Julia Viehweg Dante und die cantautori

Die Dante-Rezeption in der italienischen Popkultur des 20. Jahrhunderts

Riassunto: Se Wolf Biermann dice che i cantautori sono quelle persone »[...] che non sanno suonare la chitarra, ma in compenso... non sanno neppure cantare«1, si tratta di una riduzione polemica del concetto del cantautore. I cantautori stessi si vedono non solo come una nuova generazione di cantanti, ma anche di scrittori e storiografi, che attraverso l’impegno politico vogliono essere la voce di una nuova generazione di giovani negli anni ’60. Questo contributo esamina come il fenomeno dei cantautori sia legato alla ricezione di Dante in questi anni. Prima viene presentata una definizione del termine ›cantautore‹, poi si posiziona il movimento dei cantautori nella discussione della intertestualità nella letteratura, che nasce proprio negli stessi anni, e in ultimo si analizza l’esempio Odysseus dall’album Ritratti (2004) di .

1 Einleitung

»[...] [V]iver tra coloro / che questo tempo chiameranno antico« (Par. XVII, 119– 120), äußert Dante als Wunsch zu Vergil, während sie sich dem Zentrum des Paradieses annähern. Sich durch sein Werk in den literarischen Kanon ein- zuschreiben, zu einem von den ›antiken Klassikern‹ zu werden, lautet Dantes Anliegen und man kann sagen, dass dies ihm durchaus gelungen ist. Seit der Veröffentlichung der Göttlichen Komödie gibt es eine fortlaufende Rezeption des Werkes; zunächst in Italien, dann auch im Rest Europas und der Welt. Zu fragen bleibt jedoch, wie es mit der Dante-Rezeption im 20. bzw. 21. Jahrhundert aus- sieht – ist der Klassiker noch Teil des Diskurses oder gehört er zu jenen, die zwar zitiert, aber nicht mehr gelesen werden? In den 1960er Jahren entwickelt sich in Italien eine Form der Gegenwartsliteratur, die versucht, eine neue Verbindung zwischen Poesie und Musik sowie Populär- und Hochkultur zu schaffen. Es

1 Wolf Biermann, Otto lezioni per un’estetica della canzone e della poesia. A cura di Alberto Noceti [Titolo originale: Wie man Verse macht und Lieder. Eine Poetik in acht Gängen.], Genova 2010, S. 33.

Julia Viehweg (München), E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/dante-2019-0008 Dante und die cantautori 155 handelt sich um die cantautori, die nur unzureichend im Deutschen mit dem Terminus Liedermacher übersetzt werden können. In diesem Kontext entstehen Lieder mit einer starken Bindung an die Realität und einer neuen Sprache, welche den Text poetisch und anspruchsvoll machen sollen, anders als die Texte der musica leggera.2 Im vorliegenden Beitrag soll untersucht werden, wie das Phäno- men der italienischen cantautori mit der Dante-Rezeption zusammenhängt. Trotz aller Innovation berufen sich Autoren wie Fabrizio De André, Francesco Guccini und Lucio Dalla auf das poetische Erbe Italiens und die Verwendung traditionel- ler poetischer Gedichtformen und Reimschemata. Vor allem in Italien, in dem von einer ununterbrochenen Dante-Rezeption seit dem Erscheinen der Divina Comme- dia ausgegangen werden kann, soll untersucht werden, wie Dante auf formaler bzw. intertextueller Ebene Eingang in die Populärkultur findet und dort neu interpretiert wird. Wenn die Divina Commedia den Anspruch vertritt, für das 13. Jahrhundert eine Art ›Zeitgedicht‹ und Spiegel der Ereignisse zu sein, bleibt außerdem zu fragen, ob die cantautori dies gewissermaßen aufgreifen und in die Postmoderne übersetzen. In einem ersten Schritt wird deswegen die Bezeichnung ›cantautore‹ näher bestimmt, bevor dann anhand eines ausgewählten Beispiels von Francesco Guccini, Odysseus (2004) aus dem Album Ritratti, auf postmoderne Formen der intertextuellen Dante-Rezeption eingegangen werden soll.

2 Definition der Termini ›cantautore‹ und ›Intertextualität‹

Zunächst soll also die Beschreibung ›cantautore‹ untersucht werden. Zu Beginn noch von der Forschung wenig beachtet, rücken diese in den letzten Jahren – nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland – neben Comics und Filmen als Teil der Gegenwartskultur vermehrt in den Fokus des wissenschaftlichen Interes- ses. Frank Baasners Monographie Poesia cantata. Die Textmusik der italienischen Cantautori (1997) und sein Sammelband3 von 2002 können dabei als Grundstein

2 Vgl. Franco Fabbri, Around the clock. Una breve storia della popular music, 2016, S. 97. Die Bezeichnung musica leggera hat sich in Italien in Anlehnung an Theodor W. Adornos Termi- nus leichte Musik durchgesetzt, mit der primär jede Form nicht-klassischer Musik gemeint ist. Erst später wurde der Begriff negativ besetzt. Vgl. Francesco Ciabattoni, »Italy’s cantautori in the

