Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 46. Jahrgang NACHRICHTENBLATT DER LANDESDENKMALPFLEGE Inhalt

161 Editorial 203 Im Sog der Weißenhofsiedlung: Wohnhaus-Ensemble in Stuttgarter 162 Höhlen und Eiszeitkunst der Halbhöhenlage Schwäbischen Alb „Klein Palästina“ der jüdischen Architek - Das erste altsteinzeitliche UNESCO- ten Bloch & Guggenheimer von 1930 Vermessung der Sirgensteinhöhle, Weltkulturerbe in Deutschland Dietrich W. Schmidt / Ulrike Plate die zum UNESCO-Welterbe „Höh- Stephan M. Heidenreich/Conny Meister / len und Eiszeitkunst der Schwäbi- Claus-Joachim Kind 208 Beton und seine wachsende Rolle schen Alb“ gehört. in der Denkmalpflege Foto: RPS-LAD, M. Steffen. 170 Authentische Orte der Reformation Auf Spurensuche in den Klöstern Maul- Teil 2: Hochbauten aus Eisenbeton bronn, Bebenhausen und Alpirsbach in Baden-Württemberg bis in die Petra Pechacˇek Goldenen Zwanziger Geraldine Buchenau 177 Wie Luther auf den Sockel kam Denkmale des Reformations- und 215 UNESCO-Weltkulturerbe Reichenau Luther gedenkens vom 17. bis 20. Jahr- – Interdisziplinarität als Schlüssel zu hundert einer nachhaltigen Denkmalpflege Jörg Widmaier Die Wandmalereien in der Kirche St. Georg 184 Von der Anbetung zur musealen Dörthe Jakobs Präsentation Die Heidelberger Kornmarktmadonna 223 Restaurierung des „Öchsles“ im Wandel ihrer Wahrnehmung Vom Umgang mit fahrbereiten Kultur- Denkmalpflege Grit Koltermann denkmalen in Baden-Württemberg Markus Numberger / Rolf-Dieter Blumer NACHRICHTENBLATT 190 Weinbau 55° DER LANDESDENKMALPFLEGE Historische Terrassenweinberge als 227 Ortstermin 3/2017 46. Jahrgang Kulturdenkmale Zeugnis der Eisenbahngeschichte Martin Hahn / Claudia Mohn / Wolfgang Thiem Sanierung des Rappensteinportals in Herausgeber: Landesamt für Denkmal- Laufenburg, Kr. Waldshut pflege im Regierungs präsidium Stuttgart. 196 Was landete zu Zeiten des Kon- Berliner Straße 12, 73728 Esslingen a.N. Hendrik Leonhardt gefördert vom Ministerium für Wirtschaft, stanzer Konzils wirklich im Topf? Arbeit und Wohnungsbau Baden-Würt- Froschschenkel und Biberschwanz 228 Rezensionen temberg – Oberste Denkmalschutzbe- oder Rind, Schwein, Schaf und Huhn? hörde. 230 Mitteilungen Verantwortlich im Sinne des Presserechts: Elisabeth Stephan / Ralf-Jürgen Prilloff Präsident des Landesamtes für Denkmal- pflege Prof. Dr. Claus Wolf 234 Ausstellungen Schriftleitung: Dr. Irene Plein Stellvertretende Schriftleitung: Grit Kolter- 235 Personalia mann Redaktionsausschuss: Dr. Andrea Bräuning, Dr. Dieter Büchner, Dr. Andreas Haasis-Berner, Dr. Dörthe Jakobs, Daniel Keller, Dr. Melanie Mertens, Dr. Claudia Mohn, Dr. Anne- Christin Schöne, Susann Seyfert, Dr. Elisabeth Stephan Produktion: Verlagsbüro Wais & Partner, Stuttgart Lektorat: André Wais / Tina Steinhilber Gestaltung und Herstellung: Hans-Jürgen Trinkner, Rainer Maucher Druck: Bechtle, Esslingen Postverlagsort: 70178 Stuttgart Erscheinungswei se: vierteljährlich Auflage: 27500

Dieser Ausgabe liegt das Veranstaltungs- Bankverbindung: programm der Landesdenkmalpflege Landesoberkasse Baden-Württemberg, zum Tag des offenen Denkmals sowie Nachdruck nur mit schriftlicher Geneh - Baden- Wür t tem bergische Bank Karlsruhe, eine Beilage der Denkmalstiftung Baden- migung des Landesamtes für Denk mal- IBAN DE02 6005 0101 7495 5301 02 Württem berg bei. Sie ist auch kos tenlos pflege. Quellenangaben und die Über- BIC SOLADEST600. bei der Geschäftsstelle der Denkmalstif- lassung von zwei Belegexemplaren an Verwendungszweck: tung Baden-Württemberg, Charlotten- die Schriftleitung sind erforderlich. Öffentlichkeitsarbeit Kz 8705171264618. platz 17, 70173 Stuttgart, erhältlich. Editorial

Liebe Leserinnen und Leser, spannende Wochen liegen hinter uns: Das Welt- erbekomitee der UNESCO hat bei seiner 41. Sit- zung im polnischen Krakau am 9. Juli 2017 unsere Nominierung „Höhlen und Eiszeitkunst der Schwä- bischen Alb“ beraten. Wir freuen uns sehr, dass das Komitee unseren Antrag so positiv bewertet und die Stätte in die Weltkulturerbeliste einge- schrieben hat. In den sechs Höhlen im Ach- und Lonetal wurden mit einem Alter von etwa 40000 Jahren die bislang ältesten Kunstwerke und Musik - instrumente der Menschheit gefunden. Sie sind jetzt die sechste Welterbestätte in Baden-Würt- temberg und die 42. Welterbestätte der Bundes- republik Deutschland. Die Nominierung wurde in mehrjähriger Arbeit vom Landesamt für Denkmalpflege im Regierungs - kirche Ravensburg derzeit die so genannten Re- präsidium Stuttgart in enger Kooperation mit dem formatorenfenster fachgerecht instand gesetzt. Wirtschaftsministerium als oberster Denkmal- Und nicht zuletzt steht die Eröffnungsfeier zum schutzbehörde erstellt. Ich danke allen am An- Tag des offenen Denkmals am Samstag, den 9. Sep- tragsprozess Beteiligten im Land und in der Region, tember 2017 in Schwäbisch Hall ganz im Zeichen die zu diesem großartigen Erfolg beigetragen ha- der Reformation. Hier, an der Wirkungsstätte des ben, und lade alle Bürgerinnen und Bürger herzlich Reformators Johannes Brenz, war es naheliegend, ein, unser jüngstes Mitglied in der Familie der Welt- auch die Veranstaltung thematisch entsprechend erbestätten zu besuchen. In der vorliegenden Aus- auszurichten. Direkt im Anschluss an die Eröff- gabe erfahren Sie in einem eigenen Beitrag mehr nungsfeierlichkeiten können bei der Nacht des of- über den Weg zum Welterbetitel. fenen Denkmals die illuminierten Kulturdenkmale Es liegen aber auch spannende Tage vor uns. besichtigt werden. Sie erinnern nicht nur an die Re- „Macht und Pracht“ ist das bundesweit von der formation, sondern auch an das Motto des fol- Deutschen Stiftung Denkmalschutz ausgerufene genden Tages, eben „Macht und Pracht“. Hierzu Motto des Tags des offenen Denkmals am 10. Sep- bietet das Landesamt für Denkmalpflege sowohl tember. Ein Thema, zu dem sicherlich zahlreiche in Schwäbisch Hall als auch in ganz Baden-Würt- Beispiele bundesweit gefunden werden können, temberg zahlreiche Führungen an, zu denen ich die den Bürgerinnen und Bürgern Einblicke in an- Sie hiermit herzlich einladen möchte. Die Beiträge sonsten verschlossene Denkmale bieten. Ein Thema, finden Sie im beiliegenden Programmfaltblatt das aber auch inhaltlich zum Leitmotiv „Reforma- versammelt. Weitere Informationen zu diesem tion“ im Lutherjahr 2017 passt. So spielten einer- Denkmalfest, das ohne die Beteiligung zahlreicher seits die reformatorischen Ideen von Anfang an denkmalbegeisterter engagierter Bürgerinnen und eine wesentliche Rolle im politischen Machtgefüge Bürger nicht möglich wäre, finden Sie hier im Heft, und andererseits ist das Verhältnis bzw. Nicht-Ver- in der Tagespresse und auf der Internetseite www. hältnis zu „Pracht“ ein grundsätzliches Thema im denkmalpflege-bw.de Protestantismus. Ich hoffe sehr, dass viele von Ihnen diese Gele- In einem stark von den verschiedenen konfessio- genheit wahrnehmen, Kulturdenkmale zu besich- nellen Strömungen geprägten Bundesland wie Ba- tigen, von denen eine große Zahl nur einmalig in den-Württemberg fällt es von vorneherein nicht diesem Jahr für die Allgemeinheit geöffnet sein schwer, mit der Reformation verbundene Denk- wird. Außerdem finden Sie in diesem Heft Beiträge male zu finden und den von vielen Historikern als über aktuelle Maßnahmen und Projekte der Lan- Epochenwende begriffenen Thesenanschlag Lu- desdenkmalpflege. Ich wünsche Ihnen viel Ver- thers vor 500 Jahren entsprechend zu würdigen. gnügen bei der Lektüre. Die Landesdenkmalpflege tut dies in vielerlei Hin- sicht: So wurde ein Forschungsprojekt zu den Refor- mationsdenkmalen am Landesamt für Denkmal- Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut MdL pflege initiiert. Teilergebnisse finden Sie bereits im Ministerin für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungs- vorliegenden Heft. Zudem werden in der Stadt- bau des Landes Baden-Württemberg

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 161 Höhlen und Eiszeitkunst der Schwäbischen Alb Das erste altsteinzeitliche UNESCO- Weltkulturerbe in Deutschland

Im Juli 2017 entschied das Welterbekomitee der UNESCO, zwei Talabschnitten der Flüsse Ach und Lone auf der Schwäbischen Alb den Welterbestatus zu ver- leihen. Damit gehören die sechs archäologischen Höhlenfundstellen mit Objek- ten der weltweit ältesten mobilen Kunst – Geißenklösterle, Sirgenstein, , Vogelherd, Hohlenstein-Stadel und Bockstein – sowie die sie umgebende Landschaft nun offiziell zu den UNESCO-Weltkulturerbestätten. Als solche ge- nießen sie einen ganz besonderen Schutz, sowohl nach dem baden-württem- bergischen Denkmalschutzgesetz als auch nach der von Deutschland 1972 ra- tifizierten Welterbekonvention.

Stephan M. Heidenreich/ Conny Meister/ Claus-Joachim Kind

Eiszeitkunst der Schwäbischen Alb Steinartefakten und Geräten aus Knochen und Elfenbein auch Kunst- und Schmuckobjekte. Höh- Als sich anatomisch moderne Menschen (Homo sa- lenfundstellen der Schwäbischen Alb spielen da- piens) vor mehr als 40000 Jahren nach Europa aus- bei eine herausragende Rolle, denn hier wurden breiteten, hinterließen sie eine materielle Kultur, bei archäologischen Ausgrabungen die weltweit die wir heute als „Aurignacien“ bezeichnen (nach ältesten Belege mobiler figürlicher Kunst entdeckt dem französischen Fundort Aurignac benannt). Zu (Abb. 1). Zudem fanden Archäologen die ältesten Fundinventaren des Aurignaciens gehören neben direkten Nachweise für Musik. Bislang sind über

1 Kunstobjekte aus Höh- len der Schwäbischen Alb: 1 „Löwenmensch“ (Hohlenstein-Stadel- Höhle); 2 „Venus vom Hohle Fels“; 3 Löwenfigur (Vogelherd); 4 Mammut- figur (Vogelherd); 5 Pfer- defigur (Vogelherd); 6 Flöte (Hohle Fels). Die Figuren sind aus Mam- mutelfenbein, die Flöte ist aus Vogelknochen gefer- tigt.

162 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 50 figürliche Kunstobjekte und acht Flöten be- kannt, die meist aus Elfenbein, aber auch aus Kno- chen gearbeitet worden sind. Die Fundschichten, aus denen diese Gegenstände stammen, konnten auf ein Alter von 43000 bis 35000 Jahre vor heute datiert werden. Viele der Figuren stellen eiszeitliche Großtiere wie Mammut, Wisent oder Höhlenbär dar. Jüngst ist das Ensemble von Kunst- und Musikobjekten be- deutend erweitert worden. Vor allem bei den noch andauernden Grabungen im Hohle Fels und den Untersuchungen des Abraums der Altgrabung des Jahres 1931 im Vogelherd stieß man auf zahlreiche weitere Kunstgegenstände. Die neuen Entde- ckungen zeigen, dass nicht nur eiszeitliche Groß- tiere, sondern auch kleine Tiere wie ein Fisch, ein Wasservogel und vielleicht auch ein Igel abgebil- kunst“ (zum damaligen Zeitpunkt noch so ge- 2 Welterbestätte im Ach- det wurden. nannt) begannen dann im Jahr 2012. Dafür wurde tal: Die Kernzone reicht Hinzu kommen die Darstellungen von mensch- eine eigene Arbeitsgruppe beim Landesamt für von der Grenze des Orts- lichen Figuren und Mischwesen. Besonders be- Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart teils Blaubeuren-Weiler deutsam sind die „Venus vom Hohle Fels“ und der (LAD) gegründet, die in den folgenden Jahren den im Nordosten bis zur Grenze der Stadt Schelk- „Löwenmensch“ aus dem Hohlenstein-Stadel. Eben- Welterbeantrag nach den Richtlinien der UNESCO lingen im Südwesten. so beachtenswert sind das Relief einer mensch- und in enger Zusammenarbeit mit dem zustän - lichen Figur aus dem Geißenklösterle sowie an- digen Ministerium als Oberste Denkmalschutz - thropomorphe Figuren aus Vogelherd und Hohle behörde (damals das baden-württembergische Fels. Ministerium für Finanzen und Wirtschaft, heute Auch Schmuck wie Perlen aus Mammutelfenbein das Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Woh- und Anhänger aus Tierzähnen sind in den Höh- nungsbau) verfasste. Ebenso von Beginn an un- len gefunden worden. Werkabfälle aus unter- mittelbar am Welterbeprozess beteiligt waren die schiedlichen Stadien der Herstellung belegen, dass Gemeinden vor Ort (im Achtal Blaubeuren und Schmuck in den Höhlen nicht nur verworfen oder Schelklingen, im Lonetal Asselfingen, Herbrech- 3 Welterbestätte im Lo- verloren, sondern auch gefertigt worden ist. tingen, Niederstotzingen, Öllingen und Rammin- netal: Die Kernzone er- Aus dem Hohle Fels, Geißenklösterle und Vogel- gen) sowie die Landratsämter des Alb-Donau- streckt sich von der Kreis- herd stammen neben figürlicher Kunst und Schmuck Kreises und des Landkreises Heidenheim, die Re- straße vor dem Bockstein zudem Fragmente von Flöten. Die drei nahezu voll- gierungspräsidien in Stuttgart und Tübingen, die im Westen bis zum Ge- ständigen Stücke – aus Hohle Fels und Geißen - Universität Tübingen und die verschiedenen Mu- biet unmittelbar östlich klösterle – sind zwischen 12 und 22 cm lang und seen, die Funde aus den Höhlen ausstellen (das des Vogelherds. sowohl aus Vogelknochen als auch aus Mammut - elfenbein gefertigt. Ein Flötenrohling zeigt außer- dem, dass Musikinstrumente in den Höhlen auch hergestellt wurden. Das Ensemble von Kunst, Schmuck und Musikin- strumenten aus den Höhlen der Schwäbischen Alb zeugt von der Kreativität und dem handwerklichen Geschick der frühesten modernen Menschen, die im Aurignacien Mitteleuropa besiedelten. Die Kon- zentration dieser einzigartigen Fundstellen in Ach- und Lonetal (Abb. 2; 3) verweist dabei auch auf die Bedeutung der Landschaft und ihrer Höhlen für die damaligen Menschen.

Der Weg zum Welterbe

Bereits 2009 wurde beschlossen, für die Höhlen- fundstellen der Eiszeitkunst auf der Schwäbischen Alb einen Antrag auf Eintragung in die Liste der UNESCO-Welterbestätten zu stellen. Die Arbeiten am Welterbeantrag „Höhlen der ältesten Eiszeit-

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 163 4 Welterbegebiet im Achtal mit Blick Richtung Nordosten.

Landesmuseum Württemberg in Stuttgart, das bei der UNESCO vorliegen musste. Nach der offi- Museum der Universität Tübingen, das Urge- ziellen Einreichung fand eine weitere Begutach- schichtliche Museum Blaubeuren, der Archäopark tung statt, dieses Mal durch einen Vertreter des Vogelherd Niederstotzingen sowie das Museum internationalen Denkmalrats ICOMOS, der ein Ulm). Gutachten an die UNESCO übermittelte. Im Juli Noch 2012 wurde der Vorschlag bei der Kultus- 2017 folgte dann die Einschreibung auf die Welt- ministerkonferenz (KMK) eingebracht, die „Höh- erbeliste mit dem Titel „Caves and Ice Age Art in len der ältesten Eiszeitkunst“ auf die deutsche the Swabian Jura“/ „Höhlen und Eiszeitkunst der Tentativliste zu setzen. Eine Tentativliste wird von Schwäbischen Alb“. jedem Nationalstaat in regelmäßigen Abständen Schon zu Beginn der Arbeiten am Welterbeantrag fortgeschrieben, um so einen Zeit- und Ablaufplan wurde beschlossen, nicht allein die einzelnen Höh- für die Welterbeanträge der kommenden fünf bis lenfundstellen und ihre Funde in den Vordergrund zehn Jahre zu etablieren. Im Februar 2014 erfolgte zu stellen. Vielmehr sollte der Zusammenhang zwi- eine Begutachtung der damals nominierten Welt- schen den zentralen Siedlungsplätzen mit den her- erbestätte in Ach- und Lonetal durch ein von der ausragenden Objekten und der sie umgebenden, KMK berufenes Expertenkomitee. Daraufhin wur- einzigartigen (Fund-)Landschaft hervorgehoben den die Höhlen der Schwäbischen Alb auf Platz werden. Daher umfasst das Welterbegebiet nicht 5 Welterbegebiet im eins der zu diesem Zeitpunkt fortzuschreibenden nur die Höhlen selbst, sondern ganze Talabschnitte Lonetal mit Blick Richtung deutschen Tentativliste gesetzt und so war fest- von Ach und Lone (Abb. 4; 5). Osten. gelegt, dass der Welterbeantrag im Februar 2016 UNESCO-Kriterien

Grundlage für die Einschreibung von Natur- und Kulturerbestätten auf die UNESCO-Welterbeliste ist das „Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt“ – die so genannte Welt- erbekonvention, die 1972 von der Generalkonfe- renz der UNESCO verabschiedet wurde. Hinzu kommen die seit 1977 bestehenden Richtlinien für die Durchführung des Übereinkommens („Opera- tional Guidelines“). Eine Welterbestätte definiert sich gemäß den UNESCO-Vorgaben über ihren außergewöhn- lichen universellen Wert, ihre Authentizität (histo- rische Echtheit), Integrität (Unversehrtheit) sowie die Erfüllung mindestens eines von insgesamt zehn UNESCO-Kriterien. Für die Stätte „Höhlen und Eis- zeitkunst der Schwäbischen Alb“ wurde folgendes Kriterium herangezogen:

164 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 Kriterium iii der UNESCO: „Höhlen und Eiszeit- rungspräsidien sowie das Landesamt für Denk- kunst der Schwäbischen Alb“ sind ein einzigarti- malpflege im Regierungspräsidium Stuttgart als lan- ges oder zumindest außergewöhnliches Zeugnis desweit zuständige Fachbehörde) und die Oberste einer kulturellen Tradition und einer untergegan- Denkmalschutzbehörde (das Ministerium für Wirt- genen Kultur. schaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Würt- Die lange Forschungstradition und insbesondere temberg). Gemeinsam sorgen die zuständigen Be- die jüngeren Ausgrabungen mit moderner Me- hörden dafür, dass der Welterbestätte und ihrer thodik sind Ausweis für die historische Echtheit Umgebung höchstmöglicher Schutz zukommt. (Authentizität) und die exzellente Erhaltung (Inte- Um die in einigen Höhlen noch vorhandenen ar- grität) der Aurignacienschichten in den Höhlen chäologischen Schichten und damit weitere mög- mit ihren Funden. Zudem garantieren die von der licherweise im Boden erhaltene Kunstobjekte zu Landesdenkmalpflege ergriffenen Schutz- und schützen und zu erhalten, sind die Höhlen Hohle Überwachungsmaßnahmen sowie das bestehende Fels, Geißenklösterle und Hohlenstein durch Git- Denkmalschutzgesetz von Baden-Württemberg tervorrichtungen zumindest in Teilen gesperrt be- den in der Welterbekonvention von 1972 gefor- ziehungsweise nur zu bestimmten Zeiten oder derten höchstmöglichen Schutz der Stätte. nach Absprache zu betreten. Letztendlich betreffen die denkmalpflegerischen Schutz und Konservierung der Stätte Schutzmaßnahmen auch die archäologische For- schung. Der Erhalt von Fundschichten hat obers - Da es sich bei den „Höhlen und Eiszeitkunst der te Priorität, wodurch reine Forschungsgrabungen Schwäbischen Alb“ um zwei räumlich getrennte künftig nur in begrenztem Umfang durchgeführt Talabschnitte handelt, spricht man von einer „se- werden dürfen. Gleichzeitig soll aber mit gezielten riellen Welterbestätte“. Auch wenn die beiden Maßnahmen und kleineren Testgrabungen weiter- Areale rund 30 km voneinander entfernt liegen, hin Aufschluss über den Erhaltungszustand und gehören sie zusammen. Für jede der beiden Teil- die Existenz von Schichten an sowohl bekannten stätten gelten dieselben Schutzmechanismen. So- als auch wenig oder noch gänzlich unbekann- wohl im Ach- als auch im Lonetal gibt es eine Kern- ten Fundorten erlangt werden. Es besteht ein ge- zone, die das eigentliche Gebiet der Welterbe- meinsames Forschungsprogramm des LAD mit der stätte begrenzt. Diese wird wiederum von einer Universität Tübingen. (von der UNESCO geforderten) Pufferzone umge- ben. Herausforderungen Das gesamte Welterbegebiet, inklusive Pufferzone, des Welterbemanagements genießt einen dreigliedrigen Schutz durch das baden-württembergische Denkmalschutzgesetz Über die umfangreichen Schutz- und Erhaltungs- (DSchG). Die Höhlen selbst sind als Kulturdenk- maßnahmen hinaus erfordert eine Welterbestätte male von besonderer Bedeutung (§ 12 DSchG) in ein umfassendes, spezielles Managementkonzept. das Denkmalbuch des Landes Baden-Württem- Dieses beinhaltet eine Vielzahl von Aspekten aus berg eingetragen. Damit müssen etwaige Verän- den Bereichen Dokumentation, Vermittlung so- derungen in, an oder um die Höhlen von der Denk- wie Tourismus und Vermarktung. Das Welterbe- malschutzbehörde genehmigt werden. Die zwei management zielt auf eine nachhaltige Pflege und Kernzonen der Welterbestätte reichen bis an die Weiterentwicklung der Stätte, was alle beteiligten oberen Talränder und markieren damit diejenigen Institutionen sowie die Bevölkerung einbindet. Areale, in denen am ehesten noch mit weiteren Schon bei der Einreichung eines Welterbeantrags möglichen (Höhlen-)Fundstellen gerechnet wer- wird in den UNESCO-Richtlinien ein ausführlicher den kann. Sie sind flächig als Grabungsschutzge- Managementplan gefordert, der beschreibt, wie biete ausgewiesen (§ 22 DSchG), wodurch sämt - das Verwaltungssystem der Stätte ausgestaltet ist liche Bodeneingriffe direkt vom Landesamt für und dass es effektiv funktioniert. Zudem legt er Denkmalpflege im Benehmen mit der Höheren konkrete Maßnahmen und Projekte für eine nach- Denkmalschutzbehörde genehmigt werden müs- haltige Entwicklung der Stätte fest. In regelmäßi- sen. Darüber hinaus sind sowohl die Welterbe- gen Abständen wird der Zustand des Welterbes stätte als auch die Pufferzonen durch § 2 DSchG von der UNESCO evaluiert. Für den Folgezeitraum als flächige Kulturdenkmale geschützt. wird der bestehende Managementplan dann fort- Generell greifen auch bei der Welterbestätte die all- geschrieben. gemein üblichen Mechanismen des Denkmal- Zu zentralen Punkten gehören – neben den bereits schutzes mit seiner administrativen Struktur. Dazu skizzierten gesetzlichen und verwaltungsrecht- gehören die Unteren Denkmalschutzbehörden in lichen Schutzmechanismen – das Monitoring, das den Verwaltungen der Gemeinden und Landkreise, heißt die regelmäßige Dokumentation und Be- die Höheren Denkmalschutzbehörden (die Regie- standsaufnahme, eine umfangreiche öffentlich-

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 165 6 Luftbild der Vogelherd- höhle.

keitswirksame Vermittlung sowie die Etablierung gen für eine dreidimensionale Erfassung zur Ver- eines sanften, denkmalverträglichen Tourismus. fügung. Aufgrund der umfassenden dreidimensionalen Do- Monitoring kumentation von sowohl Höhlen als auch Kunst- objekten entsteht schließlich ein umfangreiches Im Rahmen des regelmäßigen Monitorings hat das 3-D-Archiv der Welterbestätte (Abb. 8–10). Zählt LAD ein ausführliches Dokumentationsprogramm man noch die bereits vorliegenden LiDAR-Daten gestartet. Hierzu zählen eine regelmäßige Foto - der landesweiten Landschaftserfassung mittels do kumentation inklusive Luftbildfotografie (Abb. 6) luftgestütztem Laserscanning hinzu (LiDAR = Light sowie die dreidimensionale Dokumentation mittels Detection And Ranging), liegt eine digitale, drei- 3-D-Scannings. Die verschiedenen Dokumenta- dimensionale Dokumentation eines gesamten tionen erfassen nicht nur die Höhlen selbst, son- archäo logischen Welterbes vor. Diese beinhaltet dern die gesamte Welterbestätte inklusive Puffer- sowohl die Stätte, bestehend aus Höhlen und um- zonen. So können mögliche Veränderungen in den liegender Landschaft, als auch die darin gefunde- Höhlen und in der Landschaft frühzeitig erkannt nen weltweit einzigartigen mobilen Kunstobjekte. und gegebenenfalls Schutzmaßnahmen ergriffen werden. Öffentlichkeitswirksame Vermittlung Die Höhlen werden vor allem mittels Laserscanning vermessen (Abb. 7). Das Ergebnis sind frei dreh- Ein zentraler Bereich des Managements ist eine bare virtuelle 3-D-Modelle mit einer Genauigkeit effektive, öffentlichkeitswirksame Vermittlungs- im Millimeterbereich. Durch den Vergleich meh- arbeit. Nur so kann das Verständnis für die spe- rerer Vermessungen, die in den kommenden Jah- ziellen Belange einer Welterbestätte geschaffen ren geplant sind, werden Veränderungen und und letztendlich eine breite Unterstützung aus der mögliche (beispielsweise auch natürliche) Beschä- Gesellschaft erlangt werden. digungen der Höhlen messbar und sind nicht – Für eine angemessene Präsentation des Welterbes wie bei einer alleinigen Fotodokumentation – nur „Höhlen und Eiszeitkunst der Schwäbischen Alb“ visuell zu erkennen. ist ein breit angelegtes Informationssystem ent- Zusätzlich zu den Höhlen sind auch die Elfenbein- wickelt worden. Für die verschiedenen Projekte figuren und Flöten Teil des 3-D-Dokumentations- vonseiten der beteiligten Gemeinden wurden För- programms. Hier wird eng mit dem Museum der dermittel vom Land Baden-Württemberg zur Ver- Universität Tübingen, dem Landesmuseum Würt- fügung gestellt. In Ach- und Lonetal wird ein ge- temberg, dem Urgeschichtlichen Museum Blau- meinsames Konzept umgesetzt, das neben den beuren, dem Archäopark Vogelherd sowie dem bestehenden Museen vor Ort (Urgeschichtliches Museum Ulm zusammengearbeitet. Diese Häuser Museum Blaubeuren und Archäopark Vogelherd stellen dankenswerterweise die Kunstobjekte des Niederstotzingen) als zentrale Anlaufstellen die Ein- schwäbischen Aurignaciens aus ihren Sammlun- richtung neuer Wanderwegrouten mit zahlreichen

