildungen (zum Bei- und einer Lehrerhandreichung und wird von der spiel Yad Vashem) liegt der Fokus primär auf dem Bundeszentrale für politische Bildung kostenlos Zeitraum bis 1945, also dem Holocaust. Obwohl die vertrieben.46 Gefördert von „entimon“ und der Stif- einzelnen Länder die Vermittlung einer demokra- tung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ sowie tischen Grundhaltung, die Erziehung zur Toleranz dem Cornelsen Verlag entstand 2009 die DVD-Rom und die Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit „Gegen Antisemitismus“, eine Software für den und Rechtsextremismus zu ihren wichtigsten Unterricht.47 Das Anne Frank House Amsterdam Zielen erklären, benennen nur sieben ausdrück- veröffentlichte 2008 die deutsche Fassung eines lich die Auseinandersetzung mit Antisemitismus Handbuchs mit dem Titel „‚Alle Juden sind…‘. im Schulunterricht, und zwei weitere (Berlin und 50 Fragen zum Antisemitismus“, das auch als Branden burg) geben zumindest an, Aktivitäten Handreichung für Lehrerfortbildungen, insbeson- gegen Antisemitismus im Rahmen zusätzlicher dere des Berliner Anne Frank Zentrums, dient. Projekte zu fördern.

Im Rahmen einer Reihe von Modellprojekten des 1.5. Kirchen Bundesprogrammes wurden weitere Materialien erarbeitet, die in Schulen und im außerschulischen In kirchlichen Zusammenhängen fi nden jährlich Bildungsbereich eingesetzt werden. hunderte kleinerer und größerer Projekte statt, die von den Veranstaltern, einzelnen Kirchen- Am 4. November 2008 beschloss der Deutsche Bun- gemeinden oder kirchlichen Einrichtungen der destag, den Antrag der Parteien mit dem Wortlaut Jugend- und Erwachsenenarbeit, unter dem Titel „Den Kampf gegen Antisemitismus verstärken, „Bekämpfung von Antisemitismus“ gefasst wer- jüdisches Leben in Deutschland weiter fördern“ den. Darunter fallen Spurensuche-Projekte kirch- anzunehmen,48 auf dem auch die Gründung des licher Jugendgruppen, Gedenkstättenbesuche unabhängigen Expertenkreises beruht. Er beinhal- von Konfi rmandengruppen, Gedenkgottesdienste tete auch die Forderung an die Bundesregierung, zum 9. November oder Zeitzeugengespräche – mit für die Erweiterung der „Lehrpläne in Schulen um anderen Worten Veranstaltungen, die sich mit Themen zum jüdischen Leben, zur jüdischen Ge- der Verfolgung der Juden während des National- schichte und zum heutigen Israel“49 zu werben. sozialismus befassen. Angesichts der Vielzahl der Projekte ist eine Einschätzung der Wirksamkeit Wie die bisherige Umsetzung des Beschlusses nach Meinung des Expertenkreises zum jetzigen erfolgte, beantwortet ein Schreiben der Kultus- Zeitpunkt nicht möglich. Wir beziehen uns daher ministerkonferenz, das eine Übersicht zu den hier lediglich auf Stellungnahmen übergeordneter Bundesländern gibt.50 Demnach sind die Themen- Institutionen. So befasst sich etwa die katholische felder „jüdisches Leben“, „jüdische Geschichte“ und Kirche, laut Auskunft der Deutschen Bischofskonfe- „heutiges Israel“ feste Bestandteile in (fast) allen51 renz, mit dem religiös begründeten Antijudaismus Lehrplänen und werden vorwiegend im Religions- und dem aktuellen Antisemitismus im Kontext der unterricht und in den Fächern Politik, Ethik und Beziehungen zum Judentum und zu den jüdischen Geschichte behandelt. Vor allem im Geschichtsun- Gemeinden auf der Grundlage der Erklärung zum terricht überwiegt die Thematisierung jüdischen Verhältnis gegenüber anderen Religionen. Die sich Lebens und jüdischer Geschichte im unmittelbaren daraus ergebende „grundsätzliche Absage an jede Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus und Form von Antijudaismus und Antisemitismus gilt der „besonderen Verantwortung Deutschlands für für alle kirchlichen Handlungsfelder, insbeson- Israel“. Auch bei den aufgeführten Kooperationen dere auch für die Verkündigung, die Katechese

46 In der deutschen Fassung wurden die drei Thementeile zu einem Heft zusammengefasst, http://www.bpb.de/publikationen/ UAHJQ8,0,Antisemitismus_in_Europa_Arbeitsmaterialien.html [eingesehen am 5. Mai 2011] sowie die Handreichungen für Lehrkräfte, http://www.bpb.de/publikationen/V294LR,0,Antisemitismus_in_Europa_Handreichungen_f%FCr_Lehrkr%E4fte. html [eingesehen am 5. Mai 2011]. Die Lehrerfortbildungen mit dem Material hat im Wesentlichen das Anne Frank Zentrum Berlin durchgeführt. 47 Die Unterrichtssoftware „Gegen Antisemitismus“ wurde 2009 mit dem „digita“-Preis in der Kategorie „Allgemein bildende Schule, Klasse 11–13“ ausgezeichnet und erhielt im gleichen Jahr den „Erasmus EuroMedia Award 2009“ in der Kategorie „Special Award for Education & Ethics“. Erarbeitet wurde die DVD-Rom vom Zentrum für Antisemitismusforschung im Rahmen des Projekts „Fit Machen für Demokratie – Jugendliche setzen sich mit Antisemitismus auseinander“, das vom Landesinstitut für Schule und Medien, Berlin-Brandenburg, vom Berliner Büro des American Jewish Committee und vom Zentrum für Antisemitis- musforschung, TU Berlin in den Jahren 2005 bis 2007 durchgeführt wurde. 48 Bundestagsdrucksachen 16/10775 (neu) und 16/10776. 49 Bundestagsdrucksachen 16/10775 (neu) und 16/10776 Beschlussziffer III.3. 50 Schreiben der Kultusministerkonferenz an das Bundesministerium des Innern vom 7. April 2011. 51 Die Antworten aus Nordrhein-Westfalen und dem Saarland lagen bis Redaktionsschluss nicht vor; Schreiben der Kultusminister- konferenz an das BMI vom 7. April 2011.

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(Glaubensunterweisung) und den Religions- dagegen!“ veröffentlicht, der vor allem an junge unterricht in der Schule“.52 Die Deutsche Bischofs- Leute gerichtet ist. In kurzen prägnanten Texten, konferenz ist sich zudem bewusst, dass sich aus die den Lesegewohnheiten vieler Jugendlicher der Geschichte der Shoah eine besondere Verant- entgegenkommen sollen, wird auf den christlichen wortung der Kirchen für den christlich-jüdischen Antisemitismus, aber auch auf Antisemitismus im Dialog ergibt. Vor diesem Hintergrund wird beson- Kontext des Nahostkonfl ikts eingegangen. Anders derer Wert auf die Vermittlung von Kenntnissen als in vielen anderen Publikationen wird der rassis- über das Judentum und das christlich-jüdische tische Antisemitismus im Nationalsozialismus nur Verhältnis im Religionsunterricht gelegt, was die am Rande gestreift und damit deutlich, dass der Auseinandersetzung mit der Geschichte des christ- Ausschuss sehr wohl die Besonderheiten des aktu- lichen Antijudaismus und der Shoah einschließt.53 ellen Antisemitismus erkennt. Ergänzt werden die Innerhalb der katholischen Kirche gibt es ferner Informationen mit knappen allgemeinen Aussagen ein großes Engagement in Bezug auf andere For- etwa zur Entstehung von Vorurteilen.55 men gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Gleichzeitig ist – zumindest auf dieser instituti- Das Thema Antisemitismus würde nicht unter onellen Ebene – eine eindeutige Defi nition von andere Themen wie Rassismus und Rechtsextre- Antisemitismus vorhanden. So wird beispielsweise mismus subsumiert, da der Ausschuss „Kirche und auf die Frage des unabhängigen Expertenkreises Judentum“ sich in seiner Arbeit ständig mit den zu Diskussionen um antisemitische Sachverhalte unterschiedlichen Erscheinungsformen des Phäno- im katholisch-kirchlichen Umfeld ausführlich auf mens auseinandersetzen müsse, so die Antwort an die durch den Piusbruder Richard Williamson den Expertenkreis. Dennoch gäbe es auf der Ebene (→ Tradierung antisemitischer Stereotype durch des Gremiums weder gesonderte Maßnahmen, gesellschaftliche Sozialisationsinstanzen) aus- um präventiv gegen Antisemitismus beziehungs- gelösten Debatten eingegangen. weise antisemitische Äußerungen im Kontext der Kirche vorzugehen, noch besondere Projekte mit In der evangelischen Kirche, so das Kirchenamt „um erzieherischem Charakter“56. Man gehe in der EKD in seiner Antwort an den Expertenkreis, Bezug auf Prävention gegen Antisemitismus davon wird das Thema Antisemitismus auf der Ebene aus, dass „es sie sicher in einzelnen Gliedkirchen“ der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), gäbe.57 Beispiele für antisemitische Vorfälle, die im der Union Evangelischer Kirchen (UEK) und der Rahmen der Ausschussarbeit diskutiert wurden, Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in gäbe es nicht. Deutschland (VELKD) im gemeinsam getragenen Ausschuss „Kirche und Judentum“ behandelt. Die Die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche weist Fragen des unabhängigen Expertenkreises werden in ihrer Antwort darauf hin, dass sie „versucht, in all mehrheitlich mit Bezug auf dieses Gremium beant- ihren Arbeitsbereichen die Gefahr des Antisemitis- wortet und wenig auf die Institution evangelische mus im Blick zu behalten“.58 Das beträfe beispiels- Kirche als Ganzes bezogen. Der Ausschuss habe weise die liturgische Arbeit, in der Erkenntnisse die Aufgabe, den Kontakt zu jüdischen Gemein- aus dem jüdisch-christlichen Dialog berücksichtigt den und zum Präsidium des Zentralrats der Juden würden. Auch wird der Flyer gegen Antisemitismus in Deutschland zu pfl egen sowie den christlich- des Ausschusses „Kirche und Judentum“ von 2006 jüdischen Dialog zu fördern, letzteres insbesondere erwähnt. Im Jubiläumsjahr der Reformation 2017, so durch Publikationen und Stellungnahmen.54 So heißt es abschließend, plane man, das „Luthertum habe der Ausschuss im Jahr 2006 einen Flyer mit und Judentum“ unter theologischen und histori- dem Titel „Antisemitismus – Wir haben etwas schen Aspekten zu behandeln.59

52 Schreiben der Deutschen Bischofskonferenz vom 20. Oktober 2010. 53 Nach Art. 7 Abs. 3 GG werden Inhalte und Ziele des Religionsunterrichts von der Kirche mitverantwortet. Expliziter Hinweis im oben genannten Schreiben der Bischofskonferenz. 54 Kirchenamt der EKD, Schreiben vom 25. Februar 2011. 55 Siehe http://www.ekd.de/download/antisemitismus.pdf [eingesehen am 30. März 2011]. 56 Dieser Begriff stammt aus den Fragen des Expertenkreises. 57 Kirchenamt der EKD, E-Mail vom 25. Februar 2011. 58 Schreiben der VELKD vom 22. Februar 2011. 59 Ebenda. 60 Deutsche Sportjugend (Hrsg.), Eine Frage der Qualität: Vereine und Verbände stark machen – zum Umgang mit Rechts- extremismus im und um den Sport, Frankfurt a. M. 2009, S. 11; Deutscher Fußball-Bund (Hrsg.), Gegen Extremismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Fußballstadien. Für Toleranz und Fairness, o. O. 2008, S. 5; Deutsche Jugendfeuerwehr (Hrsg.), Jugendfeuerwehren strukturfi t für Demokratie. Eine Dokumentation, Berlin 2010, S. 4; Deutsche Jugendfeuerwehr (Hrsg.), Demokratie steckt an. Trainingshandbuch für die JuLeiCa-Ausbildung und den Jugendfeuerwehralltag, Berlin 2010, S. 36.

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1.6. Vereine mit erfasst ist. Enthalten sind zudem zahlreiche praktische Hilfsmittel wie rechtliche Ratgeber für Sportvereine Vereine, eine Liste zur Erkennung einschlägiger Die Attraktivität hierarchischer Vereinsstrukturen Symbole und Codes sowie pädagogische Tipps, die für rechtsextreme Personen und deren Versuche, sich direkt an Multiplikatoren wenden. Wie eine vor allem Sportveranstaltungen und -vereine zu erfolgreiche Arbeit zum Rechtsextremismus im unterwandern, sind zumindest auf der Ebene der Kontext der Vereinsarbeit aussehen kann, wird bundesweit agierenden Dachverbände ein kri- exemplarisch an verschiedenen Projekten vorge- tisch beobachtetes Phänomen.60 Jedoch sehen sich stellt: Hierzu gehören die Mobilen Interventions- insbesondere kleinere Vereine häufi g außerstan- teams gegen Rechtsextremismus im Sport, die de, gegen rechtsextreme Personen vorzugehen im Rahmen des Bundesprogramms „kompetent. oder sich mit rassistischen, antisemitischen oder für Demokratie“ gegründet wurden,62 das vom sexistischen Äußerungen in den eigenen Reihen Deutschen Fußball-Bund und dem Bundesminis- auseinanderzusetzen. Dafür gibt es verschiedene terium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Gründe: Vor allem Sportvereine berufen sich auf (BMFSFJ) gemeinschaftlich geförderte Projekt ihre unpolitische Ausrichtung, andere nehmen das „Am Ball bleiben – Fußball gegen Rassismus und Problem mitunter gar nicht wahr, sie verkennen Diskriminierung“,63 die von der Thüringer Sportju- zum Beispiel die Gefahr, die von einzelnen Akteu- gend initiierte Beratungs- und Koordinierungsstel- ren ausgeht, und defi nieren antisemitische oder le für Gewaltprävention und gegen Extremismus rassistische Vorfälle als „Ausrutscher“. Oftmals feh- im Sport,64 die jährlich stattfi ndenden „Internatio- len auch die personellen und fi nanziellen Mittel, nalen Wochen gegen Rassismus“65 und die von der um sich neben der regulären Vereinsarbeit noch Wochenzeitung „Die Zeit“ gegründete und aktiv zusätzlichen Maßnahmen zu widmen. Ferner kann vom Deutschen Olympischen Sportbund und der mangelnde Kompetenz und Unsicherheit dazu Deutschen Sportjugend unterstützte Internetplatt- führen, dass Missstände nicht thematisiert werden. form www.netz-gegen-nazis.de.66 Außerdem fehlte vor allem in der Vergangenheit die notwendige Kenntnis über mögliche Maßnah- Schwerpunkt Fußball men, sodass zum Beispiel vorhandene Angebote Verstärkte Kontrollen in den Stadien führten nicht wahrgenommen, vorliegende Materialien zusammen mit der veränderten Besucherstruktur nicht angefordert oder Schulungen und Fortbil- und der in den letzten Jahren angestiegenen Zahl dungen nicht angemeldet wurden.61 sozialpädagogischer Maßnahmen dazu, dass offen geäußerter Rassismus und Rechtsextremismus im Diese Defizite veranlassten die Deutsche Sport- Kontext der Bundesliga stark zurückgegangen ist.67 jugend zur Veröffentlichung einer Broschüre Jedoch sind trotz dieser zu beobachtenden Ent- mit dem Titel „Eine Frage der Qualität: Vereine wicklung rassistische, fremdenfeindliche, rechtsex- und Verbände stark machen – zum Umgang mit treme und antisemitische Verhaltensweisen nicht Rechtsextremismus im und um den Sport“. Darin aus dem Kontext verschwunden. Aktuelle Studien fi nden sich unter anderem Literaturhinweise sowie weisen vielmehr darauf hin, dass sich deren Akti- Adressen zu Internetangeboten und Beratungs- onsfeld in „sozial und ordnungspolitisch weniger netzwerken, in deren Fokus zwar der Rechtsextre- kontrollierte Bereiche“68 verlagert hat. Davon sind mismus steht, aber der Antisemitismus als inte- nun die An- und Abfahrtswege zu den Stadien, aber graler Bestandteil rechtsextremistischer Ideologie vor allem die unteren Ligen und der Amateurfuß-

61 Deutsche Sportjugend, Eine Frage der Qualität, S. 14. 62 Das Projekt mit Fokus auf Hessen war von 2007 bis 2010 befristet und darauf angelegt, punktuelle Veränderungen anzuregen und zu beraten. Eine dauerhafte Prozessbegleitung oder gar die notwendige Arbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen war nicht geplant, diese Umsetzung muss vereinsintern erfolgen. Deutsche Sportjugend, Eine Frage der Qualität, S. 107. 63 Fachtagung und Abschlussberichte zu „Am Ball bleiben“ auf: http://www.kos-fanprojekte.de/index.php?id=news-24-03-2010 [eingesehen am 2. April 2011]. 64 Daraus resultierte ein seit 2010 verpfl ichtender Grundlagenlehrgang zur Rechtsextremismusprävention für alle angehenden Übungsleiterinnen und -leiter des Landessportbundes Thüringen e. V.; Deutsche Sportjugend, Eine Frage der Qualität, S. 112. 65 Die „Internationalen Wochen gegen Rassismus“ entstanden als Folge einer Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen (34/24–15/11/79) aus dem Jahre 1979, in der die Mitgliedsstaaten zur jährlichen Organisation einer „Woche der Solidarität mit Gegnern und Opfern von Rassismus“ aufgefordert wurden. Ebenda, S. 122 f. 66 Ebenda, S. 124. 67 Michaela Glaser/Gabi Elverich, Einführung: Das Handlungsfeld „Fußballsport“ in der Rechtsextremismus- und Rassismus- prävention, in: Michaela Glaser (Hrsg.), Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus im Fußball: Erfahrungen und Perspektiven der Prävention, Halle 2008, S. 5–15, hier: S. 6; Gunter A. Pilz, Rechtsextremismus, Rassismus und Diskriminierung im Fußballumfeld – Herausforderungen für die Prävention, in: Glaser, Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus im Fußball, S. 16–23, hier: S. 16. 68 Ebenda.

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ball betroffen, die in weitaus geringerem Maße der betreibt der DFB durch eine enge Zusammenarbeit Beobachtung und Kontrolle durch Vereine, Polizei mit Vereinen, Fanbeauftragten und Fanprojekten und Medienöffentlichkeit, aber auch durch den Aufklärungsarbeit. Den Fanbeauftragten und Deutschen Fußball-Bund unterliegen.69 Fanprojekten werden darüber hinaus regelmä- ßig Fortbildungsveranstaltungen angeboten. Um erfolgreich gegen Diskriminierung und Zu diesen Maßnahmen gehören für den DFB die Rassismus im Fußball vorzugehen, haben sich Teilnahme an der „FARE-Aktionswoche“74 sowie verschiedene Träger zusammengeschlossen und den internationalen Wochen gegen Rassismus des gemeinsame Projekte und Maßnahmen initiiert. interkulturellen Rats und die Teilfi nanzierung des Dazu gehört zum Beispiel die vom „Bündnis für Projekts „Am Ball bleiben“. Bei letzterem geht es Demokratie und Toleranz“ herausgegebene Publi- explizit auch um die Bearbeitung antisemitischer kation „11 Fragen nach 90 Minuten. Was tun gegen und antisemitisch motivierter Ausschreitungen im Rassismus und Diskriminierung im Fußball“, an Rahmen des Fußballs.75 der die Deutsche Sportjugend (dsj), das Projekt „Am Ball bleiben – Fußball gegen Rassismus und Zugleich stößt die Arbeit des DFB auch auf Kritik, Diskriminierung“ und die „KOS – Koordinations- da es mitunter an Transparenz fehlt. So sind die stelle Fan-Projekte bei der dsj“ mitgewirkt haben.70 zahlreichen Maßnahmen im Bereich Antidiskri- Ein weiteres Beispiel ist der von der Deutschen minierung selbst auf der Homepage des DFB nur Sportjugend, in Zusammenarbeit mit der Bundes- schwer oder zum Teil gar nicht zu fi nden, und auch zentrale für politische Bildung, erarbeitete multi- die Arbeitsgruppenberichte der Task-Force „zu mediale Sprechbaukasten „KONTRA geben“71, der Antidiskriminierung und Integration sind selbst Trainer und Übungsleiter bei ihrer Arbeit und im den organisierten Fans nur in Ausnahmefällen Umgang mit menschenfeindlichen Sprüchen un- bekannt“.76 Dadurch kann bei einzelnen Maßnah- terstützen soll. Auch das im Rahmen eines interna- men mitunter der Eindruck entstehen, der Deut- tionalen Projekts von sieben durch die Deutsche sche Fußball-Bund handele unkoordiniert und Sport jugend koordinierten Sportverbänden entwi- aktionistisch.77 ckelte Programm „ARCTOS“ versucht anhand von Videoclips und einem Handbuch, praktische Hilfe Mit ganz anderen Problemen müssen sich Fan- bei der Auseinandersetzung mit Diskriminierung, projekte auseinandersetzen, die oftmals erst nach Ausschluss und Mobbing zu leisten.72 rechtsextremen Vorfällen gegründet werden und in betroffenen Vereinen, vor allem zu Beginn ihrer Neben diesen Zusammenschlüssen verschiedener Tätigkeit, mitunter als „Nestbeschmutzer“ gelten. Träger haben sich in der jüngsten Vergangenheit Sie sehen sich nicht nur mit den „enorm hohen der Deutsche Fußball-Bund und dessen Landesver- Erwartungen des sportlichen und politischen bände besonders engagiert. Der DFB regte meh- Umfelds“ konfrontiert, sondern haben häufi g auch rere Maßnahmen und Projekte an, organisierte mit „einer teilweise dramatischen personellen Fortbildungen zur Thematik und veröffentlichte Unterbesetzung“ zu kämpfen, da sie im Durch- Materialien zur Aufklärung, darunter zum Beispiel schnitt nur mit 1,5 Stellen anstatt der empfohle- die Broschüre „Gegen Extremismus, Rassismus nen drei hauptamtlichen Fachkräfte auskommen und Fremdenfeindlichkeit in Fußballstadien“,73 müssen.78 Dennoch sind die Fanprojekte und deren die sich maßgeblich an Führungskräfte und jahrelange Arbeit mitverantwortlich für den Rück- Abschnittsleiter des Ordnungspersonals richtet. gang rassistischer Äußerungen im Stadion.79 Eine Um präventiv gegen Antisemitismus vorzugehen, Vorreiterrolle nahm dabei das 1993/94 gegründete

69 Glaser/Elverich, Einführung, S. 6, 9; Pilz, Rechtsextremismus, Rassismus und Diskriminierung im Fußballumfeld, S. 16. 70 Bündnis für Demokratie und Toleranz (Hrsg.), 11 Fragen nach 90 Minuten. Was tun gegen Rassismus und Diskriminierung im Fußball, Berlin/Frankfurt a. M. 2008. 71 Bundeszentrale für politische Bildung/Deutsche Sportjugend (Hrsg.), Kontra geben. Betrifft Rechtsextreme: Dumme und radikale Sprüche, Bonn 2002. 72 Deutsche Sportjugend (Hrsg.), ARCTOS. Gemeinsam gegen Diskriminierung, Rassismus und Fremdenhass, Eine Arbeitshilfe inkl. Compact Disk mit 10 Videoclips, Frankfurt a. M. 2006. 73 Deutscher Fußball-Bund (Hrsg.), Gegen Extremismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Fußballstadien. Für Toleranz und Fairness, o. O. 2008. 74 Football against Racism in Europe, http://www.farenet.org [eingesehen am 18. Mai 2011]. 75 Siehe http://www.amballbleiben.org/html/themenfelder/antisemitismus.html [eingesehen am 10. März 2011]. 76 Gerd Dembowski, Zur Rolle von Fußballfans im Engagement gegen Rassismus und Diskriminierung, in: Glaser, Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus im Fußball, S. 53–62, hier: S. 59. 77 Gerd Wagner, Prävention von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit – die Rolle des DFB und der Verbände, in: Glaser, Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus im Fußball, S. 75–88, hier: S. 81. 78 Jonas Gabler, Ultrakulturen und Rechtsextremismus, Fußballfans in Deutschland und Italien, Köln 2009, insb. S. 110–120; Michael Gabriel, Eine Fankurve ohne Nazis und Rassisten – Möglichkeiten und Grenzen der sozialpädagogischen Fan-Projekte, in: Glaser, Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus im Fußball, S. 35–52, hier: S. 37.