1980 s on the Backdrop of riflusso«, in: Alessandro Carrera (Hrsg.), La memoria delle canzoni. Popular music e identità italiana, Pasturano 2017, S. 140–168, hier S. 163. 3 Vgl. Frank Baasner (Hrsg.), Poesia cantata. Bd. 2. Die italienischen Cantautori zwischen Engage- ment und Kommerz, Tübingen 2002. 156 Julia Viehweg der Forschung in Deutschland bezeichnet werden. Im strengeren Sinne handelt es sich bei den cantautori um ein zeitlich begrenztes Phänomen, dass seinen Anfang in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts nimmt und seinen Höhepunkt in den folgenden zwanzig Jahren erreicht. und Vasco Rossi können somit gewissermaßen als zeitliche Eckpfeiler der Bewegung beschrieben werden.4 Neben Modugnos legendärem Auftritt beim Festival di San Remo 1958, bei dem er mit Volare eine neue Art zu singen und eine neue Form des Liedtextes, surreal und poetisch, präsentierte, kann die Gründung der Gruppe Cantacronache in Turin 1957 als Anfangspunkt der Bewegung bezeichnet werden.5 Schriftsteller wie Italo Calvino, und Franco Fortini arbeiten mit Musikern wie Fausto Amodei, Margot und Sergio Liberovici zusammen, um eine neue Form des musi- kalischen Ausdrucks zu finden. Ziel ihrer Lieder ist »[...] la produzione di canzoni che si contrappongano alla banalità e alla mistificazione ideologica della musica leggera italiana«.6 Wenig später wird von Ennio Melis und Vincenzo Micocci von der RCA auch der Neologismus des cantautore als Bezeichnung für die Mitglieder der Gruppe zum ersten Mal verwendet. Bestehend aus ›cantante‹ (Sänger) und ›autore‹ (Autor) beschreibt der Begriff grundsätzlich jeden Sänger, der seine Texte und Musik auch selbst schreibt. Was jedoch »[...] doveva essere un’espressione scherzosa, diventerà sinonimo di impegno«.7 In Abgrenzung von der ›musica leggera, da consumo‹, wird die Pop-Musik der cantautori poetisch und künst- lerisch. Neue Themen, wie das alltägliche Leben in seiner ganzen Problematik, auch die existenzielle, rücken in den Vordergrund. Negativ ausgedrückt bedeutet das also, dass »[...] wer in seinen Texten keine Sozialkritik, keine politischen Themen, keine moralischen Fragen aufwirft, sondern nur die Schönheit von Wein, Weib und Gesang würdigt, der ist kein Cantautore«8. Künstler wie Luigi Tenco und Fabrizio De André gehören zu den ersten, die die Zuordnung für sich selbst benutzen. Marco Santoro hat in seinem Aufsatz What is a cantautore?9 eine

4 Vgl. Marianna Orsi, »›Non so se sono stato mai un poeta e non mi importa niente di saperlo‹. Cantautori e poeti secondo i cantautori«, in: Andrea Ciccarelli/Mary Migliozzi/Marianna Orsi (Hrsg.), Musica pop e testi in Italia dal 1960 a oggi, Ravenna 2015, S. 135–151, hier S. 136. Zu den cantautori der zweiten und dritten Generation bzw. das Aufkommen des italienischen Raps in Dialekt in den 90er Jahren vgl. auch Ruedi Ankli, »Das Autorenlied 1985–2000. Von ›Washing- ton‹ zu ›Ciao‹ und ›Addio‹«, in: Frank Baasner (Hrsg.), Poesia cantata. Bd. 2. Die italienischen Cantautori zwischen Engagement und Kommerz, Tübingen 2002, S. 11–50. 5 Vgl. Fabbri, Around the clock (wie Anm. 2), S. 97. 6 Ebd., S. 94. 7 Ebd., S. 97. 8 Baasner, Poesia cantata (wie Anm. 3), S. 4. 9 Vgl. Marco Santoro, »What is a ›cantautore?‹ Distinction and authorship in Italian (popular) music«, in: Poetics 30 (2002), S. 111–132. Dante und die cantautori 157 detaillierte Klassifizierung des Terminus aufgestellt, auf die hier nur verwiesen werden soll. Neben der Personalunion von Sänger und Komponist (wobei diese

Funktion auch von zwei Personen ausgeübt werden kann, z. B. bei der Zusam- menarbeit von Lucio Battisti und Mogol), ist es vor allem der Anspruch der Texte der cantautori, poetisch zu sein und eine Botschaft zu besitzen, die sie von ihren musikalischen Vorgängern unterscheidet. Als Vertreter der Nachkriegsgeneration und der 68er Revolution, ist es das Ziel der Cantautori »[...] non solo di ›dire qualcosa‹, ma di fare anche i conti con la cronaca e [...] la storia«10. Zum ersten Mal in der Geschichte der italienischen Musik tritt dabei auch der Sänger als Privatperson in den Vordergrund, dessen Lieder eng mit seiner Persönlichkeit und seinem persönlichen Engagement verknüpft werden. Autenticità, sincerità und verità sind drei häufig mit den cantautori verknüpfte Eigenschaften. Bedeut- sam in diesem Kontext ist auch das Zusammenspiel von Musik und Text. Erst durch die Verbindung von Wort und Musik erreichen die Lieder der cantautori ihre Wirkung; auch, weil durch die Musik ein ganz anderes, junges Publikum erreicht werden konnte und kann. Die Verbreitung von Radio und Fernsehen in den 70er Jahren tragen aus medientheoretischer Sicht zum Boom der cantautori in diesen Jahren bei. Damit bleibt die Frage nach dem Verhältnis der canzone d’autore zur Poesie, die durch die Schwierigkeit zu bestimmen, was eigentlich ein Gedicht ist, noch erschwert wird. Es ist hier nicht der Platz dafür, dieser Frage im Detail nachzugehen, vor allem da die Problematik in der Forschung bereits erläutert wurde. Als grundsätzliche Annahme für diesen Beitrag soll allein fest- gehalten werden, dass hier die Lieder der cantautori wie Gedichte behandelt werden, da sie sich klassischer Merkmale wie Reimschemata und Metrum bedie- nen und mit poetischem Anspruch auftreten. Ciabattoni fasst das problematische Verhältnis zwischen poesia und canzone folgendermaßen zusammen: »[...] la canzone è un genere artistico che non necessita di legittimazioni esterne, ed è anche rischioso perché come esistono splendide canzoni, esistono anche brutte poesie«.11 Bevor mit der Analyse des Liedtexts von Guccini im Hinblick auf die Dante- Rezeption begonnen wird, soll zunächst zudem der Begriff der Intertextualität in seiner Bedeutung für die Literaturwissenschaft und die cantautori kurz dargestellt werden. Seit den 1960er Jahren hatte in der Literaturwissenschaft eine zunehmen-