166 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 Infotafeln und Aktivitätspunkten beinhaltet. In Nicht zuletzt sei erwähnt, dass das LAD im Som- diesem Rahmen ist auch eine neue Informations- mer 2017 ein Unterrichtsmodul für die „Höhlen stelle am Hohle Fels geplant, welche das museale und Eiszeitkunst der Schwäbischen Alb“ veröf- Angebot des Urgeschichtlichen Museums in Blau- fentlicht (voraussichtliches Erscheinungsdatum beuren ergänzen soll. Durch ein gemeinsames Cor- September 2017). Diese Publikation richtet sich porate Design und ein einheitliches Logo für die speziell an Lehrkräfte von Grund- und weiterfüh- gesamte Welterbestätte werden Besucher vor Ort renden Schulen. Dabei soll das Thema Eiszeitkunst ein einfaches Wiedererkennungsmerkmal finden. mit fundierten Hintergrundinformationen im Bei der inhaltlichen, wissenschaftlich-archäologi- Unterricht behandelt und so die Schulklassen gut schen Vermittlung übernimmt das LAD eine zen- auf eine Exkursion vorbereitet werden. trale Rolle. Über verschiedene Medien wird das Thema Eiszeitkunst auf der Schwäbischen Alb im Tourismus und Vermarktung Kontext seiner wissenschaftlichen Bedeutung und den speziellen denkmalpflegerischen Belangen als Schon seit einiger Zeit ist die Eiszeitkunst nicht nur Welterbestätte präsentiert und vertieft. So hat das ein Thema von Wissenschaft und Kultur, sondern LAD schon während der Antragsphase Ende 2016 hat auch Eingang in die Freizeitbranche gefunden. eine umfangreiche, mit vielen Farbabbildungen Tourismusorganisationen wie der „Schwäbische versehene Broschüre publiziert, die ausführlich Alb Tourismus“, die „Tourismus Marketing GmbH und zugleich allgemeinverständlich über die Welt- Baden-Württemberg“ oder die „Ulm/ Neu-Ulm Tou- erbestätte im Allgemeinen, über wissenschaftliche ristik GmbH“ sowie entsprechende Fachdienste Ergebnisse und Methoden sowie spezielle Themen in den Landratsämtern in Ulm und Heidenheim be- des Managements informiert. Die erfreulich posi- werben gezielt auf lokaler und regionaler Ebene tive Resonanz hat verdeutlicht, dass der Bedarf Ausflugsziele und Museen der Eiszeitkunst. So er- nach derartigen Informationsmaterialien groß ist. freulich das breite Interesse und die bereits vor- Erweitert wird dieses Angebot durch die Website handene Besucherinfrastruktur sind, so wichtig ist www.iceageart.de, die Themen aus der Broschüre es für die Denkmalpflege gleichzeitig, im Sinne der aufgreift, wenn auch in verkürzter Form. Die Bro- UNESCO-Richtlinien auf einen möglichst sanften schüre kann hier auch als PDF-Datei herunterge- Tourismus hinzuwirken. Hierfür wurde die „AG laden werden. Highlight der Website sind vielleicht Tourismus“ gegründet, die unter anderen aus Ver- die frei drehbaren 3-D-Modelle von Höhlen und tretern der Denkmalpflege, der Gemeinden und Kunstobjekten. Ebenso wird der eigens vom LAD Landratsämter sowie der Tourismusbranche be- produzierte Kurzfilm präsentiert, der mit Luftauf- steht und über laufende und geplante Projekte be- nahmen und Landschaftsansichten imposante Ein- rät. So kann die Denkmalpflege einerseits in ex- drücke des Welterbes sowie Einblick in die Metho - terne Konzepte der Öffentlichkeitsarbeit und Ver- den der Fundstellendokumentation des LAD ver- marktung die Belange der Denkmalverträglichkeit mittelt. einbringen, während sie andererseits bei ihren Pro-

7 Vermessung der Sirgensteinhöhle mit einem Laserscanner.

167 sensvertretern des Landes, der Landkreise und Kommunen gegründet. Verschiedenste Vermitt- lungsprojekte wie Buchpublikationen, Flyer oder sogar eine aufwendig gestaltete Wanderausstel- lung sind hier bereits realisiert und vermarktet wor- den. Ziel ist es, die Eiszeitkunst einer breiten Öf- fentlichkeit näherzubringen und erlebbar zu ma- chen. Das LAD und die Universität Tübingen sind ebenfalls Mitglieder des „Weltkultursprung“, wo- durch sämtliche Projekte stets den Anspruch ei- ner wissenschaftlich und denkmalpflegerisch fun- dierten Basis erfüllen. Dies garantiert insbesondere die Wahrung der besonderen Belange einer Welt- erbestätte gemäß den Richtlinien der UNESCO und 8 3-D-Modell der Vogel- jekten – beispielsweise bei der Einrichtung des ge- zielt auf eine Sensibilisierung der Bevölkerung all- herdhöhle. nannten Informationssystems in Kooperation mit gemein sowie der Besucher vor Ort. den Gemeinden – von der Fachkenntnis und den Einschätzungen der Touristik profitieren kann. Bei Ausblick der Etablierung eines sanften Tourismus steht vor allem eine Besucherlenkung im Vordergrund, die Schon zum jetzigen Zeitpunkt, unmittelbar nach durch eine Auswahl an Zielen und Routen auch der Ernennung zum UNESCO-Weltkulturerbe, bei größerem Besucheraufkommen eine ausge- kann bereits auf eine erfolgreich zurückgelegte glichene Verteilung und somit den Schutz der Etappe des Managements geblickt werden. Es gibt Denkmale garantiert. Gleichzeitig soll das gezielte gelungene Kooperationen verschiedener am Welt- Hinführen zu ausgewählten Besucherzentren wie erbeprozess Beteiligter mit einem gut funktionie- dem Urgeschichtlichen Museum für das Achtal renden Informationsfluss zwischen den Akteuren. und dem Archäopark für das Lonetal dafür sorgen, Etablierte Mechanismen tragen zum Schutz und dass Interessierte von Beginn an umfassend über Erhalt der Stätte bei. Darüber hinaus gibt es ein um- einen denkmalverträglichen Besuch der Stätte und fangreiches Informationsangebot mit zwei Mu- die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten in- seen vor Ort sowie einer Vermittlungsarbeit über formiert werden, bevor sie sich für eine Route oder verschiedene Medien (Print, Web, Film). Während einzelne Ziele innerhalb der Welterbestätte ent- an der Etablierung des breit angelegten Informa- scheiden. tionssystems bereits intensiv gearbeitet wird, sieht Ein zentrales Organ zur speziellen Vermarktung der Managementplan noch eine Vielzahl weiterer der Eiszeitkunst der Schwäbischen Alb ist durch die Maßnahmen zur Weiterentwicklung der Welt- Dachmarke „Weltkultursprung“ geschaffen wor- erbestätte vor. Beispielsweise ist eine Archivda- den. Sie wurde von unterschiedlichen Interes- tenbank für alle aus den Höhlen stammenden und

9 3-D-Modell der „Venus vom Hohle Fels“ in ver- schiedenen Ansichten.

168 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 10 3-D-Modell einer Mammutfigur vom Vogel- herd mit und ohne Foto- textur.

an unterschiedlichen Orten aufbewahrten Fund - sechs Höhlen, ein Antrag, in: Archäologie in Deutsch- inventare geplant. Des Weiteren sollen die Höh- land 6/ 2016, S.32–33. lenfundstellen mit teils neuen Wegen und Gelän- Nicholas J. Conard/ Michael Bolus/ Ewa Dutkiewicz/ dern besser zugänglich gemacht werden. Ins- Sibylle Wolf: Eiszeitarchäologie auf der Schwäbischen gesamt wird die Präsentation des Welterbes be- Alb. Die Fundstellen im Ach- und Lonetal und in ihrer züglich Barrierefreiheit vermehrt auf den Prüfstand Umgebung, Tübingen, 2015. gestellt – sowohl hinsichtlich der Zugänglichkeit als auch der visuellen Darstellung von Inhalten. Praktischer Hinweis

Literatur www.iceageart.de (hier können auch die Informa- tionsbroschüre und der Erlebniskoffer als PDF herun - Stephan M. Heidenreich/ Conny Meister: Höhlen der tergeladen werden) ältesten Eiszeitkunst. Caves with the oldest Ice Age www.denkmalpflege-bw.de/ denkmale/ art. Informationsbroschüre zum Welterbeantrag, Ess- weltkulturerbe/ lingen, 2017 (zweite Auflage). www.weltkultursprung.de Markus Steffen/ Christoph Steffen: Die ältesten Plas- http:// whc.unesco.org tiken der Menschheit in 3-D. Kombination von 3-D- www.urmu.de Streifenlichtscan und -Fotogrammetrie zur Doku- www.archaeopark-vogelherd.de mentation und Visualisierung von Funden, in: Denk- www.museum-ulm.de malpflege in Baden-Württemberg. Nachrichtenblatt www.unimuseum.uni-tuebingen.de der Landesdenkmalpflege 46/1, 2017, S. 42–46. www.landesmuseum-stuttgart.de Stephan Heidenreich/ Conny Meister: High-Tech trifft Jungpaläolithikum, in: Archäologie in Deutschland 6/ 2016, S. 34–35. Stephan M. Heidenreich/ Conny Meister: Virtuelle Dr. Stephan M. Heidenreich Höhlenwelten in 3D – Vermessung und Online-Prä- Prof. Dr. Claus-Joachim Kind sentation der „Höhlen der ältesten Eiszeitkunst“, in: Landesamt für Denkmalpflege Laichinger Höhlenfreund 51, 2016, S. 71–82. im Regierungspräsidium Stuttgart Claus-Joachim Kind: Als der Mensch die Kunst erfand, Dienstsitz Esslingen in: Archäologie in Deutschland 6/ 2016, S.20–21. Claus-Joachim Kind/ Conny Meister/ Stephan M.Hei- Conny Meister M.Sc. denreich: Caves with the oldest Ice Age art. World Landesamt für Denkmalpflege Heritage nomination. , 2016. im Regierungspräsidium Stuttgart Conny Meister/ Stephan M.Heidenreich: Zwei Täler, Dienstsitz Tübingen

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 169 Authentische Orte der Reformation Auf Spurensuche in den Klöstern Maulbronn, Bebenhausen und Alpirsbach

Herzog Ulrich führte 1534 in Württemberg die Reformation ein und beendete damit eine reiche Klostertradition. Das Klostergut wurde von herzoglichen Kommissaren inventarisiert, evangelische Prediger verkündeten den neuen Glauben. In den Klöstern kam es zum Kräftemessen zwischen dem Landes- herrn und den Äbten. Mönche, die den protestantischen Glauben annahmen, verließen gegen eine Pension die Klöster, altgläubige Mönche suchten Zuflucht im Ausland. Herzog Christoph richtete 1556 in den Männerklöstern Kloster- schulen ein, die Jungen aus allen Schichten auf den Dienst in der neu entste- henden evangelischen Landeskirche oder der herzoglichen Verwaltung in Württemberg vorbereiteten. Noch heute sind die Klöster Maulbronn, Beben- hausen und Alpirsbach als authentische Orte der Reformation erlebbar.

Petra Pechacˇek

Klöster am Vorabend der Reformation zahl an Mönchen schlug sich in einer neuen wirt- schaftlichen Blüte und damit auch in einer regen Etwa 100 Jahre vor Einführung der Reformation in Bautätigkeit nieder. So entstanden in den Klöstern Württemberg befanden sich die Klöster in einer am Vorabend der Reformation bedeutende Bau- Krise. Die lebenslange Hinwendung zu Gott war ten und Kunstwerke. Im Benediktinerkloster Al- hinter weltlichen Aspekten des Klosters zurück- pirsbach wurde die Klosterkirche durch Öffnung getreten. Gerade die Zisterzienserklöster hatten des südlichen Seitenschiffs und Einbau einer Em- sich von bescheidenen Niederlassungen zu wohl- pore, die vermutlich als Bibliothek genutzt wurde, habenden Wirtschaftsunternehmen entwickelt. in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts er- Die Gebote des Fastens und der Besitzlosigkeit weitert. Die spätgotische Sulzer Kapelle (1505– wurden immer seltener eingehalten. Kirche und 1510) und der prächtige Marienaltar von Nikolaus Landesherren kritisierten die Verweltlichung der Weckmann (1483/85– 1520) entstanden ebenfalls Mönche und versuchten durch Reformen, die in dieser Zeit (Abb. 2). Im 1147 gegründeten Zis- Mönche wieder mehr an den Idealen der Bene- terzienserkloster Maulbronn leistete sich die wohl- diktsregel auszurichten. Das 1095 gegründete Be- habende klösterliche Gemeinschaft im 15. Jahr- nediktinerkloster Alpirsbach zum Beispiel schloss hundert die Ausgestaltung der Klosterkirche. An sich auf Initiative von Graf Eberhard V. von Würt- das südliche Seitenschiff wurden Stifterkapellen temberg 1479 der Melker und 1482 der Bursfel- angebaut und die romanische Flachdecke der Kir- der Reform an (Abb. 1). Diese Rückbesinnung führ- che durch ein gotisches Netzgewölbe ersetzt. Die te zu einer Erneuerung des Klosterlebens und zu gestiegene Anzahl an Mönchen führte zur Ver- neuem Zulauf in den Klöstern. Die gestiegene An- setzung der romanischen Chorschranke und dem Einbau eines neuen Chorgestühls (Abb. 3). Das 1183/84 zunächst als Prämonstratenserklos- ter gegründete und wenig später als Zisterzien- serkloster weitergeführte Bebenhausen zählte be- reits Mitte des 14. Jahrhunderts zu den reichsten Klöstern im Südwesten (Abb. 4). Auch hier war das spirituelle Leben sehr hinter weltliche Belange zu- rückgetreten. Gegen die Regeln der Zisterzienser, die Klostergebäude schlicht und schmucklos zu 1 Kloster Alpirsbach: halten, wurde 1407 bis 1409 das Wahrzeichen von Blick auf die Klosterkirche Bebenhausen, der prächtige steinerne Glocken- von Osten. turm, errichtet. Die Vierung der Klosterkirche er-

170 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 2 Kloster Alpirsbach: Marienaltar von Nikolaus Weckmann, um 1500.

3 Kloster Maulbronn: Chor mit Chorgestühl aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts.

hielt Ende des 15. Jahrhunderts und zu Beginn des zwei Stände, die evangelische Geistlichkeit und 16. Jahrhunderts ein Stern- und Netzgewölbe und das Bürgertum. Beide verschmolzen im Laufe des das Dormitorium der Mönche wurde 1513/14 in 16. Jahrhunderts zu einem einzigen Stand, der Einzelzellen unterteilt. Von einigen Mönchen ist „württembergischen Ehrbarkeit“. Die Landstände bekannt, dass sie mittlerweile persönlichen Besitz waren an Entscheidungen wie Steuererhebungen hatten, obwohl dies der Ordensregel widersprach. beteiligt. Der wirtschaftliche Erfolg der 14 Mannsklöster (die Nach einer turbulenten ersten Regierungszeit muss- Benediktinerabteien Alpirsbach, Anhausen, Blau- te Herzog Ulrich zwischen 1519 und 1534 sein beuren, Hirsau, Lorch, Murrhardt, St. Georgen, die Land verlassen. Doch kaum zurückgekehrt, führte vier Zisterzienserklöster Maulbronn, Bebenhausen, er die Reformation in Württemberg ein. Bereits Herrenalb und Königsbronn, die Prämonstraten- 1534 versuchte Ulrich, die Klöster zur Tilgung sei- serabtei Adelberg, das Augustinerchorherrenstift ner Schulden heranzuziehen. Er ordnete daher Herbrechtingen und die Propstei des Kapitels vom eine genaue Aufnahme des Klosterbesitzes und Hl. Grab in Denkendorf) schlug sich in reichem der jährlichen Einkünfte an und traf bei den Klös- Grundbesitz nieder, der um 1500 rund einem Drit- tern auf großen Widerstand. Der Maulbronner Abt tel des Herzogtums Württemberg entsprach. Dies Johannes von Lienzingen (reg. 1521– 1547) floh war durchaus ein Grund dafür, dass die württem- am 31. Juli 1534 mit den klösterlichen Kleinodien, bergischen Herzöge seit dem 14. Jahrhundert Bargeld, Lager- und Registerbüchern sowie dem nicht nur die Schirm-, sondern auch die Landes- Siegel in den Maulbronner Klosterhof der freien herrschaft über die Klöster erlangen wollten. Reichsstadt Speyer. Herzog Ulrich reagierte mit der Inventarisierung des Klosterguts am 6. und 7. No- Einführung der Reformation am vember 1534 durch eine herzogliche Kommission. Beispiel von Maulbronn, Bebenhausen Der württembergische Klostervogt, Erpf Ulrich von und Alpirsbach Flehingen, und der herzogliche Schreiber, Johann Steger – als Gegenschreiber zum klostereigenen Nahezu auf dem Höhepunkt spätmittelalterlichen Schreiber – sollten künftig die klösterliche Ver- klösterlichen Lebens in Maulbronn, Bebenhausen waltung überwachen. und Alpirsbach kam es zu Beginn des 16. Jahr- Auch in Bebenhausen wurde die Inventarisierung hunderts zu einschneidenden Veränderungen. durchgeführt. Abt Johannes von Fridingen (reg. Herzog Ulrich (1487– 1550), kaum mit 16Jahren 1493– 1534) beschwerte sich im Dezember 1534, volljährig geworden, nahm 1504 das bis dahin „die Comissari“ hätten „nit allein die Barschaft, reichsunmittelbare Kloster Maulbronn ein. Wie die clainet [Kleinodien] und das Silbergeschirr, sondern Äbte von Bebenhausen und Alpirsbach wurde nun auch alle unsere Brief und besten Ornaten hinder auch der Maulbronner Abt württembergischer drey schlissel“ gebracht. Dies bedeutete eine Be- Landstand und war damit gegenüber seinem Lan- hinderung der noch immer nach altgläubigem desherrn zu Steuerzahlungen verpflichtet. In Würt- Ritus durchgeführten Messfeier sowie der Ver- temberg gab es seit der Reformation nur noch waltung des Klosters.

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 171 4 Gesamtanlage des In Alpirsbach versuchten sich die 15 Mönche zu- Maulbronner Mönche erreichten im Jahr darauf Klosters Bebenhausen. nächst gegen die Inventarisierung ihres Klosterguts die offizielle Verlegung ihres Konvents in das el- zu wehren. Am 10. und 11. November 1534 be- sässische Pairis, das als Priorat Maulbronn unter- schlagnahmten die herzoglichen Kommissäre un- stand. Abt Johannes brachte die Maulbronner Do- ter Führung von Jost Münch von Rosenberg das kumente und Besitztümer von Speyer nach Pairis Klosterarchiv, Bargeld, den Kirchenschatz und mit und stand hier dem Exilkonvent noch zehn Jahre Mitra und Abtsstab auch die Würdezeichen des als Abt vor. Klosters. Abt Ulrich Hamma (reg. 1523– 1547) In Bebenhausen starb in dieser Zeit Abt Johannes sollte zudem Abrechnungen über sämtliche Ein- von Fridingen. Der führerlose Konvent zerfiel. künfte vorlegen. 18 Mönche blieben bei ihrem Glauben, während Um die Mönche für den neuen Glauben zu ge- 18 Brüder den neuen annahmen. Beide Gruppie- winnen, trafen zu Beginn des Jahres 1535 die ers- rungen mussten das Kloster verlassen, der Klos- ten evangelischen Prediger in den Klöstern ein: in terbesitz wurde von Herzog Ulrich eingezogen, der Maulbronn der Heidelberger Magister Leonhard Kirchenschatz nahezu vollständig eingeschmolzen. Weller und in Bebenhausen Hans Schmölz. In Al- Die „neuen Christen“ wechselten zum Teil an die pirsbach kursierten schon seit längerer Zeit refor- Universität Tübingen und studierten Theologie. matorische Ideen. Der Mönch und Prior des Klos- Die „alten Christen“ erhielten eine einmalige Ab- ters, Ambrosius Blarer (1492– 1564), hatte sich findung von 10 Gulden und kamen zunächst im dem neuen Glauben zugewandt und 1523 ohne Zisterzienserkloster Salem unter. Später gingen sie Erlaubnis das Kloster verlassen. Er sollte einer der in die Abtei Stams in Tirol; 1542 bezogen sie das bedeutendsten Reformatoren Württembergs wer- leer stehende Kloster Tennenbach bei im den. Auch im Alpirsbacher Klostergebiet predig- Breisgau. ten nun evangelische Geistliche, an deren Bibel- Den Widerstand der Alpirsbacher Mönche suchten auslegungen die Mönche teilnehmen mussten. herzogliche Truppen im Oktober 1535 mit der Be- Die Klosterordnung von 1535 brachte zudem eine setzung des Klosters und Beschlagnahmung der Neuordnung des Tagesablaufs. Die Zahl der An- letzten Wertgegenstände und des Klosterarchivs dachten reduzierte sich von acht auf sechs, dafür zu brechen. Dieser Plan scheint aufgegangen zu hatten sich die Mönche nun mit Bibelauslegung sein: Am 2. November verließ Abt Ulrich Hamma und dem Unterricht in den Artes Liberales, den gegen eine Abfindung das Kloster Alpirsbach, die Freien Künsten (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, verbliebenen Mönche ließen sich 13 Tage später Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie) zu ebenfalls pensionieren. Nur zwei Mönche nahmen beschäftigen. Anstelle der Heiligen Messe sollten den neuen Glauben an. die Mönche das Abendmahl feiern, allerdings mit freigestellter Teilnahme. Ob die Brüder an den Augsburger Interim – Fastengeboten und dem Mönchshabit festhalten die Rückkehr der Mönche wollten, war ihnen selbst überlassen. Letztendlich versuchte Herzog Ulrich, die Mönche zum freiwil- Im Jahre 1547 änderten sich die politischen Ver- ligen Verlassen des Klosters und zur Annahme der hältnisse: Kaiser Karl V. hatte gegen den Schmal- evangelischen Religion zu bewegen. Dafür sollten kaldischen Bund, das Bündnis protestantischer sie eine jährliche Pension von 40 Gulden oder eine Landesfürsten und Städte, gesiegt und auf dem einmalige Abfindung erhalten. Die altgläubigen Augsburger Reichstag im Mai 1548 mit dem Augs-

172 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 burger Interim die Rekatholisierung evangelischer ne politische Lage hatte wieder Veränderungen er- Gebiete erreicht. Die Mönche konnten nun wieder fahren. Kaiser Karl V. war 1552 der Passauer Ver- in ihre Klöster zurückkehren. Die einst reichen Bi- trag abgerungen worden, der die Abschaffung der bliotheken und Klosterarchive waren jedoch nach katholischen Messe, ein Verbot der Aufnahme von Stuttgart verbracht worden, die Gebäude hatten Novizen in den Klöstern und ihre Erziehung mit jahrelang ungenutzt leer gestanden und waren Hinwendung zur „Württembergischen Konfes- baufällig. Der Maulbronner Exilkonvent, nun unter sion“ sowie die ungestörte Ausübung der evan- Abt Heinrich Reuter von Nördlingen (reg. 1547– gelischen Religion bis zu einer endgültigen Rege- 1557), war einer der ersten, der die verlassenen lung der Konfessionsfrage vorsah. Der Augsburger Klostergebäude wieder in Besitz nahmen, um „den Religionsfrieden von 1555 gestand den Fürsten alten loblichen gotsdienst, christenliche ceremo- nun sogar die Wahl des Bekenntnisses in ihren Ter- nien und gebreuch, nach inhalt“ ihrer „ordens re- ritorien zu und ermöglichte so eine zweite Refor- gel widerumb auffrichten, anstellen und [zu] voln- mation der Klöster. pringen“ (HStA Stuttgart A 502 Bü 11 a). Bereits am 9. Januar 1556 erließ Herzog Christoph Auch nach Bebenhausen und Alpirsbach kehrten von Württemberg eine neue Klosterordnung, die noch einmal die auf wenige Mönche geschrumpf- das lebenslange und Gott gewidmete Leben eines ten Konvente zurück. Die sechs Tennenbacher Mönchs in eine nur kurze Studienzeit im Kloster Mönche unter Führung ihres Abts Sebastian Lutz verwandelte. Die Männerklöster wurden zu Klos- zogen 1549 zurück nach Bebenhausen. In Alpirs- terschulen. Die Schüler stammten aus allen Schich- bach waren es nur noch fünf Brüder unter Abt Ja- ten; über ein bestandenes Landexamen konnten kob Hochreutiner (gest. 1562), die in das Kinzigtal auch geeignete Jungen aus einfachen Verhältnis- zurückkamen. Doch für die altgläubigen Klöster sen eine Laufbahn in Staatsdiensten einschlagen. war es mittlerweile schwer geworden, im evan- Es war daher angedacht, dass die Schüler nach ih- gelischen Württemberg zu bestehen. Es gab kaum rer Zeit in der Klosterschule „zu Tibingen mit gro- noch Einkünfte, die evangelischen Prediger muss- ßem nutz von den ordinariis theologiam mechten ten angehört werden und oft wandte sich auch die heren“ und dass „von den praeceptoribus die Bevölkerung aus den umliegenden Dörfern gegen grammatica, dialectica, rhetorica mit und neben die zurückgekehrten Konvente. der theologi on underlaß triben werde, und der usus deren artium uff die theologi appliciret“ wer- Aus Klöstern werden evangelische den sollte. Die Ausbildung in den Klosterschulen Klosterschulen war also ganz auf das spätere Theologiestudium in Tübingen ausgerichtet. 5 Kloster Bebenhausen: 1550 änderte sich die Lage erneut. Dem verstor- Somit lebten in den Klöstern zunächst altgläubige Blick auf das 1537 benen Herzog Ulrich war sein Sohn Christoph katholische Mönche neben evangelischen Schü- verkürzte Langhaus der (1515– 1568) nachgefolgt. Und auch die allgemei - lern und Lehrern unter einem Dach. Täglich waren Klosterkirche. 6 Kloster Bebenhausen: Renaissancekanzel, er- richtet unter dem ersten evangelischen Abt Eber- hard Bidembach, nach 1560.