156 Präventionsmaßnahmen

Bündnis „Aktive Fußballfans e. V.“ (BAFF) ein, das können“, enden.84 Einigen Konzepten fehlt der mit knapp 4000 Mitgliedern als Dachorganisation Rückhalt des Vereins oder die Rücksprache mit fungiert und zum Beispiel den Austausch unab- den Fans, dabei hat sich gezeigt, dass vor allem hängiger örtlicher Fangruppen ermöglicht.80 „die sozi ale Verankerung von Maßnahmen ihre Wirksamkeit erhöht“.85 Zudem sollten vorhandene Wie im Bereich Schule, greifen zahlreiche Vereine Angebote und bereits realisierte Maßnahmen bes- auf die zum Beispiel im Kontext der Modellprojekte ser bekannt gemacht werden, damit verschiedene des Vielfaltprogramms angebotenen außerschu- Initiativen auf diese zurückgreifen können.86 Vor lischen Maßnahmen zurück oder organisieren allem ist jedoch weiterhin ein hoher Forschungs- eigenständig Besuche in NS-Gedenkstätten, um bedarf bezüglich der Evaluation durchgeführter über die Vermittlung historischen Wissens Präven- Maßnahmen und der Dokumentation von Praxis- tionsarbeit zu leisten. In der Antwort des Deut- erfahrungen zu konstatieren.87 schen Fußball-Bunds auf die Anfrage des Experten- kreises wird Antisemitismus nicht als gesondertes Feuerwehr Phänomen erwähnt, sondern fällt in der Fanarbeit Die Deutsche Jugendfeuerwehr zum Beispiel sieht in den Bereich Diskriminierung.81 Dennoch scheint sich in ihrer Funktion als Jugendverband nach dem man sich des Spezifi kums bewusst zu sein, da, nach Kinder- und Jugendhilfegesetz dazu verpfl ichtet, Kenntnissen über antisemitische Äußerungen in die Demokratieerziehung ihrer Mitglieder als der Fußballszene gefragt, auf „diskriminierende wichtigen Punkt ihrer Agenda zu erachten und Gesänge“ hingewiesen wird, die „inzwischen demokratiefeindliche Elemente wie Ausgrenzung, glücklicherweise die Ausnahme in den Stadien Diskriminierung, rechtsextreme Äußerungen etc. der höchsten deutschen Spielklassen“ bildeten, „so abzuwehren. Daran orientiert sich auch das Bil- dass in den letzten Jahren auch keine antisemiti- dungsprogramm der Deutschen Jugendfeuerweh- schen Gesänge bekannt wurden“.82 ren.88 Von 2008 bis 2010 wurde das Modellprojekt „Jugendfeuerwehren strukturfi t für Demokratie“ Um präventiv gegen andere Formen gruppen- vom Bundesprogramm „kompetent. für Demo- bezogener Menschenfeindlichkeit vorzugehen, kratie – Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextre- insbesondere um Feindbilder bei Jugendlichen mismus“ gefördert und befasste sich „mit Rechts- abzubauen, existieren in Deutschland 48 sozial- extremismus und Maßnahmen zur Förderung pädagogisch arbeitende Fanprojekte, die zu je von Demokratielernen“.89 Im Rahmen des Projekts einem Drittel vom Bundesland, von der Kommune entwickelten seit 2009 die drei Pilotländer (Bran- und dem DFB beziehungsweise der Deutschen denburg, Hessen und Mecklenburg-Vorpommern) Fußballliga fi nanziert werden. Außerdem beste- und die drei Erweiterungsländer (Rheinland-Pfalz, hen in diesem Bereich Kooperationen mit dem Sachsen-Anhalt und Thüringen) unterschiedliche Deutschen Olympischen Sportbund, der Jugend- Konzepte: Demokratiepartner (in Brandenburg), organisation des Deutschen Sportbundes und der Klingelknöpfe (in Mecklenburg-Vorpommern, Leibniz-Universität Hannover.83 Sachsen-Anhalt und Thüringen), Rexlotsen (in Hes- sen) und Problemhelfer (in Rheinland-Pfalz).90 Ein grundlegendes Problem der Präventionsmaß- nahmen im Bereich Fußball ist ihre mangelnde Außerdem wurde ein Trainingshandbuch entwi- Kontinuität, da viele Maßnahmen „zu dem Zeit- ckelt, das sich direkt an Multiplikatoren richtet und punkt, wenn eine Arbeitsbasis gerade erst ge- unter anderem zahlreiche Praxisbeispiele enthält, schaffen wurde, also bevor Erfolge erzielt werden „die erkennen lassen, wo sich im Feuerwehralltag

79 Sabine Behn/Victoria Schwenzer, „Politik gehört nicht ins Stadion?“ Fandiskurse, Selbstregulierungsmechanismen der Fanszene und antirassistische Strategien der sozialen Arbeit im Fußballkontext, in: Glaser, Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus im Fußball, S. 24–34, hier: S. 30. 80 Gabriel, Eine Fankurve ohne Nazis und Rassisten, S. 44. 81 E-Mail des Deutschen Fußball-Bundes vom 4. August 2010. 82 Ebenda. 83 Ebenda. 84 Fachtagung und Abschlussberichte zu „Am Ball bleiben“, April 2010, http://www.kos-fanprojekte.de/index. php?id=news-24-03-2010 und http://www.kos-fanprojekte.de/fi leadmin/user_upload/media/news/2010/pdf/20100324- projektbericht.pdf [beide eingesehen am 29. April 2010]. 85 Ebenda. 86 Glaser/Elverich, Einführung, S. 10. 87 Ebenda. 88 Deutsche Jugendfeuerwehr, Demokratie steckt an, S. 19 f. 89 Benno Hafeneger/Reiner Becker, Deutsche Jugendfeuerwehr – strukturfi t für Demokratie. Ein Jugendverband in Bewegung. Ergebnisse der quantitativen Erhebung, Marburg 2010, S. 3. 90 Deutsche Jugendfeuerwehr, Jugendfeuerwehren strukturfi t für Demokratie, S. 9.

157 Präventionsmaßnahmen

rechtsextreme Ideologien verstecken könnten, was jektes gebührend an“ und beschloss einstimmig dagegen unternommen werden kann, wie Argu- dessen Weiterführung.97 Am 12. Juni 2010 verab- mentationen gegen rechtsextreme Äußerungen schiedeten die Delegierten der Deutschen Jugend- lauten können und wie sich Jugendfeuerwehrwar- feuerwehr eine Resolution gegen demokratiefeind- te/innen und andere Engagierte dann am besten liches Verhalten und legten unter anderem fest: verhalten“.91 Erweitert werden die praktischen An- „Die Jugendfeuerwehr steht für Zivilcourage, Hilfs- leitungen durch Fallbeispiele, zahlreiche Spiel- und bereitschaft und Demokratie. Die engagierten Mit- Diskussionsanregungen, Ausführungen zu den glieder gestalten eine Gemeinschaft, in der Vielfalt anzuwendenden Methoden, ein Glossar, Literatur- und Pluralität geachtet werden. Diskriminierung empfehlungen und Adresslisten mit Ansprechpart- aufgrund von Nationalität, Herkunft, Geschlecht, nern. Die Handreichung soll somit „Hilfestellungen Religion oder Hautfarbe und vermeintlich nicht im Umgang mit Diskriminierungen, Ausgrenzun- der ‚Norm‘ entsprechenden Mitmenschen stehen gen, Vorurteilen, Vorfällen rechtsextremer Gewalt, im Widerspruch zum Vielfaltgedanken. Schon des- Sprüchen, Witzen oder rassistischen, heterosexis- halb schließen sich demokratiefeindliche Agitation tischen Äußerungen“ liefern, die sich im Ideal- und Mitgliedschaft in der Feuerwehr aus.“98 fall „ohne Aufwand in Bestehendes integrieren lassen – ohne als Zusatzaufgabe wahrgenommen 2. Instrumente zur Prävention und Bekämpfung zu werden“.92 von Antisemitismus

Als Folge des Projekts wurden in einigen Bundes- Seit 1945 hat sich trotz der unterschiedlichen poli- ländern digitale Meldesysteme auf den Webseiten tischen Systeme in beiden deutschen Staaten die der Landesjugendfeuerwehren eingerichtet. Die Meinung durchgesetzt, mit historischer Bildung Brandenburger Arbeitsgruppe „Demokratiepart- präventiv gegen jede Form rassistischer, antisemiti- ner“ konzipierte hierfür die Seite www.braunmel- scher oder anderer menschenfeindlicher Einstellun- der.de, die es ermöglicht, Vorfälle zu melden93 und gen vorgehen zu können. Dabei spielten die Bestre- Informationen zum Modellprojekt „Jugendfeuer- bungen ehemaliger KZ-Häftlinge eine wichtige wehren strukturfi t für Demokratie“ zu erhalten. Rolle, die bereits in der frühen Nachkriegszeit die Weiterhin ist geplant, die Internetseite als zentrale Forderung aufstellten, dass aus der Geschichte für Onlinemeldestelle aller Bundesländer einzufüh- ein „Nie wieder“ gelernt werden müsse, aber auch ren, über die der Kontakt zu den regionalen Ar- Ereignisse, wie die antisemitischen Schmiere reien beitsgruppen ermöglicht werden soll.94 Alternativ an der Kölner Synagoge im Dezember 1959, in deren besteht auch die Möglichkeit, die Ansprechpartner Folge die Vermittlung der Geschichte des National- der jeweiligen Länder direkt zu kontaktieren.95 sozialismus in die schulischen Curricula aufgenom- men wurde. Theodor Adornos Rede über die „Erzie- Zu den erprobten Aktivitäten und durchgesetzten hung nach Auschwitz“ schließlich wurde und wird Neuerungen des Modellprojekts gehörten 2010 bis heute verkürzend auf die alleinige Möglichkeit die Durchführung von Seminaren zum Thema reduziert, mit Auschwitz könne aus der Geschichte Rechtsextremismus (zum Teil in Kooperation gelernt werden. Dabei gerät leicht der originäre mit den Mobilen Beratungsteams gegen Rechts- historische Bildungsauftrag der Gedenkstätten extremismus oder dem Verfassungsschutz), die und Dokumentationszentren aus dem Blick, und Schaffung einer Referentenstelle mit dem Arbeits- mit dem Besuch einer NS-Gedenkstätte oder einem schwerpunkt „Arbeit gegen Rechtsextremismus“ Zeitzeugengespräch mit einem Überlebenden wird (Sachsen-Anhalt) und die Eingliederung eines die Erwartung verbunden, die Konfrontation mit Moduls gegen Rechtsextremismus in die Jugend- Geschichte werde das Überdenken rechter Positio- leiterausbildung.96 nen zwangsläufi g erzwingen.

Aufgrund der erzielten Ergebnisse erkannte der Der unabhängige Expertenkreis hebt hervor, dass Deutsche Jugendfeuerwehrausschuss im März 2010 eine nachhaltige und erfolgreiche Prävention und „die Arbeit und das Engagement des Modellpro- Bekämpfung antisemitischer Einstellungen nur

91 Zudem fanden Schulungen zum Handbuch für Multiplikatoren statt. Ebenda, S. 26. 92 Deutsche Jugendfeuerwehr, Demokratie steckt an, S. 9. 93 Als mögliche Meldungen werden genannt: antisemitische Sprüche, rassistische Witze, Diskriminierungen oder Beleidigungen aufgrund von Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder sexueller Orientierung, Tragen der Kleidung der Marke Thor Steinar oder ähnliches, das öffentliche Hören rechtsextremer Musik im Gerätehaus oder das Engagement in der NPD oder einer Kamerad- schaft, http://www.braunmelder.de/ueber_braunmelder.htm [eingesehen am 2. April 2011]. 94 Deutsche Jugendfeuerwehr, Jugendfeuerwehren strukturfi t für Demokratie, S. 29. 95 Deutsche Jugendfeuerwehr, Demokratie steckt an, S. 26. 96 Ebenda, S. 61. 97 Deutsche Jugendfeuerwehr, Jugendfeuerwehren strukturfi t für Demokratie, S. 35. 98 http://demokratie.jugendfeuerwehr.de/94-0-Klares-Signal.html [eingesehen am 2. April 2011].

158 Präventionsmaßnahmen mit Hilfe eines breit gefächerten Instrumentariums dar. Die Kenntnis um den historischen Antisemi- erfolgen kann. Es erscheint sinnvoll, sich nicht auf tismus ist beispielsweise eine wichtige Vorausset- eine der folgenden Maßnahmen zu beschränken, zung, um das Phänomen des aktuellen Antisemitis- sondern sich darum zu bemühen, diese in einem mus verstehen zu können. Wenn der systematische koordinierten Verfahren einzusetzen beziehungs- Massenmord an den Juden in eine weiter gefasste weise je nach Situation die eine oder andere zu nut- Darstellung von Verfolgung und Diskriminierung zen. Das setzt zwar eine weitreichende Qualifi kation eingebettet wird, kann man durch historisch- und Refl exion der Mitarbeitenden in Einrichtungen politische Bildung auch lernen, durch welche und Projekten voraus, berücksichtigt aber eine gesellschaftlichen Strukturen die Verbreitung grundsätzliche Prämisse im Bildungsprozess: Es (nicht nur) antisemitischer Einstellungen begünstigt gibt kein „Schema F“. Jede Situation ist individuell wird und welche Folgen dies haben kann. Dieser zu begutachten und dann mit der spezifi sch not- Bildungsprozess soll nicht verkürzende Paralleli- wendigen und sinnvollen Methode zu bearbeiten. sierungen oder falsche Aktualisierungen hervor- rufen. Es geht vielmehr darum, durch die spezifi - 2.1. Historisch-politische Bildung sche Auswahl von Themen und Dokumenten die Adressaten zu sensibilisieren.100 Die Vermittlung von Kenntnissen über den Nati- onalsozialismus und die Verfolgung und Ermor- 2.2. Gegenwartsbezogene themenspezifi sche dung der europäischen Juden ist bis heute von Ansätze großer Bedeutung: Denn die in dieser Zeit began- genen Verbrechen besitzen eine solche Dimension, Antisemitismuskritische Bildungsarbeit muss dass die Folgen insbesondere für die Nachkommen dementsprechend über eine historisch-politische der Opfer, aber auch für die Nachkommen der Täter, Bildung hinausgehen und aktuelle Ausprägun- Mitläufer, Zuschauer und wenigen Widerständi- gen des Antisemitismus thematisieren. Auf der gen bis auf den heutigen Tag zu spüren sind. Das Grundlage der Kenntnisse aus der Praxis wie der Wissen um die Geschichte des Nationalsozialismus Empirie lassen sich vor allem vier Themenfelder und seiner Massenverbrechen ist unabdingbarer identifi zieren, die für eine Pädagogik, die sich Bestandteil eines verantwortungsvollen Umgangs kritisch mit Antisemitismus auseinandersetzt, von mit der eigenen Geschichte und eine wesentliche zentraler Bedeutung sind: der Nahostkonfl ikt, der Voraussetzung für die aktuelle Positionierung Islamismus, der sekundäre Antisemitismus sowie gegenüber den Phänomenen Antisemitismus und die „verkürzte Ökonomiekritik“. In der Arbeit mit Rassismus. Die Auseinandersetzung mit diesem herkunftsheterogenen Gruppen, insbesondere mit historischen Erbe ist eines der Kernelemente muslimisch geprägten Jugendlichen, müssen dabei unserer heutigen politischen Kultur. Sie stellt spezifische Bezüge, Entstehungskontexte und jedoch kein alleiniges Präventivmittel gegen anti- Verschränkungen unterschiedlicher Erfahrungen semitische oder rechtsextreme Einstellungen dar. berücksichtigt werden.

Aufklärung über den Holocaust kann Jugendliche Der Nahostkonfl ikt dient häufi g als Katalysator und für die Gefahren des Antisemitismus sensibilisieren, Projektionsfl äche für antisemitische Stereotype aber sie ist nur ein bedingt geeignetes Mittel, aktuel- und Deutungsmuster – nicht nur, aber verstärkt le Formen der Judenfeindschaft zu bekämpfen. unter muslimischen Jugendlichen. Beim Nahost- Die „Holocaust Education“, die nicht zur Antisemitis- konfl ikt zeigen viele Jugendliche emotionale und musprävention entwickelt wurde, stößt hier häufi g identitäre Bezüge, sodass sie sich als Gegenspieler „an ihre Grenzen“.99 Da jedoch Pädagoginnen und „der Juden“ sehen. Dem Staat Israel werden das Pädagogen vielfach vor dem schwierigen Thema des Existenzrecht und das Recht auf Selbstverteidi- aktuellen Antisemitismus zurückweichen, auch weil gung abgesprochen. Es erfolgt eine Gleichsetzung dies eine Selbstrefl exion über mögliche eigene Vor- von „den Juden“, Israel und Zionismus. behalte gegenüber Juden erfordert, wird häufi g auf das vermeintlich probate Mittel der Beschäftigung In der islamistischen Propaganda (→ Antisemitis- mit dem Nationalsozialismus zurückgegriffen. mus im Islamismus) kommt der Judenfeindschaft eine zentrale Rolle zu. Historisch wie aktuell wer - Auch wenn historisch-politische Bildung allein den politische, ökonomische und kulturelle Ereig- nicht zur Prävention oder gar zur Abkehr von nisse mit vermeintlich bösen Absichten „der Juden“ antisemitischen Einstellungen dient, so stellt sie erklärt. Islamismus vermittelt ein dichotomes Welt- dennoch ein wichtiges Element in diesem Kontext bild, in dem „die Juden“ (und oft auch allgemein

99 OSCE/ODIHR, Antisemitismus Thematisieren, S. 5 f. 100 Hierzu u. a. die Richtlinien der International Task Force for Holocaust Remembrance and Research, http://www.holocausttaskforce.org/education/guidelines-for-teaching/how-to-teach-about-the-holocaust.html?lang=de [eingesehen am 26. Januar 2011].

159 Präventionsmaßnahmen

die westliche Zivilisation) das feindliche Gegen- Häufi ger bezieht sich die Begegnungspädagogik auf über darstellen. Tradierte antisemitische Bilder die Begegnung zwischen Nichtjuden und Juden, „vom Juden“ als „raffend“, „geldgierig“ und „ver- durch die möglicherweise vorhandene Stereotype schlagen“ fi nden in einer Welt, in der die Schere und Vorurteile irritiert werden und ein Umdenken zwischen arm und reich immer weiter auseinan- angeregt werden soll. In den vergangenen Jahren dergeht und die geprägt ist von ökonomischen handelte es sich vor allem um Zeitzeugengespräche Krisen, regen Zuspruch. Sie bieten scheinbar die mit Überlebenden, die ihre Geschichte erzählen. Möglichkeit, sich selbst und anderen unverstan- Dabei ging es und geht es auch heute immer noch dene gesellschaftliche Gefüge und vermeintlich darum, im persönlichen Gespräch Empathie für die undurchsichtige Machtverhältnisse erklärbar zu Leiden der (jüdischen) Opfer im Nationalsozialis- machen. Die Personalisierung ökonomischer und mus zu erzeugen. Mit zunehmendem zeitlichen gesellschaftlicher Strukturen, also die Reduzie- Abstand zur NS-Vergangenheit tritt an die Stelle des rung komplexer Prozesse auf das Wirken einzelner Zeitzeugengesprächs zunehmend die Begegnung Personen, gehört ebenso zum Repertoire anti- mit jüdischen Jugendlichen und Erwachsenen.102 semitisch aufl adbarer Denkmuster wie die analyti- sche Trennung der Zirkulations- und Finanzsphäre 2.4. Pädagogik der Anerkennung von der Produktion. Wenn Menschen im Sinne der These Wilhelm 2.3. Begegnungspädagogik Heitmeyers aufgrund mangelnden Selbstbewusst- seins zu antisemitischen (und anderen menschen- Begegnung als pädagogische Maßnahme bezieht feindlichen) Einstellungen neigen, so kann eine sich auf unterschiedliche Formen und Beteiligte. Maßnahme in der Stärkung der Persönlichkeit der Da ist zunächst die Begegnung zwischen den Multi- betreffenden Person liegen. Die Gründe für wenig plikatoren und Adressaten. Erstere kommen in der ausgeprägtes Selbstbewusstsein können vielfältig Regel aus einem anderen wirtschaftlichen und sein. Für diesen Kontext relevant sind vor allem sozialen Kontext als ihre Adressaten und haben in eine schlechte soziale Situation und mangelnde Bil- vielen Fällen auch einen anderen Bildungshinter- dung, die beide nicht näher erläutert werden müs- grund. Wenn die Adressaten über einen Migrations- sen, aber auch die – vor allem von Jugendlichen hintergrund verfügen, unterscheidet sich meistens mit Migrationshintergrund wahrgenommene – auch der kulturelle Hintergrund von Multiplikator Nichtbeachtung der eigenen Herkunftsgeschichte und Adressat.101 Gerade im Kontext der historisch- durch die Mehrheitsgesellschaft, die vielfach zu politischen Bildung zur Geschichte des National- einer Unkenntnis der eigenen Familiengeschichte sozialismus, des Holocaust und des Antisemitismus führt. Diese Nichtbeachtung und Unwissenheit existieren weitreichende wechselseitige Vorannah- kann von den Jugendlichen bewusst oder unbe- men. Die Adressaten von pädagogischen Maßnah- wusst mit dem Stellenwert der Geschichte des men meinen genau zu wissen, wer die Personen sind, Nationalsozialismus im gesellschaftlichen Diskurs die diese Maßnahmen durchführen, ebenso wie die kontrastiert werden und in manchen Fällen zu so durchführenden Pädagogen oder Multiplikatoren massiven Erinnerungskonkurrenzen führen, dass vielfach der Überzeugung sind, ihre Adressaten auf- antisemitische Äußerungen die Folge sind.103 Auch grund einzelner Aussagen schnell kategorisieren zu bei Erwachsenen können sich Erinnerungskon- können. Ein langfristiger Prozess kann diese wechsel- kurrenzen entwickeln. Aufgrund ihrer Kenntnis seitigen Bilder irritieren, und durch ein Miteinander, der Geschichte und der vielfach real vorhande- das auf gegenseitigem Respekt basiert, können neue nen eigenen (leidvollen) Erinnerung besteht bei Positionen diskutiert und erstritten werden. Dabei Nichtwahrnehmung und fehlender Anerkennung ist wesentlich, dass die Adressaten erleben, dass trotz die Möglichkeit, dass antisemitische Aussagen als inhaltlicher Differenzen ein freundlicher Umgang Stellvertreterdiskurs geäußert werden. Gelingt möglich ist. es im pädagogischen Prozess, den Adressaten auf

101 Rainer Geißler, Die Metamorphose der Arbeitertochter zum Migrantensohn. Zum Wandel der Chancenstruktur im Bildungssys- tem nach Schicht, Geschlecht, Ethnie und deren Verknüpfungen, in: Peter A. Berger/Heike Kahlert (Hrsg.), Institutionalisierte Ungleichheiten. Wie das Bildungswesen Chancen blockiert, Weinheim/München 2005, S. 71–100; Rainer Geißler/Sonja Weber- Menges. Bildungsungleichheit – Eine deutsche Altlast. Die bildungssoziologische Perspektive, in: Heiner Barz (Hrsg.), Handbuch Bildungsfi nanzierung, Wiesbaden 2010, S. 155–165. 102 Begegnungen mit Juden wurden zum Beispiel durch Studienreisen nach Israel ermöglicht. Die Erkenntnisse dieser Reisen sind ausnahmslos positiv. Hierzu Elke Gryglewski, Diesseits und jenseits gefühlter Geschichte. Zugänge von Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu Shoa und Nahostkonfl ikt, in: Georgi/ Ohliger, Crossover Geschichte, S. 237–245; Mit muslimischen Jugendlichen Israel bereisen, Dokumentarfi lm KIgA 2010. 103 So formulieren Jugendliche mitunter, es ginge „immer nur um die Juden“, „keiner kümmert sich um uns“ und „die Deutschen trauen sich wegen des Nationalsozialismus nicht, Israel zu kritisieren“. Unter anderem Äußerungen Jugendlicher arabischer und palästinensischer Herkunft im Rahmen des Projekts „Zugangsmöglichkeiten zur Verfolgungsgeschichte der europäischen Juden für Jugendliche mit Migrationshintergrund“, das 2007/2008 als Kooperation zwischen dem Haus der Wannsee-Konferenz und dem Jugendclub Karame e. V. stattfand.