10 Gianni Borgna, Storia della canzone italiana. Prefazione di Renzo Arbore, Milano 1992, S. 354. 11 Francesco Ciabattoni, La citazione è simbolo d’amore. Cantautori italiani e memoria letteraria, Roma 2016, S. 18. Auch Marianna Orsi hat anhand einer Vielzahl von Beispielen das schwierige Verhältnis zwischen Dichtern und cantautori, das von der Identifizierung über ironische Dis- tanzierung bis hin zur Negierung eines Zusammenhangs reicht, untersucht. Vgl. Orsi, Non so se sono stato mai un poeta (wie Anm. 4), S. 135–151. 158 Julia Viehweg de Abwendung vom Postulat der Werkimmanenz und Neuorientierung hin zum Konzept des ›offenen Textes‹ stattgefunden. Statt Texte als geschlossene Systeme zu betrachten, wurde auf die Rolle und Funktionalisierung von Zitaten, Para- phrasen und Allusionen eingegangen. Grundlegende Überlegungen stammen dazu von Michail Bachtin, welcher die Dialogizität als herausragendes Merkmal des Romans festgelegt hat. Im Anschluss an Bachtin entwickelte Julia Kristeva den Begriff der Intertextualität weiter, indem sie ihn als grundlegendes Element aller Texte festlegte. Jede Form von Textualität kann auch als Form von Inter- textualität gesehen werden, da alles Geschriebene diachron und synchron zu- sammenhängen würde.12 Dabei geht es in der Theorie Kristevas nicht darum, die Entstehung von Texten zu fördern, die den Korpus vor ihnen entstandener litera- rischer Quellen in sich vereinen, sondern »[...] um die Anerkennung der poeti- schen Sprache als ein autonomes System, das sich in Wechselspiel mit anderen Texten, und hierzu gehört auch die Geschichte, die Gesellschaft und jegliche Form der Kultur, befindet«13. Als Text werden somit nicht nur literarische Erzeug- nisse verstanden, sondern alle kulturellen Produkte und gesellschaftlichen Ereig- nisse, die vom Autor aufgegriffen und verarbeitet werden; besonders für die Analyse postmoderner Romane ist dies von Bedeutung. Zwei Formen der Intertextualität treten nun besonders häufig in den Texten der cantautori auf, nämlich Allusionen und Zitate. Teilweise sind diese für alle zugänglich und verständlich, teilweise beziehen sich die Lieder auf weniger bekannte Texte oder Autoren, was das Verstehen der Anspielungen komplexer gestaltet. Vielleicht noch stärker als in der Literatur ist das Publikum der cant- autori von einer großen Heterogenität gekennzeichnet, vertreten sie doch den Anspruch, Popmusik im Sinne von Populärmusik im Sinne von Volks-Musik zu machen. Durch das Zitieren von literarischen Werken schreiben sich Autoren wie De André und Lucio Battisti in einen literarischen Kontext ein, der wiederum nur von einem ausgewählten Publikum verstanden werden kann, ohne die Wirkung des Werkes auf die breite Masse zu schmälern.14 Allusionen und Zitate haben somit nicht nur dekorativen Wert, sondern »[...] contribuiscono ad una maggiore comprensione della canzone come testo sì originale e tuttavia inestricabilmente connesso con altri testi«.15 Unterschieden werden muss dabei zwischen dem reinen Zitat ohne Veränderung des Textes und der tatsächlichen künstlerischen

12 Vgl. Susanne Holthuis, Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption, Tü- bingen 1993, S. 14. 13 Eva Angerer, Die Literaturtheorie Julia Kristevas. Von Tel Quel zur Psychoanalyse, Wien 2007, S. 44. 14 Vgl. Ciabattoni, La citazione è simbolo d’amore (wie Anm. 11), S. 12–13. 15 Ebd., S. 14–15. Dante und die cantautori 159

Auseinandersetzung mit dem Vorbild, die hier im Fokus stehen soll. Wenn Angelo Branduardi mit Paradiso Canto XI einen der dantesken Gesänge vertont, dann ist der Dante-Bezug zwar gegeben, es findet jedoch keine Bearbeitung statt.16 Wie Ciabattoni in seiner Monographie schreibt, ist es nur verständlich, dass die Allusionen und Zitate der cantautori inzwischen in den Fokus rücken, da »[...] molti critici letterari delle generazioni recenti sono cresciuti con il lampo dei versi di De André in un orecchio e nell’altro l’eco del Paradiso di Dante«.17 Reminis- zenzen, Allusionen, Zitate und Anspielungen sind somit nicht nur Hommage an den jeweiligen Autor, sondern auch Teil des künstlerischen Anspruchs der canzo- ne d’autore. Auf sie zu achten kann nicht nur neue Aufschlüsse zum Verständnis der Liedtexte der cantautori geben, sondern auch auf die Vorgehensweise und Funktionen moderner Poesie verweisen. Ohne auf den weiteren Verlauf der Debatte um Intertextualität und ihrer Bedeutung für die Postmoderne einzuge- hen, soll nun nach dem Verfahren der Bezugnahme der cantautori auf die Gött- liche Komödie gefragt werden. Drei Möglichkeiten des Zugangs stehen dabei im Vordergrund: erstens das Aufgreifen der dantesken Form, sprich der Terzinen, zweitens das Aufgreifen dantesker Bilder und Metaphern, drittens die Funktiona- lisierung des Texts als Zeitgedicht und Spiegel der Gegenwart. Auf eine Schwierig- keit soll dabei gleich zu Beginn hingewiesen werden, nämlich die Frage nach der Abgrenzung bzw. dem, was vorausgesetzt werden kann – kann davon ausgegan- gen werden, dass die cantautori Dante gelesen haben? Anhand des Liedes Odys- seus von Francesco Guccini soll im Folgenden diesen Fragen nachgegangen werden.