die „alten Christen“ mit den neuen Glaubensleh- mit Valentin Vannius als erstem evangelischen Abt ren konfrontiert. Die Zermürbungstaktik des würt- geworden. Am 13. Juli 1566 endete vorerst die tembergischen Herzogs ging auf: 1560 trat Abt Se- klösterliche Zeit Maulbronns, als der letzte Kon- bastian Lutz in Bebenhausen zurück. Die letzten ventuale, Simon Eitel, das Kloster gegen eine Ab- katholischen Mönche siedelten in das Zisterzien- findung von 300 Gulden verließ. Während des serkloster Pairis im Elsass über, das jahrelang den Dreißigjährigen Krieges kehrten noch einmal für Maulbronner Mönchen als Zufluchtsstätte gedient kurze Zeit katholische Mönche nach Alpirsbach hatte. Eberhard Bidembach, Stadtpfarrer von Vai- und Maulbronn zurück. hingen, wurde 1560 zum ersten evangelischen Abt von Bebenhausen bestimmt. Auf Spurensuche in den Klöstern heute Zur gleichen Zeit stand in Maulbronn ab 1557 noch für wenige Monate Abt Johannes von Königs- Die Auswirkungen der Reformation sind noch bronn dem Konvent vor, der „zu Maulbronnen vil heute in den Klosteranlagen sichtbar. In Beben- ja ain conventual, und bey ämptern gewesen und hausen hat sich beispielsweise in dieser Zeit die Ge- des closters gelegenhait wissens tregt, so preister stalt der ehemaligen Klosterkirche stark verändert. und ains ehrlichen lebens und alters“ (zitiert bei Schon 1537 ließ Herzog Ulrich das Kirchenschiff Ehmer 1997, S. 68) gewesen sei. Mittlerweile ge- bis auf den Chor und die Querhäuser abtragen, hörten dem Maulbronner Konvent nur noch drei weil man die Kirche für die neue evangelische Ge- Mönche an. meinde für zu groß hielt. Die Steine wurden für Nach dem Tode von Abt Johannes wurde der den Ausbau von Schloss Hohentübingen verwen- Cannstatter Prediger Valentin Vannius (reg. 1557– det. 1566 bis 1568 wurden die drei östlichen Lang- 1567) zum neuen Abt gewählt. Er erkannte Her- hausjoche zwar wieder aufgebaut, doch zeigt sich zog Christoph als obersten Landesherrn des Klos- die Klosterkirche heute immer noch stark verkürzt ters Maulbronn an und gelobte, die Klosterschüler (Abb. 5). im Geiste des neuen Glaubens heranzubilden und Die Ablösung der Messfeier durch den Predigt- auf ihre künftigen Aufgaben im Dienst der evan- gottesdienst wird in der Errichtung von Kanzeln gelischen Landeskirche vorzubereiten. Durch diese in den Klosterkirchen deutlich. Abt Eberhard Bi- 7 Kloster Maulbronn: Verpflichtungen war das Kloster Maulbronn nun dembach ließ nach 1560 eine reich geschmückte Kanzel von 1560. tatsächlich ein Teil des Herzogtums Württemberg hölzerne Kanzel im Renaissancestil an den nörd-

174 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 lichen Vierungspfeiler der einstigen Klosterkirche nur den Mönchen an ihren Refektoriumstischen Bebenhausen bauen (Abb. 6). Auch Maulbronn er- sondern auch dem Vorleser auf der Lektorkanzel hielt 1560 unter Abt Valentin Vannius eine Kanzel, direkt vor Augen. die jedoch sehr schlicht gestaltet wurde. Auf dem Bis in unsere Tage wirkt auch die Einrichtung der einfachen Steinkorpus verweisen Jahreszahl und Klosterschulen fort. In Bebenhausen bestand die ein Wappen auf den ersten evangelischen Maul- Schule bis 1807. In Alpirsbach wurde sie zwar 1595 bronner Abt. Das ineinander verschränkte dop- aufgehoben, doch bei Sanierungsarbeiten im Jahr pelte „V“ vor einem Abtsstab wurde vermutlich 1958 über dem Gewölbe des östlichen Kreuzgangs von den im 17. Jahrhundert zurückgekehrten Mön- wurde ein einzigartiger Fundkomplex entdeckt: chen abgeschlagen (Abb. 7; 8). So sind die Spu- Zahlreiche Pergamente, Karikaturen der Kloster- ren dieser religiösen Auseinandersetzungen noch schüler, Holz- und Glasartefakte, aber vor allem äu- heute deutlich erkennbar. Auch die acht hölzernen ßerst bemerkenswerte Kleidungsstücke und Schuhe Epitaphien aus dem 16. bis 18. Jahrhundert an den kamen zutage (Abb. 10). Die Objekte können Wänden der Seitenschiffe und des nördlichen größtenteils dem 16. Jahrhundert zugeordnet wer- Querhauses der ehemaligen Klosterkirche in Be- den. Sie werden heute im Klostermuseum Alpirs- benhausen erinnern an die Reihe der evangeli- bach präsentiert und dokumentieren sehr anschau- schen Äbte (Abb. 9). lich den Alltag der Klosterschüler. Graffiti in den In der Maulbronner Klosterkirche blieb die zum ehemaligen Dormentzellen der Mönche in Alpirs- 8 Kloster Maulbronn: spätgotischen Lettner umgestaltete romanische bach und Bebenhausen, die von den Schülern be- Wappen des ersten evan- Chorschranke erhalten, die Altäre mit ihrem Bild- wohnt wurden, und im Klostergestühl von Maul- gelischen Abts Valentin schmuck unter den Baldachinen wurden jedoch bronn geben interessante Einblicke in die Namen Vannius auf der Kanzel, entfernt. In der Klosteranlage finden sich zudem und Herkunftsorte der zwölf- bis vierzehnjährigen 1560. klare Zeichen landesherrlicher Machtdemonstra- Kinder (Abb. 11). Die Umwandlung der Klöster in tion. Im hinteren Klosterhof ließen die Herzöge von Klosterschulen lebt in dem noch heute bestehen- Württemberg 1588 ein Jagdschloss errichten. Ihr den Evangelischen Seminar Maulbronn mit seinen Wappen ziert zudem die Ostwand des so ge- rund 100 Schülerinnen und Schülern fort. nannten Schrägbaus (1493– 1495), der wohl eins - Ein letztes Zeichen der Bautätigkeit der im Interim tigen Bibliothek des Klosters. Bereits 1517 hatte zurückgekehrten Mönche ist am Turm der Alpirs- sich Herzog Ulrich im Gewölbezwickel des Her- bacher Klosterkirche ablesbar. Mitte des 16. Jahr- renrefektoriums in Form einer Rötelzeichnung ab- hunderts wurde dem Kirchenturm ein Oberge- bilden lassen. Von seiner Position aus stand er nicht schoss mit Glockenstuhl und Treppengiebel auf- gesetzt (Abb. 12). Obwohl die Reformation die reiche Klostertradi- tion in Württemberg beendete, bewirkte sie doch, dass sich Klosteranlagen wie Maulbronn, Alpirs- bach und auch Bebenhausen nahezu unverän- dert in ihrer spätmittelalterlichen Gestalt erhalten haben. Sie wurden nicht wie beispielsweise die Klöster Ochsenhausen, Schussenried, Salem oder Wiblingen im Zuge der Gegenreformation im 17. und 18. Jahrhundert barock überformt. Dieser her- vorragende Erhaltungszustand führte letztendlich unter anderem 1993 zur Anerkennung des Klos- ters Maulbronn als UNESCO-Weltkulturerbe der Menschheit.

Literatur

Carla Mueller/ Karin Stober: Kloster Maulbronn, Kunst- führer hg. v. Staatliche Schlösser und Gärten Baden- Württemberg, Petersberg 2017. Elena Hahn/ Peter Rückert/ Hans Harter: Kloster Al- pirsbach, Kunstführer hg. v. Staatliche Schlösser und Gärten Baden-Württemberg, Petersberg 2017. Mathias Köhler/ Rainer Y/ Carla Fandrey: Kloster und Schloss Bebenhausen, Kunstführer hg. v. Staatliche 9 Kloster Bebenhausen: Schlösser und Gärten Baden-Württemberg, Berlin/ Epitaph für Eberhard München 2014. Bidembach (gest. 1597).

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 175 10 Kloster Alpirsbach: Wams aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhun- derts, entdeckt im Fund- komplex von 1958.

Immo Eberl: Die evangelischen Klosterschulen des Praktischer Hinweis Herzogtums Württemberg. Katholische Klostertradi- tionen in evangelischer Theologenausbildung 1556– Die Ausstellung „Freiheit – Wahrheit – Evangelium. 1806, in: Evangelisches Klosterleben. Studien zur Reformation in Württemberg“ wird vom 13. Sep- Geschichte der evangelischen Klöster und Stifte in tember 2017 bis 19. Januar 2018 im Kunstgebäude Niedersachsen, hg. v. Hans Otto (Studien zur Kir- Stuttgart und den Klöstern Maulbronn, Bebenhausen chengeschichte Niedersachsens 46), Göttingen 2013, sowie Alpirsbach gezeigt (Kooperation von Landes- S. 21–38. archiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stutt- Hermann Ehmer: Die Klosterschule 1556– 1595, in: gart und der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden- Alpirsbach. Zur Geschichte von Kloster und Stadt, hg. Württemberg). 11 Kloster Alpirsbach: v. Landesdenkmalamt Baden-Württemberg, 2 Bände www.landesarchiv-bw.de Turm der Klosterkirche und Beilage, Stuttgart 2001, Bd. 2, S. 677– 708. mit Treppengiebel. Hermann Ehmer: Vom Kloster zur Klosterschule. Die Reformation in Maulbronn, in: Maulbronn. Zur 850- 12 Kloster Alpirsbach: Dr. Petra Pechacˇek Dormentzelle mit Grafitti jährigen Geschichte des Zisterzienserklosters, hg. v. Staatliche Schlösser und Gärten der Klosterschüler aus Landesdenkmalamt Baden-Württemberg (Forschun- Baden-Württemberg der zweiten Hälfte des gen und Berichte der Bau- und Kunstdenkmalpflege Schlossraum 22a 16. Jahrhunderts. in Baden-Württemberg 7), Stuttgart 1997, S. 59–82. 76646 Bruchsal

176 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 Wie Luther auf den Sockel kam Denkmale des Reformations- und Luther - gedenkens vom 17. bis 20. Jahrhundert

2017 ist für die evangelischen Landeskirchen, aber auch für historisch Inte - ressierte eine Gelegenheit zur Erinnerung an die Reformation, denn vor 500 Jahren veröffentlichte Martin Luther seine 95 Thesen. Das Jahr steht in der Tradition vergangener Reformationsjubiläen der Jahre 1617, 1717, 1817 und 1917. Im Folgenden sollen bauliche wie künstlerische Zeugnisse aus Baden-Württemberg vorgestellt werden, die jenem historischen Reformations- gedenken dienten.

Jörg Widmaier

Erinnerungsmale der Reformation waren kirchliche Feste, die hoheitlich genehmigt beziehungsweise verfügt wurden. Im Rahmen von Erinnerungsmale der Reformation sind Objekte Gottesdiensten wurde gepredigt, Luther gedacht und Gebäude, deren Errichtung durch das Ge- und der Reformation als Beginn des „wahren Glau- denken an Persönlichkeiten oder Geschehen der bens“ gedankt. Bis zum Jahr 1617 gab es an ei- Reformation motiviert ist. Bei ihrer Aufstellung ner solchen öffentlichen und überregionalen Ge- können bestimmte Jubiläumsdaten wichtig sein, denkfeier für die Geschehnisse des Jahres 1517 denen ein Erinnerungswert an historische Er- kaum Interesse. Als man sich 1617 dafür einsetzte, eignisse zugeschrieben wird. Reformationsjubi- waren daher bestimmte Motivationen ausschlag- läen wurden 1617, 1717, 1817 und 1917 began- gebend: Nicht zufällig nahm die Erinnerungsarbeit gen. Mit Verweis auf andere historische Begeben- an der Universität ihren Ausgangs- heiten – beispielsweise lokale Einführungen der Re- punkt, einem Wirkungsort Luthers. Dort hatte die formation – oder die Lebensdaten bestimmter Professorenschaft der Theologischen Fakultät ein Reformatoren konnte man weitere Jahrestage be- „Jubelfest“ beim sächsischen Kurfürsten bean- gehen. So etwa 1883 Luthers 400. Geburtstag. Zur tragt, um die Universität als Entstehungsort des Verstetigung dieser Erinnerungsarbeit dienten Protestantismus zu ehren. Zeitgleich erarbeitete spätestens ab 1717 vermehrt materielle Zeugnisse, man in der reformierten Kurpfalz unter Weisung also Denkmale im kirchlichen und öffentlichen des dortigen Kurfürsten eine Jahresfeier der Re- Raum. Solchen für das Gedenken gemachten formation, die sowohl reformierte wie lutherische Erinnerungsmalen ist zu eigen, dass sie ihre Ent- Christen vereinen und zur Stärkung der reformier- stehung einer konkreten Intention verdanken, die ten Position innerhalb der Protestantischen Union eng an Gedächtnisbildung und Identitätsstiftung beitragen sollte. Nach anfänglichen Uneinigkeiten geknüpft ist. Die Gründe, Motive und Ziele für die beschloss die Protestantische Union eine gemein- Errichtung eines Reformations- oder Reformato- same Feier am 2. November. Dass der Wahl des zu rendenkmals haben sich im Laufe der Zeit jedoch begehenden Jahrestages große Bedeutung zu- immer wieder gewandelt. Diesen historischen kommen konnte, zeigt der Fall Hamburgs. Dort Veränderungen nachzuspüren und dabei einen entschied man sich explizit, die Feier vom 2. No- Überblick über die Bandbreite der möglichen Er- vember auf den 31. Oktober zu legen, da man innerungsmale zu geben, ist Ziel der folgenden fürchtete „in diesen schendtlichen Verdacht [zu] Ausführungen. Wie also kam der Luther auf den kommen, als wenn wir mehr dem Calvinismo denn Sockel? Lutheri lehr, zugethan vndt geneigt weren“. In den südwestdeutschen Territorien der Protestantischen 1617 Union dagegen wählte man genau deshalb den späteren Termin. Auch sollten die dortigen Pfar- In nahezu allen protestantischen Territorien des rer im Rahmen der Gottesdienste zum Reforma- Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation tionsgedenken nicht nur an Martin Luther, son- wurde 1617 in Jahresfeiern das 100-jährige Re- dern auch an „andere gottselige Leütt“ erinnern, formationsjubiläum begangen. Die Gedenkfeiern die zur Reformation beigetragen hatten. Abhän-

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 177 Vorderseite (Avers):

Rückseite (Revers):

1617 1717 1817 1917 Ulm Heilbronn Heilbronn Stuttgart

1 Die Motive und Moti- gig vom jeweiligen Landesherren und dessen Aus- galt. Zum Jubelfest ließ Markgraf Georg Friedrich vationen der Reforma- richtung im evangelischen Glauben feierte man von Baden-Durlach von den Festungen Hochburg tionserinnerung unterlie- also an einem oder an bis zu drei Tagen (Triduum) und Höhingen Freudenschüsse abfeuern. Die Sä- gen einem Wandel: Re- und legte dabei auf unterschiedliche Personen den kularfeier des 100-jährigen Reformationsgeden- formationsmedaillen und Schwerpunkt. kens wurde mit Münzen, Flugblättern, Zeremoniell -münzen aus den Jahren Die konkreten Maßnahmen zur Durchführung der und Predigten medial inszeniert und in bedeuten- 1617 bis 1917. Feier blieben den einzelnen Ständen freigestellt. In den Gebäuden wie Kirchen oder Landesfestungen der Reichsstadt Ulm ließ der Rat im Jubiläumsjahr vollzogen, die noch heute als Kulturdenkmale er- 1617 einen Doppeldukaten mit einer Auflage von halten sind. Die Bemühungen zur Jubiläumsfeier 2250 Exemplaren (Abb. 1) prägen. Diese Goldmün - 1617 fanden in einer Zeit verschärfter konfessio- ze zeigt auf der Vorderseite (Avers) den Wappen- neller Auseinandersetzungen statt. Bald darauf be- schild der Stadt mit der Umschrift „GEDECHTNVS gann der Dreißigjährige Krieg, der einen Aus- DES EVANGELISCHEN IVBELJAHRES“. Die Rück- gangspunkt auch in den konfessionellen Span- seite (Revers) wiederholt die Umschrift in Latein nungen fand. und zeigt ein aufgeschlagenes Buch mit der In- schrift „VERBUM D(omi)NI MANET IN AETERNVM“ 1717 (Das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit), seit dem Reichstag zu Speyer 1529 ein Bekenntnis evange- In Folge des Dreißigjährigen Krieges hatten die lischer Reichsstände. Diese als „Jubelgeltlin“ be- evangelischen Territorien einige Regionen an die zeichnete Medaille ist zusammen mit einem ge- katholischen Vertreter abgeben oder Konversio- druckten Gebet in Schulen verteilt worden. Luther nen eigener Fürsten erleben müssen; die Kurpfalz wird darin als Prophet bezeichnet, der Deutschland beispielsweise war nun katholisch [vgl. Beitrag Kol- das göttliche Licht und Wort verkündigt habe. termann: Von der Anbetung zur musealen Prä- Auch in Gottesdiensten hatte man – nicht nur im sentation, S.184]. Vor dem Hintergrund der zu- Herzogtum Württemberg, sondern auch in der rückliegenden konfliktreichen Jahrzehnte war man Markgrafschaft Baden-Durlach – in Predigten über 1717 auf eine gemäßigte Reformationserinnerung Sinn und Zweck der Feier informiert. Dabei be- bedacht. Es blieb den einzelnen Territorien über- dienten sich manche Prediger offen eines anti - lassen, der Sache der Reformation im Zuge kirch- katholischen Geschichtsverständnisses, wonach lichen Zeremoniells zu gedenken. Eine gemein- das Jahr 1517 als Ausgangspunkt einer Überwin- same offizielle Feier der evangelischen Reichs- dung der päpstlichen Kirche und als Rückführung stände fand nicht statt: Die reformierten Stände zur ursprünglichen und wahren Glaubenslehre feierten kein Jubiläum, sodass nur die lutherischen

178 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 Stände das Reformationsfest begingen. In einzel- nen Gemeinden wurde, trotz eines katholischen Landesherren, „nur im Verborgenen gleichsam ver- stohlener Weise gefeiert“, wie es in einem Jubel- fest-Büchlein hieß. Zugleich war man von herr- schaftlicher Seite darauf bedacht, jegliche Form der Polemik gegen Andersgläubige zu unterbin- den, sodass es galt, sich einer „durchgehenden Christgeziemenden Moderation“ zu bedienen. Auch sollte „ohne Aufmachung, Pomp und die Sinne fesselnde Kunst“ gefeiert werden. In Heil- Das Reformationsgedenken 1717 hat aber auch 2 Crailsheim, Inschrift am bronn schlossen sich sowohl städtischer Rat wie noch heute erhaltene Spuren in Form von Bau- und 1717 bis 1719 erbauten Geistlichkeit dieser „Jubelfeier“ an und es wurde Kunstzeugnissen in Baden-Württemberg hinter- Rathausturm. Sie verweist eine Gedächtnismünze geprägt (vgl. Abb. 1). Die lassen. Diese finden sich vor allem in Kirchenräu- möglicherweise nachträg- Vorderseite zeigt die Personifikation der evangeli- men. Der Pfarrer der evangelischen Ulrichskirche lich auf das Reforma- tionsjubiläum. schen Religion mit Kerze und Kreuz in den Händen, von Weissach, Johann Jakob Steinweg, stiftete zwi- auf der Rückseite ist Christus – auch in Anspielung schen 1714 und 1723 eine Lutherdarstellung an auf die Stadt – als siebenstrahliger Heilsbrunnen der Südwand des Schiffes (Abb. 4), sehr wahr- (Fons vitae) dargestellt. In Karlsruhe weihte man scheinlich also ein Reformationsdenkmal von die neue fürstliche Hofkapelle am 31. Oktober 1717. Steinweg, in Maulbronn und Tübingen in 1717 ein und vollzog dabei auch die „Celebrie- evangelischer Theologie ausgebildet, gehörte zur rung des Evang. Jubel-Festes“, wie es in einem lutherischen Geistlichkeit, die dem Reformations- Edikt des Jahres hieß. In einer abendlichen Insze- fest große Bedeutung beimaß. Neben dem Bild- nierung ließ der Markgraf Sinnbilder der „jubilie- motiv spricht auch die beigefügte Inschrift für ei- rende(n) Evangel. Kirche/ die attributiva deß göttl. nen Reformationsbezug: „Gottes Worte und Lu- Worts“ in Form von Scheiben am zentralen Turm thers Lehr vergehet nicht“. Hieß es im 16. und des fürstlichen Schlosses – wie es heißt – illumi- 17. Jahrhundert noch, dass Gottes Wort in Ewig- nieren und präsentierte sich dabei selbst als Be- keit bleibe (VERBUM D(omi)NI MANET IN AETER - wahrer und Förderer der Reformation (Abb. 3). NVM), so ergänzte man nun nebem diesem auch Auch in Crailsheim verweist eine später ange- Luthers Lehre. Gleichberechtigt neben dem Got- brachte Inschriftentafel auf das Reformationsge- teswort kommt dem auf Luther bezogenen Glau- denken und stellt den Bau in den Zusammenhang ben eine besondere gottgegebene Qualität zu. Lu- mit dem 200-jährigen Jubelfest von 1717 (Abb. 2). ther wurde als Werkzeug Gottes aufgefasst und Über Schriftquellen lässt sich dieser Zusammen- so zu einem Symbol für den wahren Gottesglau- hang jedoch nicht belegen, sodass unklar bleibt, ben. Auch die Darstellung Luthers in Weissach be- ob der Bezug zum Reformationsjubiläum zeitge- dient sich solch tradierter Legitimationsmuster. Die nössisch oder im Nachhinein entstanden ist. Mög- Wandmalerei zeigt den Reformator mit dem licherweise handelt es sich bei diesem Reforma- Schwan, ein auf die Prophezeiung des Jan Hus zu- tionsdenkmal also um eine historische Konstruk- rückgehendes Motiv, das in theologisch gebilde- tion von Reformationserinnerung. ten Kreisen bekannt und in Form von Flugblättern

3 Residenzstadt Karls- ruhe von Norden: Kupfer- stich von Johann Mat- thias Steidlin nach Chris- tian Thran, 1739. Detail: Im Zentrum der Anlage ist das großherzogliche Resi- denzschloss mit achtecki- gem Schlossturm (1715– 1718, von Johann Hein- rich Schwarz) zu erken- nen. Dieser wurde 1717 im Zuge der Reforma- tionsfeier mit evangeli- schen Symbolen illumi- niert.

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 179 und war auf zahlreichen Feiern zum Reforma- tionsjubiläum zu hören. Als man in Heilbronn – mittlerweile in das Königreich Württemberg ein- gegliedert – zur 300-Jahrfeier der Reformation erneut eine Münze prägen ließ, die auf ihrer Vorderseite prominent den Reformator Martin Luther abbildete, wählte man für die Rückseite eine Ansicht der , gerahmt von der um- laufenden Inschrift „Eine feste Burg ist unser Gott“ (vgl. Abb. 1). Auch diese „Jubel-Münz“ wurde an Schulkinder verteilt. Aus einer primär historischen und lokalen Moti- vation heraus wurde 1817 ein Obelisk in der Stifts- kirche von Bretten aufgestellt (Abb. 6), der zahl- reiche Lebensdaten und Leistungen Philipp Me- lanchthons aufführt. Der Reformator wird als „ein/ eben so großer Be/ förderer der Reformation als Lu- ther“ dargestellt. In diesem Zusammenhang findet auch die Setzung des Erinnerungsmals eine Be- gründung: „Möge dieses ge/ ringe Denkmal/ in der Kirche, in/ der er die heilige/ Taufe empfing,/ als ein schwacher Beweis der Ehrerbie/ tung gelten,/ wo- mit seine Glaubens/ genossen, aus/ Veranlassung des/ dritten Reformations-/ Jubel Festes/ im Jahr 1817, ihren längst verklärten Lehrer in dankbarem Andenken erhalten/ wollen“. In der Peterskirche in Heilbronn-Neckargartach da- gegen entstand ein Reformationsdenkmal vor al- lem aus religiös-liturgischer Motivation. Dort ent- schied man sich 1817 für die Neuausstattung mit 4 Weissach (Lkr. Böblin- und Gedenkmünzen bereits seit dem ausgehen- Vasa Sacra, den liturgischen Gefäßen, speziell je- gen), evangelische Ulrichs- den 16. Jahrhundert verbreitet war. Hus soll 1415 nen des Abendmahls. Die dabei entstandene kirche: Bei der Lutherdar- kurz vor seinem Ketzertod auf dem Scheiterhau- Hostiendose nimmt in der Inschrift Bezug auf das stellung mit Schwan an fen von sich selbst als zahme Gans gesprochen ha- Reformationsjubiläum (Abb. 5): „NeckarGartach. der Südwand des Schiffes ben, der in 100 Jahren ein Schwan nachfolgen zur dritten Jubelfeyer der Reformation.durch frei- (Stiftung zwischen 1714 würde, um die missglückte Kirchenreform zu voll- willige Beiträge.1817.“. Auch in Ballendorf stiftete und 1723) handelt es sich enden. Luther selbst hatte dieses Sinnbild der geis- man eine Hostiendose mit Reformationsbezug. Als sehr wahrscheinlich um ein Reformationsdenkmal. tigen Nachfolge auf sich bezogen. Entstehungszeit kann analog zum dortigen Abend- mahlskelch von 1821 eine Fertigung im begin- 1817 nenden 19. Jahrhundert angenommen werden. Möglichweise handelt es sich also auch hier um ein Die Reformationserinnerung des 19. Jahrhunderts Reformationsdenkmal, wofür nicht zuletzt die Iko- speiste sich gleichermaßen aus religiösen, histori- nografie des Hostienbehälters spricht: Während schen und politischen Interessen. Das politische die Vorderseite mit gekreuzigtem Christus eine ty- Interesse des Jubiläums 1817 ergab sich aus den pische Symbolik der Eucharistie zeigt, stellt die Befreiungskriegen. Luthers Kirchenlied „Ein feste gegenüberliegende Seite Martin Luther im Me- Burg ist unser Gott“ kam so zu neuer Bedeutung. daillon dar. So wird ein Bezug zum lutherischen Ernst Moritz Arndt dichtete im Zuge der Leipziger Abendmahlsverständnis hergestellt, das in Ballen- Völkerschlacht 1813: „Ein feste Burg ist unser dorf seit der Reformation Geltung hatte. Die Aus- Gott/ Auf, Brüder, zu den Waffen!/ Auf, kämpft zu stattung des Kirchenraums mit Zubehör im Zuge Ende aller Noth/ Glück, Ruh der Welt zu schaffen.“ einer Reformationserinnerung diente dabei zwar Niemand Geringeres als Goethe selbst schlug vor, dem Luthergedenken – und war in diesem Zu- das Reformationsfest und das nationale Jubiläum sammenhang in gewisser Weise einem histori- der Schlacht zu Leipzig terminlich zu verbinden, da schen Interesse geschuldet –, blieb aber zugleich Ersteres weniger in religiösem, denn in politischem als liturgische Einrichtung von theologischen und Sinn aufzufassen sei. Das Reformationsfest sollte religiösen Motivationen geprägt. Ebenso ist dies zum Jubiläum aller Deutschen werden. Luthers im Reformationsbild der evangelischen Kirche von Lied wurde 1817 beim Wartburgfest gesungen Ebersbach an der Fils-Roßwälden der Fall. Das Ge-

180 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 5 Neckargartach (Kreis Heilbronn), evangelische Peterskirche: Die Hostien- dose mit Inschrift wurde 1817 im Zuge des Refor- mationsjubiläums gestif- tet.

mälde von Johann Michael Holder entspricht ei- 1883 nem Typus des evangelischen Andachtsbilds, das theologische Grundsätze in bildlicher Form zeigt Der Reformator Martin Luther wurde Ende des (Abb. 7). Abgebildet ist ein Gespräch zwischen Lu- 19. Jahrhunderts – und in besonderem Maße in ther und dem Apostel Paulus, das am Kreuz Christi Folge der Reichsgründung 1871 – zu einer Sym- geführt wird und so anhand biblischer Referenzen bolfigur der deutschen Nationalbewegung stili- die evangelische Rechtfertigungslehre auf Basis siert. Sein 400. Geburtstag 1883 wurde zu einem von Römer- und Korintherbrief verdeutlicht. In- der Höhepunkte des deutschen Nationalismus. An schriftlich ist die Darstellung auf das Jahr 1817 da- diesem Tag hielt der Historiker Heinrich von tiert und als Widmung im Zuge des dritten Re - Treitschke seine Festrede mit dem Titel „Luther formationsfests gekennzeichnet. Ein weiterer in- und die deutsche Nation“ und beschwor darin den schriftlicher Vermerk am rechten unteren Bildrand Protestantismus als deutsche Religion und den Kai- informiert darüber, dass das Gemälde 1883 res- ser als deren Schutzherrn. Das hier auftretende tauriert wurde. Motiv des „deutschen Luthers“ sollte nicht ohne Folgen für die Reformationserinnerung bleiben. Es lohnt sich daher, auch dieses Jahr in der Entste- hungsgeschichte der Reformationsdenkmale ge- sondert zu betrachten. Die gestalterische Wirkung des Reformationsgedenkens sollte sich nun in be- sonderem Maße in Form von Denkmalen äußern. Bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts ist die zu- 6 Bretten: Der Obelisk in nehmende Ausstattung von Kirchenräumen mit Gedenken an Philipp Me- Bildnissen Martin Luthers, aber auch Philipp Me- lanchthon wurde 1817 in lanchthons, Johannes Brenz’ und anderer Prota- der ehememaligen evan- gelischen Stiftskirche auf- gonisten der Reformation bemerkenswert. Be- gestellt und befindet sich sonders in den Jahren um 1883 wurden Öldruck- heute im Melanchthon- bilder, Gemälde, Glasfenster, Reliefs, Büsten und haus. Die Inschriften zei- Standfiguren als Ausstattung für Kirchenräume ge- gen u.a.: „Möge dieses stiftet. Prominente Beispiele sind ein Hochrelief Lu- ge/ ringe Denkmal/ in der thers des Stuttgarter Bilderhauers Bach, das 1883 Kirche, in/ der er die hei- mitsamt der darunter befindlichen Sakristeitür in lige/ Taufe empfing,/ als die Menzinger Martinskirche eingebracht wurde ein schwacher Beweis der (Abb. 8). Die Darstellung, in der Luther wie aus ei- Ehrerbie/ tung gelten,/ nem Fenster zu blicken scheint, ist mehrfach nach- womit seine Glaubens/ genossen, aus / Veranlas- geahmt worden. So finden sich sehr ähnliche Dar- sung des/ dritten Refor- stellungen über weiteren Eingängen (1937 in der mations-/ Jubel Festes/ im Stuttgarter Michaelskirche) oder an Kanzeln (1890 Jahr 1817, ihren längst in der Degerlocher Michaelskirche, 1889 in der Hei- verklärten Lehrer in dank- denheimer Pauluskirche oder in der Peterskirche in barem Andenken erhal- Dettingen am Albuch bei Gerstetten). Aufgrund ten/ wollen“.