160 Präventionsmaßnahmen unterschiedlichen Ebenen zu signalisieren, dass sie Antisemitismus, dass selbst Erwachsene, die das mit ihrem kulturellen, sprachlichen und histo- Vorhandensein eigener antisemitischer Stereotype rischen familiären Hintergrund anerkannt und strikt von sich weisen würden, solche Vorurteile wertgeschätzt werden, bleiben solche Äußerungen unbedarft weitergeben, wenn ihnen nicht die mehrheitlich aus. Pädagoginnen und Pädagogen Möglichkeit zur Selbstrefl exion und inhaltlichen sprechen in diesen Fällen vielfach von einer „Päda- Fortbildung geboten wird.105 gogik der Anerkennung“.104 3. Programme zur Förderung Wichtig ist hervorzuheben, dass es sich bei der demokratischer Kultur Pädagogik der Anerkennung nicht um eine Vor- gehensweise handelt, die jede problematische 3.1. Die Vorgeschichte Äußerung unkommentiert im Raum stehen lässt, weil die schlechte soziale Situation von vornehe- Seit Anfang der 1990er-Jahre reagiert die Politik auf rein als Entschuldigung mitgedacht wird. Im den Anstieg von Rechtsextremismus und Fremden- Gegenteil: Anerkennung bedeutet, die Adressaten feindlichkeit, insbesondere bedingt durch die ernst zu nehmen, ihnen die Problematik möglicher Gewaltwelle im Herbst 1992, mit spezifischen Aussagen widerzuspiegeln und ihnen durch die präventiv-pädagogisch ausgerichteten Program- Auseinandersetzung die Chance zu geben, etwas men. Die damalige Bundesregierung initiierte das zu lernen. Führt man diesen Gedanken fort, wird Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt deutlich, dass mangelnde reale Chancen (beispiels- AgAG (1992–1996)106, das mit seiner Fokussierung weise in der Ausbildung oder im Berufsleben) zur auf „aggressive Jugendliche“ eine täterorientierte Herausbildung antisemitischer Einstellungen und tertiäre Prävention, also die Eindämmung einer anderer Formen gruppenbezogener Menschen- bereits existierenden rechtsextremistischen feindlichkeit beitragen können. Ohne diesen oder antisemitischen Haltung, darstellte. Diese Aspekt im Detail zu diskutieren, weist der unab- Ausrichtung stieß auf heftige Kritik, da damit die hängige Expertenkreis darauf hin, dass in diesen gesamtgesellschaftliche Dimension des Rassismus Fällen der Pädagogik Grenzen gesetzt und Politik und der Fremdenfeindlichkeit von der Mitte der beziehungsweise Gesellschaft allgemein gefragt Gesellschaft an den Rand („aggressive Ostjugend- sind. Je nach Ausprägung der Haltungen und den liche“) verschoben wurde. Darüber hinaus schien als Folge zustande kommenden Taten geht dies bis die Bundesregierung „die bewährten westlichen hin zu einer strafrechtlichen Verfolgung. Jugendhilfestrukturen und pädagogischen For- mate“ ohne eine notwendige Modifi zierung auf 2.5. Zielgruppen der pädagogischen Prävention die neuen Bundesländer übertragen zu wollen, was ebenso kritisiert wurde wie die gewünschte Präventionsmaßnahmen richten sich vor allem an Einbettung des Programms in die „akzeptierende“ diejenigen Adressaten, die nicht über ein geschlos- Jugendarbeit des AgAG. senes antisemitisches Weltbild verfügen, bezie- hungsweise diejenigen, die in ihrer Meinungsfi n- Mit der Einführung des „Aktionsprogramms dung noch schwankend sind. Weiterhin hebt der Jugend für Toleranz und Demokratie gegen Rechts- unabhängige Expertenkreis hervor, dass Maßnah- extremismus, Fremdenfeindlichkeit und Anti- men zur Prävention und Bekämpfung von Anti- semitismus“, dessen Auslöser der Anschlag auf die semitismus sich sowohl an Jugendliche als auch an Synagoge in Düsseldorf im Oktober 2000 bildete, Erwachsene richten müssen, da die Bestandsauf- reagierte die Bundesregierung erneut auf Diskus- nahme gezeigt hat, dass antisemitische Stereotype sionen in der Gesellschaft über den Anstieg des und Haltungen in unterschiedlichen Altersstufen Rechtsextremismus. Um die fehlende Nachhaltig- vorhanden sind, nicht nur bei jungen Menschen. keit des Vorgängerprogramms zu berücksichti- Die pädagogische Arbeit mit Jugendlichen ist gen, wurde die Bedeutung zivilgesellschaftlicher deshalb nur bedingt erfolgreich, wenn diese aus Organisationen bei der Bekämpfung des Rechts- einem Umfeld kommen, in dem die Erwachsenen extremismus hervorgehoben. Zudem setzte sich selbst unverändert antisemitische Einstellungen die Erkenntnis durch, dass es sich nicht nur um ein vertreten. Auch gilt insbesondere im Hinblick auf Problem „gewaltbereiter“ Jugendlicher handelte,

104 Jochen Müller zur Haltung der Pädagogen. Der pädagogische Ansatz von KIgA e. V., Miphgasch/Begegnung e. V., HWK, etc.; Benno Hafeneger/Peter Henkenborg/Albert Scherr (Hrsg.), Pädagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder, Schwalbach/Ts. 2002. 105 U. a. Heike Radvan, Pädagogisches Handeln und Antisemitismus. Eine empirische Studie zu Beobachtungs- und Interventions- formen in der offenen Jugendarbeit, Bad Heilbrunn 2010. 106 Folgende Ausführungen basieren auf dem Abschlussbericht zur Evaluation des Berliner Landesprogramms gegen Rechts- extremismus, Rassismus und Antisemitismus, http://www.berlin.de/imperia/md/content/lb-integration-migration/themen/ rexpro/rex_abschlussbericht_25_04_2010_bf.pdf?start&ts=1280759427&fi le=rex_abschlussbericht_25_04_2010_bf.pdf [eingesehen am 5. Mai 2011].

161 Präventionsmaßnahmen

sondern eines der politischen Kultur. Die neuen Pro- Fortführung institutioneller und konzeptioneller grammziele sollten mit der Entwicklung und Stär- Ansätze der Programme „Civitas“, „entimon“ und kung der demokratischen Zivilgesellschaft durch „XENOS“rief die Bundesregierung die Nachfolge- politische Bildung, Vernetzung von Initiativen so- programme „VIELFALT TUT GUT. Jugend für Vielfalt, wie den Aufbau von Beratungsstrukturen erreicht Toleranz und Demokratie“ (im Folgenden: „Vielfalt werden. In diesem Rahmen wurden zwischen 2001 tut gut“), „kompetent. für Demokratie – Beratungs- und 2006 drei Teilprogramme umgesetzt. Mit netzwerke gegen Rechtsextremismus“ (im Folgen- „CIVITAS – Initiativ gegen Rechtsextremismus in den: „kompetent. für Demokratie“) und „XENOS – den neuen Bundesländern“ wurden Maßnahmen Integration und Vielfalt“ (2008–2014) ins Leben. Seit zur Stärkung der demokratischen Kultur und zur Anfang 2009 werden im Rahmen des vom Bundes- Bekämpfung des Rechtsextremismus in den neuen ministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) neu Bundesländern gefördert. Hierzu gehörten bei- aufgelegten XENOS-Sonderprogramms „Ausstieg spielsweise der Aufbau mobiler Beratungsteams zum Einstieg“ insgesamt 15 Aussteigerinitiativen sowie Beratungsstellen für Opfer und Aktivitäten mit einem Fördervolumen von 5,8 Millionen Euro zur Stärkung und Entwicklung zivilgesellschaftli- gefördert, davon 4,4 Millionen aus Mitteln des cher, demokratischer Strukturen im Gemeinwesen, Europäischen Sozialfonds und 1,4 Millionen aus der Aufbau regionaler Netzwerkstellen sowie die eigenen Bundesmitteln. Im Fokus stehen Ausstei- Förderung überregionaler Modellprojekte. Über gerinitiativen und Aktionen, die vor Ort rechtsex- das Förderprogramm „entimon – Gemeinsam tremen Tendenzen entgegenwirken und neue Ideen gegen Gewalt und Rechtsextremismus“ wurden entwickeln, um Ausstiegswilligen zu helfen, wieder Projekte zur Stärkung von Demokratie und Toleranz in Gesellschaft, Arbeit und Ausbildung zu gelangen. und zur Prävention und Bekämpfung von Rechtsex- Mehr als die Hälfte der geförderten Aussteigerinitia- tremismus und Gewalt im gesamten Bundesgebiet tiven sind in den neuen Bundesländern aktiv. gefördert. Darunter fi elen lokale Netzwerke, Metho- den interkulturellen Lernens und die politische Bil- Ziel des Programms war der Aufbau einer Bera- dungsarbeit. Wie in den Leitlinien des Programms tungsstruktur gegen Rechtsextremismus, die be- vorgesehen, wurden die Eigen- und Drittmittelan- rücksichtigt, dass alleine durch die Arbeit lokaler teile bei mehrjährigen Projekten im Wesentlichen Initiativen und Projekte das Problem von verfestig- durch Mittel der Länder und Kommunen konti- ten rechtsextremen Einstellungen und der zuneh- nuierlich angehoben. Im letzten Programmjahr menden Verwurzelung rechtsextremer Strukturen 2006 erreichten die Projkete im Durchschnitt einen nicht bekämpft werden kann.109 Um eine zielorien- Ko-Finanzierungsanteil von etwa 24 Prozent.107 Das tierte, kompetente Beratung und Unterstützung dritte Teilprogramm „XENOS – Leben und Arbei- der Akteure vor Ort umzusetzen, initiierte der ten in Vielfalt“ verband arbeitsmarktbezogene Bund im Rahmen des Förderprogramms „kompe- Maßnahmen mit Aktivitäten gegen Rassismus und tent. für Demokratie“ den Aufbau von Landeskoor- Diskriminierung. Es ergänzte mit seiner arbeits- dinierungsstellen, landesweiten Beratungsnetz- marktlichen Ausrichtung bestehende Initiativen werken und mobilen Interventionsteams, die mit und Bundesprogramme. XENOS wurde durch das jährlich 5 Millionen Euro in den 16 Bundesländern Bundesministerium für Arbeit und Soziales aus gefördert wurden. Mitteln des Europäischen Sozialfonds gefördert. Die ersten beiden Programme waren dem Bundesmi- 3.2. Landesprogramme nisterium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zugeordnet. Der Bund fi nanzierte rund 4.500 Pro- Neben den Initiativen des Bundes entstanden in jekte, Initiativen und Maßnahmen im präventiv- einer Reihe von Bundesländern eigene Programme pädagogischen Bereich mit etwa 192 Millionen gegen Rechtsextremismus: „Berliner Landespro- Euro, wobei auf Civitas 52 Millionen, entimon gramm gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeind- 65 Millionen und auf den Programmteil XENOS lichkeit und Antisemitismus“, „Beratungsnetzwerk 75 Millionen entfi elen.108 gegen Rechtsextremismus in Rheinland-Pfalz“, „beratungsNetzwerk hessen – Mobile Intervention Die nächste Runde der Programme gegen Rechts- gegen Rechtsextremismus“, „Jugend für Demo- extremismus (2007–2010) wurde auf öffentlichen kratie, Menschenrechte und Toleranz – gegen Druck hin wegen der Wahlerfolge rechtsextremer Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ (Bremen), Parteien und einiger spektakulärer Gewalttaten „Beratungsnetzwerk gegen Rechtsextremismus initiiert. Auf Grundlage der Weiterentwicklung und im Saarland“, „Tolerantes Brandenburg“, „Welt-

107 Ebenda, S. 44. 108 Abschlussbericht zur Umsetzung des Aktionsprogramms „Jugend für Demokratie und Toleranz – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“. S. 4, http://www.entimon.de/content/e28/e45/e826/Abschlussbericht_zum_ Aktionsprogramm.pdf [eingesehen am 5. Mai 2011]. 109 Abschlussbericht der Bundesprogramme „Vielfalt tut gut. Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie“ und „kompetent für Demokratie – Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus“, Förderphase 2007–2010. S. 11.

162 Präventionsmaßnahmen offenes Sachsen für Demokratie und Toleranz“, gramm „respectABel“, das seit 2001 Kleinprojekte „Demokratie und Toleranz gemeinsam stärken!“ unterstützt, die gegen fremdenfeindliche, rassis- (Mecklenburg-Vorpommern), „Thüringer Landes- tische und antisemitische Einstellungen sowie programm für Demokratie, Toleranz und Welt- gegen Gewalt aktiv sind. Eine Suchabfrage in der offenheit“ (seit 2010). Projektdatenbank der Homepage ergab, dass in den respectABel-Programmen „Aktion Berlin“ Exemplarisch werden im Folgenden die Konzep- und „Zeitensprünge“ und durch das Programm te und Strategien des Landes Berlin im Bereich „Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen der Antisemitismusbekämpfung dargestellt. Seit Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Anfang der 1990er-Jahre setzen sich die Berliner Antisemitismus“112 in den Jahren 2002 bis 2010 in Politik und Verwaltung intensiv mit dem Themen- Berlin 606 Projekte gefördert wurden, darunter feld auseinander. Basierend auf den gewonnenen 32 zum Antisemitismus. Davon arbeiteten aller- Erfahrungen und Erkenntnissen, entwickelte das dings bei näherer Betrachtung lediglich fünf Land im Jahr 2007 das Berliner Integrationskon- Projekte explizit zum Thema Antisemitismus, zept „Vielfalt fördern – Zusammenhalt stärken“ zwölf Projekte beschäftigten sich mit dem The- und 2008 die „Berliner Landeskonzeption gegen menfeld Holocaust, und die übrigen behandelten Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemi- Antisemitismus nur im Kontext interreligiöser tismus“. Dabei wurde die Integrationspolitik als Annäherung oder unspezifi sch im Gesamtkontext „wichtiger Baustein im Handeln gegen Rechts- von Rechtsextremismus oder Gewaltprävention.113 extremismus, Rassismus und Antisemitismus“ Die geringe Zahl der Projekte gegen Antisemitis- gesehen. Die beiden Konzeptionen stellen die mus in neun Jahren überrascht zunächst, erklärt Grundlage für Fördermaßnahmen dar, die vom sich dann aber, wenn sie im Zusammenhang Integrationsbeauftragten des Berliner Senats mit den in Berlin umgesetzten Modellprojekten gefördert wurden. Im Landesprogramm fi ndet die des Programms „Vielfalt tut gut“ gesehen wird. Bekämpfung antisemitisch motivierter Diskrimi- Der Evaluationsbericht des Berliner Landespro- nierungen und Gewalttaten eine besondere Be- gramms verweist auf die Konzentration von Mo- achtung. Erwähnt wird Antisemitismus in diesem dellprojekten in Berlin (5 von 18).114 Berlin hat sich Zusammenhang auch als „problematische Ent- mit vielen innovativen Projekten – mit bundeswei- wicklung innerhalb von Migranten-Communities“ ter Ausstrahlung – zu einem Kompetenzzentrum neben Ethnozentrismus und Gewaltakzeptanz.110 im Handlungsfeld „Antisemitismus“ entwickelt.

Das Landesprogramm erfüllt zudem eine wichtige Dabei spielt auch der bundesweite Netzwerkver- Funktion bei der Ko-Finanzierung von Projekten, bund „Task Force Education on Antisemitism“ eine die durch Bundesprogramme wie „Vielfalt tut gut“ bedeutende Rolle, der die wichtigsten NGOs, die gefördert werden. Landesmittel sind neben Bun- zum Thema Antisemitismus arbeiten, zusammen- desmitteln durch „kompetent. für Demokratie“ führt und vom Berliner Büro des American Jewish auch zur Sicherstellung der Beratungsnetzwerke Committee (AJC) koordiniert wird. Seit 2002 treffen zur Verfügung gestellt worden. Allerdings wird im sich mehrmals jährlich Praktiker der schulischen Evaluationsbericht des Programms auf den Mangel und außerschulischen Bildung sowie Wissen- an „systematischen Überlegungen zu den Förder- schaftler, um sich fachlich auszutauschen und strategien von Bund und Land, ihren möglichen interne Fortbildungen für die Beteiligten zu orga- Synergien und Konfl iktpotenzialen“ hingewiesen.111 nisieren. Durch die Möglichkeit des regelmäßigen intensiven Austausches werden Grundlagen für Außer dem Landesprogramm fördern andere künftige Strategien zur Bekämpfung des Antisemi- Fachverwaltungen einzelne Projekte, die im tismus erarbeitet, die in die pädagogische Arbeit Kontext der Antisemitismusprävention relevant der vertretenen Organisationen einfl ießen. sind. Die Senatsverwaltung für Bildung, Wissen- schaft und Forschung fördert die „Standpunkte- 3.3. Bundesprogramm: „Vielfalt tut gut“ Pädagog/innen gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus“ und das deutsch-amerikanische Mit dem Ziel, Vielfalt, Toleranz und Demokratie Demokratieprojekt „Hands across the campus“. als zentrale Werte der Gesellschaft zu festigen und Zu erwähnen ist auch das Jugendförderpro- mit präventiv-pädagogischen Maßnahmen Kinder

110 Abschlussbericht zur Evaluation, S. 69. 111 Ebenda, S. 72. 112 Das Programm „Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ umfasste während seiner Laufzeit von 2001 bis 2006 die Teilprogramme CIVITAS, entimon und Xenos. Das Programm „Vielfalt tut gut. Jugend für Vielfalt, Demokratie und Toleranz“ wurde in den Jahren 2007 bis 2010 umgesetzt. 113 http://respectabel.de/ger/lap/foerderprojektet.php [eingesehen am 5. Mai 2011]. 114 Fünf von 18 Modellprojekten wurden in Berlin und weitere zwei Modellprojekte von in Berlin ansässigen Trägern umgesetzt; Abschlussbericht zur Evaluation, S. 142 f.

163 Präventionsmaßnahmen

und Jugendliche für ein demokratisches und fried- Als Hauptzielgruppe wurden mit 35 Prozent am liches Miteinander zu gewinnen, wurde 2007 das häufi gsten „junge Menschen in strukturschwa- Bundesprogramm „Vielfalt tut gut“ initiiert. Das chen Regionen und Kommunen“ genannt, gefolgt Programm hatte zwei Schwerpunkte:115 von „Kindern und jüngeren Jugendlichen“ mit 27 Prozent. Dabei richteten sich 48 Prozent der 1. Förderung Lokaler Aktionspläne (LAP) in Maßnahmen an Kinder und Jugendliche zwischen kommunaler Verantwortung zur Stärkung der 13 und 18 Jahren, darunter vor allem „Projekte der Demokratieentwicklung vor Ort außerschulischen Bildung“ (14 Prozent), gefolgt Lokale Aktionspläne sind Steuerungsinstrumente von „Diskussions- und Informationsveranstaltun- zur Demokratieentwicklung und nachhaltigen gen (12 Prozent), Aktionstagen (11 Prozent) und Entwicklung von lokalen Bündnissen gegen Rechts- Kulturprojekten (10 Prozent).116 extremismus. In Abstimmung mit den Ländern und kommunalen Spitzenverbänden stufte das Bun- Aus dem Abschlussbericht der Bundesprogramme desministerium für Familie, Senioren, Frauen und wird nicht ersichtlich, wie viele von den 5.000 Pro- Jugend 90 Regionen als besonders förderbedürftig jekten sich schwerpunktmäßig mit Antisemitismus ein. Dort wurden Koordinierungsstellen eingerich- beschäftigten. Jedoch konnte anhand einer nicht tet, über die jährlich 100.000 Euro (für Einzelpro- repräsentativen Auswahl von „Einzelprojekten zur jekte bis zu 20.000 Euro) für Maßnahmen verteilt Bekämpfung von Antisemitismus“ im Rahmen der wurden. Welche Projekte in welcher Höhe bezu- Lokalen Aktionspläne Folgendes festgestellt wer- schusst wurden, entschied ein Begleitausschuss, der den (siehe Tabelle).117 mehrheitlich aus zivilgesellschaft lichen Akteuren zusammengesetzt war. Auffällig klein ist die Zahl der Projekte, die im Titel oder in der Kurzbeschreibung das Thema Antise- Die 60 in den neuen und 30 in den alten Bundes- mitismus erwähnen. Bis zur Endphase des Bundes- ländern angesiedelten Lokalen Aktionspläne führ- programms (Stand März 2010) waren es lediglich ten mit einer jährlichen Summe von 9.700.000 Euro 91 Projekte, wobei sich mehr als zwei Drittel (64) in der gesamten Programmlaufzeit etwa 5.000 dem Themenkomplex Holocaust und Erinnerung Projekte durch. 30 Prozent der Projekte wählten (70 Prozent) widmeten. Darunter waren 22 Gedenk- als Förderschwerpunkt den Bereich „Demokratie stättenfahrten (davon 19 nach Auschwitz), 17 Vor- und Toleranzerziehung“, 19 Prozent „Stärkung führungen des Theaterprojektes „Geschichten aus der demokratischen Gesellschaft“ und 16 Prozent dem Tagebuch der Anne Frank“ sowie zehn Präsen- „interkulturelles Lernen/antirassistische Bildung“. tationen der Wanderausstellung „Anne Frank – eine

Historische Bildung Antisemitismus Judentum/ Rechtsextremismus/ zum Holocaust interreligiöser Fremdenfeindlich- Dialog keit/Antisemitismus Hessen 4 2 Mecklenburg-Vorpommern 5 1 Hamburg 2 Berlin 2 1 1 Sachsen 6 Brandenburg21111 Sachsen-Anhalt 8 4 2 Rheinland-Pfalz 1 1 1 Niedersachsen 2 Saarland 4 Bayern 2 Thüringen 8 1 2 2 Nordrhein-Westfalen 3 1 Gesamt (91) 64 14 4 9

115 Abschlussbericht der Bundesprogramme, S. 5. 116 Abschlussbericht der Bundesprogramme, S. 45 ff. 117 Regiestelle Vielfalt: Stand vom 25. März 2011. In der Aufstellung werden Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Bremen nicht genannt, da sich das LAP-Programm vor allem auf die neuen Bundesländer bezog (60 Projekte von insgesamt 90). Nur sieben Projekte wurden in Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Bremen im Rahmen der LAP umgesetzt. In der Stichprobe zu den LAP war kein Projekt dabei, das in diesen drei Bundesländern durchgeführt wurde.