3 Dante-Rezeption bei Francesco Guccini

Francesco Guccini, geboren 1940 in , gehört zur ersten Generation der cantautori in Italien, dessen musikalische Karriere Mitte der 60er Jahre mit Liedern wie Dio è morto oder Noi non ci saremo beginnt. Folgt man den zu Beginn genannten ›Kriterien‹ Santoros zur Bestimmung eines cantautore, so erfüllt Gucci- ni alle notwendigen Vorgaben: Aus bürgerlichem Hause stammend, studiert er in an der Facoltà di Lingue, um anschließend als Lehrer, Journalist und freier Schriftsteller zu arbeiten. Auffällig ist auch der starke regionale Bezug Guccinis, der nicht nur dialektale Elemente in seine Lieder einfließen lässt, sondern vielfach über seine Heimat Bologna und die -Romagna singt. Die

16 Vgl. ebd., S. 15. 17 Ebd., S. 17. 160 Julia Viehweg

Frage, ob Guccini Dantes Göttliche Komödie gelesen hat, lässt sich nicht abschlie- ßend beantworten – aufgrund seiner Bildung, seines Studiums an der Universität, sowie des Aufbaus seiner Lieder kann jedoch von einer Kenntnis ausgegangen werden.18 Fast alle von Guccinis Liedern sind durchgängig gereimt; mit Vorliebe verwendet er umarmende Reime und Paarreime. Danteske Terzinen sucht man bei ihm jedoch vergeblich – diese Form der Dante-Rezeption kann anhand der Texte Guccinis somit nicht weiterverfolgt, sondern müsste an einem anderen Beispiel nachgewiesen werden. Guccinis Lieder versuchen den Spagat, »[...] di cultura popolare e contadina da una parte e raffinata erudizione accademica dall’altra«,19 repräsentiert durch den Reim und politisches Engagement und Um- gangssprache andererseits. Diese Mischung zwischen ›aulico e prosaico‹20 ist typisch für die Lieder Guccinis und erzeugt eine gewisse Spannung beim Hörer: »[...] Guccini spiccava subito per la classicità del metro e per la versificazione ricercata [...]. Scrive spesso, tuttora, ballate con suddivisione strofica, ponendo al centro la parola e il ritmo di endecasillabi e settenari«.21 Die Poetik Guccinis kann somit also zusammengefasst werden als die Zusammenführung von politischem Engagement, literarischen Anspielungen und somit gewissermaßen Elementen der Hochkultur sowie dem Ziel, für alle zugängliche Popmusik zu schaffen. Durch die Mischung von so verschiedenartigen Elementen entsteht durch Guccinis Collagetechnik eine neue Form der Literatur, die wiederum für ein junges wie für ein älteres, gebildetes Publikum funktioniert. Im Folgenden soll die Dante-Rezep- tion Guccinis anhand des Liedes Odysseus (Ritratti, 2004) untersucht werden.22 Die Methodik Guccinis wird hier besonders offensichtlich, »[...] che consiste nello sviluppare un personaggio-simbolico arrichendolo e impreziosendolo con con- tributi personali e di autori vari [...], questo mix di letteratura e poesia, mito e storia«.23 Im Lied wird Odysseus ein Monolog in den Mund gelegt, in dem er Ziel und Absicht seiner Reise vorstellt. Allgemein bekannte Topoi der Odyssee Ho- mers, wie der geblendete Zyklop oder die Sirenen, werden genannt. Dadurch, und durch die Betitelung des Liedes, wird klar, um wen es sich handelt und wessen

18 Vgl. Catherine Danielopol, Francesco Guccini. Burratinaio di Parole. Prefazione di Massimo Cotto, Bologna 2001, S. 18 und Gemma Nocera, Le parole di Francesco Guccini. Romanzi poesie storie e ballate nelle canzoni di un poeta cantautore, Torino 2009, S. 8. Beide Autorinnen berufen sich auf Selbstaussagen Guccinis, Autoren wie Kerouac, Rimbaud, Verlaine, Baudelaire, aber eben auch Dante, Guido Guinizelli oder Cino da Pistoia gelesen zu haben. 19 Accademia degli Scrausi, Versi rock. La lingua della canzone italiana negli anni ’80 e ’90. Introduzione di Sandro Veronesi, Milano 1996, S. 74. 20 Vgl. Danielopol, Francesco Guccini (wie Anm. 18), S. 38. 21 Ciabattoni, La citazione è simbolo d’amore (wie Anm. 11), S. 38. 22 Vgl. Liedtext im Anhang. 23 Nocera, Le parole di Francesco Guccini (wie Anm. 18), S. 176. Dante und die cantautori 161

Geschichte hier erzählt wird, da der Name Odysseus sonst im Lied nicht fällt. Dass sich das Lied auf verschiedene Vorbilder stützt, wird von Guccini auch selbst thematisiert, heißt es im Untertitel doch Con ringraziamenti e scuse a Omero,

Dante, Foscolo, C. Kavafis, J. C. Izzo, A. Prandi. Zunächst soll aber noch einmal die Stelle in der Göttlichen Komödie betrachtet werden, in der Dante von Odysseus spricht. Dante schreibt über Odysseus im XXVI. Gesang des Infernos, in dem die Bestrafung von Odysseus und Diomedes im achten Kreis der Hölle, dem der ›unlauteren Ratgeber‹ dargestellt werden. Auf die Rechtfertigung der Verurteilung Odysseus’ durch Dante und die Richtigkeit seiner Strafen kann hier nicht weiter eingegangen werden. Zusammengefasst und in Einklang mit den moralischen Vorgaben des 13. Jahrhunderts, sind es vor allem Odysseus’ Neugier, sein Hochmut und sein »folle volo«, die ihn in die Hölle verbannt haben. Nach dem Erblicken eines ›dunklen Berges‹, mit dem wahr- scheinlich der Purgatoriumsberg gemeint ist, hatte ein Sturm das Schiff Odysseus’ und seiner Begleiter zum Sinken gebracht:

Considerate la vostra semenza: fatti non foste a viver come bruti, ma per seguir virtute e conoscenza. Li miei compagni fec’io sì aguti, con questa orazion picciola, al cammino, che a pena poscia li avrei ritenuti. E volta nostra poppa nel mattino, de’ remi facemmo ali al folle volo, sempre acquistando dal lato mancino.24 (Inf. XXVI, 118–126)

Dantes Verurteilung Odysseus und seine Verbannung ins wurde in der Forschung vielfach diskutiert und Gründe dafür gefunden, die hier nicht wieder- gegeben werden können, vor allem, da sich heutzutage die Beurteilung Odysseus’ als Held der homerischen Odyssee durchgesetzt hat. Guccinis Version des Odysseus-Mythos ist in endecasillabi geschrieben und durchwegs gereimt (vgl. den Text im Anhang). Das lyrische Ich in Guccinis Lied scheint im Rückblick, aus dem Jenseits heraus, über seine Reise zu berichten, ist der Text doch vor allem zu Beginn im imperfetto geschrieben (vgl. V. 1). Es beginnt damit, dass Odysseus beteuert, eigentlich nicht zum Meer zu gehören: »[...] bisogna che lo affermi fortemente che, certo, / non appartenevo al mare« (V. 1). Stattdessen wendet sich der Text zunächst einer Beschreibung der Inseln zu, von denen aus Odysseus im griechischen Mythos aufgebrochen war. Durch Oliven

24 , La Divina Commedia. Introduzione di Bianca Caravelli, note di Lodovico Magugliani, Milano 2016. 162 Julia Viehweg und Getreide werden diese hier, obwohl sie gleichzeitig auch als ›steinig‹ und karg beschrieben werden, als für das lyrische Ich paradiesisch dargestellt. Dieser starken Verbindung Odysseus’ mit der Erde und ihren Erzeugnissen (vgl. V. 7–12) und der Beständigkeit der Erde wird die Seefahrt als flüchtige Bewegung ent- gegengestellt. Wie in der Erzählung von Dante erscheint Odysseus hier als Getrie- bener, der von Insel zu Insel segelt. Guccinis Odysseus wird wie in der Göttlichen Komödie vor allem aus zwei Gründen angetrieben – Neugier und Wissensdurst. Die Anapher »E andare« greift diesen Drang des Odysseus, nach der ersten Heimkehr wieder aufzubrechen und weiterzufahren, auf der sprachlichen Ebene auf, einen ewigen Kreislauf imitierend: »[...] Ma se tu guardi un monte che hai di faccia / senti che ti sospinge a un altro monte, / un’isola col mare che l’abbraccia / ti chiama a un’altra isola di fronte« (V. 7–8). Als Grund für seine Ausfahrt wird auch von Guccini das ›Schicksal‹ und die Abenteuerlust des Odysseus genannt: »[...] E andare come spinto dal destino / verso una guerra, verso l’avventura« (V. 21). Diese scheint jedoch nicht von ihm selbst auszugehen, sondern als sein ›Schicksal‹, Ausdruck des Willens der Götter. Auch wenn es sich hier nicht um ein wörtliches Zitat aus der Göttlichen Komödie handelt, greift Guccini Motive des Odysseus-Mythos, wie er bei Dante erzählt wird, auf. Wie bei Dante – und auch bei Homer – tritt Odysseus vorrangig in seiner Funktion als exemplarischer Mensch auf, der nicht aus eigenem Willen handelt, sondern von den Göttern und dem ›Schicksal‹ immer weitergetrieben wird. Interessant ist auch, wie sich bereits ab der dritten Strophe die zeitliche Struktur des Liedes ändert. Vom beschreibenden imperfetto wechselt das Lied nun ins passato remoto, den Fokus auf die (weit zurückliegende?) Handlung legend. Paradoxerweise beginnt das lyrische Ich des Liedes nun, über seine Zukunft und somit sein eigenes Ende und den Tod zu sprechen: »concavi navi dalle vele nere e nel mare / cambiò quella mia vita... / E il mare trascurato mi travolse, seppi che il / mio futuro era sul mare« (V. 10–11). Aus dem Rückblick heraus erzählt Odysseus davon, dass seine Zukunft auf dem Meer und in dem ewigen Segeln liegt, »con un dubbio però che non si sciolse, senza / futuro era il mio navigare« (V. 11). Damit wird der Erzählung durch das lyrische Ich bereits eine negative Konnotation beigegeben, da es selbst seine Fahrt als ziellos und ohne Zukunft beschreibt. Es scheint, als würde das Ich des Liedes selbst über seine durch den Mythos und die verschiedenen Erzählungen bekanntes Ende sprechen. Im Anschluss an Dante erhält auch hier die Reise Odysseus »[...] il gusto del proibito« (V. 16), ist »[...] senza futuro« (V. 12). Demgegenüber steht, und auch hier klingt Dante durch, dass »ad ogni viaggio reinventarsi un mito, a ogni incontro ridisegnare il mondo« (V. 15) – genau dies erlebt auch Dantes lyrisches Ich in der Göttlichen Komödie, dem sich in jedem Gespräch im Jenseits eine neue Geschichte und somit eine neue Welt öffnet. Später soll hierauf noch Dante und die cantautori 163 genauer eingegangen werden, doch es zeigt sich bereits hier, dass es statt der Taten Odysseus’ vor allem das Gespräch, der ›incontro‹ sind, die ihm Ewigkeit ermöglicht haben. Es könnten noch weitere Beispiele im Text gefunden werden, jedoch konnte bereits bis hierher gezeigt werden, dass es Guccini über eine Reihe von indirekten Zitaten und Anspielungen gelingt, Anklänge an Dante und seine Darstellung des Odysseus herzustellen. Wichtiger als die genaue Zitation scheint jedoch der Modus der Erzählung und die Bewertung der Meerfahrt des Odysseus zu sein. Statt als Held des homerischen Epos steht die Figur Odysseus’ mit seinen Eigenschaften der Selbstüberschätzung im Vordergrund, die zum Untergang führen muss. Von der Vergangenheit des passato remoto wechselt der Text in Strophe vier ins Präsens, wie auch auf der Ebene des Textes reflektiert wird: »Ma nel futuro trame di passato si uniscono a brandelli di presente« (V. 13). Scheinbar der Zeitlichkeit enthoben, wendet sich der Text nun der Beschreibung der Seefahrt zu. Im Kontrast zu den schwarzen Segeln des Schiffs (vgl. V. 10) stehen nun die »giorni bianchi« (V. 17), das Unbekannte, in das Odysseus sich begibt. Auch wenn dies nicht explizit im Text genannt wird, könnte es sein, dass Odysseus in diesem Moment die Säulen des Herkules erreicht hat, bei denen er in der Version Dantes stirbt, das sprichwörtliche unbekannte Weiße. Immer schneller wird nun das Lied, immer schneller wird nun auch bei Guccini der Untergang Odysseus erzählt: »[...] mi sfuggono il timone, vela, remo, la frattura / tra inizio ed il finire, / l’urlo dell’accecato Polifemo ed il mio navigare per fuggire« (V. 27). Zunächst zerbre- chen auf materieller Ebene das Ruder und die Segel, um schließlich auch die Grenzen zwischen den zeitlichen Strukturen, Anfang und Ende, aufzubrechen. Auch wenn in Guccinis Lied die Säulen des Herkules und der anschließende Tod Odysseus’ auf dem Meer nur angedeutet werden, so finden beide Reisen doch ihr gleiches Ende, denn »e fuggendo si muore e la mia morte sento vicina« (V. 29). Im Anschluss zitiert Guccini nun auch wörtlich aus der Göttlichen Komödie und markiert für den – klassisch gebildeten – Leser/Zuhörer die Reminiszenz an Dante. »Forse perché sono rimasto solo, / ma allora non tremava la mia mano / e i remi mutai in ali al folle volo / oltre l’umano« (V. 31) heißt es bei Guccini, und bei Dante »[...] de’ remi facemmo ali al folle volo« (Inf. XVI, 125). Auch bei Guccini wird Odysseus letztendlich für seinen »folle volo«, seine Überheblichkeit und seinen Versuch, die Grenzen des Menschseins zu überschreiten, bestraft. Soweit zu den wörtlichen Übernahmen Guccinis aus der Göttlichen Komödie. Eigentlich ist es vor allem die Zitierung des »folle volo«, die beim (sicher vor allem italie- nischen) Leser/Hörer an Dante erinnert und das Lied in diesen Kontext stellt. Das wörtliche Zitat aus der Göttlichen Komödie scheint im Rahmen des Liedes mehrere Funktionen zu besitzen. In beiden Fällen wird die Ausfahrt des Odysseus als ›follia‹, als Verrücktheit und Grenzüberschreitung bewertet und ist somit negativ 164 Julia Viehweg