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 181 unser Gott“. Die erhoffte Kundschaft wurde dar- über informiert, dass es „sich zum Aufhängen an Kirchen- und Schulwänden eignet. Schön bron- ziert kostet ein Gipsabguss 35 Mark“. Noch heute finden sich – erfolgreicher Werbung sei Dank – formgleiche Stücke in der Kirche von Ludwigsburg- Neckarweihingen und Vöhringen sowie im Deka - natsamt in Herrenberg (Abb. 10). Auch die Würt- tembergische Metallwarenfabrik AG (WMF) in Geislingen an der Steige begann Ende des 19. Jahr- hunderts mit der seriellen Produktion galvano- plastischer Kopien von bedeutenden Skulpturen, unter anderem Lutherbüsten beziehungsweise Lu- therfiguren, die bekannte Bildhauer zuvor für öf- fentliche Plätze in Deutschland (1821 in Witten- berg, 1868 in Worms) entworfen hatten. Form- gleiche Stücke zu einer Kopie der Lutherbüste des Bildhauers Donndorf, die sich im historischen Wa- renarchiv der WMF erhalten hat (Abb. 9), lassen sich in den Stiftskirchen von Herrenberg und Öh- ringen sowie in der Kirche in Mähringen nach- weisen. Auch außerhalb der Kirchen, auf dem Kirchplatz oder an öffentlichen Plätzen wurden Denkmale – wie Gedenksteine – für Luther er- richtet. Im Jahr 1883 hat man dabei vor allem Bäume, so genannte Luthereichen oder Lutherlin- den, gepflanzt. Die Idee dazu entstand wohl in An- lehnung an die Luthereiche in Wittenberg, an de- ren Standort Luther 1520 sein Exemplar der päpst- 7 Roßwälden (Ebersbach der erhöhten Nachfrage nach Darstellungen Lu- lichen Bannandrohungsbulle verbrannt haben soll. an der Fils, Lkr. Göppin- thers wurden industriell gefertigte kunstgewerb- Solche Bäume stellen die größte Gruppe der Lu- gen), evangelische Bene- liche Produkte hergestellt und öffentlich zum Kauf therdenkmale auf öffentlichen Plätzen außerhalb diktskirche: Gemälde mit angeboten. So bewarb man 1884 im christlichen der Kirchenräume dar. Im Laufe des 19. Jahrhun- Luther und Paulus am Kunstblatt „einen großen markigen Lutherkopf derts wurde das Feiern des Reformationsjubiläums Kreuz von 1817; 1883 innerhalb einer großen runden Umrahmung mit – in besonderem Maße die Lutherfeiern – in den wurde es restauriert. Inschrift“, den der Stuttgarter Bildhauer Hutten- Bereich des Profanen und des Politischen über- locher geschaffen hatte. Das in Serie produzierte führt. Martin Luther wurde in einer Reihe mit He- Relief hatte eine umlaufende Inschrift mit Luthers gel, Schiller und Bismarck zum „Vorkämpfer des Lebensdaten und seinem Zitat „Ein’ feste Burg ist neuen Deutschlands“.

8 Metzingen (Kreis Reut- lingen), evangelische Martinskirche: Detail des Lutherreliefs über dem Sakristeizugang von Bild- hauer Hermann Bach, 1883.

9 Industriell hergestellte Lutherbüste nach Entwurf Adolf von Donndorfs. Die Büste wurde in der Würt- tembergischen Metallwa- renfabrik AG (WMF) in Geislingen an der Steige produziert und befindet sich noch heute im dorti- gen historischen Waren- archiv.

182 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 1917 Denkmal wurde am 24. Juni 1917, dem Geburts- tag von Johannes Brenz, eingeweiht. Die vermehrte Lutherrezeption des 19. Jahrhun- derts setzte sich ungebrochen in das 20. Jahrhun- Erinnerungswert dert fort. Obgleich in den Jahrzenten um 1900 zahlreiche Denkmale für Luther entstanden waren, Martin Luther ist für viele das Gesicht der Reforma- blieb man im Jubiläumsjahr 1917 aufgrund der be- tion. Dies ist nicht erst seit dem Reformationsjahr sonderen Umstände sehr zurückhaltend bei der 2017 der Fall. Seine Inanspruchnahme als Symbol - Aufstellung neuer Erinnerungsmale. Denn das Re- figur hat eine lange Tradition. Seit dem 18. Jahr- formationsjubiläum war – gefeiert während des hundert wurden ihm nicht nur in Baden-Würt- Ersten Weltkriegs – im Zeichen der Durchhaltepo- temberg Denkmale in Kirchen, auf öffentlichen litik begangen worden. Seit drei Jahren führte das Plätzen und in Profanbauten gesetzt. In der Rezep - Deutsche Kaiserreich Krieg und die anfängliche tion der historischen Ereignisse der Reformation, Kampfesbegeisterung war längst gewichen. Eine die als gezielte erinnerungskulturelle Praktik der je- Niederlage zeichnete sich bereits ab, und Martin weiligen Epoche gelesen werden muss, zeigt jede Luther sollte nun als Held und Vorbild inszeniert an Zeit und Region ihre eigenen Motivationen und der Front wie in der Heimat für neuen Mut sorgen. Ziele. Luther wurde dabei immer wieder anders ge- Zwischen 1914 und 1918 entstanden zahlreiche feiert. Diese Vielfalt des Luthergedenkens ist an- kürzere Veröffentlichungen zum Themenfeld „Lu- hand des dabei entstandenen Denkmalbestands ther und Krieg“, mit dem Ziel, eine theologische in eindrücklicher Weise dokumentiert. 10 Vöhringen (Lkr. Rott- Bewältigung der Kriegserfahrungen zu ermög- weil), evangelische Kir- lichen. Aus dem nationalen, auf Luther bezogenen Literatur che: seriell produziertes Geschichts- und Selbstbild gingen Publikationen Rundporträt Luthers mit Inschriften an der Nord- hervor mit Titeln wie „Deutschlands Schwert Matthias Ohm: Südwestdeutsche Medaillen auf die wand neben der Kanzel. durch Luther geweiht“ (Wilhelm Walther, 1914) Reformationsjubiläen der Jahre 1617, 1717, 1817, Es wurde von Huttenlo- und „Eine Kriegspredigt aus Luthers Schriften“ 1917 und 2017, in: Der Johanniterorden in Baden- cher und Sautermeister (Otto Albrecht, 1914). Sie sollten vor dem Hinter- Württemberg Bd. 133, 2016, S. 10–16. 1883 geschaffen. grund des Kriegsalltags den deutschen Geist Lu- Bernhard Müller: „Gedenket, welche Taten unsere Vä- thers beschwören. Es verwundert daher nicht, dass ter zu ihrer Zeit getan haben!“ Reformationsjubiläen im Reformationsjahr 1917 auch Medaillen mit vom 18. bis 20. Jahrhundert, in: Christian Schrenk et kämpferischem Ausdruck entstanden sind. Ein in al.: Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte, Heil- Stuttgart geprägtes Stück zeigt auf dem Avers ei- bronn 2013, S. 137– 170. nen markigen Luther im Profil, auf dem Revers den Thomas Kuhn: Erinnerung und protestantische Re- 11 Stuttgart: das 1917 eingeweihte Reformati- Erzengel Michael im Kampf mit dem Teufel (vgl. präsentation. Reformationsfeiern in Baden bis zum onsdenkmal mit Martin Abb. 1). Eine umlaufende Inschrift setzt nun erst Ende des Großherzogtums, in: 450 Jahre Reformation Luther am Hospitalhof. in Baden und Kurpfalz, hg. v. Udo Wennemuth, Stutt- in der zweiten Strophe des Kirchenlieds „Ein’ feste Im Jahr 1999 wurde an- Burg ist unser Gott“ ein. Diese lautet: „Und wenn gart 2009. lässlich des 500. Geburts- die Welt voll Teufel wär“. Die Darstellung des En- Karl Wiedmann: Krail und Horaff. Stadtarchäologi- tags von Johannes Brenz gelskampfes wurde nicht zufällig gewählt, denn sche Forschungen zur Siedlungs- und Baugeschichte eine Inschriftentafel an- Luther selbst ist im 19. Jahrhundert als jener kampf- der Stadt Crailsheim (Historische Schriftenreihe der gebracht. erprobte Erzengel in der Geschichtsschreibung ver- Stadt Crailsheim, Bd. 6), Crailsheim 2008. ewigt worden: „[…] da stand er vor Kaiser und Hans-Jürgen Schönstädt: Das Reformationsjahr 1717. Reich als der Führer der Nation, heldenhaft wie Beiträge seiner Entstehung im Spiegel landesherrlicher ihr Volksheiliger, der streitbare Michael“ (Heinrich Verordnung, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 93, von Treitschke, 1883). 1982/1, S. 58– 118. Auch für die bestehenden Reformations- und Lu- therdenkmale hatte das Kriegstreiben Folgen, Praktischer Hinweis denn sie wurden dem Krieg geopfert. In Marbach am Neckar und gleichfalls in vielen weiteren Orten Weitere Informationen zu Erinnerunsgmalen der Re- musste die Lutherglocke eingeschmolzen und zu formation erhalten Sie auf unserer Homepage. Besu- Kriegsgerät verarbeitet werden. Eines der wenigen chen Sie uns unter: www.denkmalpflege-bw.de neuen Erinnerungsmale ist das vor der Hospital- kirche aufgestellte Reformationsdenkmal in Stutt- gart (Abb. 11). Es ist nach Plänen Theodor Fischers vom Bildhauer Jakob Brüllmann gefertigt und zeigt Dr. Jörg Widmaier den auferstandenen Christus, flankiert von Martin Landesamt für Denkmalpflege Luther und Johannes Brenz. Inschriften und Bilder im Regierungspräsidium Stuttgart verweisen auf das Reformationsgeschehen. Das Dienstsitz Tübingen

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 183 Von der Anbetung zur musealen Präsentation Die Heidelberger Kornmarktmadonna im Wandel ihrer Wahrnehmung

Eines der beliebtesten touristischen Fotomotive in der Heidelberger Altstadt ist die Kornmarktmadonna vor der Kulisse der Schlossruine. Seit ihrer Aufstellung 1718 unterlag die Madonnenskulptur im Wandel der Zeiten einer veränderten Wahrnehmung. Die Originalskulptur befindet sich heute im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg, räumlich wie in der Aussage weit entfernt von der ihr ursprünglich zugedachten Intention. Was waren die Gründe der Auftraggeber, die ihre Aufstellung und Weihe initiierten? Im Reformationsjahr 2017 wird der Geschichte der Reformation und ihrer Auswirkung bis in die heutige Zeit nach- gegangen. Der vorliegende Beitrag zeigt Denkmale, die als direkte Folge der Reformation entstanden sind – wenn auch mit gegenreformatorischem Anlie- gen.

Grit Koltermann

Geschichte der Kornmarktmadonna Christusknaben stützt, zu dem sie ihren Kopf neigt. Dieser tötet mit dem Schaft der Kreuzesfahne die Auf dem Kornmarkt in Heidelberg erhebt sich Schlange, auf welche die Mutter mit ihrem linken mehr als 7 m hoch die Figur der Gottesmutter auf Fuß tritt (Abb. 1). einem Brunnenbau. Den Rücken zur Schlossruine Im Jahre 1830 erfolgte der erste Umbau des So- gekehrt, blickt die Madonnenfigur, die Peter van ckels zum Brunnen mit oktogonalem Becken. Die den Branden (gest. 1720) zugeschrieben wird, in heutige Brunnenanlage der Kornmarktmadonna Richtung Heidelberger Altstadt. Im Gewölk zu ih- wird gebildet aus einem Quadersockel mit Mu- ren Füßen tragen vier Putti die Erdkugel, umwun- schelbecken, entstanden zwischen 1870 und den von der Schlange mit dem Apfel im Maul. 1890. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Über der Erdkugel erhebt sich die gekrönte Maria wurde die Raumsituation erneut ausgeweitet mit mit Sternennimbus. In ihrer Rechten trägt sie das einem getreppten Podest und Kettenpfosten. Die Lilienzepter, während sie mit ihrem linken Arm den Skulptur selbst befindet sich seit 1949 aus kon- servatorischen Gründen im Kurpfälzischen Mu- seum (Inv. PS 14) und ist durch eine Kopie von Hans Fries (1938– 1940) ersetzt (Abb.2).

Ikonografie der Kornmarktmadonna

Beim ersten Umbau 1830 gingen die Inschriften- tafeln des ursprünglichen Sockels verloren, doch sie haben sich in der Enzyklopädie „Thesaurus Palatinus“ erhalten. Der „Thesaurus“ wurde 1747 bis 1752 von Johann Franz Capellini von Wicken- burg (1677– 1752), Kammerherr des Pfälzer Kur- fürsten Johann Wilhelm (1658– 1716) und seit 1738 in Heidelberg ansässig, verfasst. Die Pracht- 1 Vor pittoresker Kulisse handschrift befindet sich bis heute in Besitz des der Schlossruine erhebt Hauses Wittelsbach und wird im Geheimen Haus- sich die Madonnenskulp- archiv München verwahrt. Mit ihren „Auffälligen tur auf dem Kornmarkt in Inschriften und vorzüglichen Grabmonumenten Heidelberg. sowohl alte wie neue, öffentliche wie private“

184 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 nimmt Heidelberg darin den breitesten Raum ein. wählt hat – im Absolutismus eine gängige Vermi- 2 Die platzfüllende Die enthaltenen Zeichnungen waren mit Sicherheit schung von Herrscherlob und Religion. Jedoch Anlage der Kornmarkt- nicht für den Druck bestimmt und stammen aus handelt es sich beim Kurfürsten nicht um den Auf- madonna mit Ketten- der Feder verschiedener Heidelberger Künstler wie traggeber; die Inschrift gibt Auskunft über eine pfosten, getrepptem Peter van den Branden oder des protestantischen „Sodalitas Subtutela Beatæ Mariæ | annuncIiatæ Podest und Brunnenbau. Heidelberger Regierungsrats und Historikers Phi- Congregata; | hanc Statuam posuitet dicavit | Hei- lipp Wilhelm Flad (1712– 1786). Es werden luthe- delbergæ […] 1718“ – „Die unter dem Schutz der rische wie katholische Denkmale vorgestellt, wo- seligen Maria der Verkündigung versammelte bei der Schwerpunkt auf den katholischen liegt. Bruderschaft hat das Standbild 1718 gesetzt und Selbst wenn mitunter Abweichungen zwischen geweiht“. Zeichnung und plastischer Ausführung festzustel- len sind (vgl. Fußstellung der Kornmarktmadonna), so hat der „Thesaurus Palatinus“ einen nicht zu überschätzenden dokumentarischen Wert für die Stadt- und Zeitgeschichte wie auch für die Denk- malpflege, denn er bildet auch Bauten und Ob- jekte ab, die zwischenzeitlich verloren sind, wie die Inschriftentafeln der Kornmarktmadonna. Unter dem Titel „Statua B. Virg. Mariæ immacu- lata in foro frumentario“ – „Die Statue der heili- gen unbefleckten Jungfrau Maria auf dem Korn- markt“ – beginnt die Beschreibung der Statue zu- nächst mit einer Zeichnung, im Anschluss folgen die Inschriften mit teilweiser Übersetzung (Abb. 3). Auf der stadtzugewandten Seite der Statue wird der Betrachter zur Anbetung aufgefordert, jedoch „Non Statuam aut Saxum, Sed quem Designat adora“ – „Nicht die Statue oder den Stein, son- dern die Dargestellte [im Thesaurus Palatinus: das Kind und die Mutter] bete an!“. Diese Abgrenzung gegen eine bloße Bilderverehrung ist dem Vorwurf der in Heidelberg ansässigen Calvinisten geschul- det. Im Weiteren erfolgt die Bezeichnung der 3 Zeichnung der Hei - Gottesmutter als Beschützerin der Mission und delberger Kornmarkt- der Kurpfalz, die Kurfürst Carl Philipp (1661– madonna im „Thesaurus 1742) aus Vaterlandsliebe zur Schutzherrin ge- Palatinus“.

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 185 Vom Schloss kommend werden dem Leser der war die Macht der Jesuiten im Heidelberger Stadt- rückseitigen Inschrift vor allem die Gründe für die bild omnipräsent mit eindrucksvollen Bauten wie Marienverehrung, frei von der Sünde als Gottes- Jesuitenkirche (1712– 1759) oder Jesuitenkolleg mutter, Himmelskönigin und Schlangentöterin, vor (1710– 1732). Die vom Kurfürsten installierten Be- Augen geführt, gefolgt von einer direkten An- amten brachten ebenfalls ihren katholischen Glau- sprache „Sta in lapide, | ut | Si homines Sileant ben mit und in Verbindung mit der Missionierung tuam laudem, muti lapides loquantur.“ – „Steh’ im der Jesuiten war eine gesteigerte Volksfrömmig- Stein, wenn die Menschen dein Lob verschweigen, keit mit Wallfahrten und Prozessionen, vor allem reden die sprachlosen/ stummen Steine“. im Zeichen der Immaculata Conceptio (Unbe- Die Inschriften wiederholen überwiegend die Sym- fleckte Empfängnis) zu verzeichnen. Drei mariani- bolik der Madonnenfigur, setzen diese aber durch sche Kongregationen sind für die erste Hälfte des den Bezug zum Kurfürsten und die Stiftung durch 18. Jahrhunderts nachgewiesen, von denen die eine marianische Kongregation in einen politi- „Academia maior der Verkündigung Mariæ“, vor- schen sowie religiös motivierten Kontext. Bildlich nehmlich rekrutiert aus Akademikern, als Auf- wie inschriftlich wird somit deutlich, dass die Got- traggeber für die Aufstellung und Weihe der Korn- tesmutter rein von der Erbsünde ist und einen marktmadonna inschriftlich genannt wird. Anteil an der Erlösung der Welt hat: Sie ist die Him- Als Quelle der marianischen Symbole sowohl der melskönigin, die Maria Immaculata, das Apoka- Skulpturen im öffentlichen Raum Heidelbergs als lyptische Weib, die Maria vom Siege, charakteri- auch der Liturgien bei Wallfahrten oder Prozes- siert durch die Krone, den Sternennimbus, das Li- sionen diente die Lauretanische Litanei, Anrufun- lienzepter und die Schlange zu ihren Füßen, auf gen an die Gottesmutter in Gebetsform. Ihre Ver- die sie tritt. Zusätzlich ist auf der Zeichnung im breitung in den deutschsprachigen Ländern ver- „Thesaurus Palatinus“ die zur Ikonografie gehörige danken die Gesänge den Jesuiten: Pater Petrus Mondsichel unter ihrem linken Fuß erkennbar, Canisius (1521– 1597) ließ die aus Loreto mitge- während ihr rechter (vermutlich) auf die Schlange brachte Litanei 1558 in Dillingen drucken. Sie tritt. Die Mondsichel kam jedoch bei der Skulptur wurde in allen Jesuitenkollegien eingeführt. Die nicht zur Ausführung. traditionell enge Bindung der Neuburger Linie zum Bei der Kornmarktmadonna handelt es sich also Orden wurde von den Nachfolgern Philipp Wil- um ein Werk mit offensiv gegenreformatorischer helms ebenfalls gepflegt, worüber die Leichen- Ikonografie. Wie kam es zur Aufstellung und predigten auf den Tod Johann Wilhelms 1716 und Weihe in Heidelberg, dem ehemaligen Zentrum Carl Philipps 1742 Auskunft geben. R. P. Ferdinand des Calvinismus? Orban S. J., Beichtvater des Verstorbenen, lobte in der publizierten Leichenpredigt „Horoscopus Historischer Hintergrund ihrer Herculis Palatini“ die Tugend, den Lebenswandel Aufstellung und die Frömmigkeit Johann Wilhelms. P.Nicolaus Staudacher S. J. stimmte in die Huldigung Johann Mit dem Tod des kinderlosen Karl II. 1685 starb die Wilhelms in seinem 1716 publizierten „Lob/ Nach- evangelische Linie Pfalz-Simmern aus und die folg und Wunder=würdige Verg’sellschafftung Herrschaft über die Pfalz fiel an den Katholiken Deß Löwen mit dem Lamb“ ein und auch P.Jakob Philipp Wilhelm von Pfalz-Neuburg (1615– 1690), Golling S. J. hob in seiner Leichenpredigt „Cron der auch Herzog von Jülich und Berg. Dieser Macht- Ehren“ auf den Tod Carl Philipps, 1743 publiziert, wechsel löste aufgrund der familiären Verbindung den Glauben an das Kreuz, die unternommenen der Pfalz-Simmern mit Ludwig XIV. – er war der Wallfahrten sowie die Förderung der Jesuiten Schwager Karls II. – den Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688– 1697) aus, der die Ansprüche des franzö- sischen Königs auf die Pfalz manifestierte und die Besatzung und Zerstörung Heidelbergs 1689 und 1693 zur Folge hatte. Philipp Wilhelm, der in Düsseldorf residierte, be- gann seit 1686, die Jesuiten im reformierten Hei- delberg zu etablieren. Die kaisernahe Linie Pfalz- Simmern pflegte wie auch das Kaiserhaus enge Beziehungen zum Orden. Die ostentative Präsenz 4 Farbig abgesetzte des Jesuitenordens in Heidelberg kompensierte die Pflastersteine auf dem Abwesenheit des Kurfürsten, der sich des kaiser- Kornmarkt markieren treuen Ordens als Kontroll- und Machtinstrument den Grundriss der abge- in der reformierten Stadt bediente. Heidelberg ver- rissenen Spitalkapelle. lor seine Position als Zentrum des Calvinismus. Bald

186 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 5 und 6 Besonders qualitätvolle Hausmadon- nen zieren einige Häuser in der Heidelberger Alt- stadt, hier Hauptstraße 137 und 168.

durch Kirchen- und Kollegbauten und der Con - Die Originale befinden sich im Lapidarium des Kur- gregationes Mariæ in Heidelberg hervor. pfälzischen Museums und stammen aus der Werk- Doch nicht nur die marianischen Symbole und die statt van der Brandens, die nach dessen Tod vom Bildsprache der Madonnenskulptur zeugen von Heidelberger Hofbildhauer Christian Litz weiter- einer politisch intendierten Religiosität im öffent- geführt wurde (Abb. 5; 6). Aber auch Skulpturen lichen Raum. Die Wahl des Platzes mag den An- ohne derart deutlichen gegenreformatorischen Be- spruch der Kurfürsten ebenfalls untermauern. Das zug weisen auf den Herrscher- und damit verbun- auf dem Gelände angesiedelte Bürgerspital wurde denen Konfessionswechsel hin. infolge der Reformation 1551 säkularisiert und 1556 aufgelöst. Nach dem teilweisen Abriss der Herkules-Brunnen auf dem Marktplatz Spitalbauten wurde auf Bitten der Heidelberger Bürger ein Milch- und Krautmarkt eingerichtet, Durch die Angriffe und Zerstörung der Stadt 1689 der zur Unterscheidung vom „alten Markt“ nun und 1693 während des Pfälzischen Erbfolgekriegs „neuer Markt“ hieß. Seit dem späten 17. und im kam die Wasserversorgung Heidelbergs zum Er- 18. Jahrhundert setzte sich die Bezeichnung liegen. Die Planung für einen neuen Brunnen zwi- „Kornmarkt“ durch. Die Aufstellung, Weihe und schen dem 1703 vollendeten Rathaus und dem Anbetung der Madonnenskulptur versinnbild- Chor der seit 1706 katholisch genutzten Heilig- lichen eine Wieder-Inbesitznahme des Platzes geistkirche wurde frühzeitig in Angriff genommen. durch den katholischen Glauben. Grabungen in Der Marktplatz bildete das gesellschaftliche und den Jahren 1986/87 belegten die vorreformatori- kommerzielle Zentrum der Stadt, der Bau des Brun- sche Bebauung. Farbig abgesetzte Pflastersteine nens zur Wasserversorgung zwischen 1703 und markieren heute den Grundriss der ehemaligen 1705/06 war ein Zeichen des Aufschwungs. Unter Spitalkapelle (Abb. 4). Leitung des Heidelberger Stadtwerkmeisters Jo- hann Martin Laub wurde Heinrich Charrasky Weitere Skulpturen im (1656– 1710, seit 1692 in kurfürstlichen Diensten) öffentlichen Raum mit der Ausführung der bekrönenden Brunnen - figur beauftragt. Die Herkulesfigur stellt vermut- Außer der Kornmarktmadonna wurden im 18. Jahr- lich das erste öffentlich aufgestellte Bildwerk nach hundert weitere Skulpturen im öffentlichen Raum der traumatischen Zerstörung der Stadt dar. in Heidelberg aufgestellt, die ebenfalls aus einem Herkules stützt sich mit dem rechten Arm auf seine gegenreformatorischen Kontext hervorgingen. In Keule mit dem Löwenfell, ein Hinweis auf die erste den Jahren bis 1730 fand die Kornmarktmadonna seiner zwölf Arbeiten, den Kampf gegen den Ne- besonders in der Ikonografie der Maria im Siege meischen Löwen. Gegen die Keule ist das Schild eine Nachfolge in den Heidelberger Hausmadon- gelehnt: Es verbindet in heraldischer Weise das nen. Erwähnt seien die besonders aufwendig ge- Heidelberger Stadtwappen, den bekrönten Löwen arbeiteten Madonnen Hauptstraße 137 und 168. über dem Dreiberg, mit dem Wappen des Her-

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 187 Der Löwe auf dem Universitätsplatz

Der oben genannte Herrschaftsanspruch der neuen kurfürstlichen Linie wird ebenfalls bei der Löwen - skulptur auf dem Universitätsplatz offensichtlich. Die erste Kopie von 1903 trägt inschriftlich die Jah- reszahl „1712“ und befindet sich wiederum im La- pidarium des Kurpfälzischen Museums (Inv.-Nr. PS 336). Das Original ging verloren, sodass eine Über- prüfung dieser Jahreszahl nicht möglich ist. Der Löwe, der sich dem Betrachter seit 1927 vor dem Hauptportal der Alten Universität präsentiert – bis dahin war der Brunnen am nördlichen Ende des Platzes – stellt eine weitere Kopie von 1961 dar. Wie auf dem Schild des Herkules werden das Herzogtum Berg und die Stadt Heidelberg emble- matisch verknüpft: Der bekrönte und doppel- schwänzige Löwe erhebt sich kraftvoll und kämp- ferisch über dem Dreiberg. Mit der Rechten hält er das Richtschwert, mit der Linken den Reichsap- fel – ein Verweis auf die Ausübung des Erzamtes als Reichserztruchsess durch Johann Wilhelm von 1708 bis 1714 (Abb. 8).