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Geschichte für heute“. Lediglich 14 Projekte (15 Pro- tungen“, durchgeführt von der Jüdischen zent) setzten sich explizit mit dem Thema Antisemi- Gemeinde Landkreis Barnim (2009) tismus auseinander, bei neun Projekten (10 Prozent) wurde das Thema im Kontext der Bekämpfung von ■ „Lernfeld Antisemitismus: pädagogische Rechtsextremismus und Rassismus behandelt. Vier Ansätze, Konzepte und Methoden“: Die Projekte beschäftigten sich mit Judentum, jüdi- Zen tralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutsch- schem Leben und interreligiösem Dialog. land veranstaltete Fortbildungen mit Multi- plikatoren im Landkreis Oberspreewald- Diese Befunde decken sich mit den Ergebnissen Lausitz (2007) einer Befragung von Projekten der Lokalen Akti- onspläne durch das Expertengremium:118 Die von ■ Wanderausstellung „Juden, Christen und den Projektträgern beschriebenen pädagogischen Muslime in Jerusalem“, gezeigt von der Ansätze und Ziele zeigen vielfach, dass Anti- Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thürin - semitismus nicht als spezifi sches Phänomen wahr- gen (2008) genommen wird. So verweisen die Einrichtungen beispielsweise auf die ■ „Schule und Jugendarbeit gegen (neuen) Anti- semitismus“: Das Netzwerk ROPE e. V. entwi- ■ „antirassistische und antifaschistische Arbeit“, ckelte pädagogische Materialien (2007–2008)

■ auf die Arbeit „gegen alle diktatorischen, anti- ■ „Der Kampf gegen Antisemitismus – Funk- humanen, antidemokratischen Einstellungen“, tion und Folgen seiner Verankerung“: Der Förderverein Junger Musiker e. V. in Dessau ■ auf den „aufklärerischen, interkulturellen, hat entsprechende Veranstaltungen durch- antirassistischen, gegen Antisemitismus geführt (2009) gerichtet[en]“ Ansatz ■ „Lehrerfortbildung: Antisemitismus im Klas- oder schließlich senzimmer“: Der Trägerverein Begegnungs- stätte Alte Synagoge Wuppertal organisierte ■ auf die „interreligiöse, antirassistische, anti- Fortbildungen mit den Unterrichtsmaterialien semitische [sic!], begegnungspädagogische, „Antisemitismus in Europa“119 (2009) kulturelle und historisch aufklärerische“ Arbeit. ■ „Jüdisches Leben in der 3. Generation nach Gleichzeitig fällt auf, dass man sich zu einseitig der Shoah in Deutschland“, durchgeführt vom auf die Auseinandersetzung mit dem historischen Aktionsbündnis Courage in Zusammenarbeit Antisemitismus bezieht. „Bewährte“ Aktivitäten mit der Evangelischen Kirchgemeinde Pöß- stehen ganz im Vordergrund: neck/Thüringen (2007)

■ Gedenkstättenbesuche ■ „Auf den Spuren der Anne Frank – Demokratie jetzt erst recht“: Die Freunde und Förderer der ■ Zeitzeugengespräche Mittelschule „Anne Frank“ Stauchitz/Sachsen führten Zeitzeugengespräche durch, orga- ■ Vortragsveranstaltungen zur Geschichte des nisierten einen Ausstellungsbesuch in Berlin Dritten Reichs beim Anne Frank Zentrum und initiierten die Aufführung des Theaterstücks „Das Leben der Um ein Bild von der konkreten Arbeit im Rahmen Anne Frank“ sowie eine Gedenkstättenfahrt der Lokalen Aktionspläne zu vermitteln, sollen hier nach Auschwitz (2009) einige Projekte als Beispiele aufgeführt werden: ■ die Weiterbildungsorganisation „Arbeit und ■ Ausstellung „Antisemitismus in der DDR“, Leben“ des Deutschen Gewerkschaftsbunds gezeigt von der Deutsch-Israelischen Gesell- und der Volkshochschulen Hamburg entwi- schaft Trier (2008) ckelte Module für Qualifi zierungskonzepte für Multiplikatoren mit dem Titel „Was tun gegen ■ „Projekttage und Schulprojekte zum Thema Antisemitismus?!“ (2009) Judentum in Schulen und Jugendeinrich-

118 Das Expertengremium befragte 80 LAP-Projekte. Der Rücklauf war sehr gering, nur zehn Projekte beantworteten die Fragen. 119 http://www.bpb.de/publikationen/UAHJQ8,0,Antisemitismus_in_Europa_Arbeitsmaterialien.html [eingesehen am 5. Mai 2011]; sowie die Handreichungen für Lehrkräfte, http://www.bpb.de/publikationen/V294LR,0,Antisemitismus_in_Europa_ Handreichungen_f%FCr_Lehrkr%E4fte.html [eingesehen am 5. Mai 2011].

165 Präventionsmaßnahmen

2. Förderung von Modellprojekten (MP), ■ TC1: Auseinandersetzung mit historischem und die innovative Ansätze zur Bekämpfung von aktuellem Antisemitismus Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus verfolgen ■ TC2: Arbeit mit rechtsextremistisch gefährde- Seit Förderbeginn 2007 wurden 93 Modellprojekte ten Jugendlichen (MP), davon 42 in den neuen und 24 in den alten Bundesländern sowie 25 länderübergreifend, um- ■ TC3: Präventions- und Bildungsangebote für gesetzt. Die Modellprojekte konnten mit maximal die Einwanderungsgesellschaft 450.000 Euro bis zu drei Jahre gefördert werden, wobei sie eine 50-prozentige Ko-Finanzierung ■ TC4: Frühansetzende Prävention durch Länder, Kommunen, Stiftungen, sonstige Institutionen und/oder Eigenmittel aufbringen Das Bundesprogramm „Vielfalt tut gut“ mit der mussten. Ziel war es, neue Ideen und Methoden Programmsäule Modellprojekte hat zum ersten zu entwickeln und zu erproben. Im Programm Mal in der Geschichte der politischen Programme waren vier Themencluster (TC) mit Unterthemen Antisemitismus als einen eigenständigen festgelegt: Themenschwerpunkt festgelegt, während er bei

Träger Projektbezeichnung Unterthema Hauptzielgruppe Förderzeitraum Bundesland 18 Projekte im Themencluster: „Auseinandersetzung mit historischem und aktuellem Antisemitismus“ KIgA e. V. Pädagogische Module Antisemitismus bei Migranten/ 1.10.2007 bis Berlin gegen Antisemitismus jugendlichen Migrantinnen 30.9.2010 für muslimisch Migranten/-innen geprägte Jugendliche Verein für Demo- amira – Antisemitismus Antisemitismus bei Multiplikatoren/ 1.9.2007 bis Berlin kratische Kultur e. V. im Kontext von Migra- jugendlichen Multiplikatorinnen 31.8.2010 tion und Rassismus Migranten/-innen American Jewish Aktiv gegen Antisemi- Antisemitismus bei Migranten/ 1.4.2008 bis Berlin Committee Berlin tismus – ein Programm jugendlichen Migrantinnen 31.12.2010 mit drei Säulen Migranten/-innen Anne Frank Zentrum Entwicklung und Antisemitismus bei Migranten/ 3.7.2007 bis Länderüber- Berlin e. V. Erprobung eines jugendlichen Migrantinnen 31.10.2010 greifend Materialpakets Migranten/-innen Förderverein Lernort – Zeitgemäße Konzepte Junge Menschen in 1.8.2007 bis Baden- Stuttgarter Gedenkstätte für die Bildungsarbeit strukturschwachen 31.12.2010 Württemberg Jugendhaus e. V. zum Holocaust Regionen und Kommunen IMEDANA – Institut Wenn Mokkatassen Zeitgemäße Konzepte Junge Menschen in 1.9.2007 bis Bayern für Medien- und sprechen – Mediale für die Bildungsarbeit strukturschwachen 31.8.2010 Projektarbeit e. V. Konzepte gegen Anti- zum Holocaust Regionen und semitismus Kommunen Gesicht Zeigen! Erarbeitung eines er- Zeitgemäße Konzepte Kinder und jüngere 15.9.07 bis Berlin Aktion weltoffenes lebnispädagogischen für die Bildungsarbeit Jugendliche 31.12.10 Deutschland e. V. interaktiven Ausstel- zum Holocaust lungskonzeptes STEP 21 – Jugend SELMA Zeitgemäße Konzepte Junge Menschen in 1.9.2007 bis Länderüber- fordert gGmbH für die Bildungsarbeit strukturschwachen 30.9.2008 greifend zum Holocaust Regionen und Kommunen Zentralrat der Juden Likrat – Zeitgemäße Konzepte Multiplikatoren 1.8.2007 bis Länderüber- in Deutschland/ Jugend und Dialog für die Bildungsarbeit 31.7.2010 greifend Hochschule für zum Holocaust Jüdische Studien Stiftung Jugendgäste- Gedenkstätten- Zeitgemäße Konzepte Multiplikatoren 1.10.2007 bis Länderüber- haus Dachau pädagogik und für die Bildungsarbeit 30.9.2010 greifend Gegenwartsbezug zum Holocaust Amadeu Antonio Antisemitismus in Zeitgemäße Konzepte Multiplikatoren 1.9.2007 bis Länderüber- Stiftung Ost und West: für die Bildungsarbeit 31.12.2010 greifend lokale Geschichte zum Holocaust sichtbar machen

166 Präventionsmaßnahmen

Träger Projektbezeichnung Unterthema Hauptzielgruppe Förderzeitraum Bundesland Bildungsverbund für kunst – raum – Zeitgemäße Konzepte Junge Menschen in 1.9.2007 bis Länderüber- die Internationale erinnerung für die Bildungsarbeit strukturschwachen 31.8.2010 greifend Jugendbegegnungs- zum Holocaust Regionen und stätte Sachsen - Kommunen h a u s e n e . V . Landesjugendring Erinnern – Erforschen – Zeitgemäße Konzepte Junge Menschen in 1.1.2007 bis Mecklenburg- Mecklenburg- Konfrontieren für die Bildungsarbeit strukturschwachen 31.12.2010 Vorpommern Vorpommern e. V. zum Holocaust Regionen und Kommunen Stiftung NEUE KULTUR Geschichte erleben in Zeitgemäße Konzepte Junge Menschen in 1.9.2007 bis Mecklenburg- Prora für die Bildungsarbeit strukturschwachen 31.10.2010 Vorpommern zum Holocaust Regionen und Kommunen HATIKVA – Bildungs - Pädagogische Ausei- Zeitgemäße Konzepte Multiplikatoren 1.8.2007 bis Sachsen und Begegnungs- nandersetzung mit für die Bildungsarbeit 31.12.2010 stätte für Jüdische Täterinnen und Tätern zum Holocaust Geschichte und Kultur im Nationalsozialismus Sachsen e. V. Hillersche Villa e. V. Geschichtswerkstatt Zeitgemäße Konzepte Junge Menschen in 1.8.2007 bis Sachsen Hillersche Villa für die Bildungsarbeit strukturschwachen 31.7.2010 zum Holocaust Regionen und Kommunen Verein Miteinander OPEN MIND – Kinder Zeitgemäße Konzepte Kinder und jüngere 1.8.2007 bis Schleswig- leben e. V. mit dem gelben Stern für die Bildungsarbeit Jugendliche 31.7.2010 Holstein zum Holocaust Zentralwohlfahrts- Perspektivwechsel Zeitgemäße Konzepte Multiplikatoren 1.1.2007 bis Thüringen stelle der Juden in Bildungsinitiativen für die Bildungsarbeit 31.12.2010 Deutschland e. V. gegen Antisemitismus zum Holocaust und Fremdenfeind- lichkeit

den vorangegangenen Programmen dem Bereich Geographisch waren die Projekte wie folgt verteilt: „Rechtsextremismus“ zugeordnet wurde. sechs länderübergreifend, vier in Berlin, zwei in Mecklenburg-Vorpommern, zwei in Sachsen sowie Die wissenschaftliche Begleitung der 18 Modell- je eines in Thüringen, Schleswig-Holstein, Baden- projekte im TC1 „Auseinandersetzung mit histori- Württemberg und Bayern. schem und aktuellem Antisemitismus“ wurde von „pro Val – Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Als Hauptzielgruppe wählten die Projekte: Analyse und Evaluation“ und dem „Institut für interdisziplinäre Konfl ikt- und Gewaltforschung ■ Junge Menschen in strukturschwachen Regio- der Universität Bielefeld“ durchgeführt. nen und Kommunen (7 MPs)

Die überwiegende Mehrheit (14/18) der Modellpro- ■ Multiplikatoren/Multiplikatorinnen (6 MPs) jekte widmete sich dem Unterthema „Zeitgemäße Konzepte für die Bildungsarbeit zum Holocaust“, ■ Migranten/Migrantinnen (4 MPs) die restlichen vier Projekte widmeten sich dem „Antisemitismus bei jugendlichen Migrant/innen“. ■ Kinder und jüngere Jugendliche (2 MPs) Diese Vorgabe der Programminitiatoren, sich auf diese zwei Unterthemen zu beschränken, war von Übersicht über die geförderten Modellprojekte Anfang an in der Kritik. Mit der besonderen Schwer- im TC 1 punktsetzung bestand die Gefahr der Stigmatisie- rung der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, Die Liste der aufgeführten Projekte zeigt die Viel- die ohnehin vielfach von der Gesellschaft als „ge- fältigkeit der Maßnahmen und Zugänge. Es kann walttätig“, „bildungsfern“, „machistisch“ verurteilt hier nicht auf jedes einzelne Projekt eingegangen werden. Auch impliziert diese Engführung, dass werden, einige wurden bereits in den Bereichen das Problem Antisemitismus bei herkunftsdeut- Schule (Unterrichtsmaterialien) und Begegnungs- schen Jugendlichen nicht relevant sei. Die Tatsache, pädagogik thematisiert. Im Folgenden werden dass die meisten antisemitischen Vorkommnisse exemplarisch ausgewählte Modellprojekte vor- nach wie vor einen rechtsextremen Hintergrund gestellt, die unterschiedliche Ansätze vertreten, haben, blieb außen vor. Ein eigener Themenschwer- aber auch im Hinblick auf ihre Arbeit, die erstellten punkt Antisemitismus im Bereich Rechtsextremis- Materialien und die Ressourcen differieren. mus war nicht vorgesehen.

167 Präventionsmaßnahmen

1. „Entwicklung und Erprobung von Materialien und historische Zusammenhänge, sie bietet zur Auseinandersetzung mit historischem und aber vor allem einen Blick auf Menschen in aktuellem Antisemitismus“ des Anne Frank Entscheidungssituationen. Dieser didakti- Zentrums Berlin sche Schwerpunkt wird durch begleitende Ziel des Projekts war die Entwicklung und Imple- Unterrichtsmaterialien vertieft, die das Anne mentierung verschiedener, bereits in anderen Frank Zentrum in Zusammenarbeit mit dem Ländern erprobter und zum Teil auf europäischer Bildungshaus Schulbuchverlage Westermann Ebene entwickelter Materialien zum Thema Anti- Schroedel entwickelte. semitismus. Die Hauptaufgabe des Projektteams bestand darin, die Materialien bundesweit zu tes- ■ Weitere Maßnahmen: In 50 Seminaren wur- ten, an den deutschen Kontext anzupassen und – den bundesweit 730 Lehrkräfte und Multipli- in Zusammenarbeit mit Verlagen – pädagogisches katoren unter dem Titel „Antisemitismus im Begleitmaterial für Lehrkräfte zu entwickeln, um Klassenzimmer?!“ auf der Basis verschiedener diese später in die Praxis umzusetzen. Unterrichtsmaterialien fortgebildet. Zudem wurden Projektveranstaltungen für über Im Projekt sind folgende Materialien entstanden 10.000 Jugendliche, vor allem aus Berlin, orga- beziehungsweise zum Einsatz gekommen: nisiert. Begleitend fanden außerdem Tagun- gen und Konferenzen statt. ■ Unterrichtsmaterialien und Lehrkräftehand- reichung „Antisemitismus in Europa“. Die vom 2. „Pädagogische Auseinandersetzung mit Anne Frank House in Amsterdam in Zusam- Täterinnen und Tätern im Nationalsozialismus“/ menarbeit mit dem Zentrum für Antisemi- HATIKVA – Bildungs- und Begegnungsstätte für tismusforschung der TU Berlin entwickelten Jüdische Geschichte und Kultur Sachsen e. V. Materialien sollen Lehrkräfte dabei unterstüt- Hauptziel der entwickelten Handreichung für zen, europäisch-jüdische Geschichte zu ver- Multiplikatoren auf DVD-Rom sind die pädagogi- mitteln und über Entstehung, Traditionen und sche Auseinandersetzung mit dem Thema „Täte- Stereotype der Judenfeindschaft aufzuklären. rinnen und Täter des Nationalsozialismus“ und die Sie wurden 2008 in der Reihe „Themen und Sensibilisierung der Jugendlichen für persönliche Materialien“ von der Bundeszentrale für politi- Entscheidungsprozesse in Wertekonflikten. Die sche Bildung herausgegeben. Objektivierung von Entscheidungssituationen anhand von Biographien historischer Personen soll ■ „Alle Juden sind … – 50 Fragen zum Antisemi- den Jugendlichen die Selbstwahrnehmung erleich- tismus“. Die Auseinandersetzung mit jahrhun- tern. Daraus ergibt sich einerseits das Problem der dertealten antijüdischen Legenden, Lügen Quellenkritik (das heißt die Jugendlichen müssen und Vorurteilen steht im Mittelpunkt dieser befähigt werden, die Quelle nicht für die „ganze Handreichung, die vom Anne Frank House, Wahrheit“ zu halten), andererseits die Gefahr der Amsterdam mit dem Verlag an der Ruhr 2008 Instrumentalisierung von Quellen (das heißt die herausgegeben wurde. Teilnehmer sind gefordert, respektvoll mit der Komplexität menschlichen Lebens umzugehen ■ „Die Judenschublade – junge Juden in D.“ DVD und sie nicht zu stark im Hinblick auf das Lernziel mit Unterrichtsmaterialien. Der Dokumentar- zu vereinfachen). fi lm „Die Judenschublade – junge Juden in D.“ hinterfragt gängige Klischees und Vorurteile.120 Die Materialien verfolgen zwei Fragestellungen: Im Film kommen jüdische Jugendliche, die in einerseits die geschichtliche Perspektive, wie Men- Deutschland leben, zu Wort. Das gleich namige schen während des Nationalsozialismus zu Tätern pädagogische Begleitmaterial, an dessen Ent- geworden sind (oder nicht), und andererseits die wicklung das Anne Frank Zentrum maßgeblich Frage „Kann auch ich zum Täter werden?“ Unter beteiligt war, unterstützt Lehrende bei der kognitivem Aspekt wird dabei unter anderem Arbeit mit dem Film. nach dem Verhältnis von Schuld und Verantwor- tung, nach dem Täterbegriff und dem Erfassen ■ „Die Suche“ – Comic und Unterrichtsmateria- von Handlungsspielräumen gefragt. Themen lien. Ein lebensweltlicher Zugang zu histori- sind auch der Umgang mit Biographien der Täter schem Antisemitismus und der nationalsozia- durch die Justiz und das Erkennen von Situatio- listischen Judenverfolgung ist der Comic „Die nen, die die Gefahr in sich bergen, zum Täter zu Suche“. Eine fi ktionale Familiengeschichte werden, sowie die Möglichkeiten, wie sich eigene transportiert auf rund 60 Comicseiten Fakten Kriterien für Werteentscheidungen fi nden lassen.

120 Der Film entstand nach einjähriger Recherchearbeit der Filmemacher Margarethe Mehring-Fuchs und Stefan Laur vom Freiburger Verein „Element 3 – Jugend, Kultur, Konzept“(Lingua Video 2005).

168 Präventionsmaßnahmen

Unter affektivem Aspekt stehen im Vordergrund: der Bedeutung der Auseinandersetzungen Opferempathie, Nein-Sagen, Sensibilisierung in der Region für jüdische und muslimische der Jugendlichen für Entscheidungssituationen Jugendliche in Deutschland. In einer weite- und Wertekonfl ikte sowie das Verinnerlichen der ren UE zum Nahostkonfl ikt für Gymnasien Pfl icht zur Entscheidung. beschäftigen sich die Schüler kritisch mit einer unter muslimisch geprägten Jugendlichen Das pädagogische Material geht von Bildungs- einseitigen Wahrnehmung des Konfl ikts. Eine zielen aus, die sich aus dem Kompetenzmodell der andere UE nimmt sich des „Antisemitismus im Lehrpläne des Freistaates Sachsen ergeben. Da in Kontext von Ökonomiekritik“ an. Hier erarbei- den anderen Bundesländern ähnliche Defi nitionen ten die Schüler spielerisch die wesentlichen und Modelle benutzt werden, sind sie bundesweit ökonomischen Strukturen kapitalistischer ohne Weiteres übertragbar. Die Gliederung der Gesellschaften und setzen sich kritisch mit Vorschläge ist so gewählt, dass regionale und personalisierender Kapitalismuskritik und lokale Quellen anstelle der sächsischen eingefügt deren Zusammenhang mit Antisemitismus werden können und sollen (Substitution). auseinander.

Die Beispiele historischer Biographien in der DVD ■ Innerhalb des Projektes wurde eine einjährige wurden unter dem Gesichtspunkt ausgewählt, Fortbildungsreihe entwickelt und durchge- dass sie von den Quellen ausgehend das Erfassen führt, bei der sich die Teilnehmenden auf von Entscheidungssituationen ermöglichen. In einer wissenschaftlich-theoretischen wie einer der Mehrzahl der Beispiele wird außerdem eine praxisorientierten Ebene mit Themen wie Ras- gewisse Nähe zur Lebenswelt der Jugendlichen sismus, Migration, Antisemitismus, Judentum, gesucht. Grundlage ist deshalb ein weiter Nationalsozialismus, „Holocaust-Education“ Täterbegriff, der von der Verantwortlichkeit des sowie Nahostkonfl ikt und Islamismus ausein- Einzelnen für sein Handeln, das heißt nicht von andersetzten. Als Vertiefung und Ergänzung der juristischen Entscheidung und nicht von der diente eine zweiwöchige Bildungsreise nach Tragweite des Handelns, ausgeht. Israel, die in enger Kooperation mit der Stif- tung EVZ und der Gedenkstätte Yad Vashem 3. „Pädagogische Module gegen Antisemitismus durchgeführt wurde. für muslimisch geprägte Jugendliche“/Kreuzber- ger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA e. V.) ■ Bei dem außerschulischen Bildungs- und Das Kernziel des Projektes war, dem Bedarf an Begegnungsprojekt „Was geht mich Palästina zeitgemäßen pädagogischen Konzepten sowie an an? Identität im Spannungsfeld von Migra- für eine Bildungsarbeit gegen Antisemitismus in tion und Herkunft“ stand die Auseinander- der Migrationsgesellschaft qualifi ziertem Personal setzung mit den Themen Heimat, Migration, gerecht zu werden. Im Mittelpunkt standen schü- Identität und Nahostkonflikt im Mittelpunkt. ler- und lebensweltorientierte Ansätze, die mittels Über das Projekt wurde ein Dokumentarfilm methodisch abwechslungsreicher Konzepte den mit dem Titel „Mit muslimischen Jugend- jeweiligen Zielgruppen Kompetenzen, Erfahrun- lichen Israel bereisen“ gedreht und die Pro- gen und Wissen vermittelten, auf deren Grund- jektdokumentation „Israel, Palästina und der lage antisemitische Deutungsmuster hinterfragt Nahostkonflikt – Ein Bildungs- und Begeg- werden können. Darüber hinaus ging es um die nungsprojekt mit muslimischen Jugendlichen Sensibilisierung und Ausbildung von Multiplikato- im Spannungsfeld von Anerkennung und ren für eine Bildungsarbeit gegen Antisemitismus Konfrontation“ erstellt. in der Migrationsgesellschaft. Unter anderem wurden folgende Maßnahmen initiiert: ■ Transfer: Fortbildungen und Tagungen „Kom- petent gegen Antisemitismus“. Insgesamt ■ Die Entwicklung von sechsstündigen Unter- wurden drei jeweils mehrtägige Fach- richtseinheiten (UE) zu verschiedenen Themen. tagungen in Zusammenarbeit mit unter- In der für Haupt- und Realschulen konzipierten schiedlichen Partnern in verschiedenen UE zum „islamistischen Antisemitismus“ setzen Bundesländern zu Fragen des Transfers von sich die Schüler kritisch mit der von Islamisten Erfahrungen und Konzepten durchgeführt.121 behaupteten „ewigen Feindschaft zwischen Zudem fanden bundesweit Fortbildungen Muslimen und Juden“ auseinander. In der zwei- für Pädagogen sowie eine Schülerkonferenz ten, für dieselbe Zielgruppe entwickelten EU in Kooperation mit der DGB-Jugend in Nord- zum Nahostkonfl ikt geht es um die Frage nach rhein-Westfalen statt.

121 Unter anderem mit der Bundeszentrale für politische Bildung, den Evangelischen Akademien Loccum und Arnoldshain, dem Fritz Bauer Institut sowie der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft.