konnotiert. Aufgrund der vorhin angedeuteten Moralvorstellungen des 13. Jahr- hunderts erscheint dies für Dante durchaus angebracht, aber für einen Autor des 21. Jahrhunderts? Ist es als Warnung vor der Selbstüberschätzung zu lesen oder im Kontext von Guccinis restlichen Liedern, in denen es häufig um den ›Mythos Amerika‹, die Auswanderung und Grenzüberschreitung geht? Abschließend kann diese Frage nicht beantwortet werden, dazu müsste verstärkt vielleicht auch der Kontext des Liedes im Hinblick auf das Album Ritratti (auf dem es auch ein Lied mit dem Titel Cristoforo Colombo gibt) betrachtet werden, wofür hier nicht der Platz ist. Es wäre zu einfach, den Dante-Bezug Guccinis alleine an dem wörtlichen Zitat aus der Göttlichen Komödie festzumachen. Im Anschluss soll nun auf zwei weitere Aspekte der Dante-Rezeption eingegangen werden, die Guccini von Dante zu übernehmen scheint, nämlich die poetologische Komponente des Erlangens von Ewigkeit durch die Sprache und die Rolle des Lieds als modernes Zeitgedicht und Spiegel der Gesellschaft. Vor allem in den letzten Strophen des Liedes verschiebt sich der Fokus Guccinis auf die Materialität des Textes und die literarische Erinnerung als wahrer Kern der Erzählung von Odysseus, denn

Solo leggende perse nella notte perenne di chi un giorno mi ha cantato donandomi però un’eterna vita racchiusa in versi, in ritmi, in una rima, dandomi ancora la gioia infinita di entrare in porti sconosciuti prima. (V. 34–36)

Odysseus erscheint hier weniger als Sünder, sondern vor allem als literarische Figur, die in der Erzählung schließlich Ewigkeit erlangt hat. »Di chi un giorno mi ha cantato« heißt es im Text, womit somit nicht nur Dante gemeint ist, sondern auch die anderen literarischen Vorbilder des Mythos. Das, was auch Dante selbst für sein Lied erhofft hat, wie zu Beginn zitiert wurde, wird hier Odysseus zuteil. Im Medium der Literatur lebt Odysseus auch nach seinem Tod weiter, einge- schlossen in die Reime und Verse. Auf dem Meer hinterlässt das Schiff keine Spur, weswegen die Erzählung des Odysseus die einzige Möglichkeit für ihn darstellt, Ewigkeit zu schaffen und etwas der allgemeinen Vergänglichkeit entgegenzuset- zen. ›Eingeschlossen‹ und somit konserviert ist Odysseus auch in den vielen, auf Dante folgenden Erzählungen, wie denen von Izzo und Prandi, die Guccini ebenfalls als seine Quellen zitiert, und vor Dante bei Homer, der den Mythos zuerst weitergegeben hat. Guccini reflektiert somit die Geschichte der Odysseus- Rezeption, dessen Erlebnisse im Mythos zur ewigen Erzählung geworden sind und durch die verschiedenen Erzählungen weitergegeben werden. Guccini reiht sich gleichermaßen auch ein, indem er selbst seine Version des Odysseus als Dante und die cantautori 165