Symbole von Herrschaft und Konfession im öffentlichen Raum

Die Brunnenfiguren des Löwen und des Herkules wurden mit Sicherheit von der Hofkammer in Düs- seldorf finanziert, der damaligen Residenzstadt Johann Wilhelms. Im Unterschied zur Kornmarkt- madonna mit ihrer auch politisch motivierten In- 7 Der Tugendheld Herku- zogtums Berg, dem bekrönten doppelschwänzi- szenierung marianischer Symbolik und Marien- les war das Idealbild vieler gen Löwen. Der Kurfürst der Pfalz, Johann Wil- frömmigkeit, das heißt der Anbetung der Gottes- Potentaten. In Heidelberg helm, zu diesem Zeitpunkt noch in Düsseldorf re- mutter vor einem politischen Hintergrund, be- stand er für Schutz und sidierend, erhebt so im öffentlichen Raum An- gegnen beim Herkules und Löwen zunächst rein Wiederaufbau der Stadt. spruch auf die Stadt und blickt als Herkules auf das herrschaftliche Ansprüche, positiv gedeutet die zerstörte Schloss (Abb. 7). Identifizierung der Pfalz-Neuburger Linie mit der Herkules galt aufgrund seiner mythischen Arbei- einstigen und künftigen Residenzstadt Heidelberg. ten als Tugendheld und Herrscherideal, auf den Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass beide sich zahlreiche Potentaten beriefen und ihre Dy- herrschaftlich intendierten Brunnenfiguren im nastie auf ihn gründeten. Erinnert sei an die Her- „Thesaurus Palatinus“ fehlen. kulesskulptur von Kassel-Wilhelmshöhe, die Land- Hatten die Brunnenfiguren Herkules und Löwe graf Karl von Hessen-Kassel in Auftrag gab (er- noch die Verbindung des (abwesenden) Kurfürs - richtet 1717). Auch Johann Wilhelm stellte sich in ten Johann Wilhelm mit der Stadt Heidelberg the- diese Tradition, worauf nicht zuletzt die Leichen- matisiert, lässt sich für die Kornmarktmadonna – predigt „Horoscopus Herculis Palatini“ auf seinen kurz nach der Verlegung des Hofes nach Heidel- Tod 1716 im Titel eindeutig verweist. Ihr Verfas- berg durch Carl Philipp 1716 aufgestellt – ein Pa- ser Orban verknüpfte die Taten des „Herkules der radigmenwechsel nachweisen. Der Bezug zur Pfalz“ mit den christlichen Tugenden. Die Inbe- Stadt in der Symbol- und Formensprache wird zu- sitznahme der zerstörten Stadt, ihr Schutz und gunsten einer eindeutig offensiv-gegenreforma- Wiederaufbau stellen für den Kurfürsten die „her- torischen Ikonografie als Maria vom Siege, die auf kulischen Arbeiten“ dar, die sich in der Brunnen- die Schlange tritt, aufgegeben. Die Madonnenfi- figur verbildlichen. gur diente der Verehrung und Anbetung bei Pro- Bereits seit 1898 steht das Original im Lapidarium zessionen und Wallfahrten, die auf dem Gebiet des des Kurpfälzischen Museums (Inv.-Nr. PS 30). Die ehemaligen Spitals und Friedhofs der „Ketzer“ damals gefertigte Kopie von Georg Heß wurde stattfanden. Die Etablierung der eigenen Herr- 1953 gegen die heutige ausgewechselt. schaft findet ihren Ausdruck in der öffentlich ze-

188 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 lebrierten Marienfrömmigkeit. Ist in diesem Para- denkmale gemäß des Denkmalschutzgesetzes Ba- digmenwechsel mit dem Tode Johann Wilhelms den-Württemberg. Die bildhauerische und ikono- 1716 der Grund für das Fehlen der beiden Brun- grafische Konzeption und Qualität der beiden nenfiguren Herkules und Löwe im „Thesaurus Pa- Kompositionen – im Fall des Herkulesbrunnens ver- latinus“ zu suchen? Mit der erneuten Verlegung mutlich das originale Becken – sowie die stadt- der Hofhaltung nach Mannheim durch Carl Philipp bildprägende Wahl der Standorte bezeugen den bis 1731 verlor Heidelberg nicht nur den Status künstlerischen und wissenschaftlichen, die Kopien einer Residenzstadt, auch die Aktivitäten der Je- der Figuren zur Vervollständigung der platzprä- suiten und deren Förderung durch den Kurfürsten genden Objekte den heimatgeschichtlichen Wert, konzentrierten sich nunmehr verstärkt auf die da diese die öffentliche Wertschätzung belegen. neue Residenzstadt. Die Skulpturen des Herkules und der Kornmarkt- madonna im Kurpfälzischen Museum sind be- Von der gegenreformatorischen wegliche Kulturdenkmale im Sinne des Denkmal- Skulptur zum musealen Kunstwerk schutzgesetzes. Das Moment der Erhöhung der Gottesmutter auf Mit dem ersten Brunnenbau in Form eines okto- einem Podest zur Anbetung im Zuge der Gegen- gonalen Beckens auf dem Kornmarkt um 1830 reformation, der Umbau zu einem Brunnen und wurde die Gottesmutter ihres ursprünglichen Kon- damit zu einer touristischen Sehenswürdigkeit textes beraubt. Dem Betrachter gaben keine In- sowie schließlich die museale Inszenierung der schriftentafeln mehr Aufschluss über den zeit- originalen Madonnenfigur aufgrund ihrer quali - lichen und politisch-religiösen Bezug ihrer Auf- tätvollen Ausführung und ihres anspruchsvollen stellung. Der erneute Umbau zwischen 1870 und Bildprogramms – dies sind die Stationen einer zu- 1890 zur jetzigen Anlage, ein Quadersockel mit nächst politisch-religiös intendierten Skulptur. Muschelbecken, setzte die optische Verfremdung fort. Offensichtlich diente die Kornmarktmadonna Literatur nun nicht mehr der Anbetung und Verehrung, sondern fungierte mehr und mehr als Kunstwerk Heidrun Rosenberg: Von Herkules zu Nepomuk. Die im öffentlichen Raum und Sehenswürdigkeit vor Sprache der Skulptur im Stadtraum Heidelbergs nach pittoresker Kulisse. Das in der ersten Hälfte des 1693, in: Heidelberg im Barock. Der Wiederaufbau 20. Jahrhunderts angelegte getreppte Podest mit der Stadt nach den Zerstörungen von 1689 und 1693, Kettenpfosten vergrößerte nochmals die Distanz Heidelberg 2009, S. 29–47, mit weiterführender zu ihrer ursprünglichen Bestimmung. Die Verbrin- Literatur. gung der Originalskulptur ins Lapidarium des Kur- Dietrich Lutz et al: Vor dem großen Brand. Archäolo- pfälzischen Museums aus konservatorischen Grün- gie zu Füßen des Heidelberger Schlosses, Stuttgart den und ihr Ersatz durch eine Kopie stellte eine 1992. weitere Zäsur in der Wahrnehmung der Korn- Susanne von Falkenhausen et al.: Die Muttergottes marktmadonna dar. Die Skulpturen können dort vom Heidelberger Kornmarkt (Veröffentlichungen zur nun aus einem anderen, nicht vom Künstler be- Heidelberger Altstadt 8), Heidelberg 1974. absichtigten Blickwinkel – man möchte von „Au- Capellini von Wickenburg/ Johannes Franciscus: The- genhöhe“ sprechen – betrachtet werden. saurus Palatinus continens Insigniores Inscriptiones et Der Herkulesbrunnen auf dem Marktplatz sowie Præcipua Monumenta Sepulchralia, 1747– 1752 die Madonna auf dem Kornmarkt sind Kultur- (http:// digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ thesauruspa latinus)

Praktischer Hinweis

Kurpfälzisches Museum der Stadt Heidelberg Hauptstraße 97 69117 Heidelberg Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, montags geschlossen. www.museum-heidelberg.de 8 Der gekrönte Löwe auf dem Dreiberg – das Wappentier Heidelbergs – Grit Koltermann M.A. mit doppeltem Schwanz, Landesamt für Denkmalpflege ein Sinnbild für die Ver- im Regierungspräsidium Stuttgart bindung der Linie Pfalz- Dienstsitz Esslingen Neuburg mit der Stadt.

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 189 Weinbau 55° Historische Terrassenweinberge als Kulturdenkmale

Regionalen Wein kann man in Baden und in Württemberg nicht nur trinken, sondern die Reben auch eindrucksvoll in der Landschaft wachsen sehen: Historische Terrassenweinberge sind ein fester Bestandteil des kulturellen Erbes in Baden-Württemberg und ein Stück Kulturlandschaft par excellence. Bei allen Schwierigkeiten des Weinbaus in der Steillage mit 55° Hangneigung oder mehr haben viele Akteure das Ziel, diese einzigartige jahrhundertealte Weinbaulandschaft zu erhalten. Gleichwohl sind die historischen Terrassen- weinberge heute vor allem durch Bewirtschaftungsaufgabe in ihrer Existenz ge fährdet.

Martin Hahn/ Claudia Mohn/ Wolfgang Thiem

Weinbau früher und heute der Landschaft prägten. Diese Steillagen haben eine jahrhundertelange Tradition. Zwar fehlen In Baden-Württemberg ist Weinbau einer der be- quellenkundliche Belege, jedoch spätestens zwi- deutendsten Zweige der Landwirtschaft. Es exis- schen dem ausgehenden 10. und dem 13. Jahr- tieren über 500 Lagen auf sehr unterschiedlichen hundert müssen diese Rebflächen terrassiert wor- Böden wie Muschelkalk, Gipskeuper, Vulkange- den sein, was eine beachtliche technische Leistung stein oder Moränenschotter. Sorten wie Trollinger, der mittelalterlichen Landeskultivierung darstellt. Lemberger oder Gutedel werden fast ausschließ- Vor allem die Klöster trugen zur flächenhaften Aus- lich in Südwestdeutschland angebaut. Bis in die breitung des Weinbaus bei. Eindrucksvolle „Klos- 1950er Jahre wurde dieser Wein weitgehend auf terweinberge“ sind zum Beispiel im Umfeld der Zis- terrassierten Steillagen gezogen, die große Teile terzienserklöster Maulbronn (Enzkreis), Bronnbach (Main-Tauber-Kreis) oder an der zu Salem gehö- renden Birnau () erhalten (Abb. 1). Der Höhepunkt wurde im 16. Jahrhundert erreicht: 45000 ha Fläche sollen allein in Württemberg dem Weinbau gedient haben. Der Neckarwein ge- noss überregional einen guten Ruf. Die Kriege des 17. Jahrhunderts, der verstärkte Konsum von Bier sowie schließlich die Mehltau- und Reblauskrise im 19. Jahrhundert führten zu einem Rückgang. Vor diesem Hintergrund gründeten sich ab dem aus- gehenden 19. Jahrhundert zahlreiche Genossen- schaften, Verbände und Lehranstalten, die halfen, den Weinbau im Land zu dem zu machen, was er heute ist: eine landwirtschaftliche Sonderkultur, die in Württemberg auf einer Fläche von 11345 ha (2011) und in Baden auf 15906 ha (2010) betrie- ben wird (Abb. 3).

Weinbau 55°

Voraussetzung für einen Terrassenweinberg ist zu- 1 Seltene Datierung im nächst eine „steile“ Lage, die gleichzeitig gute geo- Weinberg: Inschriften- logische und klimatische Bedingungen für den stein von 1497 im Klos- Weinbau bieten muss. Dies trifft insbesondere auf terweinberg Maulbronn. die süd- und westexponierten Prallhänge von Flüs-

190 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 sen zu, die sich durch ihre erosive Wirkung mäan- nen einstige Parzellengrößen und nachträgliche 2 Stadtbildbestimmende drierend in die Umgebung eingetieft haben, wie Veränderungen abgelesen werden. Auch Position Terrassenweinberge: zum Beispiel an Neckar, Enz, Rems sowie Kocher und Verlauf der Erschließungstreppen lassen oft Neckarhalde in Esslingen. und Jagst. Auch Einzel- und Zeugenberge oder so- Schlussfolgerungen hinsichtlich der ursprüng- litäre Gebirgszüge mit steilen, der Sonne ideal zu- lichen Besitzstrukturen zu. geneigten Abhängen können beste Bedingungen So können einheitlich geplante, von einem Grund- bieten, gerade wenn sie wie beim Kaiserstuhl von herrn angelegte Weinberge von sukzessiv ge- fruchtbaren Lössschichten bedeckt sind. Für den wachsenen beziehungsweise von mehreren Besit- Steillagenweinbau bedarf es ganz spezifischer Ele- zern errichteten Anlagen unterschieden werden. mente und Strukturen. Für die Schaffung der na- Der Castellberg, einer der bedeutendsten Steil - mengebenden Terrassen sind Mauern notwendig, lagenweinberge im südbadischen Markgräfler- die in Trockenbauweise über Jahrhunderte hinweg land, ist für den ersten Fall ein anschauliches Bei- immer wieder repariert oder neu errichtet wurden. spiel. Es handelt sich um eine landesherrliche Grün- Zur Erschließung dienen steile Treppen (Staffeln). dung durch Markgraf Karl Friedrich von Baden. Diese Strukturen bestimmen das Bild eines Wein- Bezeichnend für die erste Ausbaustufe ist eine ein- bergs schon aus der Ferne, sodass historische Ter- heitliche Planung mit einem Mauer- und einem rassenweinberge auf den ersten Blick alle recht Treppentyp. Alle Terrassen sind durch große, den ähnlich aussehen. Jeder Weinberg, jede einzelne gesamten Weinberg längs durchschneidende Trep- Lage ist allerdings ein individuelles Gebilde, das pen erschlossen. Ihre vorgefertigten Stufen besit- wie ein historisches Gebäude Auskunft zu Ge- zen ein einheitliches Maß. schichte, Alter, Nutzung und ehemaligen Besitzern Ein anderes Bild ergibt sich hingegen beim Wein- geben kann (Abb. 2). berg in Mühlhausen (Enztal). Auch hier ist grund- sätzlich von einer einheitlichen Zurichtung der Weinberge und ihre Charakteristika Terrassen, einer gemeinschaftlichen Errichtung der Hauptwegeführung und der Planung bezie- Form und Umfang der Terrassierung sowie die hungsweise des Baus einer Wasserableitung aus- Erschließung durch Treppen und Wege sind von zugehen. Der Bau von Trockenmauern und Trep- 3 Stadt und Weinberge verschiedenen Faktoren abhängig: vom Unter- pen wurde dann allerdings parzellenweise orga- in historischen Ansichten: grundgestein, der topografischen Situation, den nisiert. Jede Parzelle ist eigens durch Mauer- Besigheim im so genann- ehemaligen Besitzverhältnissen, aber auch vom ur- treppen erschlossen. Im benachbarten Roßwag fin- ten Kieser’schen Forst- sprünglichen Alter und späteren Veränderungen. den sich dagegen auch Beispiele für direkt auf der lagerbuch von 1682. So können die Trockenmauern mit ihrer spezifi- schen Mauerwerkstechnik und der Qualität der Steinbearbeitung nicht nur Hinweise zu ihrer Ent- stehungszeit, sondern auch zum Bauherrn liefern. Der Klosterweinberg in Maulbronn besitzt bei- spielsweise in den ältesten Strukturen Mauerwerk mit Pressfugen, dessen Steine eine sehr fein bear- beitete Oberfläche zeigen. Auch in der Neckar- halde in Esslingen fällt die vergleichbar hohe Qua- lität des Mauerwerks auf. Sowohl mit dem Klos- ter als auch mit der Reichsstadt im Hintergrund konnte auf ortsansässige und erfahrene Hand- werker zurückgegriffen werden, und es waren Grundherrn mit entsprechenden finanziellen Mög- lichkeiten vorhanden. Anhand von Fugen im Mauerwerk oder späteren Zusetzungen zwischen den Mauerverbänden kön-

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 191 4 Castellberg in Ballrech- ten-Dottingen: Die lan- gen und steilen Treppen sind wahre Himmelslei- tern.

5 Relikte der maximalen Ausnutzung im Wein- berg: Lochsteine für die so genannten Kamerzen in den Kirchheimer Neckarweinbergen.

6 Weinberghäuschen mit Heizmöglichkeit in den Weinbergen bei Mühl- hausen an der Enz.

Parzellengrenze angelegte Mauertreppen, sodass sen kleinen Bauten gibt es eine erstaunliche Viel- eine gemeinschaftliche Nutzung über zwei Par- falt von Steillage zu Steillage. Sie sind für die Ge- zellen hinweg möglich war. schichte der Arbeit in den Weinbergen eine wich- Häufig dienen die langen Treppen zwischen den tige Quelle (Abb. 4–7). Mauern gleichzeitig zur Wasserabführung. Außer diesen Wasserstaffeln gibt es teilweise Schussrin- Weinberge im Strukturwandel 7 Weinberge in Mühl- nen, die sich hangabwärts entsprechend der zu- hausen an der Enz: Fugen in den Mauern zeigen die nehmenden Wassermassen verbreitern. Die Bewirtschaftung von kleinstrukturierten Wein- einstige Parzellenbreite; Weitere typische Elemente in historischen Terras- bergterrassen ist sehr mühsam, zumal dort nahezu jede Parzelle besitzt eine senweinbergen sind Unterstände, Ruhebänke, alles in Handarbeit gemacht werden muss. Der eigene Mauertreppe. Flurhüter- und Weinberghäuschen. Auch bei die- Aufwand ist mehr als viermal so hoch wie in einem mit Maschinen bewirtschafteten Weinberg in Flachlage. Zur Unterstützung dienen gelegentlich Einschienen-Zahnradbahnen oder auch Seilbah- nen, die man im 20. Jahrhundert in vielen Wein- bergen installiert hat. Dennoch wurden verstärkt in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahr- hunderts viele alte Terrassen aufgelöst, die Wein- berge flurbereinigt, breite Fahrstraßen angelegt und das Be- und Entwässerungssystem optimiert. Fast im ganzen Remstal erfolgten solche Reb - flurbereinigungen und auch der Kaiserstuhl ist dafür ein prominentes Beispiel: Zwischen 1950 und 1982 fand hier eine Neuordnung der Wein- anbauflächen mit so genannten Großterrassen statt. Gleichzeitig sind viele ehemalige Weinber- ge inzwischen brachgefallen und verbuscht be- ziehungsweise bewaldet oder aber zum Obstbau neu genutzt. Die einstigen Terrassenmauern exis- tieren oft noch und lugen zwischen Bäumen und Hecken hindurch, wie etwa im unteren Taubertal bei Wertheim. Trotz alledem haben in Baden-Würt- temberg eine ganze Reihe historischer Terrassen-

192 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 weinberge die Zeiten überdauert. Insgesamt sind vorwiegend nebenerwerblich betriebene Wein- landesweit noch etwa 1000 ha und damit ein Sieb- bau, vor allem aber die besonderen geologisch- tel der 7000 ha Steillagen mit über 30 Prozent Hang- topografischen Bedingungen, die kaum klassische neigung durch Mauern terrassiert. Rebflurbereinigungen zuließen. Doch auch diese durchweg hochwertigen Reste der einst die Landschaft weitaus stärker prägen- Weinberge als Kulturdenkmal den Sonderkultur sind in Gefahr, auf eine „rote Liste“ gefährdeter Kulturlandschaften zu geraten. Können Weinberge aber überhaupt Denkmal sein? Denn künftig wird es mit Änderung der Pflanz- Kulturdenkmale im Sinne des baden-württem - rechte erlaubt sein, auch in flachen Lagen Wein an- bergischen Denkmalschutzgesetzes werden zwar zubauen. Bisher wurde das von Seiten der Euro- überwiegend mit Bauwerken in Verbindung ge- päischen Union stark reglementiert, es musste eine bracht, mit Burgen und Schlössern, Kirchen und angestammte Nutzung eines Gebiets für den Klöstern, Villen, Wohnhäusern, Siedlungen, Bau- Weinbau nachgewiesen werden. Mit dem Wegfall ernhöfen, technischen Einrichtungen und vielem dieser Vorgabe und den klimatisch günstigeren anderem mehr. Denkmalwerte können aber auch Rahmenbedingungen dürften in Zukunft viele im Nicht-Gebauten, in Freiräumen und histori- Weinbauern in die Tallagen gehen, aus verständ- schen Kulturlandschaften zu finden sein, die in be- lichen und nachvollziehbaren wirtschaftlichen Grün- sonders hohem Maße oder markanter Form vom 8 Harte Arbeit im den. Zwangsläufige Folge wären immer mehr auf- Menschen gestaltet wurden. Die bekanntesten un- Weinberg: Wurmberg gegebene Anbauflächen in Steillagen mit Terras- ter ihnen sind Gärten und Parks, doch auch rein bei Hessigheim. sierungen. Mit intensiver Qualitätssicherung und landwirtschaftlich genutzte Flächen wie die histo- vor allem auch neuen Marketingkonzepten für die rischen Weinberge in den Steillagen können diese Weine aus Steillagen sowie besonderer staatlicher Qualität besitzen. Förderung durch das Land soll hier gegengesteu- Für die Beurteilung, welche Terrassenweinberge ert werden (Abb. 8). Kulturdenkmale sind, gibt es nun landesweit ein- heitliche Kriterien. Wie für alle Kulturdenkmale Hotspot Mittlerer Neckar ist auch hier das entscheidende Kriterium der his- torische Wert. Oft gibt es einen individuellen Im Rahmen des Projekts „Historische Weinberge: archivalischen Beleg für den Weinbau in einer be- Winzer, Denkmalpflege und Naturschutz auf ei- stimmten Lage oder auch Besonderheiten der Be- nem gemeinsamen Weg“ des Instituts für Lan- sitzgeschichte, zum Beispiel klösterlicher oder herr- despflege der Universität Freiburg in enger Ko- schaftlicher Besitz oder markante Eigentums- operation mit dem Landesamt für Denkmalpflege wechsel. Eine große Rolle spielen die Art und Form, 9 Eindrucksvolle kultur- sind eine allgemein anwendbare Methodik zur der überlieferte Umfang sowie die Vielfalt von Ter- landschaftliche Zusam - bauhistorischen Erfassung und denkmalpflegeri- rassierung und Treppenanlagen. Hinzu kommen menhänge: Burg Horn- schen Bewertung von Steillagenweinbergen und Details der Erschließung und Wasserführung so- berg bei Neckar zimmern. Strategien zur Erhaltung und Nutzungssicherung entwickelt worden. 2011 wurden die Ergebnisse als „Leitfaden zur Erhaltung historischer Terras- senweinberge“ veröffentlicht. Auf Basis dieser Grundlagenforschung untersuchte nun das Lan- desamt für Denkmalpflege zahlreiche Weinberge am Mittleren Neckar auf ihre historische Wertig- keit und ihren überlieferten Bestand. Dazu wurden einschlägige Literatur, historische Flurkarten so- wie archivalische Belege ausgewertet und aus- führliche Ortsbegehungen mit Bestandsdokumen- tation durchgeführt. Auf Grundlage dieser Doku- mentationen erfolgten eine Neubewertung der Denkmaleigenschaft und eine entsprechende Aus- weisung als Kulturdenkmal. Gerade im Mittleren Neckarraum inklusive Enztal gibt es noch immer überproportional viele Wein- berge mit historischen Terrassen. In dieser Region sind 36 Prozent der württembergischen Terras- senlagen und 21 Prozent solcher Lagen bundes- weit zu finden. Gründe dafür gibt es viele, etwa das Beharrungsvermögen der Württemberger, der 10 Weinbergpanorama wie Konstruktion und Funktion der einzelnen Tro- tensive Ausnutzung der steilen schmalen Parzellen Käsberg bei Mundels- ckenmauern, Treppen, Wege, Unterstände usw. bis zum Rand belegen (vgl. Abb. 5). heim. Wichtig ist, dass diese historischen Strukturen in- takt erhalten sind. Der kulturlandschaftliche Zu- Schutz und Pflege sammenhang, zum Beispiel mit historischen Stadt- beziehungsweise Ortskernen, Burgen, Flüssen Das Denkmalschutzgesetz von Baden-Württem- oder Steinbrüchen, ist für die Bewertung ein wei- berg schreibt die Erhaltungspflicht und pflegliche terer wichtiger Aspekt (Abb. 9). Behandlung von Kulturdenkmalen vor. Historische Besonders anschaulich sind die landschaftlichen Terrassenweinberge bedürfen allerdings ohnehin und historischen Bezüge etwa zwischen der Wein- einer stetigen Pflege, um sie kontinuierlich nutzen lage „Neckarhalde“ und dem historischen Stadt- zu können. Diesen achtsamen Umgang haben kern von Esslingen: Zur Ansicht der Stadt gehören sie durch die Weingärtner über Jahrhunderte nicht nur die Türme der Kirchen oder die Esslinger erfahren, denn nur so lässt sich der Weinbau auf „Burg“ sondern auch die Terrassenweinberge mit den Terrassen aufrechterhalten. Dazu gehört die ihrem markanten Fischgrätmuster am Steilhang Pflege und Reparatur der Trockenmauern und Trep- des Neckartals. Sie begründeten den einstigen pen in traditioneller, fachgerecht handwerklicher Wohlstand der Reichsstadt und sind damit spre- Art (Abb. 11). Erneuerungen mit Gabionen, Beton chende Zeugnisse der Esslinger Geschichte. In die- oder anderen für die historischen Weinberge art- ser Hinsicht zählen die im Mittelalter angelegten fremden Materialien verändern Substanz und Weinberge an Neckarhalde und Schenkenberg zu Erscheinungsbild der Steillagen erheblich und füh- den eindrucksvollsten und am besten überlieferten ren aufgrund unsachgemäßer Konstruktion häu- Steillagen des Mittleren Neckarraums (vgl. Abb. 2). fig zu noch größeren Schäden. Umfangreichere Dies gilt auch für die Weinberge zwischen Mun- Maßnahmen wie Flurbereinigungen, Zusammen- delsheim und Hessigheim. Einem Amphitheater legung von Grundstücken, Veränderung der Ter- gleich liegen die Terrassen landschaftsprägend an rassierung oder der Erschließung bedürfen einer 11 Neue, fachgerecht der steilen Neckarschleife, zu Füßen der beiden Abstimmung mit den Denkmalbehörden. errichtete Trockenmauer Weingärtnerorte Hessigheim und Mundelsheim Gutes Beispiel für eine erfolgreiche Sanierung von im Weinberg bei Vaihin- (Abb. 10). In dieser Lage werden auch noch die so Terrassenweinbergen ist der Schlossberg in Stau- gen-Roßwag genannten Mauerkamerzen gepflegt, die eine in- fen im Breisgau. Die nördlich der Altstadt gelege- nen Weinberge wurden nach langem Diskus- sionsprozess denkmalgerecht instand gesetzt und mit einem zusätzlichen Weg besser erschlossen. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Weingärt- nern, Flurneuordnung, Naturschutz und Denk- malpflege gab es auch bei den Weinbergen zu Füßen der Landesfestung am Hohenasperg. Dort wurden die Stützmauern der Terrassen, die zu- gleich wertvollen Lebensraum für Fauna und Flora bieten, handwerklich traditionell instandgesetzt. Auch hier wurde die einst schwierige Erschließung im Detail verbessert, sodass der Weinbau an dieser auch landesgeschichtlich wichtigen und markan- ten Stelle fortgeführt werden kann.