169 Präventionsmaßnahmen

4. Likrat Erkenntnisse aus der Evaluation: Likrat ist Hebräisch und heißt „in Begegnung“. Das gleichnamige Projekt sucht die Begegnung ■ Schülerinnen und Schüler können sich nach unter Jugendlichen mit unterschiedlichen den Begegnungen besser vorstellen, wie jüdi- religiösen Hintergründen. Junge Jüdinnen und sche Jugendliche in Deutschland leben. Juden stellen in Zweierteams ihr Judentum in Schulklassen vor. Likrat-Begegnungen ermög- ■ Unterschiede im Alltagsleben von jüdischen lichen ein lebendiges, bleibendes und bildendes und nichtjüdischen Jugendlichen werden als Erlebnis. Auf diese Weise möchte das Projekt weniger bedeutend beschrieben: Die Perspek- Schülerinnen und Schülern einen unbefangenen tivübernahme wird innerhalb einer Begeg- Zugang rund um das Thema Judentum geben. nung durch Informationen über das Judentum Ziel ist es, so stereotype Wahrnehmungen zu unterstützt. durchbrechen und stattdessen ein gegenwarts- bezogenes Judentum zu vermitteln. Bevor die jü- ■ Begegnungen mit muslimischen Jugendlichen: dischen Jugendlichen in die Schulklassen gehen, Jüdische Jugendliche machen als Minderheit durchlaufen diese eine Seminarreihe. Neben der in Deutschland ähnliche Anfeindungs- und Wissensvermittlung zu Religion, Geschichte, Ausgrenzungserfahrungen – junge Juden und Tradition sowie Rhetorik und Gesprächsführung Muslime entdecken im Dialog religiöse und reflektieren sie dort in der Gruppe ihre jüdische kulturelle Gemeinsamkeiten. Identität, ihre Selbstwahrnehmung und Fremd- wahrnehmungen. Innerhalb dieser Gespräche ■ Offene Kommentare aller Befragten zeigen: Die drängt sich eine Frage immer stärker auf: Wie Darstellung von unterschiedlichen Meinungen gehen jüdische Jugendliche mit Vorurteilen, trägt zum Gelingen der Begegnungen bei.122 Stereotypen und Alltagsanti semitismus um? Der Gesprächsbedarf seitens der jüdischen Jugend- 5. „Gedenkstättenpädagogik und Gegenwarts- lichen zu diesem Thema wird zusehends größer. bezug – Selbstverständigung und Konzeptent- Aufgrund dieser Erfahrungen werden die Lik- wicklung“/Stiftung Jugendgästehaus Dachau ratinos innerhalb dieses Projektes in Form einer In Kooperation mit dem Pädagogischen Zen- Supervision betreut. trum des Fritz Bauer Instituts und dem Jüdischen Museum Frankfurt sowie der Akademie Führung Ergebnisse: & Kompetenz am Centrum für angewandte Poli- tikforschung der LMU München wurde ein Projekt ■ Seit mehr als drei Jahren organisiert Likrat zum kritischen Fachdiskurs im Arbeitsfeld Gedenk- Ausbildungsseminare für jüdische Jugendliche, stättenpädagogik mit den Schwerpunktsetzungen die zu Dialogpartnern (Likratinos) ausgebildet Gegenwartsbezüge und Demokratieförderung und anschließend zu Begegnungen in Schulen (unter anderem Prävention gegen Antisemitis- geschickt werden. Bisher fanden Begegnungen mus) unter Beteiligung von zwölf deutschen, mit mehr als 2.500 Schülerinnen und Schülern österreichischen und polnischen Gedenk- und in Süddeutschland (hauptsächlich in Baden- Bildungsstätten initiiert. In diesem Rahmen Württemberg und Bayern) statt. Im Jahr 2010 wurden Qualitätsmerkmale demokratischer und wurden die ersten Peereducators für Likrat in zeitgemäßer Gedenkstättenpädagogik diskutiert Nordrhein-Westfalen ausgebildet, seitdem wird und benannt. Zudem wurde ein Weiterbildungs- Likrat auch in Nordrhein-Westfalen als inter- angebot zur Förderung der Professionalität entwi- religiöses Dialogprogramm angeboten. ckelt. Konsens unter den beteiligten Pädagogen aus KZ- und NS-Euthanasie-Gedenkstätten bestand ■ Vor zwei Jahren wurde eine interne Evaluation darüber, dass Gedenkstättenbesuche nicht der Prä- eingeführt, die mit Pre- und Postfragebögen vention gegen antisemitische Haltungen dienen. die einzelnen Begegnungen auswertet. Mit Sie können aber die Empathie mit jüdischen Opfern diesem Instrument unterzieht sich Likrat einer (und selbstverständlich auch anderen Opfergrup- Selbstkontrolle, die eine kontinuierliche Ver- pen) wecken beziehungsweise verstärken, wenn besserung des Projekts ermöglicht. diese Gefühle nicht „verordnet“ werden. Als ange- messener pädagogischer Weg wurden Beachtung und Einbezug der vielfältigen Perspektiven der Besucher erachtet. Ziel der Professionalisierung von Mitarbeitern war es unter anderem, zu einem refl ektierteren Umgang mit antisemitischen Äußerungen zu befähigen.

122 Selbstdarstellung „Likrat“ (angesiedelt an der Jüdischen Hochschule Heidelberg) an das Expertengremium, E-Mail vom 29. April 2011.

170 Präventionsmaßnahmen

Ergebnisse des Projekts waren: Methoden erprobt und in verschiedenen Hand- lungsfeldern umgesetzt. ■ Ein „Berufsbild Gedenkstättenpädagogik“, das erstmalig Qualitätsmerkmale gedenkstätten- Als zentrale Ergebnisse können festgehalten pädagogischer Arbeit zusammenfasst. werden:

■ Eine parallel zum Projekt entstandene Publika- ■ Die Zielgruppen wurden motiviert, sich mit tion „Verunsichernde Orte. Selbstverständnis den „schwierigen“ Projektthemen aktiv und und Weiterbildung in der Gedenkstätten- selbständig zu befassen. Es wurde Bereitschaft pädagogik“, die einen Theorie- und Praxisteil geweckt, die Projektinhalte in die eigene Praxis enthält.123 zu integrieren. Im Laufe der Projektarbeit erfolgte eine partielle Verankerung der Pro- ■ Die Neuentwicklung beziehungsweise Adap- jektinhalte und Methoden. Ein Beispiel hierfür tion von circa 25 Übungen, die Kern des ent- ist die Etablierung eines interdisziplinären wickelten Angebotes „Verunsichernde Orte – Arbeitskreises „Lehrer handeln gegen Anti- Weiterbildung Gedenkstättenpädagogik“ sind, semitismus“ (in Kooperation mit dem „Thü- das bundesweit und einrichtungsübergreifend ringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehr- gebucht werden kann. Die Seminare dienen planentwicklung und Medien“ – ThILLm), vorrangig der Refl exion des eigenen Rollen- aber auch die Durchführung von langfristig und Selbstverständnisses, des Umgangs mit angelegten und mehrphasigen Fortbildungs- Teilnehmenden und mit Vermittlungsmedien. seminaren einschließlich der Übertragung und Implementierung von ausgewählten 6. „Perspektivwechsel“ – Bildungsinitiativen Unterrichtskonzepten/Methoden. gegen Antisemitismus und Fremdenfeind- lichkeit/Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in ■ Im Rahmen des Projekts wurden jährlich (im Deutschland e. V. Schnitt) circa 70 bis 90 Seminar- und Veran- Das Modellprojekt „Perspektivwechsel“ entstand staltungstage organisiert und durchgeführt. 2007 auf Initiative der „Zentralwohlfahrtsstelle der Schätzungsweise haben alleine im Jahr 2010 Juden in Deutschland“ (ZWST) und der Landesstelle circa 850 Personen an den Projektaktivitäten Gewaltprävention des Freistaates Thüringen. Ziel teilgenommen. Außerdem veranstaltete das war die Aus- und Weiterbildung pädagogischer Projekt jährlich eine dreitägige Fachkonferenz Fachkräfte und Multiplikatoren im Bereich der mit circa 150 bis 250 Teilnehmern. Darüber hin- gesellschaftspolitisch orientierten Bildungsar- aus wurde eine Reihe von Publikationen zum beit. Die angebotenen Lernprogramme sollten die Thema vorgelegt. Sensibilität der Adressaten für die fortdauernde Aktualität von Antisemitismus und Fremdenfeind- ■ Es gelang dem Projektteam, die Zielgruppen zu lichkeit schärfen und zugleich ihre Kompetenzen motivieren, stabile Kooperationsstrukturen zu im Umgang mit jeglichen Erscheinungsformen von schaffen und auf eine Weise über die Projektin- Intoleranz und Ausgrenzung stärken. halte zu kommunizieren, die es ermöglichte, auch außerhalb der Fortbildungsseminare für Die methodische Konzeption des „Perspektiv- die im Projekt verhandelten Themen zu sensi- wechsels“ schließt Zugänge und Methoden ein, bilisieren. Zur Qualitätssicherung und Gewähr- die eine selbstrefl exive Annäherung der Adres- leistung der Nachhaltigkeit wird die Arbeit des saten an identitätsstiftende historisch-politische in Thüringen etablierten Modellprojekts in den Prozesse der Vergangenheit und Gegenwart Jahren 2011 bis 2013 weitergeführt. gewähren können. Mit Hilfe der Qualifi zierungs- seminare und mittels Anti-Bias-Methoden, also 3.4. Anmerkungen zum Bundesprogramm eines handlungsorientieren Ansatzes, die auf „Vielfalt tut gut“ Verringerung von Vorurteilen und Diskriminie- rung abzielen, kann die Kontinuität des „verdeck- Enge Themensetzung ten“ und unterschwelligen Antisemitismus (hier auch der Fremdenfeindlichkeit) aufgespürt und Die Clusterstruktur des Bundesprogramms „Vielfalt thematisiert werden. Durch die Anwendung des tut gut“ stieß in mehrfacher Hinsicht auf Kritik – Anti-Bias-Ansatzes wird nicht nur der „Perspektiv- auch von Seiten der Programmbeteiligten. Zum wechsel“ gefördert, sondern auch das routinierte einen erwies sich die Auswahlbeschränkung auf ein pädagogische Selbstverständnis kritisch über- bestimmtes Subthema in der Praxis als hinderlich. prüft. Um diese Auseinandersetzung zu ermögli- Praktiker machten immer wieder die Erfahrung, chen, hat das Modellprojekt Zugänge entwickelt, dass antisemitische Äußerungen bei denselben Ziel-

123 Barbara Thimm/Gottfried Kößler/Susanne Ulrich (Hrsg.), Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik, Frankfurt a. M. 2010.

171 Präventionsmaßnahmen

gruppen in unterschiedlichen Kontexten auftreten. gen potenzieller Sponsoren. Das führte zu einem Jugendliche, die sich antisemitischer Stereotypisie- Dilemma: Je konkreter die Projektidee, desto rungen im Kontext des Nahostkonfl iktes bedienen, höher war die Chance vom Bundesprogramm können durchaus auch Formen des sekundären zur Förderung ausgewählt zu werden, während Antisemitismus verinnerlicht haben. Im Unterricht sich gleichzeitig die Gestaltungsmöglichkeiten über die Geschichte des Holocaust sehen sich Pä- hinsichtlich der Förderprioritäten der Drittmit- dagogen häufi g mit Positionen zum Nahostkonfl ikt telgeber reduzierten. konfrontiert, die die israelische Politik mit der der Nationalsozialisten gleichsetzen. Deshalb wäre es Modellvorgabe wünschenswert gewesen, die Cluster durchlässiger zu gestalten und die Antragsteller nicht bereits im Modellprojekte setzen voraus, dass die Träger im- Vorfeld vor die Entscheidung zu stellen, ob sie zum mer wieder neue innovative Ansätze entwickeln. historischen Kontext oder zu aktuellen Erschei- Die in den Modellphasen entstandenen Ansätze, nungsformen des Antisemitismus arbeiten wollten. Konzepte und Methoden können in der Regel über Es wäre von großem Vorteil gewesen, wenn die Pro- die Projektlaufzeit hinaus keine Bundesförderung jekte Kompetenzen in beiden Bereichen entwickeln mehr erhalten, weil davon ausgegangen wird, dass und diese einsetzen hätten können. für die Nachhaltigkeit andere öffentliche Träger den Etat übernehmen sollen. Fokus auf Jugendliche mit Migrationshintergrund Der Bund sieht seine Aufgabe in der Anstoßfi nan- zierung von Projekten, die nachhaltig wirken und Zu Recht wurden darüber hinaus sowohl die be- modellhaft übertragbar sein sollen, um später von sondere Schwerpunktsetzung auf Jugendliche mit Land und Kommunen übernommen zu werden. Migrationshintergrund kritisiert als auch das Feh- Das aber passiert in den seltensten Fällen. Die in len des Themas Antisemitismus im Themencluster mühevoller Arbeit und mit öffentlichen Mitteln „Rechtsextremismus“,124 obwohl Judenfeindschaft finanzierten Konzepte, Programme und Materi- integraler Bestandteil der rechtsextremen Ideo- alien bleiben demzufolge häufig in den Regalen logie ist. Die Hervorhebung junger Migranten als der Projektträger ungenutzt liegen, sodass die Problemgruppe suggeriert, dass das Phänomen notwendige breit angelegte Implementierung Antisemitismus bei herkunftsdeutschen Jugend- ausbleibt. Viele Modellprojekte sind, bedingt durch lichen weniger Relevanz hätte.125 die auf drei Jahre beschränkte Förderfrist, nicht in der Lage, eine solche Implementierung um- Ko-Finanzierung zusetzen. Das ist bedauerlich, weil Konzepte und Materialien bundesweit stark nachgefragt werden. Als problematisch erwiesen sich für viele An- Häufi g können allenfalls die in den Modellphasen tragsteller – häufig kleinere Vereine und Insti- gewonnenen Erfahrungen in Nachfolgeprojekte tutionen – die Ko-Finanzierungsvorgaben des fl ießen, vorausgesetzt, sie werden durch das neue Programms „Vielfalt tut gut“ von 50 Prozent, die Programm „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“ ohne zusätzliche Landesförderung kaum zu re- fi nanziell unterstützt. alisieren waren. Je nach Projektumfang wurden für eine dreijährige Projektlaufzeit sechsstel- Strukturprobleme lige Summen benötigt, die selbst für etablierte Träger eine große Herausforderung bedeuteten Die vom Bundesministerium für Familie, Se- und kleine Initiativen ohne institutionelle För- nioren, Frauen und Jugend gewünschte Über- derung vor nahezu unüberwindliche Hürden tragung der Konzepte und Methoden in die stellten. Die Akquise von Drittmitteln wurde vor Regelstrukturen von Schule und Jugendhilfe allem auch durch die Förderlogik der Program- erwies sich als schwierig. Hier könnte ein Um- me erschwert, da die Träger ihre Projektideen denken hilfreich sein, um von der Zielsetzung zunächst an den Förderrichtlinien des Bundes- einer Fokussierung auf die Übertragung in programmes orientieren mussten und erst Regel strukturen wegzukommen. Die Ziel- dann für das bereits fertig konzipierte Projekt setzung sollte stärker darauf ausgerichtet wer- Drittmittel geber suchen konnten. Damit blieb den, Wege zu ermöglichen, die über die Jahre wenig Spielraum für die Wünsche und Erwartun- hinweg entwickelten Kompetenzen und Res-

124 Auf dieses Problem wies der Projektleiter Roland Koch vom Modellprojekt im TC 2 „Kompetente Konzepte für Demokratie und Toleranz“ auf der Konferenz „Evaluation von Programmen und Projekten zur Förderung einer pluralistischen und demokratischen Kultur“ in Bielefeld vom 16.–18.2.2011 hin. Von den 18 Projekten im TC „Rechtsextremismus“ berücksichtigte nur ein einziges explizit das Thema Antisemitismus. 125 Julia Franz/Patrick Siegele: „Zum Schluß: Erfahrungen und Perspektiven“, in: Anne Frank Zentrum (Hrsg.), Von Anne Frank zum Nahostkonfl ikt? Zur Auseinandersetzung mit historischem und aktuellem Antisemitismus. Entwicklung pädagogischer Materialien, Projektdokumentation 2007–2010, Berlin 2010, S. 40.

172 Präventionsmaßnahmen sourcen der außerschulischen Bildungsträger ■ Projektträger plädieren dafür, die für die in die staatlichen Bildungseinrichtungen einzu- Evaluation eingeplanten Mittel eher für die bringen. Dazu bietet beispielsweise der Ansatz Projektarbeit zu nutzen, weil bisher nicht von Bildungspartnerschaften zwischen Schulen ersichtlich ist, inwiefern die Ergebnisse tat- und außer schulischen Bildungsträgern eine sächlich zu einer besseren Umsetzung der gute Möglichkeit. Erfahrungen, Methoden und Bundesprogramme beitragen. An sätze könnten so nachhaltig eingesetzt und zielgruppenorientierte langfristige Strategien 3.5. Erfolge der Programme für die Bekämpfung des Antisemitismus in Schulen entwickelt werden. Analog bestünde Trotz aller kritischen Einwände ist zu konstatieren, die Option, Bildungspartnerschaften auch dass die Programme des Bundes viele lokale Projek- für die Jugend hilfe-Strukturen einzuführen. te angestoßen haben, die über ihren örtlichen Kon- text hinaus bundesweit Aufmerksamkeit erzielten. Allerdings ergeben sich hier zwei Probleme: Wer Nicht nur in der Praxis, sondern auch im Bereich fördert diese Art der Zusammenarbeit, und wie der Wissenschaft haben sie wesentliche fachliche lässt sich so eine enge Einbindung der externen Impulse für die Antisemitismusprävention gege- Akteure in das System Schule umsetzen? Die ben. Kompetente Organisationen sind entstanden, Rahmenbedingungen der Schulen sind starr, und und innovative Ansätze wurden erprobt, deren die Zusammenarbeit mit den außerschulischen Arbeit für den pädagogisch-präventiven Bereich Bildungsträgern erfolgt nicht auf gleicher Ebene, wichtige Lücken füllt und Schule und Jugendhilfe sodass in der Kooperation oft Probleme entstehen. in der Erfüllung von Erziehungs- und Bildungsauf- Einerseits sind die Schulen auf unterstützende gaben unterstützt. Sowohl im Bereich der Entwick- Kompetenzen von außen angewiesen, anderer- lung zeitgemäßer Konzepte in der historischen seits bringen sich die staatlichen Bildungsinstitu- Bildung als auch bei der Entwicklung adäquater tionen nur eingeschränkt in Kooperationen ein. Bildungskonzepte zu aktuellen Erscheinungs- Insbesondere entstehen Probleme bei den Fortbil- formen des Antisemitismus haben die durch die dungen, die die Modellprojekte für Lehrkräfte in Bundesprogramme geförderten Projekte die neuen Zusammenarbeit mit Lehrerfortbildungsinstituten Herausforderungen angenommen. Entsprechende anbieten. Dabei fühlen sich die Projekte oft alleine Methoden, Konzepte und Strategien wurden ent- gelassen und erhalten wenig Unterstützung durch wickelt und Netzwerke aufgebaut. Es hat sich eine die vom Ministerium beauftragte wissenschaft- fachkundige außerschulische Bildungslandschaft liche Begleitung, die vor allem für die Evaluation entwickelt, die sowohl über wissenschaftliche zuständig ist, und die Regiestellen. Sachkenntnisse als auch über methodisch-didakti- sche Fachkenntnisse verfügt. Evaluation Wie die Ausführungen über die LAP-Projekte zum ■ Die Projektträger stehen einer Evaluation häu- Antisemitismus und die über respectABel geför- fi g skeptisch gegenüber, weil sie befürchten, derten Berliner Maßnahmen zeigen, machen diese dass die Arbeit der Evaluatoren dem Förder- in der Gesamtheit aller Projekte nur einen gerin- mittelgeber als Kontrollinstrument dient. gen Teil aus. Die Bilanz, zumindest für die zurück- Gewünscht wird eher eine projektbegleitende liegende Förderperiode des Bundesprogramms kollegiale Beratung. (2007–2010), ist ernüchternd. Ursprünglich waren die Lokalen Aktionspläne entwickelt worden, um ■ Die Evaluation und wissenschaftliche Beglei- den wesentlichen Teil der Arbeit im Bereich Antise- tung von Projekten beginnt in der Regel erst zu mitismusbekämpfung zu übernehmen und diese einem Zeitpunkt, wenn die Projekte bereits mit in den Kommunen zu verankern. Die letzten Jahre ihrer Arbeit begonnen haben. Damit bleibt die haben aber gezeigt, dass die Modellprojekte ein- Startphase unberücksichtigt. springen mussten, obwohl sie eigentlich innovative Ansätze entwickeln und nicht so sehr ins operative ■ Die betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzen- Geschäft eingreifen sollten. Das bedeutet, dass die Kalkulation der Projektförderung mag aus Sicht Arbeit gegen Antisemitismus im präventiv-päda- der Regularien für öffentliche Gelder uner- gogischen Bereich hauptsächlich im Rahmen der lässlich sein, wird aber bei den Projektträgern Modellprojekte realisiert wurde und damit im Wider- kritisch gesehen, weil Veränderungsprozesse in spruch zur Ausrichtung des Bundesprogramms der Gesellschaft nicht nur unter ökonomischen steht. Eine Rolle hat hier sicherlich die Tatsache Gesichtspunkten zu sehen sind. gespielt, dass im Bereich der pädagogischen Praxis der aktuelle Antisemitismus als eigenständiges ■ Befürchtet wird zudem die Instrumentali- Diskriminierungsphänomen relativ neu ist. Zum sierung der Evaluationsergebnisse durch die anderen engagierten sich viele Akteure aus der Politik, zumal die Bundesregierung nicht ver- Bildungsträger landschaft mit entsprechender pfl ichtet ist, diese zu veröffentlichen. Kompetenz im Bereich der Modellprojekte, stan-

173 Präventionsmaßnahmen

den also für die Lokalen Aktionspläne eher nicht die Fragen des unabhängigen Expertenkreises zur Verfügung. Es ist davon auszugehen, dass das als Präventionsmaßnahme angeben, sie hätten aktuelle Bundesprogramm „Toleranz fördern – die Gründung dieses Kreises mit dem Beschluss Kompetenz stärken“ mehr Projekte im Bereich des Deutschen Bundestages „Den Kampf gegen Antisemitismusbekämpfung einbindet. In der Antisemitismus verstärken, jüdisches Leben in zurückliegenden Förderperiode des Bundespro- Deutschland weiter fördern“ unterstützt, dann gramms „Vielfalt tut gut“ wurden einige innovati- ist dies zwar richtig, lässt aber erkennen, dass mit ve Ideen erfolgreich erprobt und wirksame Metho- dem politischen Bekenntnis keine wirkliche Sensi- den und Konzepte entwickelt.126 Die gewonnenen bilisierung für die vielen Facetten des alltäglichen Erkenntnisse können in die Projekte des neuen Antisemitismus heute erfolgt ist. Programms einfl ießen und damit tatsächlich zu einer Weiterentwicklung der Präventionsmaßnah- Staatliche Institutionen und große gesellschaft- men führen. liche Organisationen sollten eigene Strukturen nach dem Vorbild erprobter Programme aufbau- Fazit en und Schulungen für die Mitarbeiter anbieten. Zum Erfahrungsaustausch und zur gemeinsamen Für eine Nachhaltigkeit der inzwischen aus den Abstimmung sollten die Institutionen sich besser Modellprojekten gewonnenen Erkenntnisse wäre vernetzen (Runder Tisch) und sich im Sinne der zu wünschen, dass hervorragende Maßnahmen Nachhaltigkeit für dauerhafte Förderungen verstetigt werden und die Antragsteller nicht nur einsetzen. Eine längerfristige, gemeinsam erar- auf drei Jahre hinaus – solange sie im Rahmen der beitete Programmstruktur würde es ermöglichen, Modellprojekte gefördert werden – planen können. nicht nur einzelne Bereiche der Gesellschaft, die Planungssicherheit würde auch der Entwicklung Teil der Arbeit der Modellprojekte sind, präventiv geeigneter Maßnahmen und Materialien eine gegen Antisemitismus zu schulen, sondern diese längerfristige Perspektive geben und nicht in auch auf andere Gruppen auszuweiten, die von den Frustrationen der Beteiligten darüber münden, Ergebnissen profi tieren könnten. Zu denken wäre dass ihre Ergebnisse nicht zur praktischen Umset- hier etwa an die Polizei, die Justiz, die parteinahen zung von Programmen führen, sondern in Mappen Stiftungen oder Gewerkschaften und schließlich gepresst ungenutzt bleiben. Wenn auch eine Ver- das große Spektrum der Vereine. stetigung der Programme aus den verschiedens- ten Gründen bei den staatlichen Stellen kritisch gesehen wird, so sollte doch eine Verlängerung der Modellprojektphase auf fünf bis sechs Jahre anvi- siert werden, damit noch Zeit bleibt, die Ergebnisse der Projektarbeit zu implementieren.