Mischung verschiedener Versionen und Erzählungen wiedergibt. Weniger be- deutsam als die Figur des Odysseus selbst wird somit seine Transformation in Text, die zwar seine Weiterentwicklung verhindert, ihm jedoch Ewigkeit im Mythos garantiert. Neben den oben genannten wörtlichen Zitaten aus der Gött- lichen Komödie scheint dies der vorrangige Bezug Guccinis zu Dante zu sein, denn auch Dante gelingt es in seinem Werk, sich selbst und den Seelen, den er begegnet, Ewigkeit zu verleihen. Erst im Modus des Erzählen gelingt es, etwas Bleibendes zu schaffen, denn »la memoria confonde e dà l’oblio, chi era / Nausicaa, e dove le sirene?« (V. 25). Odysseus würde erst wirklich sterben, »quando tutto tace« (V. 29), wie es im Lied heißt. Erst, wenn nicht mehr von Odysseus erzählt werden würde, sei es bei Homer, Dante oder eben Guccini, würde dieser vergessen werden und somit den ›wahren Tod‹ erleiden. Damit werden zwei poetologische Komponenten intendiert: Zum einen wird darauf ver- wiesen, dass auf diese Art und Weise Odysseus in Dantes Werk literarisch ver- ewigt wird, zum anderen darauf, dass Guccini als cantautore, also eigentlich Sänger, diesen literarischen Anspruch nun aufgreift und auf die Popmusik über- trägt. Nicht mehr die Literatur ist es, die die Erinnerung bewahrt und literarisches Zeugnis der aktuellen Geschehnisse ist, sondern die Popmusik der cantautori übernimmt nun diesen Anspruch. Damit schließt sich Guccini an die Ansprüche der Cantacronache an, eine alternative Geschichte der Ereignisse der 60er Jahre zu erzählen und für alle zugänglich zu machen. Auf die weiteren Anspielungen auf Foscolo, Homer etc. kann hier nicht weiter eingegangen werden; sie haben jedoch gemeinsam, dass sie Guccinis Vorgehens- weise deutlich machen: Seine Texte sind literarische Collagen, die eine Vielzahl von bekannten Anspielungen und Allusionen, Zitaten zu etwas Neuem vereinen.25 Jedem Leser bzw. Hörer bleibt es dabei selbst überlassen, diese aufzuspüren oder das Lied Guccinis für sich alleine stehen zu lassen. Odysseus als grenzüberschrei- tender Künstler, wie er oft interpretiert wurde, steht symbolisch für die Arbeits- weise Guccinis, der bewusst Zitate aus dem humanistischen Kanon mit denen weniger bekannter Autoren wie Izzo oder Prandi, bei dem es sich übrigens um einen Cousin Guccinis handelt, mischt. Dabei variieren auch die verschiedenen mit Odysseus verbundenen Konnotationen. Bei Dante schließlich verurteilt, wer- den in Ugo Foscolos Gedicht A Zacinto (1803) das Exil des Autors und der Wunsch nach Heimkehr mit der Situation Odysseus verglichen. In Jean-Claud Izzos Roman Les marins perdus wird hingegen Odysseus als vorbildlich, heldenhaft, und als Symbol für das Abenteuer dargestellt, »[...] alla contraddizione di chi ancora non

25 Vgl. Ciabattoni, La citazione è simbolo d’amore (wie Anm. 11), S. 46. 166 Julia Viehweg sa se desidera l’ambito ritorno o l’orizzonte dei mari«26. Noch einen weiteren Aspekt übernimmt Guccini eher von Dante als von Homer: Während das Epos Homers mit der Heimkehr Odysseus schließt, endet bei Guccini die Reise Odys- seus mit dem Wunsch danach, zurückzukehren, »[...] e tornare contro ogni vaticino contro gli Dei e contro la paura« (V. 22), ohne dass jedoch davon im Text erzählt werden würde. Guccini erstellt somit nicht nur eine Collage von Werken aus verschiedenen Jahrhunderten, sondern präsentiert und vereint in seinem Lied auch verschiedene Möglichkeiten, den Mythos Odysseus’ zu interpretieren. Er äußert sich auch selbst zu seiner Poetik der Collage und den literarischen Vor- bildern zu Odysseus:

Io ho citato un lungo elenco di poeti a cui ho rubato qualche cosa qua e là, insomma, rubato, mi hanno ispirato, si dice, perché, allora: se uno non è molto conosciuto, ruba; se uno è un po’ conosciuto, si fa ispirare dagli altri. C’è qualche sottile differenza.27

Betrachtet man den Untertitel des Liedes genauer, sieht man auch dort einen Verweis auf die Technik Guccinis: Schließlich heißt es dort nicht nur »ringrazia- menti«, sondern auch »scuse« – wahrscheinlich für den freien Umgang Guccinis mit seinen literarischen Vorbildern.