Vermittlung und Information

Um den Fortbestand des traditionellen Weinbaus zu sichern und zugleich die bedeutenden Zeug-

194 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 nisse der historischen Kulturlandschaft möglichst in ursprünglicher Funktion zu erhalten, ist neben den beispielhaften Sanierungsmaßnahmen jedoch vor allem eine Bewusstseinsbildung in der Gesell- schaft für dieses kulturelle Erbe notwendig. Die landschaftsästhetische Wirkung der Weinberge wird heute schon sehr geschätzt und zu Recht tou- ristisch vermarktet. Nicht nur die „Felsengärten“ zwischen Besigheim und Hessigheim sind inzwi- schen ein feststehender Begriff und Imageträger der Region. Sehr erfreulich ist die Initiative der Kommunen am Neckar von Benningen bis Lauffen, die derzeit im Integrierten Ländlichen Entwick- lungskonzept (ILEK) „Neckarschleifen“ vielfältige Handlungsfelder benennen, Perspektiven für die Erhaltung und Nutzung der historischen Wein- bauterrassen aufzeigen sowie wegweisende und innovative Projekte anstoßen wollen. Auch der neue Weinerlebnisweg sowie die Tätigkeiten des „Staffelsteiger-Vereins“ in Esslingen am Neckar Literatur und Quellen 12 Der Weinerlebnisweg oder die Instandsetzungs- und Pflegemaßnahmen in Esslingen als Werbung der „Schutzgemeinschaft Kirchheimer Steillagen“ Markus Numberger: Diverse Gutachten zu den Wein- für historische Terrassen- in Kirchheim am Neckar, beide gewürdigt durch bergen im Landkreis Ludwigsburg, Heilbronn und im weinberge. den Kulturlandschaftspreis des Schwäbischen Hei- Stadtkreis Stuttgart, Esslingen 2012/13. matbundes, sind wichtige öffentlichkeitswirksame Institut für Landespflege der Albert-Ludwigs-Univer- Aktivitäten (Abb. 12). sität Freiburg (Hrsg.): Leitfaden „Erhaltung histori- Das Landesamt für Denkmalpflege trägt zum Bei- scher Terrassenweinberge“, Freiburg 2011. spiel mit dem „Erlebniskoffer Historische Wein- Claudia Mohn: Bauforschung in historischen Terras- berge“ dafür Sorge, dass dieses Thema im Unter- senweinbergen – Werkstattbericht über ein aktuel- richt der Grundschulen etabliert und die Jüngsten les Projekt in Baden-Württemberg, in: Historische Kul- dafür begeistert werden können. Und eine Info- turlandschaft und Denkmalpflege, Arbeitskreis Theo- station mit Flyer „Historischer Terrassenweinbau“ rie und Lehre in der Denkmalpflege e.V., geht seit 2017 auf Tour durch die Verkaufsräume 2010, S. 66–72. der Weingärtnergenossenschaften, um für die Volkmar Eidloth/ Michael Goer: Historische Kultur- denkmalpflegerische Dimension des Themas zu landschaftselemente als Schutzgut, in: Denkmalpflege werben. in Baden-Württemberg 25/2, 1996, S. 148– 157. Historische Terrassenweinberge haben einen fes- www.mlr.baden-wuerttemberg.de/ de/ unsere- ten Stellenwert in der Kulturlandschaft und im kul- themen/ landwirtschaft/ regionale-landwirtschaft- turellen Erbe Baden-Württembergs. Wenn sie als staerken/ steillagenweinbau (6.2.17) Kulturdenkmale noch nicht im Bewusstsein der Be- www.neckarschleifen.de (6.2.17) völkerung fest verankert sind, dann sollte sich dies unbedingt ändern. Denn viele klassische Kultur- Praktischer Hinweis denkmale, ob Kloster Maulbronn, Burg Hornberg oder die Gesamtanlage Esslingen sind in ihrer his- www.staffelsteiger-verein.de/ weinerlebnisweg torischen Dimension ohne den hier jeweils in Steil- www.neckarschleifen.de lage praktizierten Weinbau nicht denkbar. Die Ent- wicklung der Dörfer und Städte und der sie um- gebenden Landschaft wäre ohne den Wein sicher ganz anders verlaufen. Somit sind denkmalge- Dr.-Ing. Martin Hahn schützte Weinberge heute eine erstklassige und Dr.-Ing. Claudia Mohn anschauliche materielle Quelle zur Geschichte des Landesamt für Denkmalpflege Landes und zum Verständnis dieser speziellen Kul- im Regierungspräsidium Stuttgart turlandschaft. Das Landesamt für Denkmalpflege Dienstsitz Esslingen will in einer Allianz mit Weingärtnern, Kommunen, Flurneuordnung, Naturschutz und Tourismus als Dipl.-Geogr. Wolfgang Thiem ideeller und fachlicher Unterstützer helfen, dieses Landesamt für Denkmalpflege Stück Baden-Württemberg für die Zukunft trag- im Regierungspräsidium Stuttgart fähig zu erhalten. Dienstsitz Tübingen

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 195 Was landete zu Zeiten des Konstanzer Konzils wirklich im Topf? Froschschenkel und Biberschwanz oder Rind, Schwein, Schaf und Huhn?

In mittelalterlichen Kochbüchern finden sich zahlreiche Rezepte für die Zube- reitung von Haus- und Wildtieren, die uns fremd anmuten. Zudem stehen viele der genannten Tierarten heute unter Artenschutz und niemand würde in Be- tracht ziehen, sie zu jagen und zu verzehren. In den Jahren des Konstanzer Konzils von 1414 bis 1418 scheint der Konsum wilder Tiere jedoch sehr beliebt gewesen zu sein. Wird doch von Ulrich Richental in der Chronik des Konzils der Verkauf von Tieren wie Bären, Biber, Fröschen und (Sing-)Vögeln sehr anschau- lich beschrieben und dargestellt. Eine andere Geschichte erzählen dagegen ar- chäologische Tierknochenfunde vom Konstanzer Fischmarkt.

Elisabeth Stephan/ Ralf-Jürgen Prilloff

Das Konstanzer Konzil ren, und so kundschaftete er mit zwei päpstlichen Gesandten im Frühjahr 1414 das unmittelbare Um- In den Jahren 1414 bis 1418 fanden in feld der Stadt im wie im Hegau zwecks der größte Kongress des Mittelalters und die ein- Verpflegung und Unterbringung der Teilnehmer zige Papstwahl auf deutschem Boden statt. Dieses und deren Gefolge aus. Konzil war eine Versammlung der Kirchenführung Konstanz, das zu dieser Zeit etwa 6000 bis 8000 in Konstanz, die auf Betreiben des römisch-deut- Einwohner hatte, beherbergte während des Kon- schen Königs Sigismund vom Gegenpapst Johan- zils ein Vielfaches seiner Einwohnerzahl, darunter nes XXIII. einberufen wurde. Die Versammlung zum Teil hochgestellte und anspruchsvolle Besu- sollte die seit 1378 andauernde Kirchenspaltung cher. Schätzungsweise hielten sich zwischen (Großes Abendländisches Schisma) mit zwei und 15000 und 20000 Gäste gleichzeitig in der Stadt später drei gleichzeitigen Päpsten beenden und die auf und mussten mit Nahrung versorgt werden. Häresie wirksam bekämpfen. 1417 wählte das In der Chronik des Konzils zu Konstanz, die Ulrich Konklave mit Martin V. einen neuen Papst und si- Richental wohl um 1424 im Auftrag der Stadt cherte somit – zumindest kurzfristig bis zur Refor- niedergeschrieben hat, liefert er – neben Berichten mation – die Einheit der katholischen Kirche. Das der Ereignisse, Teilnehmer- und Wappenlisten – Konzil tagte in dem von 1388 bis 1391 erbauten eine sehr anschauliche und einzigartige Beschrei- ehemaligen Kaufhaus am Konstanzer Hafen, das bung des Alltagslebens im frühen 15. Jahrhundert heute Konzil genannt wird. und illustriert insbesondere das vielfältige tierische Zum 600-jährigen Jubiläum dieses Konzils finden Nahrungsangebot, das von Hausrind und -schwein von 2014 bis 2018 eine Fülle von Veranstaltungen über Hirsch, Reh, Wildschwein und Hase bis zu zum Konzil selbst, aber auch zum mittelalterlichen Bär, Biber, Otter und einer breiten Palette von (Sing-) Alltagsleben und zur Nahrungsversorgung der Vögeln und Fischen, Fröschen und Schnecken Stadt und ihrer Besucher in Konstanz statt. reicht. Entsprechende Kochrezepte finden sich in mittelalterlichen Kochbüchern wie dem „Buoch Chronik des Konstanzer Konzils von von guoter Speise“, entstanden um 1350, dem Ulrich Richental Kochbuch Meister Hannsens um 1460 und dem Kochbuch Meister Eberhards aus der ersten Hälfte Ulrich Richental, ein 1365 geborener Konstanzer des 15. Jahrhunderts. Neben der Zubereitung von Kaufmann, erhielt im Dezember 1413 als erster uns geläufigen Tieren enthalten sie zum Beispiel in Konstanz die Nachricht, dass die Stadt als Ort ei- Rezepte für Biber, Otter, Igel, Eichhörnchen und ner Kirchenversammlung ausgewählt worden sei. eine Reihe von Wildvögeln, die heute überwie- Er wurde daraufhin vom Rat beauftragt, die Ver- gend geschützt sind und nicht gefangen bezie- sorgung und Bevoratung der Stadt zu organisie- hungsweise gejagt werden dürfen.

196 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 Sah die tierische Nahrung der Bewohner und Be- Ziege. Von den bei Richental genannten „exoti- sucher von Konstanz aber wirklich so aus, wie in schen“ Säugetieren, Wildvögeln und Fischen fan- der Chronik des Konstanzer Konzils beschrieben? den sich jedoch – wenn überhaupt – nur wenige Eine (etwas) andere Geschichte erzählen mittel - Reste. Was bedeutet das? Sind die Beschreibungen alterliche Tierknochenfunde, die während archä- in der Chronik auf überschäumende Phantasie zu- ologischer Ausgrabungen von 1984 bis 1986 auf rückzuführen? Oder fehlen Belege für bestimmte dem Konstanzer Fischmarkt in unmittelbarer Nähe Tierarten im archäologischen Fundgut? Das wird zum Konzilsgebäude geborgen wurden. im Folgenden näher beleuchtet.

Archäozoologie: Vom Rindvieh Tierreste erzählen Geschichte Das Artenspektrum der Tierreste vom Fischmarkt Bei diesen Tierknochen vom Fischmarkt handelt es legt nahe, dass die Konstanzer im 14. und 15. Jahr- sich um einen Teil der mittelalterlichen Abfälle aus hundert überwiegend Rindfleisch konsumierten der Zeit zwischen ungefähr 1350 und 1450, die als (Abb. 1). Archäozoologische Analysen der Kno- Auffüllungsmaterial im Rahmen von Landgewin- chen konnten aber zeigen, dass Kühe vorrangig nungsmaßnahmen an der Seeseite Konstanz’ de- für Milchproduktion und Nachzucht genutzt wur- poniert wurden. Soweit es die fragmentierte Über- den. Ochsen und Kühe fanden, trotz ihrer gerin- lieferung zuließ, wurden Tierart, Skelettelement, gen Größe mit Widerristhöhen um 1,20 m, recht Geschlecht, Alter, Größe, Wuchsform und Erkran- intensive Verwendung als Zug- und Lasttiere. Dies kungen bestimmt. Zudem erfolgte die Aufzeich- belegen krankhafte Veränderungen an Hüft- und nung von Hack- und Schnittspuren, da diese Aus- Beinknochen sowie durch die Anspannung im kunft über Tötung und Zerlegung, aber auch über Joch hervorgerufene Deformationen an den Horn- die Verwendung bestimmter Skelettteile als Roh- zapfen. Rinder wurden also nicht in erster Linie als material zum Beispiel für Werkzeuge, Schmuck Fleischlieferanten gezüchtet und gehalten, son- und Rosenkränze geben. So konnten aus den Tier- dern erst als Alttiere, nach Beendigung ihres „Ar- resten Erkenntnisse über Tierhaltung und Jagd so- beitslebens“, geschlachtet und verzehrt. wie Ernährung(sgewohnheiten) und Handwerk der Menschen in diesem Zeitraum, der auch die Knochenhandwerk Jahre des Konzils umfasst, gewonnen werden. Doch ganz anders als aufgrund der laut Chronik Zudem fiel auf, dass es sich bei gut dreiviertel der verzehrten Tierarten erwartet, stammt die Mehr- Rinderreste nicht um Nahrungs-, sondern um Werk - zahl (97,4%) der 38055 Knochen von den gängi- stattabfälle handelte. Das Stadtgebiet um den gen Hausnutztieren Rind, Schwein, Schaf und Fischmarkt wurde im Mittelalter überwiegend von

Haustiere Wildtiere

1 Tierartenspektrum, das die Knochenfunde vom mittelalterlichen Konstanzer Fischmarkt zeigt.

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 197 2 Abtrennung der Horn- zapfen beim Rind für die Horngewinnung (grün) und Zerlegung von Unter- kiefer sowie Mittelhand- und Mittelfußknochen für die Paternosterher- stellung (blau).

Handwerkern besiedelt, die Laternenscheiben, Kämme, Trink- und Pulverhörner, Flöten und Griffe aus Horn herstellten. Hierzu wurden den ge- schlachteten Rindern die Hörner vom Kopf abge- trennt, was an den aufgefundenen knöchernen Hornzapfen gut zu beobachten ist (Abb. 2; 3). An- schließend wurde die Hornscheide abgelöst und als Rohmaterial für die oben genannten Gegen- stände verwendet. Neben der Hornverarbeitung gab es im mittelal- terlichen Konstanz auch ein spezialisiertes Kno- chenschnitzer-Handwerk. So fanden sich bei den Ausgrabungen eine Fülle von Belegen für die Her- stellung von Perlen für Rosenkränze, in Süd- deutschland auch Paternoster(-schnüre) genannt (Abb. 4). Hierfür wurden bevorzugt Unterkiefer so- wie Mittelhand- und Mittelfußknochen vom Rind verwendet, da sie sich aufgrund ihrer Form sehr gut dafür eignen und als fleischarme beziehungs- weise fleischlose Skelettregionen beim Schlachten als Abfall anfallen. Eine stärkere Standardisierung und effizientere Nutzung des Rohstoffs Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts verweist auf eine extrem große Nachfrage nach preiswerten Ge- betsschnüren zur Zeit des Konstanzer Konzils. Da sehr viele Produktionsabfälle, aber wenige Perlen und vollständige Paternosterschnüre gefunden wurden, scheinen die Fertigprodukte verhandelt oder von den Besuchern des Konzils mitgenom- men worden zu sein.

„Normale“ Fleischküche

3 Schematische Dar - Der Konsum von Rindfleisch ist also deutlich nied- stellung der Verarbeitung riger anzusetzen, als es der hohe Anteil an Rin- von Rinderhorn zu Käm - derknochen vermuten lässt. Reine Fleisch- und men. Fettlieferanten waren die kleinen, hochbeinigen

198 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 und schlankwüchsigen Hausschweine. Geschätzt Nähe des Konstanzer Münsters gehäuft Katzen- 4 Konstanz Münzgasse. wurde vor allem das Fleisch von – zumeist männ- und Hundeknochen fanden, ist dies auch für das So genannte Paternoster- lichen – Jungtieren im Alter von etwa ein bis zwei mittel alterliche Konstanz denkbar. Eindeutige Spu- leisten, das heißt Reste Jahren. Aber auch Fett und Knochenmark sowie ren der Schlachtung und Zubereitung fanden sich von Mittelhand- und Hirn, Zunge und andere Innereien wurden gerne an den Knochen jedoch nicht. Mittelfußkochen vom Rind mit Reihen runder verzehrt. Nur wenige Sauen erreichten ein höhe- Die Tierreste vom Fischmarkt zeigen: „Das Fleisch Löcher, aus denen kugel- res Alter und konnten zur Nachzucht eingesetzt von Feldhasen, Rothirsch, Wildschwein, Reh und förmige Paternosterper- werden. Innerhalb der Stadt fand Schweinezucht dem Eichhörnchen, in Ausnahmefällen auch von len gebohrt wurden. wohl nur in geringem Umfang statt, da hier wahr- einem Wildrind (Auerochse oder Wisent), berei- scheinlich nicht genug Platz zur Verfügung stand. cherte in angenehmer Weise das Speiseangebot“. Naheliegend ist, dass die Bürger – zumindest wäh- Wie die geringe Anzahl der Wildtierknochen be- rend des Konzils – auf dem lokalen Markt Ferkel legt, war Wildbret im mittelalterlichen Konstanz von Bauern aus dem Umland erwarben und diese aber eher unbedeutend für die Ernährung. Dies dann bis zur Schlachtreife mästeten. Auch Schaf gilt auch für zahlreiche andere mittelalterliche und Ziege dienten vorrangig als Nahrungsquelle Städte und Siedlungen und ist – zumindest teil- und auch sie wurden häufig schon als Jungtiere ge- weise – auf das mittelalterliche Jagdrecht zurück- schlachtet. Um die knappen Futterressourcen wäh- zuführen, wonach die hohe Jagd auf Hirsche, Rehe, rend des Winters zu schonen, wurden Schweine, Wildschweine und andere große Wild säuger aus- Schafe und Ziegen häufig im Herbst geschlachtet. schließlich dem Adel vorbehalten war. Dem ge- Beliebte Fleischspeise war zudem das Haushuhn, meinen Mann war die Vogeljagd und seltener die das gut in den Höfen der Stadt gehalten werden niedere Jagd auf Hasen und Kleinwild wie zum Bei- konnte. Gänse, Enten und auch Tauben wurden spiel Eichhörnchen oder Siebenschläfer erlaubt. deutlich weniger verzehrt. Von Bären, Bibern und Ottern, deren Verzehr in mittelalterlichen Kochbüchern häufig hervorge- Ausgefallene Ernährungsgewohnheiten hoben wird und die auch als Lebensmittel in der und exotische Lebensmittel Konzils-Chronik genannt und dargestellt werden, wurden auf dem Fischmarkt keine Skelettreste ge- Hunde und Katzen wurden in Kriegszeiten und borgen. Biber ist aus anderen mittelalterlichen während Hungersnöten immer wieder gegessen. Fundorten jedoch relativ zahlreich belegt. Mit Ge- Da sich in einer mittelalterlichen Latrine in der wichten bis zu 30 kg und mehr waren sie beliebtes

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 199 Jagdwild und wurden wegen ihrer semiaquati- schen Lebensweise und des beschuppten, fisch- ähnlich aussehenden Schwanzes häufig zu den Fi- schen gezählt und als Fastenspeise angeboten. Der von fettigem Bindegewebe durchzogene Schwanz galt als Leckerbissen. Bären- und Otterfleisch war sicherlich seltener auf dem Esstisch zu finden. Die Darstellungen der Chronik zeigen, dass nur Kopf und Tatzen zum Verzehr angeboten wurden (Abb. 5; 6). In der Literatur zu mittelalterlichen Ess- gewohnheiten wird diese Auswahl häufig damit begründet, dass Kopf und Tatzen weniger Trichi- nen enthalten sollten als das Muskelgewebe an- derer Körperteile. Da Trichinen aber auch Kehl- kopf-, Zungen-, und Augenmuskeln sowie Unter- arm- und Unterbeinmuskulatur befallen und ebenso in anderen Wildtieren wie zum Beispiel Wildschweinen häufig zu finden sind, ist diese Be- gründung nicht sehr überzeugend. Es waren wohl eher geschmackliche Vorlieben, die Zubereitung von Bärenköpfen als Schaugericht oder Bärentat- zen als beliebtes Gastgeschenk, die zu dieser Aus- wahl führten.

200 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 Bemerkenswert sind die Knochen vom Wildrind, wahrscheinlich dem Wisent, da dieser im Mittel- alter in Süddeutschland schon sehr selten war. Möglicherweise stammten diese Tiere auch nicht aus Konstanz oder der nahen Umgebung. Ri- chental beschreibt in seiner Chronik, dass drei le- bende Wisente aus Polen-Litauen als Geschenke für König Sigismund nach Konstanz transportiert wurden. Sie stellten sich jedoch als störrische Rei- sende heraus und wurden auf halber Strecke ge- tötet und in Fässern eingelegt (was wohl bedeutet, mit Salz haltbar gemacht) zum Konzil gebracht (Abb. 7). Ob die Knochenfunde wirklich von den aus Polen oder Litauen importierten Tieren stam- men, kann anhand ihrer Größe und Morphologie nicht entschieden werden. Analysen der Stron- tium- und Sauerstoffisotopen im Knochengewebe könnten aber Hinweise auf das Herkunftsgebiet geben.

Ganz anders als heute …

Bereichert wurde das Fleischangebot während des Konzils laut Richental-Chronik auch durch eine Reihe von verschiedenen Vogelarten wie Distelfink, Dohle, Amsel, Wacholderdrossel, Sing- drossel, Weihe, Rabe und Krähe. Dies wird durch die breite Palette von Wildvogelfunden vom Konstanzer Fischmarkt und anderen mittelalter- lichen Befunden in Konstanz bestätigt. Damals wie heute besaßen der Bodensee und seine un- mittelbare Umgebung als Brutgebiet für heimi- sche Vogelarten und als Rastgewässer durchzie- hender Vogel schwärme eine große Anziehungs- kraft. Die Artenliste der archäologischen Tierreste umfasst diverse Entenarten (Spieß-, Schnatter-, Spießen gebraten und als „Spießvogel“ auf Märk- 5 Marktszenen der Reiher-, Tafel-, Moor- und Schellente) und andere ten verkauft. Richental-Chronik: Wasservögel (Zwergsäger, Blässralle, Graureiher, Ein ganz besonderer Fund ist das Pygostyl (zusam - Fleischverkauf von Rot- Singschwan) sowie Wald- und Feldvögel (Auer- mengewachsene Schwanzwirbel) eines Pfaus vom hirsch, Rind, Bär und huhn, Rebhuhn, Birkhuhn, Großer Brachvogel, Konstanzer Fischmarkt, das auf die Verwendung Wildvögeln. Die ge- schlachteten Tiere wur- Hohl- und Ringeltaube, Waldkauz, Dohle), dar- der prächtigen Schwanzfedern verweist. Ralf-Jür- den vollständig angelie- unter auch Singvögel wie Wacholderdrossel und gen Prilloff schreibt hierzu: „Es war üblich, sonder- fert und vor Ort zerlegt. Amsel oder Greifvögel wie Steinadler, Sperber, Ha- lich aussehende oder farbenprächtige Tiere in ih- Abfallknochen bekamen bicht und Geier. Auch wenn es heute schlecht vor- rer äußeren Hülle zuzubereiten und als Tisch- die Hunde zu fressen. stellbar ist und der Fang von Wildvögeln in Kon- schmuck mit auf die Tafel zu stellen. Je nach stanz, wie in anderen mittelalterlichen Städten Interesse und Bedürfnis konnte das Fleisch auch 6 Marktszenen der und Klöstern in Süddeutschland auch, schon seit gegessen werden.“ Richental-Chronik: Fisch- 1376 verboten war, gab es für viele dieser Vogel- verkauf. arten Empfehlungen für deren Zubereitung. Be- Fische aus dem Bodensee und sonders geschätzt waren Wacholderdrosseln, die von der Ostseeküste 7 Richental-Chronik: Transport eines toten so genannten Krammetsvögel, für die eine Viel- Wisents. zahl von Rezepten überliefert ist. Aber auch Hohl- Aufgrund der zahlreichen Fastentage waren Fische und Ringeltaube wurden als schmackhafte Braten im Mittelalter sehr gefragt und am Fischmarkt fan- 8 Marktszenen der geschätzt. Vom Singschwan wurden eher junge den sich Reste von Hecht, Flussbarsch (Kretzer oder Richental-Chronik: Tiere bevorzugt, Blässrallen sollten ob ihres mo- Egli), Forelle, Döbel, Karpfen und anderen Weiß - Verkauf von Fischen, rastigen Geruchs vor der Zubereitung getrocknet fischen. Von den in der Chronik auch genannten Fröschen, Schnecken, werden und selbst die tranigen Dohlen galten als Felchen, Groppen, Grundeln, Brachsen, Schleien, eingelegten Heringen genießbar. Diese Rabenvögel wurden auf langen Rheinanken und den in Donau und Schwarzmeer und Stockfisch.