Der einseitige Fokus auf Jugendliche mit Migrati- onshintergrund in Teilen des Bundesprogramms „Vielfalt tut gut“ ist ebenso ein Indiz dafür, dass die Mehrheitsgesellschaft, also vor allem auch Jugend- liche mit autochthonem deutschen Hintergrund, nicht in den Blick genommen wird, obwohl auch dort antisemitische Äußerungen und Haltungen zu bekämpfen wären.

Auch wenn in einer Reihe von Institutionen, Parteien und Vereinen inzwischen Ansätze einer Sensibilisierung für das Thema Antisemitismus zu erkennen sind, ist vieles noch immer der histo- risch-politischen Bildung verhaftet, beziehungs- weise wird aktueller Antisemitismus nach wie vor in erster Linie vor dem Hintergrund des Rechtsex- tremismus bekämpft. Damit bleiben Stereotype, Vorurteile, Ressentiments und Klischees gegen- über Juden, die in der Mehrheitsgesellschaft viru- lent sind, unbearbeitet und Teil des öffentlichen Diskurses. Wenn Parteien in ihren Antworten auf

126 Abschlussbericht der Bundesprogramme, S. 20.

174 Präventionsmaßnahmen

175 Rubrik

Fazit – die wichtigsten V. Ergebnisse des Berichts

Der Expertenkreis hat seiner Arbeit eine Defi nition Vernichtungs phantasien verbundenen Hassbil- des Begriffs Antisemitismus vorangestellt, derzu- dern oder aber in Form von Insinuationen und folge es sich um eine Sammelbezeichnung für alle Andeutungen, die mit Hilfe von Kodierungen und Einstellungen und Verhaltensweisen handelt, die Subtexten eine antisemitische Botschaft vermit- Juden und als Juden wahrgenommenen Einzelper- teln, ohne dabei – nicht zuletzt zur Vermeidung sonen, Gruppen oder Institutionen aufgrund dieser juristischer und politischer Folgen – die Juden- Zugehörigkeit negative Eigenschaften unterstel- feindschaft allzu plakativ zu formulieren. len. Antisemitismus ist demnach immer als eine Aversion gegen eine Gruppe beziehungsweise ein Der religiös motivierte Antisemitismus spielt im Kollektiv zu verstehen; der einzelne Jude wird nicht Rechtsextremismus nur noch eine untergeordnete als Individuum, sondern als Angehöriger einer Rolle, hinsichtlich rassistischer Begründungen legt Gemeinschaft mit zugeschriebenen Eigenschaf- man sich im Allgemeinen Zurückhaltung auf, um in ten wahrgenommen. Antisemitismus ist also eine der Außenwirkung eine explizite Nähe zum natio- feindselige Einstellung gegenüber einer imaginier- nalsozialistischen Vernichtungsantisemitismus zu ten Gruppe; sie ist das Ergebnis einer verzerrten vermeiden. Unter den „klassischen“ Antisemitis- Darstellung gesellschaftlicher Realität und keines- musvarianten kommt demgegenüber nationalisti- falls als Reaktion auf die Existenz oder das Verhal- schen, politischen und sozialen Argumentations- ten von Juden misszuverstehen. Das Phänomen des mustern eine große Bedeutung zu, daneben aber Antisemitismus existiert wiederum in einem Um- auch den modernen Formen des antizionistischen feld, das vielfach durch Unkenntnis sowie durch und sekundären Antisemitismus. Stereotype und Vorurteile über Juden bestimmt ist, ohne dass diese durchgehend als antisemitisch Während der Antisemitismus im rechtsextremen anzusehen sind. Spektrum zum konstitutiven Bestandteil der Ideologie und des Lagerzusammenhalts gehört, Im ersten Teil des Berichts haben wir einen Über- ist dies beim Linksextremismus – zu dem knapp blick über den Antisemitismus im Kontext ver- 32.000 Personen gerechnet werden – eindeutig schiedener extremistisch geprägter politischer nicht der Fall. Trotzdem gab und gibt es unter Lager erstellt. Linksextremisten auch Positionen, die einen anti- semitischen Diskurs befördern können. Das rechtsextremistische Lager, das nach Erkennt- nissen des Verfassungsschutzes zurzeit etwa Dies gilt vor allem für die Israelkritik, die häufi g 26.000 Anhänger umfasst, stellt nach wie vor den durch eine einseitige Verurteilung des jüdischen bedeutendsten politischen Träger des Antisemi- Staates, ein Ignorieren seiner legitimen Sicher- tismus in Deutschland dar. Gleichzeitig ist der heitsinteressen und eine leichtfertige Infragestel- Antisemitismus ein bedeutendes ideologisches lung seiner Existenzberechtigung geprägt ist. Man Bindeglied in der Ideologie des keineswegs homo- scheut nicht vor Vergleichen mit dem National- genen Rechtsextremismus und hat schon von sozialismus zurück und verbindet die Kritik der daher besondere Bedeutung für die Integration Unterstützung Israels durch die Bundesregierung der aktiven Anhängerschaft und deren Identität. mit einer pejorativen Bewertung der deutschen In der Außendarstellung wird der Antisemitismus „Vergangenheitsbewältigung“. Zwar leiten sich demgegenüber häufi g von anderen Feindbildern solche Einstellungen primär aus dem linksextre- und Themenkomplexen überlagert. Dazu gehören mistischen Verständnis von Antiimperialismus Angehörige anderer Bevölkerungsgruppen wie und Antikapitalismus ab, doch ergeben sich „Ausländer“, „Fremde“ und „Muslime“, während häufig inhaltliche Anknüpfungspunkte für inhaltlich Themen wie „Globalisierung“, „Sozial- den Antisemitismus. politik“ und „Überfremdung“ im Vordergrund stehen. Der Umgang der globalisierungskritischen Bewegung und des Netzwerks „Attac“ mit Anti- Grundsätzlich äußert sich der Antisemitismus semitismusvorwürfen wurde hier beispielhaft im rechtsextremistischen Lager in zwei For- thematisiert, um einerseits auf die Gefahren einer men: in häufig mit Gewaltaufforderungen und bedenklichen Form der Kapitalismuskritik

176 Fazit aufmerksam zu machen, andererseits um die letzt- Israel gerichtete Judenfeindschaft als Staats- lich erfolgreichen Abwehrstrategien führender doktrin, was die Leugnung des Existenzrechts Persönlichkeiten in diesem heterogenen Netzwerk Israels sowie eindeutige Aufforderungen zur hervorzuheben. Zerstörung des jüdischen Staates einschließt. Der Iran unterstützt wiederum fi nanziell und militä- Als ein neuer Träger von Antisemitismus erweist risch sowohl die HAMAS wie die „Hizb Allah“, die sich inzwischen auch der Islamismus. Islamismus ebenfalls die Vernichtung Israels propagieren. wird hier als eine neuzeitliche extremistische Der Iran organisiert einschlägige antisemitische politische Ideologie verstanden, die sich im Nahen Veranstaltungen und Holocaustleugnungskon- und Mittleren Osten wie auch in Europa fi ndet und ferenzen, unterstützt weltweit Demonstrationen die von der Religion Islam und ihren Glaubensan- zum Al-Quds-Tag (auf dem die Zerstörung Israels hängern, den Muslimen, zu unterscheiden ist. Im propagiert wird) und verbreitet antisemitische Unterschied zu diesen verstehen Islamisten den Propaganda nach Deutschland (→ Klischees, Islam nicht allein als eine Religion, sondern als Vorurteile, Ressentiments und Stereotypisie- ein Herrschaftssystem und als eine Gesellschafts- rungen in den Medien). ordnung. Diese Ideologie wird in Deutschland von einschlägigen Organisationen beziehungsweise Der Radikalismus der Angehörigen dieser verschie- Gruppen verbreitet. denen extremistischen Lager schlug sich in sehr unterschiedlichem Umfang in antisemitischen Für sämtliche der vom Verfassungsschutz mit Straftaten nieder. Insgesamt zeichnete sich bei den 29 Einzelorganisationen und 37.400 Anhängern antisemitischen Straftaten, die als „Politisch moti- bezifferten islamistischen Gruppen in Deutschland vierte Kriminalität“ (PMK) erfasst wurden, im Jahre ist Antisemitismus ein konstitutiver Bestandteil 2010 ein verhältnismäßig starker Rückgang ab, ihrer Ideologie. Erweitert um häufi g pseudoreli- nachdem die Delikte in den Jahren 2005 und 2009 giös begründete Stereotype fi nden sich bei Isla- einen relativ hohen Stand erreicht hatten (2010: misten sämtliche Ausprägungen des religiösen, 1.268, demgegenüber zwischen 2005 bis 2009 zwi- politischen und sozialen Antisemitismus sowie des schen 1.559 und 1.809 Straftaten). Dabei entfi elen sekundären Antisemitismus in Form der Holo- wie in den meisten vorangegangenen Jahren mehr caustleugnung. als 90 Prozent aller antisemitischen Straftaten auf den Bereich „PMK rechts“. Es handelt sich dabei in Im Zentrum der antisemitischen Agenden islamis- erster Linie um Propaganda- und Volksverhetzungs- tischer Organisationen steht vor allem die Delegiti- delikte. Die antisemitischen Gewalttaten sanken mierung des Existenzrechts Israels. Entsprechend auf insgesamt 37 ab, wobei auch hier wiederum propagieren fast sämtliche Gruppen Gewaltan- die „rechts“ motivierte Kriminalität eindeutig wendung gegen Israel und seine Staatsbürger und dominierte. In den Bereich „PMK Ausländer“ fi elen verlangen die Auslöschung des jüdischen Staates. 2010 insgesamt 6 antisemitische Gewalttaten, im Eine in Deutschland inzwischen verbotene arabi- Gesamtzeitraum seit 2001 waren es insgesamt 47, im sche Organisation (HuT) sowie das Terrornetzwerk Bereich „PMK Links“ seit 2006 war es eine einzige. „al-Qa’ida“ fordern darüber hinaus, Juden weltweit zu bekämpfen und zu töten. Was die Verbreitung antisemitischer Einstellun- gen in der Bevölkerung anbelangt, so geben die Die weitgehend nicht offen agierenden islamis- durch den Expertenkreis ausgewerteten demosko- tischen Gruppen in Deutschland wirken haupt- pischen Untersuchungen übereinstimmend eine sächlich im Ideologietransfer, der vor allem Größenordnung von etwa 20 Prozent latentem über moderne Kommunikationsmittel erfolgt. Antisemitismus an. Die Umfragen verdeutlichen Verschiedene Ereignisse der letzten Jahre zeigen, im Einzelnen, dass dabei neben den „klassischen“ dass dieser islamistische Antisemitismus insbeson- antisemitischen Bezichtigungen – Juden besäßen dere arabisch- und türkischstämmige Jugendliche zu viel Einfl uss (Verschwörungsvorwurf) oder seien zu mobilisieren vermag und in einigen Fällen wegen ihres eigenen Verhaltens selbst „schuld“ an Radikalisierungen befördert. Aussagen darüber, ihrer Verfolgung – Mutmaßungen und Vorwürfe inwieweit der islamistische Antisemitismus unter sehr viel stärker eine Rolle spielen, die erst als Reak- nichtextremistisch gesinnten „Muslimen“ gene- tion auf den Holocaust und die Existenz des Staates rell verbreitet ist, werden hier allerdings nicht Israel entstanden sind: Es handelt sich dabei insbe- getroffen und sollen aufgrund unzureichender sondere um den Vorwurf, Juden zögen Vorteile aus empirischer Untersuchungen auch nicht Gegen- dem Holocaust oder nutzten ihn für ihre Zwecke stand von Spekulationen sein, wie dies in der zulasten deutscher Belange aus („sekundärer“ Medienberichterstattung häufig geschieht. Antisemitismus), sowie um eine mit Antisemitismus aufgeladene Kritik an Israel, die den Staat schlechthin Als wichtige Basis eines islamistisch geprägten mit „den Juden“ identifi ziert und die israelische Poli- Antisemitismus ist schließlich die „Islamische tik mit der nationalsozialistischen Vernichtungs- Republik Iran“ zu nennen. In ihr gilt die gegen politik gleichsetzt.

177 Fazit

Aus dieser Schwerpunktverlagerung antisemiti- mens lassen sich nur erfassen, wenn man die scher Inhalte erklärt sich auch, dass der Antisemi- unterschiedlichen Bereiche fokussiert, in denen tismus in Deutschland nicht mehr – wie von den solche alltäglichen Formen des Antisemitismus 1950er- bis in die 1970er-Jahre – relativ kontinu- nachweisbar sind: private Geselligkeiten, Kneipen- ierlich mit dem demographischen Rückgang der gespräche, Schulhöfe, Fußballspiele, Internetblogs durch den Nationalsozialismus geprägten älteren etc. Die weder von den – auf die politischen Extre- Generationen abnimmt. Vielmehr ist seit den me konzentrierten – Verfassungsschutzbehörden 1980er-Jahren eine Wellenbewegung zu konsta- noch von der Strafverfolgung erfasste alltägliche tieren, die offenbar sehr stark durch die Ereignisse Ausgrenzung, Diffamierung, Beschimpfung und im Nahen Osten und die innenpolitische Debatte, Boykottierung von Juden ist jedenfalls fester Be- insbesondere die Auseinandersetzung um Rechts- standteil des Erfahrungshorizonts der in Deutsch- extremismus und Nationalsozialismus, geprägt ist. land lebenden Juden.

Für das vergangene Jahrzehnt lässt sich zeigen, Die Skandale der Jahre 1998 bis 2003, die mit dass – nach einem deutlichen Rückgang anti- den Namen Walser, Möllemann und Hohmann semitischer Einstellungen in den Jahren 2004 bis verbunden sind, haben zwar ein erhebliches 2006 – seit 2007/2008 wiederum ein Anstieg anti- Abwehrpotenzial gegen öffentlich geäußerten semitischer Einstellungen festzustellen ist, ohne Antisemitismus mobilisiert, doch die langfristige dass bisher das Niveau von 2002 erreicht wurde. Breitenwirkung solcher provozierender Tabubrü- Die vorhandenen Daten erlauben eine Reihe von che ist schwer abzuschätzen, da die drei Genann- Differenzierungen hinsichtlich einzelner Teile der ten vielfach als Opfer von Medienkampagnen Bevölkerung; hervorgehoben sei, dass die noch betrachtet werden und insofern Momente in die in den 1990er-Jahren deutlich geringeren Anti- Bewertung einfl ießen, die über die umstrittenen semitismuswerte in den neuen Bundesländern Inhalte hinausgehen. sich mittlerweile an den gesamtdeutschen Durch- schnitt angenähert haben. Es spricht einiges dafür, dass die für die deutsche Situation seit Kriegsende kennzeichnende weit- Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern gehende Tabuisierung antisemitischer Äußerun- nimmt Deutschland, was die Verbreitung antisemi- gen in der Öffentlichkeit durch eine mittlerweile tischer Einstellungen anbelangt, einen Mittelplatz bis weit in die Mitte der Gesellschaft verbreitete ein. Dabei ist zu betonen, dass Deutschland trotz Gewöhnung an alltägliche judenfeindliche Tira- einer beständigen Auseinandersetzung mit seiner den und Praktiken unterlaufen wird oder bereits nationalsozialistischen Vergangenheit und trotz unterlaufen ist. Dabei spielen vor allem eine mit einer weitgehenden öffentlichen Tabuisierung des Antisemitismus unterfütterte Israelkritik und die Antisemitismus im Allgemeinen höhere Werte Abwehr von (behaupteten) Schuldvorwürfen wegen erreicht als die westeuropäischen Länder Italien, der nationalsozialistischen Judenverfolgung eine Großbritannien, Niederlande und Frankreich. wesentliche Rolle. Dass Deutschland im europäischen Vergleich trotz- dem einen mittleren Platz einnimmt, ist vor allem Vor dem Hintergrund des andauernden Nahost- auf zum Teil extrem hohe Antisemitismuswerte konfl ikts sowie der zunehmenden Solidarisierung in Polen, Ungarn und Portugal zurückzuführen vor allem von türkisch-muslimischen Jugendlichen (Vergleichsdaten liegen nicht für alle europä- mit den Palästinensern und einer damit einherge- ischen Länder vor). henden einseitig kritischen Sicht auf Israel stellt sich die Frage einer besonderen Disposition dieser Lassen sich antisemitische Einstellungen mit Hilfe Bevölkerungsgruppe für antisemitische Propagan- der Meinungsforschung zumindest in ihrer Größen- da, die leicht durch arabische Satellitenprogramme ordnung und in ihrem Trend mit einiger Sicherheit sowie durch die Aktivitäten extremistischer isla- erfassen, ist unser Wissen über das Ausmaß des mistischer Gruppen bezogen werden kann. Jedoch Anti semitismus im deutschen Alltag außerordent- fehlen zuverlässige wissenschaftliche Befunde lich rudimentär. über die tatsächliche Verbreitung antisemitischer Stereotype unter in Deutschland lebenden Musli- Als gesichert gelten kann die tiefe Verankerung men, während die Zahl der von dieser Bevölke- antisemitischer Stereotype und Wahrnehmungs- rungsgruppe ausgehenden antisemitischen Über- muster in der Alltagskultur, doch ist völlig unge- griffe laut Kriminalitätsstatistik vergleichsweise klärt, in welchem Umfang sich dieser Bodensatz marginal ist. an Vorurteilen und Ressentiments in konkreten Handlungen (einschließlich verbaler Angriffe) in Was die Verbreitung von Stereotypen über Juden der alltäglichen gesellschaftlichen Interaktion und den Antisemitismus anbelangt, so hat sich äußert und welche Folgen dies für Juden und der Expertenkreis in diesem Bericht schwerpunkt- Nichtjuden hat. Die Dimensionen dieses Phäno- mäßig mit der Rolle der Medien beschäftigt.

178 Fazit

Entsprechend der öffentlichen Tabuisierung des im Januar 2011 in Deutschland anlief, ist in seiner Antisemitismus sind die deutschen Print-, Hörfunk- verzerrenden Darstellung Israels als rassistisch und und Fernsehmedien weitgehend frei von antisemi- antisemitisch kritisiert worden. tischen Inhalten. Positiv hervorzuheben ist, dass die Medien insgesamt kritisch über den Antisemi- Über die durch Satelliten zu empfangenden isla- tismus der NS-Zeit berichten und apologetischen, mistischen TV-Sender „Al-Manar-TV“ (der partei- revisionistischen und neonazistischen Tendenzen eigene Sender der „Hizb Allah“ mit Sitz in Beirut) entgegentreten. Allerdings finden sich immer sowie „Al-Aqsa-TV“ (der Sender der HAMAS mit wieder Stereotype und Klischees über Juden und Sitz im Gaza-Streifen) gelangt massive antisemiti- jüdisches Leben, die auch antisemitische Einstel- sche Propaganda, die unter anderem die Verherr- lungen ansprechen können. Dies gilt insbesondere lichung von Selbstmordanschlägen beinhaltet und für den Nahostkonfl ikt, in dem Israel – schon auf- auf die Forderung nach einer Vernichtung Israels grund des asymmetrischen Charakters der gewalt- hinausläuft, nach Europa und Deutschland. tätigen Auseinandersetzungen – überwiegend in der Rolle des handelnden Täters erscheint und die Wegen der eindeutig antisemitischen Inhalte die- Fokussierung auf den israelischen Militärapparat ser Sender hat die französische Aufsichtsbehörde kaum noch Raum für die Darstellung anderer die Ausstrahlung beider Sender über den Satelliten Aspekte der Lebensrealität in diesem Land zuzulas- Eutelsat unterbunden. In Deutschland erließ das sen scheint. Die Berichterstattung gibt auch Raum Bundesministerium des Innern am 11. November für die Gleichsetzung von „Israelis“ und „Juden“. 2008 darüber hinaus ein vereinsrechtliches Betä- Allerdings sind solche Klischees zumindest in den tigungsverbot gegen „Al-Manar-TV“. Beide Sender seriösen Medien nicht als durchgängiges Muster zu sind jedoch in Deutschland weiterhin über andere beobachten. Auch die immer wieder zu fi ndenden Satelliten zu empfangen. Markierungen einzelner Personen als Juden – so zum Beispiel, durchaus ressentimentbeladen, Der weltweit zu empfangende Sender „Islami- im Zusammenhang mit der Finanzkrise –, die sche Republik Iran Broadcasting“ (IRIB) sendet in durchaus latent antisemitische Haltungen in der deutscher und in weiteren 26 Sprachen. Die Be- Leserschaft unterstützen können, sind kein durch- richterstattung des deutschen Programms dieses gängig verbreitetes Muster. Senders mit Sitz im Bundespressehaus in Berlin ist deutlich antisemitisch. Der Iran exportiert seine Das Internet ist heute der wichtigste Kommuni- antisemitische Ideologie auch über internationale kationsort für den Austausch zwischen radikal- Buchmessen in Deutschland sowie über iranische anti semitischen politischen Gruppierungen und Buchläden in Europa. Einzelpersonen. Rechtsextreme, Holocaustleugner und extremistische Islamisten benutzen das Inter- Angesichts der relativ weiten Verbreitung anti- net in großer Selbstverständlichkeit als Plattform semitischer Einstellungen in der Bevölkerung zur Verbreitung ihrer antisemitischen Propagan- und der Präsenz von Judenfeindschaft im Alltag da. Besondere Aufmerksamkeit verdient das Ein- stellt sich – gerade angesichts der weitgehenden dringen solcher Inhalte in Mainstream angebote Tabuisierung des Antisemitismus im öffentlichen wie „YouTube“, „Facebook“ oder „Twitter“ oder in Raum – die bisher vollkommen unbeantwortete die Onlinemeinungsteile relevanter Medien, eben- Frage, wie antisemitische Stereotype, Vorurteile so wie das Anbieten von antisemitischen Schriften und Einstellungen in unserer Gesellschaft tradiert oder NS-Devotionalien auf anerkannten Verkaufs- werden. Von der Beantwortung dieser Frage hängt plattformen. insbesondere die Entwicklung wirksamer Gegen- strategien ab. Antisemitismus gelangt in einem nicht uner- heblichen Umfang auch über türkische Medien Um die Tradierung antisemitischer Vorurteile nach Deutschland. In der in Deutschland vertrie- und Einstellungen aufzudecken, sollten nach benen türkischen Presse fi nden sich immer wie- Auffassung des Expertenkreises vorrangig diejeni- der Beispiele für antisemitische Ausfälle, die im gen Großorganisationen in den Blick genommen Bericht beispielhaft ausführlicher zitiert wurden. werden, in denen junge Menschen über einen Solche Ausfälle umfassen vor allem antisemiti- längeren Zeitraum sozialisiert werden. Diese sche Verschwörungsvorstellungen, einen religiös „Sozialisationsinstanzen“ folgen in ihrer Arbeit begründeten „Antizionismus“, Aspekte der Holo- bestimmten – formellen oder informellen – Regeln caustleugnung sowie Vergleiche zwischen Israel und Normen und sind somit auch für Außenste- und NS-Deutschland. Auf türkischen Buchmessen hende ausreichend transparent. Hier bietet sich im Umfeld der „Milli Görüş“-Moscheen sind in zudem die Möglichkeit, durch eine Veränderung den vergangenen Jahren nachweislich mehrfach von Rahmenrichtlinien, Schulung von Mitarbei- antisemitische Publikationen vertrieben worden. tern etc. gegebenenfalls langfristig korrigierend Der türkische Film „Tal der Wölfe-Palästina“, der einzugreifen.