4 Schlussbetrachtung

Wie ist nun abschließend die Bedeutung Dantes für die italienischen cantautori zu bewerten? Eigentlich ist es zu früh, darüber eine abschließende Aussage zu treffen, ohne weitere Lieder von Guccini bzw. anderen Autoren, wie Fabrizio De André und , zu analysieren. Dennoch scheint sich bereits in Odysseus ein Muster abzuzeichnen. Dante ist einer von vielen Autoren, mit deren Werk Guccini sich in seinen Liedern auseinandersetzt, aber es kann nicht behauptet werden, dass er eine Sonderrolle einnehmen würde. Allgemein be- kannte Zitate, wie der Verweis auf den »folle volo« des Odysseus, werden einge- baut, um auf den literarischen Kanon zu verweisen. Dantes Göttliche Komödie scheint so sehr zum Repertoire der italienischen Kultur und Bildung zu gehören, dass ein expliziter Verweis darauf nicht mehr notwendig erscheint. Das zeigt sich auch daran, dass Guccini in Odysseus literarische Vorlagen aus allen Jahr- hunderten, vom antiken Homer über Dante bis zu Foscolo und den Autoren des

26 Nocera, Le parole di Francesco Guccini (wie Anm. 18), S. 181. 27 Ebd., S. 182. Dante und die cantautori 167

20. Jahrhunderts, wie A. Prandi, mischt. Bewusst scheinen dabei Zitate aus der ›Hochkultur‹ mit denen aus der Populärkultur vermengt und in Gestalt eines Liedes verarbeitet zu werden. Was jedoch auffällt, ist der Anspruch, mit dem Guccini, ebenso wie die anderen cantautori, auftreten: Sie scheinen ihr Ziel, eine Art ›Gegengeschichte‹ zu schreiben und ein modernes ›Zeitgedicht‹ zu entwer- fen, sehr ernst zu nehmen. In Odysseus wird auch thematisiert, wie es in Poesie möglich ist, einer Erzählung bzw. einer Figur Ewigkeit zu verleihen. Guccini verweist darauf, dass dieser Anspruch im 20. Jahrhundert nicht mehr nur von den klassischen Autoren und Schriftstellern erfüllt werden kann, sondern eben- so von den cantautori, die nicht mit der Ambition auftreten, ein Gedicht zu schreiben, sondern ein populäres Lied für alle und somit den Mythos allgemein zugänglich machen. Es wäre interessant, die Dante-Rezeption anhand weiterer Lieder Guccinis bzw. anderer Sänger nachzuverfolgen bzw. nach Konstanten und Veränderungen zu fragen. Dante scheint in der italienischen Kultur sein Ziel erreicht zu haben, nämlich »viver tra coloro / che questo tempo chiameran- no antico«, aber über eine reine Zitierung scheint es oberflächlich betrachtet im 20. Jahrhundert nicht mehr hinauszureichen. Dennoch gelingt es Guccini, in der Auseinandersetzung mit dem Odysseus auf den modernen Anspruch der cant- autori der allgemeinen Zugänglichkeit zu verweisen und, um mit seinen eigenen Worten zu schließen, »[...] e ad ogni viaggio reinventarsi un mito, a ogni incontro ridisegnare il mondo« (V. 15). Genau darum scheint es bei Guccini zu gehen – den Mythos des Odysseus trotz und wegen seiner großen Bekanntheit neu zu erzählen und zu seinem eigenen zu machen.

5 Liedtext Odysseus aus dem Album Ritratti (2004), Francesco Guccini

Bisogna che lo affermi fortemente che, certo, non appartenevo al mare anche se Dei d’Olimpo e umana gente mi sospinsero un giorno a navigare e se guardavo l’isola petrosa, ulivi e armenti sopra a ogni collina c’era il mio cuore al sommo d’ogni cosa, c’era l’anima mia che è contadina, un’isola d’aratro e di frumento senza le vele, senza pescatori, il sudore e la terra erano argento, il vino e l’olio erano i miei ori.

Ma se tu guardi un monte che hai di faccia senti che ti sospinge a un altro monte, un’isola col mare che l’abbraccia ti chiama a un’altra isola di fronte e diedi un volto a quelle mie chimere, le navi costruii di forma ardita, 168 Julia Viehweg concavi navi dalle vele nere e nel mare cambiò quella mia vita. E il mare trascurato mi travolse, seppi che il mio futuro era sul mare con un dubbio però che non si sciolse, senza futuro era il mio navigare.

Ma nel futuro trame di passato si uniscono a brandelli di presente, ti esalta l’acqua e al gusto del salato brucia la mente.

E ad ogni viaggio reinventarsi un mito a ogni incontro ridisegnare il mondo e perdersi nel gusto del proibito sempre più in fondo.

E andare in giorni bianchi come arsura, soffio di vento e forza delle braccia, mano al timone, sguardo nella prua, schiuma che lascia effimera una traccia, andare nella notte che ti avvolge scrutando delle stelle il tremolare in alto l’Orsa è un segno che ti volge diritta verso il nord della Polare.

E andare come spinto dal destino verso una guerra, verso l’avventura e tornare contro ogni vaticino contro gli Dei e contro la paura. E andare verso isole incantate, verso altri amori, verso forze arcane, compagni persi e navi naufragate per mesi, anni, o soltanto settimane. La memoria confonde e dà l’oblio, chi era Nausicaa, e dove le sirene? Circe e Calypso perse nel brusio di voci che non so legare assieme, mi sfuggono il timone, vela, remo, la frattura fra inizio ed il finire, l’urlo dell’accecato Polifemo ed il mio navigare per fuggire.

E fuggendo si muore e la mia morte sento vicina quando tutto tace sul mare, e maledico la mia sorte, non provo pace, forse perché sono rimasto solo, ma allora non tremava la mia mano e i remi mutai in ali al folle volo oltre l’umano.

La via del mare segna false rotte, ingannevole in mare ogni tracciato, solo leggende perse nella notte perenne di chi un giorno mi ha cantato donandomi però un’eterna vita racchiusa in versi, in ritmi, in una rima, dandomi ancora la gioia infinita di entrare in porti sconosciuti prima.