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 201 Glossar heimischen Hausen (Belugastör) sowie (gesalze- Nahrung höher stehender Gesellschaftsgruppen nen/ eingepökelten) Heringen, die zu dieser Zeit überrepräsentiert ist, während sich in den archäo- Häresie von der Hanse von der Ostsee importiert wurden, logischen Tierresten eher die Ernährung der nor- Bezeichnung für eine Aus- sind keine Reste überliefert. Dies ist wohl darauf malen Bevölkerung widerspiegelt. Dabei zeigt sich sage oder Lehre, die im zurückzuführen, dass ihre fragilen Skelette nicht auch der Einfluss der Auftraggeber der jeweiligen Widerspruch zu den vor- häufig erhalten blieben und zudem aufgrund der Chronik-Handschriften, für die ein überquellendes herrschenden kirchlich-reli- geringen Größe der Knochen mit normaler Gra- Angebot von Fleisch und Fisch aller Art sowie exo- giösen Glaubensgrundsät- zen stand und nach Auf - bungstechnik nicht geborgen wurden. Daher spie- tischer Delikatessen beliebte Darstellungen für fassung der Kirche das geln die archäozoologisch nachgewiesenen Fisch- Reichtum und Überfluss waren. kirchliche Dogma mit sei- arten nicht unbedingt alle genutzten Fische und nen Glaubenssätzen und auch nicht die tatsächliche Menge des konsu- Literatur die Botschaft des Evangeli- mierten Fischfleisches wider. Archäologisch belegt ums bezweifelte, leugnete ist aber der Kabeljau. Wie die Darstellungen bei Chronik des Konstanzer Konzils 1414– 1418 von Ul- oder entstellte. Richental zeigen, wurde er wohl als gedörrter rich Richental. Eingeleitet und hg. v.Thomas Martin Richental-Chronik Stockfisch, ohne Kopf und Eingeweide, von den Buck, in: Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, Der als verloren geltende Lofoten, Island und Schottland importiert (Abb. Band 41, Ostfildern 2014. „Ur-Richental“ von etwa vgl. 6; 8). Ulrich Richental: Chronik des Konzils zu Konstanz 1420 war eine Quellen- 1414– 1418. Faksimile der Konstanzer Handschrift. sammlung in lateinischer Schnecken und Frösche Mit einem kommentierten Beiheft von Jürgen Klöck- Sprache. Daraus hat Ulrich ler, Darmstadt 2013. Richental vermutlich in Bis heute in Konstanz gebräuchliche Fastenspeisen Thomas A. Spitzers: Die Konstanzer Paternosterleis- den unmittelbar folgenden wie Schnecken, aber auch Frösche scheinen wäh- ten: Analyse zur Technik und Wirtschaft im spätmit - Jahren verschiedene Hand- schriftenfassungen für un- rend des Konzils als exotische Neuerung zur Be- telalterlichen Handwerk der Knochenperlenbohrer, in: terschiedliche Rezipienten reicherung des Speisezettels beigetragen zu haben Fundberichte aus Baden-Württemberg 33, 2013, erstellt. Ab 1460 bis ins (vgl. Abb. 8). Sehr wahrscheinlich blieben sie aber S. 661−940. späte 17. Jahrhundert sind primär den fremdländischen Feinschmeckern vor- Maren Siegmann: Hoppäzgen zum Wucherpreis? Fall- insgesamt 19 Textträger behalten und die Marktszenen belegen, dass so- beispiel: Ernährung in Konstanz 1414– 1418, in: Ar- der Chronik nachgewiesen. gar die außergewöhnlichen Nahrungswünsche chäologische Informationen 28/1 u. 2, 2005, S. 79−99. Nur sieben davon waren, wie zum Beispiel die um auswärtiger Gäste befriedigt werden konnten. Kerstin Pasda: Tierknochen als Spiegel sozialer Ver- 1460 entstandene Aulen- „Die kaufen die Welschen“, so notierte Richental hältnisse im 8.–15. Jh. in Bayern, in: Praehistorica dorfer Handschrift, illus- erkennbar pikiert. Froschschenkel haben sich in Monographien 1, Erlangen 2004. triert. den Ablagerungen am Konstanzer Fischmarkt Ralf-Jürgen Prilloff: Tierknochen aus dem mittelalter- nicht erhalten, wohl aber fanden sich Schalen von lichen Konstanz. Eine archäozoologische Studie zur Trichinen Weinbergschnecken. Ernährungswirtschaft und zum Handwerk im Hoch- Winzige Fadenwürmer mit und Spätmittelalter, in: Materialhefte zur Archäologie parasitischer Lebensweise, Fazit in Baden-Württemberg 50, Stuttgart 2000. denen Säugetiere, vor al- Mostefa Kokabi: Die Fleischküche, in: „Stadtluft, Hirse- lem Alles- und Fleischfres- ser, als Wirte dienen. Wird Die archäologischen Nahrungs- und Schlachtab- brei und Bettelmönch – Die Stadt um 1300“, Kata- Fleisch dieser Tiere vom fälle vom Konstanzer Fischmarkt aus der Zeit zwi- log zur Ausstellung, Stuttgart 1992, S. 297−298. Menschen roh oder unge- schen etwa 1350 und 1450 zeichnen ein etwas nügend gegart verzehrt, anderes Bild der tierischen Nahrung der Konstan- Praktischer Hinweis führen die aufgenomme- zer Bevölkerung und der Gäste des Konzils als die nen Trichinen zu einer Tri- Darstellungen und Beschreibungen in der Richen- Informationen zum Konzilsjubiläum: chinellose, die sich in Übel- keit, Erbrechen und Durch- tal-Chronik (sowie in mittelalterlichen Kochbü- www.konstanzer-konzil.de fall zeigt. Heute ist die Un- chern). Werden in der Chronik besondere und zum tersuchung auf Trichinen Teil von weither importierte Tiere wie Bär, Biber, Ot- von Fleisch für den mensch- ter, Frösche, Schnecken, Stockfisch und Heringe lichen Verzehr Pflicht und thematisiert, dominieren bei den gefundenen Kno- die Trichinellose in der chen die normalerweise als Fleischressourcen ge- Europäischen Union mel - nutzten Rinder, Schweine, Schafe und Ziegen. Ske- depflichtig. lettreste von Biber, Otter, Bär und seltenen, im- Dr. Elisabeth Stephan Welsche portierten Fischen fehlen dagegen. Nur der bei Landesamt für Denkmalpflege So wurden aus der römi- Richental und in vielen mittelalterlichen Kochbü- im Regierungspräsidium Stuttgart schen Sprach- und Kultur- chern beschriebene Verzehr einer breiten Palette Dienstsitz Konstanz tradition stammende Per- von Wildvögeln ist auch im archäologischen Fund- sonen wie Franzosen und gut belegt. Insgesamt drängt sich so der Eindruck Dr. Ralf-Jürgen Prilloff Italiener bezeichnet. auf, dass sowohl in der Chronik als auch in mittel- Triftweg 14 alterlichen Kochbüchern die exotische tierische 39326 Wolmirstedt

202 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 Im Sog der Weißenhofsiedlung: Wohnhaus- Ensemble in Stuttgarter Halbhöhenlage „Klein Palästina“ der jüdischen Architekten Bloch & Guggenheimer von 1930

Die Stuttgarter Werkbundsiedlung von 1927 hatte mit ihren epochalen Ideen für internationales Aufsehen gesorgt. Nicht nur die Idee von Werkbundsiedlun- gen selbst wurde in Mitteleuropa mehrfach kopiert, sondern auch ihre archi- tektonischen Prinzipien. Wie in der abstrakten Malerei suchte man die Aus- drucksmittel für „den Menschen der Zukunft“ im Rationalen nach den Grund- sätzen des Neoplastizismus (Piet Mondrian), einem lakonischen Formenvokabular, das dem Zeitalter der Ingenieure adäquat war. In Stuttgart selbst schlossen sich nicht nur die beiden an der Weißenhofsiedlung Beteilig- ten Richard Döcker und Adolf Gustav Schneck diesen Auffassungen des „Neuen Bauens“ an, sondern auch eine Reihe anderer Architekten wie Hans Herkommer, Alfred Daiber, Ernst Otto Oßwald, Eisenlohr & Pfennig, Albert Schieber oder Karl Beer.

Dietrich W. Schmidt/ Ulrike Plate

Architekturbüro Bloch & Guggenheimer terung der konventionellen Wohnkolonie „Im Eier- nest“ von 1926 an der Karl-Kloß-Straße: ein Auf- Auch das heute kaum noch bekannte jüdische trag für 21 Häuser mit einer Baukostensumme von Büro von Oscar Bloch (1881– 1937) und Ernst Gug- 1,9 Mio. Reichsmark. Weitere Einfamilienhäuser genheimer (1880– 1973) war mit zahlreichen Bau- wie das – heute ebenfalls denkmalgeschützte – ten dem zeitgemäßen Trend gefolgt. Dieses 1909 Haus Frankenstein in der Bopserwaldstraße 55 gegründete Büro hatte seinen Sitz von 1910 bis (1928/29) (Abb. 5), das Haus Bloch-Tank in der 1928 in der Königstraße 25, danach bis 1937 in Zeppelinstraße 32 (1929/30) oder das Haus Beifus der Calwer Straße 33. Das gemeinsame Büro war in der Gaußstraße 95 (1929/30) folgten. Auch 1912 bekannt geworden mit dem Gewinn des außerhalb Stuttgarts bauten Bloch & Guggenhei- Wettbewerbs für das jüdische Waisenhaus Wil- mer Wohnbauten im Stil des Neuen Bauens. Bei- helmspflege in Esslingen. 1917 baute es die re- spielsweise in Gailingen (Kreis Konstanz), einer Ge- präsentative Fabrikantenvilla Albert Levi an der Stuttgarter Lenzhalde, die sich noch ganz im spät- historistischen Formenkanon bewegt (Abb. 1). Eine architektursprachliche Wende markierte die 1972 abgerissene Villa Oppenheimer auf der Gäns- heide von 1927 (Abb. 2). Dieser travertinverklei- dete Bau verabschiedet sich mit seinem flachen Walmdach, den kubisch gegeneinander versetzten Gebäudeteilen sowie mit den markanten Fen- sterstürzen und großen Fensterflächen bereits von jedem historischen Zierrat. Das vielbeschäftigte Büro orientierte sein Entwerfen nun deutlich an der Architektur der Werkbundsiedlung am Wei- ßenhof. Für die Realisierung dieser städtischen Siedlung war der fortschrittlich eingestellte Bau- bürgermeister Dr. Daniel Sigloch (1916– 1937 im Amt) verantwortlich. 1928 beauftragte er nun 1 Lenzhalde 83, Bloch & Guggenheimer mit der modernen Erwei- Villa Levi von 1917.

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 203 richten, die von einer vergleichbaren Modernität sind wie etwa die Terrassenhäuser des jüngeren Ri- chard Döcker (1894– 1968; Bauleiter der Weißen- hofsiedlung). Wegen der weißen, kubischen Ge- bäude und vielleicht auch, weil sechs der acht Bau- herren wie die Architekten Juden waren, erhielt das moderne Ensemble den Spitznamen „Klein Pa- lästina“ (Abb. 3). In der Tradition des 19. Jahr- hunderts haben sich die Architekten hier auch als Makler betätigt. So bestand für die insgesamt zehn Grundstücke (Abb. 4) eine Architektenbin- dung. Nach 1933 wurde diese Bindung aufgeho- ben und die Grundstücke Wilhelm-Busch-Weg 5 und 11 wurden von anderen Architekten bebaut. Alle Gebäudeentwürfe von 1930 und 1931 ent- sprachen den typischen Merkmalen funktionalis- tischen Bauens: glatt verputzte Wände mit geo- metrisch spannungsvoll geordneten Öffnungen, einige davon als vertikale oder horizontale Fens- 2 Villa Oppenheimer, meinde mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil, terbänder zusammengefasst, wie schon bei den historische Aufnahme entstanden 1932 die beiden Villen Ullmann und Mietshäusern der Karl-Kloß-Straße, Vordachscheibe von 1930. Heilbronn. Der „Sieg des neuen Baustils“, 1927 über dem Eingang, Terrassen und vor allem Flach- vom Architekten und Redakteur der Werkbund- dächer. zeitschrift „Die Form“, Walter Curt Behrendt, ver- Dieses ursprünglich vorgesehene einheitliche Er- kündet, hatte 1930 seine Wirkmächtigkeit noch scheinungsbild konnte indessen nicht mehr für das nicht verloren und setzte seinen Triumphzug trotz gesamte Ensemble realisiert werden. Die vier 1932 der Weltwirtschaftskrise von 1930 bis 1932 fort. und 1933 errichteten Häuser wurden noch vor Baubeginn wohl auf Wunsch der Bauherren von Wohnhaus-Ensemble „Klein Palästina“ den Architekten selbst mehr oder weniger deut- lich geändert: So erhielt das Doppelhaus Cäsar- 3 Hauptmannsreute 88, Weitgehend unbeschadet von dieser Krise konn- Flaischlen-Straße 7/9 – noch im Oktober 1931 mit Cäsar-Flaischlen-Straße 3 ten Bloch & Guggenheimer zwischen 1930 und Flachdach geplant – im Baugesuch vom April 1932 und 5, Foto von Süden 1933 im Stuttgarter Westen eine Gruppe von acht ein gewalmtes Ziegeldach mit 22° Neigung, wäh- 2016. terrassierten Einfamilienhäusern in Hanglage er- rend die Grundrisse weitgehend gleichblieben. Die

204 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 Pläne der drei Häuser Wilhelm-Busch-Weg 7, 9 und 13 zeigten zwischen Januar 1931 und Mai 1933 leichte Veränderungen in den Grundrissen und statt der ursprünglich geplanten Flachdächer ebenfalls Walmdächer (27° bzw. 25° Neigung). Stadtbaugeschichtlich ist diese veränderte Dach- form ein interessantes Zeugnis für eine sich ab 1933 machtvoll durchsetzende neue Gesinnung. Nicht nur Neubauten, sondern zum Teil auch schon bestehende Flachdachbauten wurden nun auf Druck der Bauverwaltung mit Walm- oder Sat- teldächern versehen.

Architektonische Merkmale

Die Gestaltung als in Hanglinie abgestufte Quader charakterisiert die Großform der Gebäude (Abb. 6, 8). Sie zielt nicht mehr, wie Villen des späten Kai- serreichs, auf repräsentative Wirkung im Straßen- raum, sondern, nach Theodor Fischer, dem Leh- Über diesen vernünftigen und ökonomischen As- 4 Lageplan von 1934: rer Oscar Blochs, auf ein Einfügen in die natürliche pekt der Nutzung hinaus dienen die Fassadenöff- Zugehörend sind die Umgebung. Die Wohnhausgruppe ist geprägt nungen zugleich einer unökonomischen Ästhetik, Grundstücke Haupt- durch schmale Hausgrundrisse, angeordnet jeweils indem sie die einfache Fläche geometrisch kalku- mannsreute 88 und Cä- am straßenseitigen Rand der Grundstücke, die liert aufteilen, besonders auffallend an der Ostseite sar-Flaischlen-Straße 3, 5, 7/9 sowie im neu ange- einen langen, durch Terrassenmauern, gepflas- mit dem vertikalen Fensterband des Treppenhau- legten Wilhelm-Busch- terte Wege und Treppen gegliederten Gartenbe- ses (Abb. 10). Das optische Interesse des Betrach- Weg die Grundstücke 3, reich frei lassen. ters wird nicht durch zusätzlich angebrachten, plas- 5, 7, 9, 11 und 13. Die abgestuften Gebäudequader werden von glat- tischen oder malerischen Fassadenschmuck ge- ten Fassaden überzogen, deren Öffnungen dem weckt, sondern durch die überlegte Anordnung Zweck der dahinterliegenden Räume folgen: „Aus der primären Fassadenelemente an sich. Diese der funktionalen Notwendigkeit, die die Einteilung zweidimensionale Gliederung in der Fläche erhält des Raumes bestimmt, wird die architektonische dreidimensionale Akzente in Form von vorsprin- Plastik hervorgehen. Das Innere soll das Äußere genden Flachdachscheiben über Haustür, Balkon 5 Bopserwaldstraße 55, gestalten“, hatte Theo van Doesburg 1922 in „De beziehungsweise Terrasse und Veranda. historische Aufnahme während der Bauzeit. Stijl“ formuliert. Große Fenster für die Wohn- Für einen kommerziell-effizienten Bebauungspro- räume an der West- und Südseite gewähren glei- zess hatten die Architekten einen dreigeschossigen 6 Aufnahme aus der chermaßen Durchsonnung und Panoramablick; Mustertyp von etwa 100 qm Grundfläche mit sie- Bauzeit der Häuser kleinere Fenster für die Nebenräume an der Nord- ben Zimmern entwickelt, der nach Bedarf variiert Hauptmannsreute 88, und Ostseite sorgen nur für Belüftung und Be- wurde. Der Grundplan der Häuser unterscheidet Cäsar-Flaischlen-Straße 3 lichtung. zwei Erschließungsformen: Bei den Gebäuden von und 5.

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 205 che mit Veranda an der Nordostecke zum Hang; im Südosten ein Wohnzimmer. Von einem quer- rechteckigen Vorplatz aus erreicht man die großen Räume der Westseite, das Speisezimmer mit über- decktem Freisitz an der Nordwestecke und ein grö- ßeres Wohnzimmer im Südwesten, das über- gangslos mit dem Speisezimmer und dem kleine- ren Wohnzimmer verbunden ist. So entsteht auch ohne direkte Verbindung von Küche und Speise- zimmer der moderne Eindruck eines freien Grund- risses. Im Obergeschoss setzt sich diese Aufteilung fort: Treppenhaus und Bad in der Mitte der Ostseite wer- den nach Norden vom kleineren der beiden Kin- derzimmer, nach Süden von einem Schrankzimmer flankiert. Gegenüber auf der Westseite liegen das etwas größere zweite Kinderzimmer und das El- ternschlafzimmer mit einem nach Süden auskra- genden Balkon. Das Dachgeschoss nimmt nur die nördliche Hälfte der Grundfläche ein mit zwei Zim- mern, Abstellraum und WC neben der Treppe. Das übrige Flachdach ist in seiner östlichen Hälfte als Terrasse begehbar. 7 Baugesuch Haupt- 1930 erfolgt die Erschließung über eine Außen- Diese bequeme Anordnung der unterschiedlichen mannsreute 88, Mai treppe zum – über Untergeschoss mit Garage – er- Nutzungen mit kurzen Wegen und Ausrichtung 1930, Grundriss Erd- höht liegenden Erdgeschoss. Die Häuser ab 1932 der Wohnräume zur Sonnenseite hin gehört seit geschoss. nutzen die Hanglage zum Vorteil: Der Eingang so- dem Weißenhof-Manifest zum Standard des Funk- wie die damit verbundenen Funktionen wie Wind- tionalismus. Die großen Fenster der Südseite ge- fang und Garderobe sind ins Untergeschoss ver- währen zusätzlich die begehrte Aussicht der Halb- lagert. höhenlage. Die strukturell ganz ähnliche Grundrissdisposition Für die Konstruktion wurden laut Bauantrag mo- zeigt eine funktionale Teilung in Ost- und West- derne Materialien der Bauindustrie verwendet: Das seite (Abb. 7). So werden auf der Ostseite des Erd- Untergeschoss besteht aus Beton, die Umfas- geschosses, von der aus die Häuser erschlossen sungswände wurden aus Bimshohlblocksteinen werden, vor allem die Nebenräume angeordnet: ausgeführt und die Zwischenwände wie schon bei 8 Baugesuch Cäsar- Eingang mit Windfang und WC (entfällt beim jün- den Häusern der Karl-Kloß-Straße teils aus „Kess- Flaischlen-Straße 3 vom geren Bautyp, stattdessen die einläufige Innen- ler“-Montagewänden, teils aus Bimsdielenwän- Juni 1930, Längsschnitt. treppe vom Untergeschoss), Treppenhaus und Kü- den. Während die beiden Häuser Cäsar-Flaischlen- Straße 3 und 5 herkömmliche Geschossdecken aus Holzbalken haben, besitzt das in der Hauptmanns- reute 88 moderne Massivdecken aus Stahlbeton. Die bauzeitliche Dachdeckung aus zwei Lagen Bi - tumenpappe wurde als „Doppelklebedach“ be- zeichnet und ist inzwischen durch neuere Materi- alien ersetzt worden.

Zum Denkmalwert der Häuser Krautkopf und Lenk

Nur die drei zuerst gebauten Häuser konnten ihre bauzeitliche Gestalt bis heute weitgehend be- wahren: das Haus des Fabrikanten Simon Kraut- kopf an der Hauptmannsreute 88 und die beiden Häuser von Erich und Richard Lenk, Cäsar-Flaisch - len-Straße 3 und 5 (Abb. 9). Da Haus Nr. 5 zwischenzeitlich im Inneren weitgehend verändert wurde, konnten von diesen drei terrassierten Ge- bäuden des Ensembles nur die beiden in der Haupt-

206 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 mannsreute 88 und Cäsar-Flaischlen-Straße 3 nach Interessanterweise stand die Mechanische Strick- 9 Hauptmannsreute 88 § 2 Denkmalschutzgesetz in die Liste der Kultur- und Wirkwarenfabrik von Simon Krautkopf in der von Südosten, Aufnahme denkmale aufgenommen werden. Rosenbergstraße unmittelbar neben dem Verlag 2013. Für die Anschaulichkeit der Wohnhausgruppe sind „Herold-Bücher“, dessen Eigentümer, die Brüder diese beiden Gebäude von besonderer stadtbau- Levy, die Nachbarhäuser in der Cäsar-Flaischlen- 10 Baugesuch Cäsar- Flaischlen-Straße 3 vom künstlerischer Bedeutung aufgrund ihrer Stellung Straße 3 und 5 bauen ließen. Die Brüder Erich und Juni 1930, Ostansicht. am Eingang des Straßenraums, wo Cäsar-Flaisch- Richard Levy hatten ihren Namen 1929 amtlich in len-Straße, Hauptmannsreute und Wilhelm-Busch- „Lenk“ ändern lassen. Auch sie mussten emigrie- Weg ineinander münden. Beide veranschaulichen ren und ihre Häuser verkaufen. Eine Tochter, Olga die Grundprinzipien, nach denen die Hausgruppe Levy Drucker, hat im Buch „Kindertransport – Al- errichtet wurde. In ihrer konsequenten architek- lein auf der Flucht“ 1995 ihre Erinnerungen an die tonischen Ausformung von der Makrostruktur der Zeit in der Cäsar-Flaischlen-Straße und die Um- Gebäudeanordnung bis hin zur Mikrostruktur der stände des Verlusts festgehalten. hellen Fassadenflächen mit grafisch angeordneten Die beiden gut überlieferten Gebäude Hauß- Fensterausschnitten und in der modernen, am mannstraße 88 und Cäsar-Flaischlen-Straße 3 do- Wohnkomfort orientierten Grundrissdisposition kumentieren somit in vielfacher Weise eine be- sind die beiden Häuser von architekturhistorischer sondere baugeschichtliche Phase der Stuttgarter und künstlerischer Bedeutung. Ihnen kommt zu- Stadtgeschichte. dem ein besonderer stadtbaugeschichtlicher Wert zu, da hier der unmittelbare Einfluss veranschau- Literatur licht wird, den die Ausstellung auf dem Weißen- hof auf das Bauen in Stuttgart hatte. Von den im Friedrich Pfäfflin: Levy & Müller, Verlag der „Herold- Stil des Neuen Bauens errichteten Gebäuden des Bücher“ Stuttgart, Stuttgart 2010. Architekturbüros Bloch & Guggenheimer sind in Piet Mondrian: Neue Gestaltung, Neoplastizismus, Stuttgart ansonsten nur noch die Häuser an der Nieuwe Beelding, Mainz 1974 (Reprint der Ausgabe Bopserwald- und der Gaußstraße erhalten. Somit von 1925). stellen die beiden gut überlieferten Bauten der H. Jaffé: Mondrian und De Stijl, Köln 1967. Wohnhausgruppe ein wichtiges Zeugnis im Werk Walter Curt Behrendt: Der Sieg des neuen Baustils, der Architekten dar, die als einziges jüdisches Ar- Stuttgart 1927. chitekturbüro in Stuttgart so erfolgreich gearbei- tet haben. Eine weitere stadtgeschichtliche Bedeutungsebene Dr. Ulrike Plate begründet sich in der besonderen Besitzgeschich - Landesamt für Denkmalpflege te. Das Gebäude Hauptmannsreute 88 wurde für im Regierungspräsidium Stuttgart den Fabrikanten Simon Krautkopf als erstes der Dienstsitz Esslingen ganzen Hausgruppe im Frühjahr 1930 gebaut. Krautkopf musste nach der Machtergreifung sein Dipl.-Ing. Dr. Dietrich W. Schmidt Haus verkaufen und in die USA emigrieren. Er er- Bauhistoriker i.R. hielt das Gebäude nach dem Krieg als Wieder- Tannenbergstraße 87 gutmachung zurück und verkaufte es dann erneut. 70374 Stuttgart

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 207 Beton und seine wachsende Rolle in der Denkmalpflege Teil 2: Hochbauten aus Eisenbeton in Baden-Württemberg bis in die Goldenen Zwanziger

Beton ist nicht gerade das Material, das einem als Erstes beim Thema Denk- malpflege in den Sinn kommt. Aber Beton hat das Bauen ab Mitte des 19. Jahrhunderts revolutioniert. Nach dem ersten Beitrag im Heft 1/ 2017 die- ser Zeitschrift über die Anfänge folgt nun der zweite Teil über Eisenbeton zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Gerade in Baden-Württemberg finden sich viele Gebäude, welche die wachsende Bedeutung des Baustoffs, dessen neue Kon- struktionsmöglichkeiten und technische Entwicklung dokumentieren und de- ren Erhaltung aus diesen Gründen geboten erscheint.