179 Fazit

In einem späteren Schritt wird man sich der Elemente dieser Judenfeindschaft zumindest in komplexeren Frage zuwenden müssen, ob und wie Nischen kirchlicher Arbeit überlebt haben könnten Stereotype über Juden und Antisemitismus inner- und weiterhin virulent sind. Im Zuge seiner Arbeit halb von Familien beziehungsweise innerhalb von hat der Expertenkreis verschiedene Anhaltspunk- informellen kleinräumigen Milieustrukturen – te dafür zusammengetragen, die zumindest eine Stammtische, Nachbarschaftskreise etc. – weiter- Reihe von kritischen Fragen nahelegen. Erreicht, verbreitet werden. so ist etwa zu fragen, der christlich-jüdische Dialog wirklich die Basis der Kirchenmitglieder, Zu den Sozialisationsinstanzen sind zunächst die einschließlich jener Gruppen, die zum Beispiel in öffentlichen Bildungseinrichtungen zu zählen. der evangelischen Kirche am „Auftrag“ der Juden- Neben der Besorgnis, dass Kitas und Kindergär- mission festhalten? Wie weit verbreitet sind heute ten insbesondere in den neuen Bundesländern zu noch der Überlegenheitsanspruch der christlichen Zielpunkten rechtsextremer Aktivitäten werden, Religion gegenüber Juden oder Gefühle einer An- sind hier vor allem die Schulen zu nennen. Denn fechtung der eigenen christlichen Identität? Inwie- trotz nachhaltiger Bemühungen, die junge Genera- weit werden heute im Religionsunterricht Juden tion gegen Antisemitismus zu sensibilisieren, kann immer noch als Gegner der christlichen Religion gerade die Schulausbildung bei der Tradierung präsentiert? Welche Wirkung hat der christliche antisemitischer Stereotype in mehrfacher Hin- Religionsunterricht generell auf das Bild, das sich sicht eine Rolle spielen – und zwar gerade gegen junge Menschen von Juden machen? Wie weit geht die Intentionen der Verantwortlichen und der die kritische Auseinandersetzung mit der Tradition Lehrenden. Erste einschlägige Forschungen über des christlichen Antijudaismus? die Schulpraxis, die der Expertenkreis gesichtet hat, haben verschiedene Anhaltspunkte für diese Zu den Sozialisationsinstanzen gehört auch das Vermutung ergeben: gerade in Deutschland bedeutende und breit ge- fächerte Vereinswesen. Der Expertenkreis hat sich, Dazu gehört die Frage, ob nicht antisemitische um die komplexe Problematik zumindest schlag- Stereotype durch die einseitige Hervorhebung lichtartig zu beleuchten, zunächst näher mit zwei von Juden als Opfer über Rahmenpläne und Beispielen beschäftigt: Schulbücher tradiert werden. Solche Stereotype können auch über Kinder- und Jugendliteratur Trotz erheblicher Gegenmaßnahmen seitens des transportiert werden, die im Unterricht in ver- Deutschen Fußball-Bundes sind auch heute noch schiedenen Fächern Verwendung fi nden. Im Zuge rassistische, rechtsextreme und antisemitische der Behandlung des Holocaust im Schulunterricht Parolen auf deutschen Fußballplätzen an der Ta- werden häufi g überzogene moralische Erwartun- gesordnung, wobei sich das Geschehen in den letz- gen an die Schüler gestellt, die bei den Betroffenen ten Jahren auf das Umfeld der Stadien und auf die Frustration zurücklassen und in einem typischen unteren Ligen verschoben hat. Beschimpfungen „Schuldabwehr“-Antisemitismus münden können. gegnerischer Mannschaften als „Juden“ sowie Die unrefl ektierte Nutzung von NS-Propaganda- insbesondere Beleidigungen jüdischer Spieler und mitteln im Unterricht kann dazu führen, dass Angehöriger jüdischer Mannschaften gehören sich bestimmte rassistisch-antisemitische Bilder zum deutschen Fußballalltag. Diese Vorkommnisse in den Köpfen der Schüler festsetzen. Die Tatsache, spielen sich, das erschwert Gegenmaßnahmen, dass der Nahostkonfl ikt im Allgemeinen im Schul- weniger im Vereinsleben selbst als im Umfeld der unterricht wenig thematisiert wird, hat ein Infor- Fangemeinden ab. mationsdefizit bei Schülern zur Folge, dass sie besonders anfällig für eine einseitig negative und Die Jugendfeuerwehren, um diesen immerhin überzogene Darstellung der Rolle Israels in diesem 240.000 Mitglieder umfassenden Zweig des Ver- Konfl ikt macht. einswesens als zweites Beispiel zu nennen, haben in einem Modellprojekt im Jahre 2009 in mehreren Antisemitische Vorurteile und Stereotype fi nden Bundesländern systematisch die Verbreitung von sich auch im universitären Umfeld, allerdings eher Ereignissen beziehungsweise Vorfällen mit einem als Randerscheinung. So kommt es immer wieder rechtsextremen, fremdenfeindlichen beziehungs- vor, dass Universitäten für Gastredner geöffnet weise antisemitischen Hintergrund in ihrer Orga- werden, die mit eindeutig antisemitischen Stereo- nisation untersuchen lassen. Die Ergebnisse sind typen hervortreten, und Studenten sind, wie eine zwar nicht alarmierend, jedoch so aussagekräftig, Reihe von Hinweisen zeigt, gegenüber einschlägi- dass sie Anlass für die Entwicklung einer Gegen- gen Vorurteilen keineswegs immun. strategie bieten.

Obwohl die christlichen Kirchen heute Antisemi- Die Beschäftigung mit den Sozialisationsinstanzen tismus eindeutig verurteilen, stellt sich vor dem führte den Expertenkreis unmittelbar zu der Frage Hintergrund eines jahrhundertealten christli- nach wirksamen Präventionsmaßnahmen. Unter chen Antijudaismus dennoch die Frage, ob nicht dem Stichwort Antisemitismusprävention entfalten

180 Fazit staatliche Institutionen und gesellschaftliche Die Frage nach der Antisemitismusprävention Organisationen eine große Zahl höchst unter- im Rahmen der staatlichen Bildungspolitik war schiedlicher Initiativen. Der Expertenkreis hat schließlich für die Einschätzung des Expertenkrei- sich zunächst darum bemüht, eine erste Bestands- ses zentral. In seinem Beschluss vom 4. November aufnahme vorzunehmen, die notwendigerweise 2008 „Den Kampf gegen Antisemitismus ver- exemplarisch und kursorisch bleiben muss. Sie stärken, jüdisches Leben in Deutschland weiter folgt in einem erheblichen Umfang Selbstauskünf- fördern“ forderte der Bundestag unter anderem die ten der jeweiligen Institutionen beziehungsweise Bundesregierung auf, sich bei den Ländern für die Organisationen, die zum Teil durch zusätzliche Erweiterung um „Themen zum jüdischen Leben, Materialien ergänzt werden konnten. Als erstes zur jüdischen Geschichte und zum heutigen Israel“ Ergebnis lässt sich festhalten, dass die gegen den einzusetzen. Diese Vorstellung ist laut Auskunft der Antisemitismus unternommenen Maßnahmen je Kultusministerkonferenz mittlerweile in fast allen nach Trägerorganisation weitgehend uneinheit- Lehrplänen umgesetzt, wobei der Schwerpunkt lich und unkoordiniert erfolgen, sie gehen von offenbar eindeutig auf der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Vorstellungen aus, was Anti- der Judenverfolgung in der NS-Zeit und der hieraus semitismus ist und wie er zu bekämpfen sei, und abgeleiteten „besonderen Verantwortung Deutsch- erfassen ihn häufi g in zu geringem Maße als eigen- lands für Israel“ liegt. Nur ein Teil der Länder ständiges Phänomen. Eine umfassende Strategie benennt ausdrücklich die Auseinandersetzung mit zur Bekämpfung des Antisemitismus in Deutsch- Antisemitismus im Schulunterricht als eigenstän- land existiert nicht. Der Expertenkreis betrachtet diges Thema. Mit welchen konkreten Ergebnissen es jedoch als seine wesentliche Aufgabe, aus seiner die Vorgaben der Ministerien in der Schulpraxis Kenntnis des Gesamtfeldes Wege für die Entwick- umgesetzt werden, ist allerdings eine weitgehend lung einer solchen Strategie aufzuzeigen. offene Frage. Neben der Behandlung des Themas im Unterrichtskanon sind zahlreiche Schulen in Originär zuständig für die Bekämpfung von einer unüberschaubaren Vielzahl von Projekten zur Antisemitismus sind zunächst Justiz und Polizei. Antisemitismusbekämpfung involviert. Der Expertenkreis versuchte zunächst, die Frage zu klären, ob die jeweiligen Behörden in diesem Zu- Ebenso wird innerhalb von zahlreichen kirch- sammenhang auch präventive Maßnahmen, also lichen Gemeinden eine große Zahl von Projekten etwa im Bereich der Schulung von Mitarbeitern, zur Bekämpfung des Antisemitismus betrieben, ergreifen. Als erstes Ergebnis kann festgehalten vorwiegend zur Auseinandersetzung mit der werden, dass Polizei- und Justizbehörden das The- Juden verfolgung im Nationalsozialismus. In bei- ma Antisemitismus überwiegend im Kontext des den Kirchen sind – laut Auskunft der Deutschen Rechtsextremismus verorten und mit präventiven Bischofs konferenz und vom Kirchenamt der EKD – Maßnahmen in erster Linie dort ansetzen. Falls sie auf der zentralen Ebene institutionelle Zuständig- spezifi sche Maßnahmen gegen eine Verbreitung keiten zur Antisemitismusbekämpfung und ein des Antisemitismus ergreifen, beziehen sich diese entsprechendes Problembewusstsein vorhanden. vorwiegend auf die Aufklärung über die national- sozialistische Politik im Rahmen der historisch- Im Bereich des Sports sind insbesondere Initiativen politischen Bildung, jedoch kaum auf Erschei- der Deutschen Sportjugend sowie des Deutschen nungsformen des heutigen Antisemitismus Fußball-Bundes hervorzuheben, die einzelnen außerhalb des rechtsextremen Kontextes. Vereinen nachhaltige Hilfestellungen gegen die Infi ltration der Vereinsarbeit und der Fangemein- Als wesentliche Träger der politischen Willens- den seitens rechtsextremer Kreise geben. Dabei bildung kommt den politischen Parteien auch im wird der Antisemitismus durchaus als integraler Bereich der Antisemitismusprävention eine wich- Bestandteil rechtsextremer Ideologie erkannt und tige Rolle zu. Dem Expertenkreis fiel es jedoch als eigenständiges Phänomen angesprochen. nicht leicht, ein umfassendes Bild über die ent- sprechenden Aktivitäten der Parteien zusammen- Im Bereich der Deutschen Jugendfeuerwehren ist zustellen: Während Die Grünen und die FDP nicht in den letzten Jahren ein Konzept zur Stärkung der auf die Anfragen des Expertenkreises reagierten, innerverbandlichen Demokratie und zur Bekämp- beziehen sich die Antworten von CDU und CSU auf fung des Rechtsextremismus entwickelt und er- die Programmatik der beiden Parteien und ihre probt worden. In diesem Zusammenhang werden grundsätzliche Haltung, Antisemitismus wie jede auch Maßnahmen zur Bekämpfung antisemiti- Form des politischen Extremismus zu bekämpfen. scher Erscheinungen ergriffen. SPD und vor allem „Die Linke“ verwiesen in ihren Antworten auf eine Fülle von weiteren Aktivitäten Eine nachhaltige und erfolgreiche Prävention ihrer Organisationen (Veranstaltungen, Publika- und Bekämpfung antisemitischer Einstellungen tionen, Anstöße zu diversen Aktivitäten etc.), die kann nur mit Hilfe eines spezifi schen, durch gut zudem durch die parteinahen Stiftungen unter- qualifi zierte Kräfte betreuten und breitgefächer- stützt würden. ten pädagogischen Instrumentariums erfolgen.

181 Fazit

Die Vermittlung historischer Kenntnisse über die Besonders die Übertragung der Konzepte und nationalsozialistische Judenverfolgung ist sicher Methoden in die Regelstrukturen von Schule und ein wichtiger Bestandteil einer solchen Strategie, Jugendhilfe erwies sich als schwierig. Die Ziel- reicht aber keinesfalls aus. setzung sollte daher stärker darauf ausgerichtet werden, Wege zu ermöglichen, die über die Jahre Vielmehr müssen solche gegenwartsbezogenen hinweg entwickelten Kompetenzen und Ressour- Ansätze deutlich im Vordergrund stehen, die cen der außerschulischen Bildungsträger in die dezidiert auf jene Themenfelder eingehen, in staat lichen Bildungseinrichtungen einzubrin- denen heute Antisemitismus vorwiegend geäußert gen. Zudem sollte eine Verlängerung der Modell- wird, also den Nahostkonfl ikt, den sekundären projektphase auf fünf bis sechs Jahre anvisiert Antisemitismus, den Islamismus sowie die Verkür- werden, damit noch Zeit bleibt, die Ergebnisse der zung komplexer ökonomischer Probleme auf dem Projektarbeit zu implementieren. Wege bestimmter Personalisierungen. Aus der Praxis empfi ehlt sich eine pädagogische Arbeit, Eindeutig hat dieser Bericht das rechtsextremisti- die insbesondere mit den Elementen „Begegnung“ sche Lager als nach wie vor wichtigsten Träger des und „Anerkennung“ arbeitet. Pädagogische Arbeit Antisemitismus in Deutschland benannt. Dieser richtet sich sinnvollerweise an Menschen, die nicht Befund wird insbesondere durch die Tatsache un- über ein geschlossenes antisemitisches Weltbild terstrichen, dass mehr als 90 Prozent aller antisemi- verfügen, und sie erscheint insbesondere dann als tischen Straftaten durch Täter begangen werden, sinnvoll, wenn sie neben Jugendlichen auch die die dem rechten Spektrum zugeordnet werden. Lebenswelt der Erwachsenen einbezieht. Offen ist in diesem Bericht hingegen die Frage Die Bundesprogramme zur Förderung einer geblieben, ob und inwieweit der von extremis- demokratischen Kultur wurden einer gesonderten tischen Islamisten auch in Deutschland propa- Prüfung und Bewertung unterzogen. Der Exper- gierte islamistische Antisemitismus unter den tenkreis kam dabei zu der Schlussfolgerung, dass hier lebenden Muslimen verbreitet ist. Angesichts die Programme des Bundes „Civitas“, „entimon“, fehlender empi rischer Untersuchungen ist damit „kompetent. für Demokratie – Beratungsnetzwerke eine genauere Gefahrenabschätzung zurzeit nicht gegen Rechtsextremismus“ und „Vielfalt tut gut“ möglich und bleibt als wichtige Aufgabe künftiger viele lokale Projekte angestoßen haben, die über Forschungen bestehen. ihren örtlichen Kontext hinaus bundesweit Auf- merksamkeit erzielten. Nicht nur in der Praxis, Der Bericht konnte zeigen, dass in der deutschen sondern auch im Bereich der Wissenschaft haben Mehrheitsgesellschaft in erheblichem Umfang sie wesentliche fachliche Impulse für die Antisemi- antisemitische Einstellungen in unterschied- tismusprävention gegeben. Kompetente Organi- lichen inhaltlichen Ausprägungen vorhanden sationen sind entstanden, und innovative Ansätze sind, die wiederum auf weitverbreiteten Vor- wurden erprobt. Es hat sich eine fachkundige urteilen und tief verwurzelten Klischees bezie- außerschulische Bildungslandschaft entwickelt, hungsweise auf schlichtem Unwissen über Juden die sowohl über wissenschaftliche Sachkenntnisse und Judentum basieren. Angesichts moderner als auch über methodisch-didaktische Fachkennt- Kommunikationsformen, wie sie insbesondere im nisse verfügt. Allerdings ist der einseitige Fokus auf Internet bestehen, ist eine Verbreitung dieses Ge- Jugendliche mit Migrationshintergrund in Teilen dankenguts kaum zu unterbinden. Die weitgehen- des Bundesprogramms „Vielfalt tut gut“ auch ein de Tabuisierung des Antisemitismus im öffent- Indiz dafür, dass die Mehrheitsgesellschaft, also lichen Diskurs, die bisher für die Bundesrepublik vor allem Jugendliche mit autochthonem deut- kennzeichnend war, droht damit, entscheidend schen Hintergrund, nicht in den Blick genommen an Wirksamkeit zu verlieren. Besonders gefähr- wird, obwohl auch dort antisemitische Äußerun- lich erscheint die Anschluss fähigkeit des bis weit gen und Haltungen zu bekämpfen wären. Im neu in die gesellschaftliche Mitte reichenden und aufgelegten Förderprogramm „Toleranz för- nicht hinreichend geächteten Antisemitismus dern – Kompetenz stärken“ ist dem zumindest mit für rechtsextremistisches Gedankengut. Nicht der Erweiterung auf die „Integrationsgesellschaft“ zuletzt angesichts der verheerenden histori- zum Teil Rechnung getragen. schen Auswirkungen des nationalsozialistischen Antisemitismus ist entschlossenen Gegenmaß- Für eine Nachhaltigkeit der inzwischen aus den nahmen eine hohe Priorität einzuräumen. Modellprojekten gewonnenen Erkenntnisse wäre zu wünschen, dass hervorragende Maßnahmen Die tiefe Verwurzelung von klischeehaften Juden- verstetigt werden und die Antragsteller nicht nur bildern und antisemitischen Einstellungen in der auf drei Jahre hinaus – solange sie im Rahmen der deutschen Kultur und Gesellschaft wird sich nur Modellprojekte gefördert werden – planen können. langfristig und mit nachhaltigen Maßnahmen

182 Fazit verändern lassen. Dieser Befund macht die Er- arbeitung einer umfassenden Abwehrstrategie in Zusammenarbeit von staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Organisationen notwen- dig, die das in Wissenschaft, Pädagogik und zivil gesellschaftlichen Initiativen vorhandene Po tenzial systematisch nutzen muss.

Hierzu hat der Expertenkreis einen umfangreichen Katalog von Empfehlungen ausgearbeitet.

183 Rubrik

VI. Empfehlungen

Zusammenfassung sowie „on the ground“ eine effi ziente Zusammen- arbeit zwischen Akteuren öffentlicher und nicht- In Deutschland bestehen auf den unterschiedlichen öffentlicher Institutionen und Gruppierungen Ebenen von Staat und Gesellschaft gute Voraus- möglich macht, trägt wesentlich zu diesen insge- setzungen für eine aktive Auseinandersetzung samt günstigen Voraussetzungen bei. Dasselbe gilt mit dem Antisemitismus in seinen verschiedenen für die Handlungsebene auch von mehrstufi gen Erscheinungsformen. Es muss künftig um die Op- Bundesprogrammen zur Förderung von Lokalen timierung und den abgestimmten Ausbau bezie- Aktionsplänen, Modellprojekten und Beratungs- hungsweise die Ergänzung vorhandener Strukturen netzwerken wie „Vielfalt tut gut“ oder „Toleranz gehen. Dazu bedarf es des Zusammenwirkens von fördern – Kompetenz stärken“. Bund, Ländern, Kommunen, Verbänden, Kirchen und Initiativen sowie spezifi scher Maßnahmen auf Der 2009 vom damaligen Bundesminister des den einzelnen Ebenen von Politik und Gesellschaft. Innern, Dr. Wolfgang Schäuble, einberufene Für Bereiche, in denen empirische und analytische unabhängige Expertenkreis Antisemitismus hat Defi zite zu konstatieren sind, müssen in den kom- sich als sinnvolles Instrumentarium erwiesen, das menden drei bis sechs Jahren im Rahmen beste- entsprechend den Besonderheiten der föderalen hender Förderlinien des Bundes und der Länder Struktur und der dezentralen Handlungsebenen entsprechende Untersuchungen in einem auf ge- der Bundesrepublik Deutschland einen anderwei- eignete Weise einzurichtenden Forschungsverbund tig so kaum möglichen Mehrwert an inhaltlichem geleistet werden. Es wird empfohlen, dass Bund und Ertrag bewirkt hat. Die Zusammenführung von Länder die entsprechenden Ressourcen vorhalten. Experten aus unterschiedlichen Räumen, Diszi- Für die evaluative Begleitung der vorgeschlage- plinen und Tätigkeitsfeldern kann insofern auch in nen Projekte und die regelmäßige Fortschreibung struktureller Hinsicht als fruchtbar betrachtet wer- des Berichts erscheint ferner die Fortführung des den. Deshalb sollte der unabhängige Expertenkreis unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, der fortgeführt werden und in länger angelegter Folge, über die notwendigen personellen und fi nanziellen nach Möglichkeit einmal in der Legislaturperiode Ressourcen verfügen muss, angezeigt. beziehungsweise spätestens alle vier Jahre, eine Fortschreibung des Berichts vorlegen. Dabei ist Antisemitismus und Prävention in Deutschland – neben einer aktualisierten Beschreibung des Pro- Empfehlungen an den Deutschen Bundestag blemfeldes insbesondere eine kritische Bestands- aufnahme der zwischenzeitlich unternommenen Der unabhängige Expertenkreis konnte sich für Schritte und neuen Entwicklungen in Forschung die Erarbeitung seines Berichts zum Antisemitis- und gesellschaftlicher Praxis zu unternehmen. mus auf eine für Deutschland und in Deutschland selbst ausgesprochen breite Forschungslandschaft Hierzu muss der Expertenkreis, dem für die Erstel- stützen und Informationen aus einer weit gefä- lung seines ersten Berichts vom Bundesministerium cherten Szenerie in Wissenschaft und Gesellschaft des Innern eine befristete freie wissenschaftliche beziehen. Hier zeigt sich, dass in Deutschland im Mitarbeiterin zur Verfügung gestellt wurde, auch internationalen Vergleich ausgesprochen günstige weiterhin über die entsprechenden Ressourcen Voraussetzungen nicht nur für Erhebungen, son- verfügen, um unabhängig agieren zu können. Eine dern auch für aktive gesellschaftliche Gestaltung kontinuierlich besetzte wissenschaftliche Arbeits- und Prävention bestehen. Institute, Forschungs- stelle ist hierfür unabdingbare Voraussetzung. zentren, einzelne Lehrstühle und Arbeitsstellen, aber auch die über akademische Disziplinen und Wenn es im Folgenden um Empfehlungen des Bildungseinrichtungen in öffentlicher und privater Expertenkreises für künftige Maßnahmen in For- Trägerschaft sowie Initiativen und Netzwerke ganz schung und gesellschaftlicher Praxis geht, werden unterschiedlicher Art verteilten Kompetenzen sind zwar auch bestehende Defi zite benannt, die sich für diesen Aktionsraum ganz wesentliche Voraus- aber aus dem Abgleich mit dem beschriebenen setzungen. Die föderale Verfassung der Bundesre- Befund ergeben und auf der Basis eines guten publik, die wesentliche Gestaltungsmöglichkeiten Ausgangsbestandes formuliert werden. Die Arbeit auf der Ebene von Ländern und Kommunen belässt des Expertenkreises in den Jahren 2009 bis 2011

184 Empfehlungen benennt unter diesen Prämissen eine Reihe von 1.2. Schwerpunktsetzung in Bildungseinrichtun- Maßnahmen und Aktivitäten, die für die weitere gen des Bundes, der Länder und der Verbände Interventions- und Präventionsarbeit vordring- lich erscheinen und für die im Zusammenwirken ■ Programme der Bundesregierung: Vom von Bund und Ländern im Rahmen bestehender Modell zur Regelpraxis Programme ein geeigneter wissenschaftsorgani- Die Förderprogramme der Bundesregierung satorischer Rahmen geschaffen werden soll, sowie (bislang Modellprojekte) sollten ohne effi zienz- Aufgabenfelder künftiger Forschung. mindernde Förderlücken längerfristig angelegt und nach vorangegangener positiver Evaluation 1. Politische Handlungsebene in die Regelpraxis überführt sowie verstetigt werden. Dabei sollten die Einzelprogramme zu Folgende Empfehlungen werden für die Ebene stärker übergreifend arbeitendem Vorgehen praktischen politischen Handels gegeben: mit dem Ziel der Abstimmung von Konzepten zur Bekämpfung von Antisemitismus angelei- 1.1. Konkretisierung der Erfassung tet werden, um das bislang zu beobachtende Nebeneinander von Aktivitäten samt Informa- Es wird empfohlen, dass tionsdefi ziten über vorliegende Konzepte und bestehende Programme zu vermeiden. ■ der vom Bundesministerium des Innern her- ausgegebene „Verfassungsschutzbericht“ Bundesprogramm „Vielfalt tut gut“ ebenso wie die entsprechenden Berichte der Länder künftig ein Kapitel zum Antisemitismus Themencluster: in linksextremen und islamistischen Gruppen • Die Logik der Themencluster sollte beibe- und Zirkeln nach dem Vorbild des jährlichen halten, bei überzeugenden Ansätzen sollten Berichtsteils zum Rechtsextremismus im Bun- aber auch clusterübergreifende Projekte desbericht aufnehmen; ermöglicht werden, die mehrere Unter- themen bearbeiten können. ■ die Polizeibehörden bei der Erfassung anti- • Eine Fortführung des Themenclusters semitischer Straftatbestände gegebenenfalls Antisemitismus ist zu begrüßen, jedoch die Kategorie „Ausländer“ nach Staatsange- sollte zukünftig die Stigmatisierung von hörigkeiten aufschlüsseln beziehungsweise Jugendlichen mit Migrationshintergrund sonstige aussagekräftige Kategorien für Täter vermieden werden, wie sie zum Beispiel mit Migrationshintergrund einführen; durch die bisher gewählten Unterthemen geschah. Stattdessen ist die Ausweitung der ■ Schritte unternommen werden, die eine Ver- Programmschwerpunkte auf die „gesell- besserung der Kommunikation zwischen schaftliche Mitte“ sinnvoll. staatlichen Exekutivorganen und nichtstaat- Ko-Finanzierung: lichen Organisationen und Initiativen über • Die Senkung der hohen Ko-Finanzierungs- bestehende und geplante Maßnahmen zur vorgaben für Modellprojekte erscheint not- Antisemitismusprävention sicherstellen, wendig, um deren nachhaltige Arbeit nicht • dies kann am besten durch einen kontinu- zu gefährden. ierlichen Informationsaustausch zwischen Lokale Aktionspläne: staatlichen Institutionen, gesellschaftlichen • Die bisherige Förderungspraxis sollte Organisationen (Kirchen, Verbänden) sowie überdacht werden. Insbesondere die enge einschlägig arbeitenden Initiativgruppen Koppelung der Vergabe fi nanzieller Mittel sowie Wissenschaftlern über bestehende an kommunale Strukturen kann die Arbeit und geplante Maßnahmen zur Antisemitis- kleinerer Projekte unnötig erschweren, falls musprävention geschehen. Als ersten Schritt beispielsweise die nötige Problemwahrneh- regt der Expertenkreis an, hierzu eine mung innerhalb der Stadt-/Kreisverwaltung Arbeitsgruppe nach dem Vorbild der in Ber- fehlt, Sorgen um „den guten Ruf“ der Region lin angesiedelten und bundesweit tätigen überwiegen oder rechtsextreme Tendenzen „Task Force for Education on Antisemitsm“ stillschweigend geduldet werden. einzurichten; ■ Bildungseinrichtungen verwaltungstätiger ■ die Enquete-Kommission „Internet und Behörden und Exekutivorgane des Bundes digitale Gesellschaft“ antisemitische Stereo- und der Länder, die in ihrer Arbeit auf das typisierungen und antisemitische Inhalte im Thema Antisemitismus bezogen sein können, Internet thematisiert und ihrerseits entspre- sollten regelmäßig Fortbildungsseminare zu chende Empfehlungen erarbeitet. den Besonderheiten und der geschichtlichen

185 Empfehlungen

Entwicklung des Antisemitismus durchführen, lung lokal angepasster Programme und Struk- damit die Mitarbeiter dieser Organe einschlä- turen unterstützen. gige Vorkommnisse in ihrem Arbeitsbereich angemessen zuordnen können. Diese Emp- ■ Schwerpunktsetzung in anderen fehlungen beziehen sich insbesondere auf die Bildungseinrichtungen Schule für Verfassungsschutz, die Deutsche Regelmäßige Fortbildungsseminare zu den Hochschule der Polizei, die Landespolizei- ideologischen Besonderheiten und der ge- schulen und Polizeiakademien der Länder. schichtlichen Entwicklung des Antisemitismus Empfohlen werden ferner Polizeischulungen sollten auch anderweitig an geeigneten Stellen über Ergebnisse der Mobilen Beratungsteams durchgeführt und die Fortführung bereits in Bezug auf Wahrnehmung rechter antisemi- bestehender Angebote sollte sichergestellt wer- tischer Gewalt nach dem Vorbild gemeinsamer den. Dazu zählen insbesondere die Deutschen Veranstaltungen von NGOs und der Berliner Richterakademien in Trier und Wustrau sowie Polizei im Vorfeld des „Al-Quds-Tages“ 2010. die parteinahen Stiftungen, die Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung sowie ■ Justiz: Präventionsmaßnahmen Akademien in kirchlicher, gewerkschaftlicher Der Expertenkreis empfi ehlt für den Bereich und anderer Trägerschaft. der Justiz eine stärkere Fokussierung der Justizbehörden auf den Antisemitismus als ■ Förderung von Initiativen – Förderung von ein eigenständiges Phänomen, und zwar so- Nachhaltigkeit wohl innerhalb als auch außerhalb des rechts- Es wird empfohlen, die Förderung solcher extremen Kontextes. Als erster Schritt wird zivilgesellschaftlicher Organisationen sicher- eine Bestandsaufnahme im Rahmen einer zustellen, die dem Anliegen aktiver Antisemi- von den Justizministerien auszurichtenden tismus- und Vorurteilsprävention zuarbeiten Fachtagung vorgeschlagen. und über eigene Kompetenz hierfür verfügen. Dazu zählen etwa Gruppen, die sich in Zuarbeit ■ Länder zu den Forschungen zur Medienrezeption das Opferhilfe Monitoring in Deutschland rezipierter auslän- • Zur Verbesserung sollten über die bestehen- discher Medienangebote zur Aufgabe machen, den Angebote für Opfer rechtsextremer samt Unterstützung begleitender medienpä- Übergriffe und Gewalt hinaus speziell auch dagogischer Projekte (Medienkompetenz). für Opfer antisemitischer Übergriffe Hilfsan- Angeregt wird ferner die weitere Förderung und gebote bereitgestellt werden. Dies bezieht qualitativ auswertende Begleitung von Projek- sich insbesondere auf Einrichtungen der ten, die nichtjüdische und jüdische Jugendliche Gerichtshilfe und der Opferschutzbeauftrag- miteinander ins Gespräch bringen und Aus- ten bei Polizeidienststellen. handlungsorte für wechselseitige Vorstellun- Lehrerfortbildung: gen und Schnittmengen schaffen. • Als Länderaufgabe sollte die Lehrerfortbil- dung in den notwendigen Strukturen erhal- 2. Empirisch-wissenschaftliche Ebene ten beziehungsweise adäquat ausgebaut werden und mit entsprechenden Angeboten Die hier folgend verzeichneten Aufgaben dienen eine zentrale Rolle in der aktiven Antisemi- der gebotenen Gewinnung eines aktualisierten tismus- und Vorurteilsprävention einneh- Befunds zu Profi l und Verbreitung antisemitischer men können. und sonstiger Vorurteilsstrukturen sowie ihres Bildungspartnerschaften: speziellen und gesamtgesellschaftlichen Effekts. • Sie sollten zwischen schulischen und Sie schaffen die Voraussetzung zur genaueren Be- außerschulischen Bildungsbereichen aktiv stimmung und langfristigen Durchdringung von gefördert werden. Gegenwartsphänomen, die sich beim aktuellen Kenntnisstand nur annähernd beschreiben und ■ Kommunen, Gebietskörperschaften und analysieren lassen. Zur Erfüllung dieser Aufgaben kommunale Spitzenverbände bedarf es entsprechender fi nanzieller Ausstattun- Auf kommunaler Ebene und denen der Land- gen, die aus bestehenden Förderlinien des Bundes kreise sollten für Personal und Mandatsträger und der Länder zu beziehen sind. Weiterbildungsangebote bereitstehen, auch mit dem Ziel, aus der Kommunalverwaltung 2.1. Forschungsgegenstände heraus Initiativen zu befördern, die der Beset- zung und „Normalisierung“ des öffentlichen Im Einzelnen werden folgende Bereiche zur Unter- Raums durch rechtsextreme Gruppierungen suchung als vordringlich und als unverzichtbare entgegenarbeiten. Die kommunalen Spitzen- Grundlage für die weitere Erfassung erachtet: verbände sollten ihre Mitglieder in der Entwick-

186 Empfehlungen

■ eine umfassende gesamtdeutsche Unter- • eine bevölkerungsrepräsentative Medien- suchung in Zusammenarbeit des Expertenkrei- reichweiten- beziehungsweise Medien- ses mit einem oder mehreren qualifi zierten Mei- nutzungsanalyse unter Einbeziehung der nungsforschungsinstituten zum Antisemitismus migrantischen Bevölkerungsteile; auch in Hinblick auf sonstige Vorurteilsstruktu- • eine Studie zur Mediendynamik im Umfeld ren mit entsprechend umfangreich abgesicher- des Themenkreises Antisemitismus samt ter methodischer und praktischer Vorbereitung; Analyse des Zusammenwirkens institutio- nell etablierter wie unabhängiger Akteure. ■ in der Folge eine daraus konzeptionell abge- leitete, langfristig jährlich zu unternehmende 2.2. Forschungsverbund Update-Umfrage, die nach einheitlichen Stan- dards vorgenommen wird. Für die Durchführung der bezeichneten For- schungsprojekte wird die Einrichtung eines Vordringlich erscheint ferner Forschungsverbundes angeregt, der in Zusammen- arbeit mit dem Expertenkreis an eine bestehende ■ eine auf diesen Ergebnissen basierende Universitätsstruktur angebunden sein soll und in- Untersuchung in Hinblick auf migrantische stitutionell niederschwellig die anstehenden Pro- Bevölkerungsgruppen insbesondere zur Frage jekte verbinden, begleiten und in einem Zeitraum nach dem Zusammenhang zwischen nationaler von drei bis sechs Jahren durchführen soll. Ange- beziehungsweise religionsgemeinschaftlicher messen erscheint eine temporäre Strukturierung, Identität und dem Themenkomplex Antisemi- etwa als Graduiertenschule, die unter Leitung tismus, zumal die bis dato vorliegenden Unter- einer Forschungsprofessur dezentral Nachwuchs- suchungen diese Gruppen entweder ausdrück- kräfte aus den Sozial- und Kulturwissenschaften lich ausgeschlossen beziehungsweise ungenau auf der Ebene von Promovierenden und Postdocs in erfasst haben. ihren Arbeiten begleitet und zu regulären Arbeits- sitzungen zusammenführt. Empfohlen werden ferner 2.3. Forschungsförderung ■ Einzeluntersuchungen zu Umfang und Profi l antisemitischer Einstellungen auch in Hinblick Der skizzierte Forschungsverbund sollte im Zeit- auf sonstige Vorurteilsstrukturen in raum von sechs Jahren aus Förderplänen des Bun- a.) Schulen und Universitäten, des und der Länder zur Gewinnung einer gesicher- b.) Kirchen und anderen Religionsgemein- ten empirischen Basis für langfristig nachhaltige schaften, politische und gesellschaftliche Intervention und c.) Vereinen und Verbänden (gegebenenfalls als Prävention gefördert werden. Fallstudien zu ausgewählten Beispielen); 2.4. Didaktik ■ Medien: • eine Einzeluntersuchung zur Verbreitung Vordringlich erscheinen die von antisemitischen und sonstigen vorur- teilsgeleiteten Inhalten in den in Deutsch- ■ Erarbeitung von fachlich abgesicherten Stra- land rezipierten Medien, einschließlich: tegien durch ausgewiesene Forschende mit empirisch abgesicherter Erhebungen Akzent auf der Verfeinerung und Vermittlung und Analysen der Wirkung antisemiti- wirksamer Gegennarrative zu den wichtigs- scher und sonstiger vorurteilsgeleiteter ten antisemitischen Argumentationsmustern Momente im Alltag, sowohl hinsichtlich und Ideologemen des rechtsextremen und des gesamt gesellschaftlichen Effekts wie des islamistischen, aber auch des linksex- auch der Auswirkung auf jüdisches Leben tremen Spektrums, gegebenenfalls durch und Juden in Deutschland unter besonde- Auftragsvergabe an geeignete akademische rer Berücksichtigung der lebensweltlichen Einrichtungen; Situation junger Juden; • eine Einzeluntersuchung zum Einfluss ■ qualitätsgesicherte Weiterentwicklung von Kriegen, politischen Konfl ikten oder bestehender und Förderung künftiger Begeg- wirtschaftlichen und gesellschaftlichen nungsprogramme zur Erweiterung wechselsei- Krisensituationen; tiger Kenntnis zwischen jüdischen und nicht- • eine medienwissenschaftliche Analyse von jüdischen Bevölkerungsgruppen, insbesondere offenen oder halboffenen Internetplattfor- auf schulischer Ebene und in sonstigen Formen men (Blogs, Foren, Kommentare) im Hin- der Jugendarbeit, samt fachlich absichernder blick auf ähnliche Strukturen mit Übergän- und auswertender Begleitung. gen zu antisemitischen Haltungen;

187 Empfehlungen

3. Gesellschaftliche Handlungsebene 3.4. Sonstige gesellschaftliche Aktionsräume

3.1. Antisemitismus und Vorurteilsstrukturen Aufgabe der benötigten wissenschaftlichen in ihrem Gegenwartszusammenhang Arbeitsstelle des Expertenkreises wird es unter vermitteln anderem sein, weitere Aktionsräume auf der ge- sellschaftlichen Handlungsebene zu erschließen, Es wird empfohlen, im Bereich der politischen gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit geeigne- Bildung und der sonstigen Bildungsarbeit, ins- ten Partnern wie der Moses Mendelssohn Akade- besondere auf der Ebene von Multiplikatoren, die mie in Halberstadt oder dem Fritz Bauer Institut, Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus Uni versität Frankfurt a. M. Dazu gehören etwa: nicht auf den Holocaust und einzelne geschicht- liche Momente zu reduzieren, sondern Informati- ■ Trainings- und Fortbildungsveranstaltungen onsarbeit umfassend und in der historischen und für Multiplikatoren; sozialwissenschaftlichen Vorurteilsforschung aufgehoben fundiert in deutlich gegenwarts- ■ Erfassung und Konsultierung einschlägiger bezogenem Zusammenhang zu vermitteln. Um Programme und Initiativen sowie ihrer Schwer- dies zu gewährleisten, sollten die bereits vorliegen- punkte samt Publikation und Zielgruppen-Ver- den Materialien (zum Beispiel Bundeszentrale für linkung (lehrer-online, Schulen ans Netz e. V. politische Bildung, Anne Frank Zentrum Berlin, etc.); Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, Amadeu Antonio Stiftung Berlin, amira Berlin), ■ Mediatoren-Trainees für Provider sozialer die sich explizit mit aktuellen Formen des Anti- Netzwerke in Zusammenarbeit mit der Frei- semitismus auseinandersetzen, genutzt werden. willigen Selbstkontrolle Multimedia-Dienste- anbieter e. V. (FSM); 3.2. Bessere Bekanntmachung vorhandener Instrumentarien ■ Förderung der Attraktivität deutschsprachiger Medien für migrantische Zielgruppen durch Wo vielfach bereits etablierte Programme und eine interkulturelle Öffnung in Berichterstat- Instrumentarien zur Antisemitismus- und Vorur- tung und Personal. Vorgeschlagen wird die teilsprävention bestehen, die aber oft nur unzurei- Gründung eines entsprechenden öffentlich- chend genutzt werden, sind auf geeignete Weise rechtlichen Programms nach dem Vorbild von Anstrengungen zu unternehmen, diese besser arte in Verbindung mit dw-tv und dw-world.de. bekannt zu machen (zum Beispiel Bundesprüf- stelle für jugendgefährdende Schriften, „Hass-im- Netz“, „jugendschutz.net“, „Netz gegen Nazis“, „Nazi-Propaganda melden“, Deutscher Bildungs- server). Dies kann etwa durch eine entsprechende Onlineplattform geschehen, die bei der benötig- ten Arbeitsstelle des Expertenkreises anzusiedeln ist und entsprechend aktuelle Informationen und Verweise vorhält.

3.3. Einbeziehung gesellschaftlicher Bildungsträger

In Analogie zu den Empfehlungen in 1.2. und 2.1. wird angeregt, dass Journalistenschulen in öffent- lich-rechtlicher, unternehmensgebundener und freier Trägerschaft in Zusammenarbeit mit exter- nen Experten in ihren Programmen das Bewusst- sein für die Tradierung antisemitischer Stereotype und Klischees über Juden schärfen und eigene Themenblöcke dazu anbieten. Beim unabhängi- gen Expertenkreis ist eine Liste möglicher Partner vorhanden.

188 Empfehlungen

189 Rubrik

Die Mitglieder des unab hängigen Expertenkreises

Aycan Demirel Prof. Dr. Johannes Heil Studium der Publizistik, Politik und Geschichte, Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Mitbegründer und Leiter der Kreuzberger Initia- Kunstgeschichte und Religionsphilosophie tive gegen Antisemitismus (KIgA). Seine Arbeits- in Frankfurt am Main sowie Judaistikstudien schwerpunkte liegen in den Themenbereichen in Frankfurt, Tel Aviv und Haifa. Promotion in Antisemitismus und Islamismus in der Einwande- Frankfurt 1994, Habilitation an der Technischen rungsgesellschaft Deutschlands und in der Tür- Universität Berlin 2003. Nach Forschungsaufent- kei. Seit 2000 ist er in der Jugendbildung tätig und halten in Madison/Wisconsin und Notre Dame/ leitete seit 2004 verschiedene Projekte der KIgA, Indiana ist er seit 2005 Inhaber der Ignatz-Bubis- darunter zuletzt das Bundesmodellprojekt Stiftungsprofessur für Geschichte, Religion und „Pädagogische Module gegen Antisemitismus Kultur des europäischen Judentums an der Hoch- für muslimisch geprägte Jugendliche“ im schule für Jüdische Studien Heidelberg und seit Rahmen des Bundesprogramms „Vielfalt tut gut“ 2008 zudem Erster Prorektor der Hochschule für und seit Oktober 2010 das Modellprojekt „Präven- Jüdische Studien Heidelberg. tive Bildungsprozesse zum Islamismus im Rah- men der Ganztagsschule gestalten“. Prof. Dr. Peter Longerich ist Professor für Moderne Deutsche Geschichte Dr. Olaf Farschid am Royal Holloway College der Universität Lon- Islamwissenschaftler mit Schwerpunkt isla- don und Gründer des dortigen Research Centre mistische Ideologie, Islamische Ökonomik und for the Holocaust and Twentieth-Century History. politische Ikonographie des Nahen Ostens. Von Er war von 1983 bis 1989 am Institut für Zeitge- 1994 bis 1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter schichte in München tätig und wurde 1995/1996 der Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orient der vom International Center for Holocaust Studies Freien Universität Berlin. 1999 Promotion zum in Yad Vashem gefördert. 2002/2003 lehrte er Dr. phil. am dortigen Institut für Islamwissen- als Gastprofessor am Fritz Bauer Institut und schaft; 1999 bis 2002 wissenschaftlicher Referent forschte anschließend 2003/2004 als J. B. and am Orient-Institut der Deutschen Morgenländi- Maurice Shapiro Senior Scholar in Residence schen Gesellschaft (OIB), Beirut. Seit 2002 wissen- am Centre for Advanced Holocaust Studies des schaftlicher Referent für Islamismus und islamis- Holocaust Memorial Museum in Washington. tischen Terrorismus in der Senatsverwaltung für Inneres Berlin. Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber Dipl.-Pol, Dipl.-Soz., Dr. phil, ist hauptamtlich Elke Gryglewski Lehrender an der Fachhochschule des Bundes für Studium der Politologie in München, Santiago de öffentliche Verwaltung in Brühl, Dozent an der Chile und Berlin. Wissenschaftlich-pädagogische Schule für Verfassungsschutz in Heimerzheim, Mitarbeiterin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus Lehrbeauftragter an der Universität in Bonn, der Wannsee-Konferenz. Herausgeber des „Jahrbuchs für Extremismus- und Terrorismusforschung“. Seine Arbeitsschwer- punkte sind: Antisemitismus, Extremismus, Ideengeschichte, Kommunismus, National- sozialismus, Totalitarismus und Zeitgeschichte.

190 Die Mitglieder des unab hängigen Expertenkreises

Dr. Martin Salm Studium der Altamerikanistik, Ethnologie und Volkswirtschaftslehre, Vorstandsvorsitzender der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ), Berlin (Ende 2010 aus gesundheit- lichen Gründen ausgeschieden).

Prof. Dr. Julius H. Schoeps geb. 1942 Djursholm/Schweden, Politikwissen- schaftler und Historiker, Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam.

Dr. Wahied Wahdat-Hagh Dipl.-Soziologe und Dipl.-Politologe, Dr. rer. Pol. Er ist Senior Research Fellow bei der European Foun- dation for Democracy (EFD) in Brüssel und seine Arbeitsschwerpunkte sind: Islamismus als eine neue totalitäre Ideologie, Islamistischer Antisemitismus und Anti-Bahaismus, Menschenrechtsbewegungen und Demokratisierungsprozesse im Nahen Osten.

Dr. Juliane Wetzel studierte Geschichte und Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Sie war von 1987 bis Anfang 1991 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Zeitgeschichte, München und ist seit 1991 wissenschaftliche Mit arbeiterin am Zentrum für Antisemitismus- forschung der Technischen Universität Berlin. Sie ist geschäftsführende Redakteurin des Jahrbuchs für Antisemitismusforschung und Mitglied der Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research als Vor- sitzende der Akademischen Arbeitsgruppe. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Juden unter national- sozialistischer Verfolgung (Deutschland, Frank- reich, Italien), jüdische Nachkriegsgeschichte (jü- dische Displaced Persons), Rechtsextremismus und Antisemitismus im Internet sowie aktuelle Formen des Antisemitismus in Deutschland und Europa.

191 Rubrik

Abkürzungsverzeichnis

ADL Anti-Defamation League HuT Hizb al-Tahrir al-islami

AJC American Jewish Committee IGMG Islamische Gemeinschaft Millî Görüş e. V. Attac Association pour une taxation des transactions fi nanciers pour IRIB Islamische Republik Iran l’aide aux Citoyens (Vereinigung Broadcasting für eine Besteuerung von Finanz- transaktionen zum Nutzen der KPD Kommunistische Partei Bürger) Deutschlands

BDIMR Büro für demokratische MLPD Marxistisch-Leninistische Partei Institutionen und Menschen- Deutschlands rechte (deutsche Übersetzung von ODIHR → siehe dort) MMZ Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien CIDI Centrum Informatie en Documentatie Israel NGO Non-Governmental Organization

CST Community Security Trust NPD Nationaldemokratische Partei Deutschlands DFB Deutscher Fußball-Bund e. V. ODIHR Offi ce for Democratic Institutions DITIB Dachverband Türkisch-Islamische and Human Rights Union der Anstalt für Religion e. V. OSZE Organisation für Sicherheit und DKP Deutsche Kommunistische Partei Zusammenarbeit in Europa

DVU Deutsche Volksunion PLO Palestine Liberation Organization

ECRI European Commission against PMK Politisch motivierte Kriminalität Racism and Intolerance SAV Sozialistische Alternative Voran EHESS École des Hautes Études en Sciences sociales SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands EKD Evangelische Kirche in Deutschland SNCCP Swedish National Council for Crime Prevention EUMC European Union Agency for Fundamental Rights StGB Strafgesetzbuch

EVZ Stiftung Erinnerung, TC Themencluster der Bundes- Verantwortung, Zukunft programme (unter anderem „Vielfalt tut gut“) FRA Fundamental Rights Agency UNO United Nations Organization GMF Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit VELKD Vereinigte Evangelisch- Lutherische Kirche Deutschlands

192 Abkürzungsverzeichnis

193 Rubrik

Literaturverzeichnis

A B

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208 Diese Broschüre wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des Bundesministeriums des Innern kostenlos herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlbewerbern oder Wahlhelfern während eines Wahlkampfes zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für Europa-, Bundestags-, Land- tags- und Kommunalwahlen. Missbräuchlich ist insbesondere die Verteilung auf Wahlveranstaltungen und an Informationsständen der Parteien sowie das Einlegen, Aufdrucken oder Aufkleben parteipolitischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist gleichfalls die Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahl- werbung. Unabhängig davon, wann, auf welchem Weg und in welcher Anzahl diese Schrift dem Empfänger zugegangen ist, darf sie auch ohne zeitlichen Bezug zu einer bevorstehenden Wahl nicht in einer Weise verwendet werden, die als Parteinahme der Bundesregierung zugunsten einzelner politischer Gruppen verstanden werden könnte. Impressum

Herausgeber: Bundesministerium des Innern Alt-Moabit 101 D 10559 Berlin

Gestaltung und Produktion: MEDIA CONSULTA Deutschland GmbH

Druck: Silber Druck oHG, Niestetal

Stand: August 2011

1. Aufl age: 2.000 Exemplare

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