Geraldine Buchenau

Mit der Entwicklung des Baustoffs Beton taten sich steine aus Beton mit Draht oder sogar Eiseneinla- durch seine Vorteile, vor allem Feuersicherheit, Fes- gen verstärkt wurden. Die als Eiseneinlagen be- tig- und Schnelligkeit in der Bauausführung, völlig zeichneten Verstärkungen waren auch schon da- neue Möglichkeiten auf. Doch eine große Schwä- mals aus Stahl. che von Beton musste zunächst kompensiert wer- Wesentliche Impulse für den Eisenbeton kamen den: Seine Zugfestigkeit beträgt nur etwa ein aus Frankreich. François Coignet verstärkte schon Zehntel seiner Druckfestigkeit. Man begann, die 1856 erstmals Betondecken, -balken und -stützen Zugkräfte in Eiseneinlagen zu lenken. Durch die in ihrer Zugzone mit kreuzweise angeordneten Ei- 1 Figurengruppe Verbundbauweise von Beton und Eisen konnten senstangen. In seinem Buch „Les bétons agglo- „Triumph der Galatea“ deutlich größere Spannweiten realisiert werden. mérés appliqué à l’art de construire“ von 1861 be- von 1872 – heute vor Der Eisenbeton entwickelte sich zunächst im In- schrieb er die Herstellung einer Betonplatte aus dem Bundesgerichtshof genieurbau. Im Hochbau hatte Beton bis ins erste Stampfbeton mit einem Netz aus Eisenstangen in Karlsruhe. Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eher experimen- und verallgemeinerte darin als Erster die Ver- tellen Charakter. Akzeptanz bei den Baubehörden bundbauweise, die er dann auf Ausführungen bekam der moderne Baustoff erst, als die not- unterschiedlicher Art übertrug. wendigen Berechnungsmethoden formuliert und Der Gärtner Joseph Monier, der 1861 damit be- veröffentlicht waren. In den Zwanzigern erkannte gonnen hatte, Blumenkübel aus Mörtel intuitiv mit man, dass für Süddeutschland mit seinen günsti- Eisengittern zu verstärken, verstand es, diese Bau- gen Betonausgangsmaterialien der Eisenbetonbau weise durch zahlreiche Patente über die Jahre von dem reinen Eisenbau bei Kosten und Schnelligkeit 1867 bis 1891 für sich zu schützen. Aus den Blu- überlegen ist. So kam die Verbundbauweise Ei- menkübeln wurden riesige Wasserbehälter und senbeton, die erst ab 1940 den heute gängigen letztendlich formulierte er die Grundzüge der Bau- Namen „Stahlbeton“ bekam, bei verschiedenen weise für Ausführungen im Hochbau. Das „Mo- repräsentativen Hochbauten zur Anwendung, die nier-Patent“ von 1877 enthielt erstmals die klare damit Zeugnisse eines bahnbrechenden Baustoffs Aussage, dass der Zement das Eisen vor Rost sind. schützt, und gilt als das grundlegende Patent des Eisenbetonbaus. Draht, Eisenstangen und Flacheisenbügel „Rostender Beton“ – ein leidiges Thema

Die Anfänge der Verbundbauweise aus Beton und Die Begeisterung, einen Baustoff mit fast unbe- Eisen liegen genau genommen bereits Anfang der grenzter Haltbarkeit geschaffen zu haben, wurde zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Kunst- rasch enttäuscht. Erste öffentliche Diskussionen

208 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 über die Korrosion von Eisen in Beton regte Eu- gen Dyckerhoff auf der Hauptversammlung des Vereins Deutscher Portlandzement-Fabrikanten 1891 an. Er hatte feststellen müssen, dass seine Figurengruppe „Triumph der Galatea“ aus Beton durch Rost zerstört wurde. Ursprünglich war die- ser Brunnen 1871/72 nach dem Entwurf des Bild- hauers Karl Friedrich Moest von Dyckerhoff & Wid- mann aus Karlsruhe für die allgemeine Industrie- ausstellung in Kassel hergestellt worden, um auf die Möglichkeiten des Baustoffs Stampfbeton hin- zuweisen. Zur Formgebung wurde die Plastik mit Eiseneinlagen bewehrt. Aufgrund der ständigen Durchfeuchtung kam es zu Korrosionsschäden. So ist die „Schöne Galatea“, die heute im Original vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe steht, ein frü- hes Zeugnis der Probleme mit dem Verbundbau- stoff Eisenbeton (Abb. 1). Wayss dann das Patentrecht mit deutschlandwei- 2 Kreuzgewölbe der Wie schützt Beton den Stahl? ter Wirkung. städtischen Gewerbe- Früh errichtete man die ersten Brücken und Was- schule in Freiburg von Unlegierte Stähle bilden im Beton auf ihrer Ober- serbauten aus Eisenbeton, gefolgt von Industrie- 1905. fläche spontan eine dünne Oxidschicht, die vor ei- gebäuden. Im Hochbau kam anfänglich nur die ner weiteren Eisenauflösung schützt. Diese Schutz- Idee des Moniergewölbes zur Anwendung. Nach schicht nennt man auch Passivschicht. Ursache ist dem Verfall des deutschen Monier-Patents 1894 der hohe pH-Wert, den der Beton beim Abbinden entstanden um die Jahrhundertwende einige des Zements erreicht, wenn Calciumhydroxid ge- 100 Konstruktionsvarianten von tragfähigen Ge- löst wird. Die Passivierung des Eisens beziehungs- wölben und Decken aus Beton. Eifrig wurden im- weise des Stahls kann jedoch aufgehoben sein, mer wieder neue, unterschiedliche Systeme ent- wenn die Alkalität des Betons stark gesunken ist wickelt – auch mit dem Ziel, Patente zu umgehen. oder Salze an die Metalloberfläche gelangt sind. Eisenbetondecken fanden jedoch hauptsächlich in Ebenso fördern Risse im Beton die Korrosion der Industrie-, Geschäfts-, Schul- und anderen öffent- Bewehrung. Man spricht von Betonkorrosion, lichen Bauten Anwendung, vor allem wegen ih- wenn die Betonüberdeckung durch das Volumen rer hohen Tragfähigkeit und aus Brandschutz- der entstandenen Rostprodukte abgesprengt wird. gründen. Für den Wohnungsbau waren sie noch Die Alkalität des Betons verändert sich, wenn Koh- zu teuer und wurden dort erst nach dem Zweiten lendioxid aus der Umgebung eindringen kann. Weltkrieg eingesetzt. Kohlendioxid wandelt das im Beton gelöste Calci- Ein frühes, außergewöhnliches Schulgebäude ist umhydroxid in Kalkstein um. Dieser Vorgang heißt die städtische Gewerbeschule in Freiburg (Abb. 2). Karbonatisierung. Wie rasch und wie tief Kohlen- Sie wurde 1902 bis 1905 durch den Stadtbau- dioxid eindringen kann, hängt von der Dichtigkeit meister Rudolf Thoma, den Architekten Matthias und dem Wassergehalt des Betons ab. Bei einer ge- Stammnitz und von Brenzinger & Cie. erbaut, mit ringen Betonüberdeckung ist die Passivität des Ei- der Idee, den Schülern neben vielen anderen Tech- sens durch die Karbonatisierung entsprechend frü- niken und Materialien am Bau auch die unter- her aufgehoben. Der Stahl ist dann ungeschützt schiedlichsten Gewölbeformen aus Eisenbeton zu und kann korrodieren, wenn Sauerstoff und Feuch- veranschaulichen. So bestehen die Klassenzimmer tigkeit eindringen. Fehlt eine dieser beiden Vor- aus Voutendecken, während die Gänge von Stich- aussetzungen, kommt es nicht zum Rosten. bogenkappen, Tonnen- und rundbogigen Kreuz- gewölben mit und ohne Rippen überspannt wer- Skelette folgen Gewölben und Decken den. Bahnbrechend war die Entwicklung eines von Ei- Für den Durchbruch des bewehrten Betons in Süd- senträgern unabhängigen Systems durch den Fran- deutschland sorgte der Verkauf der Patente Mo- zosen François Hennebique. Er hatte die Eisenbe- niers an die pfälzische Baufirma Freytag & Heid- tonbauweise weiterentwickelt, indem er Decken- schuch aus Neustadt an der Weinstraße. Das 1884 platten, Deckenträger und Stützen zu einer Einheit erworbene Patent hatte zuerst nur Gültigkeit für verband (Abb. 3) und somit die Grundlagen für die Süddeutschland. Zwei Jahre später erkaufte der In- weit verbreitete Stahlbetonskelettbauweise schuf. genieur und gebürtige Schwabe Gustav Adolf Für die Aufnahme der Lasten verblieb nur ein Sys-

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 209 3 System Hennebique. Mischkonstruktionen aus Holz, Eisen und Ziegel- steinen verwendet, wobei die Decken als Beton- kappen ausgebildet wurden. Philipp Jakob Manz hat sein Büro für Industriebau 1889 in seiner württembergischen Heimat Kirch- heim unter Teck gegründet. Gemeinsam mit dem badischen Unternehmen Dyckerhoff & Widmann schuf er die während des Ersten Weltkriegs von 1915 bis 1918 gebaute Waffen- und Munitions- fabrik in Karlsruhe. Der nach dem Hennebique-Sys- tem konstruierte und aus Stampfbeton gebaute, über 300 m lange Stahlbetonskelettbau mit zehn tem: ein Skelett aus waagerechten und senkrech- Lichthöfen war einer der größten Industriebauten ten Baugliedern. Der Vorteil dieser Bauweise ist, Deutschlands und ist heute Anziehungspunkt dass Wände nicht mehr an eine bestimmte Posi- durch das in ihm untergebrachte Zentrum für tion im Grundriss gebunden sind. Das Patent Hen- Kunst und Medien – kurz ZKM (Abb. 4, unten). nebiques von 1892 und seine Publikationen in Etwa zeitgleich entstand eine weitere Rüstungs- seiner eigenen Zeitschrift „Le Béton armé“ be- fabrik, der architektonisch faszinierende Terras- schleunigten die Verbreitung seines Systems. Vor senbau der Uhrenfabrik Junghans im Schwarz- allem aber seine Präsentationen auf der Weltaus- wald, bei der Manz die topografischen Gegeben- 4 Rüstungsfabriken stellung 1900 in Paris waren für den Eisenbeton heiten in Schramberg ausnutzte (Abb. 4, oben). von Philipp Jakob Manz, oben sein Terrassenbau richtungsweisend. Zusammen mit Dyckerhoff & Widmann schuf er in Schramberg von 1918 In Deutschland verzögerten jedoch veraltete bau- für die Fabrikation von mechanischen Kanonen- und unten das heutige polizeiliche Bestimmungen die Entwicklung von Ei- zündern einen einzigartigen Industriebau aus Ei- ZKM in Karlsruhe von senbetonbauten. Selbst im Industriebau wurden senbeton, in dem später Taschenuhren gefertigt 1918. noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorwiegend wurden. Die Loslösung von der herkömmlichen Holz- be- ziehungsweise Eisenkonstruktion führte in den 1930er Jahren zur punktförmigen Auflagerung der Eisenbetonstütze und damit zu neuen Formen. Ohne Unterzüge mit so genannten Pilzdecken wur- den neue Raum- und Fassadengestaltungen mög- lich. Der Schweizer Robert Maillart hatte schon 1910 die Reduzierung des Eisenbetonskeletts auf Platten und Stützen rechnerisch untermauert. Seine Theorie war jedoch in Deutschland nicht anerkannt. Erst 1924 lag ein von den Behörden akzeptiertes Bemessungsverfahren vor. Die Pilz- decken wurden vorwiegend bei Industriebauten für hohe Lasten ausgeführt. Le Corbusier machte 1920 das System aus Stützen zum Bestandteil seiner fünf Punkte einer neuen modernen Architektur. Beim Bau seiner beiden Häuser in der Weißenhofsiedlung 1927 setzte er die fünf zentralen Merkmale um, die sich un- mittelbar aus den architektonischen Möglichkei- ten des Eisenbetons ergeben (Abb. 5). Er trennte konsequent tragende von nicht tragenden raum- abschließenden Elementen und konnte so Grund- risse, Fenster und Fassaden weitgehend frei ge- stalten.

Industrie, Wissenschaft und Verwaltung im Dreiergespann

Das Bestreben, wissenschaftliche Erkenntnisse über die Tragfähigkeit von Eisenbetonbauteilen zu erlangen, war groß. Maßgeblich daran beteiligt

210 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 5 Doppelhaus von Le Corbusier und Pierre Jeanneret in Stuttgart von 1927.

waren Unternehmer und Ingenieure aus Süd- Hotels als Auslöser für die Entstehung der Eisen- deutschland. Bereits 1886 veröffentlichte der Ber- beton-Normen angesehen. liner Regierungsbaumeister Mathias Koenen im Durch Verbindungen zwischen Freytag, Wayss und „Centralblatt für Bauverwaltung“ das erste Be- vor allem durch Emil Mörsch wurde das statische messungsverfahren für Stahlbetonplatten. In Über- Zusammenwirken der beiden Materialien Beton einstimmung seiner theoretischen Grundlagen mit und Eisen erst richtig erkannt. Mörsch war 1901 Belastungsproben durch den nun in Berlin ansäs- als Ingenieur aus dem württembergischen Staats- sigen, schwäbischen Bauunternehmer Gustav baudienst für drei Jahre in die technische Leitung Adolf Wayss entstand 1887 die Broschüre „Das der Firma Wayss & Freytag gewechselt. In dieser System Monier – Eisengerippe mit Cementum- Zeit verfasste der gebürtige Reutlinger den theo- hüllung“. Diese „Monier-Broschüre“ ist das erste retischen Teil der von Wayss & Freytag herausge- wissenschaftlich begründete Werk der Stahlbe- gebenen Schrift „Der Eisenbetonbau, seine An- tonliteratur, dessen Veröffentlichung als Geburts- wendung und Theorie“. Sie gilt als eine der Pio- stunde des Eisen- beziehungsweise Stahlbetons in nierleistungen auf dem Gebiet der theoretischen Deutschland gilt. Auseinandersetzung mit Stahlbeton. Die Überar- Nach dem Verfall des deutschen Monier-Patents 1894 war die Theorie zur Verbundwirkung von Be- ton und Eisen noch nicht einheitlich formuliert. Ei- senbetonfirmen stellten den modernen Baustoff durch ihre Bauausführungen und damit verbun- dene Belastungsversuche (Abb. 6) unter Beweis und verhalfen ihm so zu Akzeptanz und rascher Weiterentwicklung. Vor allem die Firma Wayss & Freytag, die sich 1893 neu firmiert hatte, trieb die Anwendung von bewehrtem Beton wesentlich voran – ebenso Dyckerhoff & Widmann, Karlsruhe, Heilmann & Littmann, München, H. Rek, Stuttgart, und Brenzinger & Cie., Freiburg. Der Einsturz des fünfstöckigen Rohbaus des Basler Hotels „Zum Bären“ im Jahre 1901, das nach dem Hennebique-System geplant worden war, führte jedoch zu starker Verunsicherung. Umso dringen- der wurde eine amtliche Festlegung allgemein- 6 Belastungsprobe gültiger Bestimmungen. So wird der Einsturz des einer Decke.

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 211 7 Erste Fabrik von Robert beitung und Weiterentwicklung der Monier-Bro- bäude Baden-Württembergs vorgestellt. Die Fas- Bosch aus Eisenbeton schüre sowie Mörschs systematische Behandlung saden der frühen Bauwerke waren verputzt oder und rechts eine Innen - der Regeln für die Bemessung von Eisenbeton führ- sie wurden mit Naturstein oder Sichtziegelmauer- ansicht aus dem Bosch- ten 1904 zu den „Bestimmungen für die Ausfüh- werk verblendet. Areal mit Hennebique- rung von Konstruktionen aus Eisenbeton bei Hoch- Das erste Eisenbetongebäude der Landeshaupt- Struktur. bauten“. Immer mehr Unternehmen wagten sich stadt wurde von Robert Bosch 1901 durch die Ar- jetzt an den modernen Eisenbeton. chitekten Beisbarth & Früh errichtet (Abb. 7, links). Um die neue Bauart vor erneuten Rückschlägen zu Vor allem die Möglichkeit heller und übersichtli cher bewahren, wurde 1907 der Deutsche Ausschuss Arbeitsräume war sein Kriterium für die Wahl der für Eisenbeton ins Leben gerufen. Er besteht bis neuen Bauweise. Die Auflage der Stadtverwal tung, heute als Organ von Behörden, Wissenschaft und Fabrikgebäude an Hauptstraßen mit einer angemes - Bauindustrie. Die durch ihn aufgestellten „Bestim - senen, architektonisch hochwertigen Fassade zu mungen für die Ausführung von Bauwerken aus schmücken, führte dazu, dass er das fünfstöckige Beton und Eisenbeton“ wurden 1916 in allen Gebäude mit einer Vormauerung aus Ziegel- und Reichsstaaten eingeführt. Mit der Gründung des Werksteinen verblenden ließ. Seine erste eigene Normenausschusses der Deutschen Industrie 1917 Fabrik fiel dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer. (Deutsches Institut für Normung) dauerte die Ein- Robert Bosch erwarb nach und nach den gesam- führung der Betonnormen DIN 1045 bis DIN 1048 ten Block des im Westen an die mittelalterliche noch bis 1925 an. Stadt angrenzenden Erweiterungsgebietes. Er er- setzte bis 1913 in einzelnen Bauabschnitten die be- Eisenbetonskelettbauten in stehenden Wohnhäuser durch Fabrikgebäude aus Baden-Württemberg

Bis zum Ersten Weltkrieg blühte die Wirtschaft auf, es entstanden zahlreiche Fabriken, Lager-, Ge- schäfts-, Waren- und Krankenhäuser sowie Schu- len, die nun vereinzelt als Eisenbetonskelettbauten entworfen wurden. Mit der Formgebungsmög- lichkeit des neuen Baustoffs, mit der Möglichkeit großer Spannweiten und durch seine bestechende Eigenschaft Feuersicherheit konnte er den Erfor- dernissen dieser Großbauten gerecht werden. 8 Kaufhaus Knopf in Exemplarisch und chronologisch werden im Fol- Karlsruhe von 1914. genden einige bedeutende Eisenbetonskelettge-

212 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 Eisenbeton, und es entstand das heutige, so ge- der Stelle des ehemaligen Bahnhofsgebäudes ent- 9 Kunstgewerbeschule in nannte Bosch-Areal. Die ausführende Baufirma stand das noch weitgehend erhaltene Lichtspiel- Pforzheim von 1911. H. Rek hatte eine Konzession für das Hennebique- theater Metropol (Abb. 11). Es wurde 1925/26 von System (Abb. 7, rechts). Auf die besonders er- der Firma Ludwig Bauer aus Eisenbeton gebaut wähnenswerten, erhaltenen Sichtbetonbauten und war seinerzeit das größte Filmtheater Süd- des Areals wird im folgenden Beitrag dieser Reihe deutschlands. Das damalige Bewusstsein für die eingegangen. künstlerische Leistung des Bahnhofs von 1844/46 Die Firma Dyckerhoff & Widmann errichtete mit führte dazu, dass wenigstens die Arkaden seines dem „Graf Eberhardbau“ in Stuttgart 1907 ihr ers- Hauptportals als Bestandteil des Metropols erhal- tes großes Wohn- und Geschäftshaus aus Eisen- ten blieben. Die Eisenbetonstrukturen überstan- beton (Abb. 10). Der Architekt Karl Hengerer ver- den in wesentlichen Teilen die Luftangriffe des 10 Graf Eberhardbau in kleidete das Eisenbetonskelett dem Zeitgeist ent- Zweiten Weltkriegs. Stuttgart von 1907. sprechend mit einer durch Portale, Erker und Figuren gegliederten Natursteinfassade. Zu den ersten repräsentativen Eisenbetonskelett- bauten Baden-Württembergs gehört auch die 1909 bis 1911 von Dyckerhoff & Widmann errich- tete Kunstgewerbeschule in Pforzheim (Abb. 9). Die Konstruktionsmöglichkeiten des Verbundbau - stoffs ließen große Atelierfenster in einer natur - steinverkleideten Jugendstilfassade zu. In Karlsruhe entstand kurz darauf das ehemalige Waren- und Stammhaus der Gebrüder Knopf (Abb. 8). Der monumentale Neubau wurde 1912 bis 1914 von Wilhelm Kreis und Camill Frei aus Eisenbeton mit nur wenigen Stützen und weit gespannten Decken zusammen mit Dyckerhoff & Widmann errichtet. Das Gebäude ist bis heute als eines der letzten Zeugnisse deutscher Waren- hausarchitektur ohne tiefgreifende Veränderun- gen erhalten. Mit der Bauausstellung 1924 auf dem Gelände des alten Bahnhofs in Stuttgart begann eine neue Ära der Bautätigkeit hin zur „Neuen Sachlichkeit“. An

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 213 11 Ufapalast Metropol in Stuttgart von 1925.

Bis auf wenige Ausnahmen wurden Eisenbeton- verbreitert, wobei sie kraftschlüssig in die Betondecke skelettbauten anfänglich hinter traditionellen einbinden, um die Lasteintragung aus der Decke in die Außenfassaden versteckt. Die allgemeine Wert- Stützen zu verbessern und die Gefahr des Durchstanzens zu vermindern. schätzung des Materials Beton setzte erst später ein. Auf frühen Sichtbeton wird in Kürze ein wei- Rippendecke terer Beitrag der Reihe „Beton und seine wach- Stahlbetonrippendecken sind dem Tragprinzip nach Plat- sende Rolle in der Denkmalpflege“ eingehen. tenbalken-Decken, wie Hennebique sie entwickelte. Die Rippen (Balken bzw. Träger bzw. Unterzüge) sind kraft- Literatur schlüssig mit der Deckenplatte verbunden. Bei der Koe- nenschen Rippendecke wirken die aus I-Eisenträgern ge- Knut Stegmann: Das Bauunternehmen Dyckerhoff & bildeten Rippen mit dem sie umgebenden Betonkörper zusammen. Widmann: Zu den Anfängen des Betonbaus in Deutsch- land 1865– 1918, Tübingen 2014. Stahl Kerstin Renz: Philipp Jakob Manz (1861– 1936). In- Bei der Stahlherstellung wird der Kohlenstoffgehalt des dustriearchitekt und Unternehmer. Dissertation, Stutt- Roheisens auf einen Gehalt von weniger als zwei Prozent gart, Selbstverlag 2003. reduziert. Eisenlegierungen mit einem höheren Kohlen- Zur Geschichte des Stahlbetons – Die Anfänge in stoffgehalt bezeichnet man als Gusseisen. Der Grenzwert Deutschland 1850– 1910. Beton- und Stahlbetonbau wurde Anfang des 20. Jahrhunderts definiert. Spezial, hg. v. H. Schmidt, Berlin 1999. Neues Bauen in Eisenbeton, hg. v. Deutschen Beton- Unterzug Verein, Berlin 1937. Träger zur Aufnahme der Lasten einer über ihm liegen- den Decke oder Wand. Er überträgt die Lasten an Wände Wilhelm Petry: Der Beton- und Eisenbetonbau 1898– oder Stützen entsprechend einem Balken. Unterzüge 1923, Oberkassel 1923. werden sichtbar oder deckengleich eingebaut. Sie erhö- hen die Tragkraft oder Spannweite einer Decke. Praktischer Hinweis Voutendecke Weissenhofmuseum im Haus Le Corbusier Eine der ersten Eisenbetondecken mit starken Abrun- Rathenaustraße 1–3 dungen (Vouten) an ihren Rändern ist die Koenensche 70191 Stuttgart Voutendecke. Durch die Voutenausbildung können die www.stuttgart.de/ weissenhof zu einem Unterzug oder Deckenrand zunehmenden Spannungen aufgenommen werden, mit dem Ziel einer ZKM | Zentrum für Kunst und Medien größeren Tragkraft oder Spannweite. Lorenzstraße 19 76135 Karlsruhe www.zkm.de

Glossar

Pilzdecke Dr.-Ing. Geraldine Buchenau Punktförmig gestützte Stahlbetondecke, die auf Stahl- Landesamt für Denkmalpflege betonstützen mit verstärktem Kopf aufgelagert ist. Bei im Regierungspräsidium Stuttgart der Ausführung werden die Stützenköpfe pilzhutförmig Dienstsitz Esslingen

214 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 UNESCO-Weltkulturerbe Reichenau – Interdisziplinarität als Schlüssel zu einer nachhaltigen Denkmalpflege Die Wandmalereien in der Kirche St. Georg

Ein interdisziplinäres Team aus Denkmalpflege, Konservierungs-, Natur- und Ingenieurwissenschaften hat sich in einem von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) geförderten Projekt über zwei Jahre mit den Gefährdungspo- tenzialen für die bedeutenden Wandmalereien aus dem 10. Jahrhundert in St. Georg von Reichenau-Oberzell beschäftigt. Welchen Gefahren sind die Oberflächen durch Klimaschwankungen ausgesetzt? Was ist zu tun, wenn so- wohl Salze als auch Schimmel den Bestand gefährden, wie in der Krypta von St. Georg? Lassen sich die Ursachen für Staub und Schmutzpartikel auf den Wandmalereien tatsächlich aufspüren? Welche Rolle spielt die Besucherinten- sität bei einer Welterbestätte? Hauptbestandteil des Forschungsprojekts war ein Klima-Monitoring und eine darauf basierende, kontrollierte Konditionie- rung der Raumklimaverhältnisse in Krypta und Mittelschiff als ein Beitrag zum langfristigen Erhalt der Wandmalereien. Das Projekt fand im März 2017 mit einer Fachtagung auf der Reichenau seinen Abschluss. Dazu erschien ein um- fassendes Arbeitsheft des Landesamts für Denkmalpflege, in dem die wesent- lichen Ergebnisse der Forschungen zusammengefasst sind.

Dörthe Jakobs

St. Georg auf der Insel Reichenau war bereits mehr- zuführen, teils um die Lesbarkeit der Wandmale- fach Gegenstand von Beiträgen im Nachrichten- reien mittels lasurartiger Übermalungen zu erhö- blatt der Landesdenkmalpflege. Der im Kern karo - hen. lingische Kirchenbau birgt in seinem Inneren be- Ein Pilotprojekt der Landesdenkmalpflege befasste deutende Wandmalereien aus dem 10. Jahrhun - sich von 1982 bis 1990 mit den Wandmalereien dert mit Wunderszenen aus dem Leben Jesu und ihrer Konservierung. Die dabei gewonnenen (Abb. 1; 2). Diese haben eine sehr wechselvolle Ge- Erkenntnisse fanden in einer umfassenden Doku- schichte hinter sich, die im Laufe der letzten Jahr- mentation zu Bestand, Zustand und Schäden zehnte auch zunehmend konservatorische Pro- Niederschlag und dienen seither als fortschreib- bleme mit sich brachte. Die Wandmalereien ent- bare Grundlage bei jeder Auseinandersetzung mit standen im letzten Drittel des 10. Jahrhunderts. dem Objekt. Damit waren beste Voraussetzungen 400 Jahre später erfolgte im Zusammenhang mit für das von 2015 bis 2017 von der DBU geförderte dem Bau eines Lettners eine komplette Überma- Forschungsvorhaben gegeben. lung unter Beibehaltung des Bildprogramms. Aus- schlaggebend war eine dem neuen Zeitgeschmack Klimaprobleme und deren Folgen angepasste Gestaltung. Mehrere Überfassungen der Wandmalereien und neue Raumgestaltungen Seit Abschluss der Konservierung der Wandmale- sind ab dem 16. Jahrhundert nachzuweisen. Auf reien fanden regelmäßig Wartungen und Kon- die Wiederentdeckung und Freilegung der mittel- trollen statt, um auf Veränderungen am Malerei- alterlichen Malereien ab 1879 folgte eine Teil- bestand kurzfristig reagieren zu können. Bereits übermalung 1881/82. Zwischen 1906 und 1908 zum Zeitpunkt der Konservierungsmaßnahmen in und nochmals 1921/22 fanden restauratorische den 1980er Jahren wurde das lokale Auftreten von Maßnahmen statt. Dabei wurden verschiedenste dunklen Schimmelsporen beobachtet und doku- organische Materialien in den Bestand einge- mentiert. Dabei ist davon auszugehen, dass es sich bracht, teils um Festigungen der Malschicht durch- nicht um ein neu aufgetretenes Phänomen han-

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 215 1 Blick auf St. Georg von Südosten bei Tagungs - beginn im März 2017.

2 Hebebühne in der Westapsis von St. Georg während einer Projekt - woche im Oktober 2015.

delte, sondern dass der Befall über viele Jahre mehr mittelbar am See statt (Abb. 3) und stieß auf über- oder weniger „aktiv“ war und je nach Klimasitu- regionales Interesse. Aufgrund der großen Nach- ation im Raum reagiert hat. Das starke Anwachsen frage – nicht alle Anmeldungen konnten berück- des dunklen Sporenbefalls in den Jahren bis 2003 sichtigt werden – planen die Veranstalter nun eine machte erneut einen Eingriff zur Abnahme des konzentrierte Wiederholung der Tagung an der Schimmels auf der Nordwand erforderlich. Das Universität Stuttgart am 5. Oktober 2017. Weiter- Innenraumklima von St. Georg konnte in der Fol- hin sollen die Inhalte des Forschungsprojekts in gezeit durch flankierende Maßnahmen zwar ver- mehreren Vorträgen auf der Insel sowohl für die bessert werden (vgl. Nachrichtenblatt 3/ 2014), Touristenführer in St. Georg als auch für interes- eine langfristige und vollständige Problemlösung sierte Bürger präsentiert werden. gelang jedoch nicht. Pater Stephan Vorwerk OSB eröffnete die Tagung Das DBU-Forschungsprojekt bot nun die Möglich- mit einem Grußwort und verwies auf die spiri- keit, das bereits bestehende Klima-Monitoring aus- tuellen Aspekte der Wandmalereien. Die Kloster- zubauen und Grundlagen für eine an den ver- insel Reichenau sei als historische Stätte Erbe und schiedenen Materialien und Schadensbildern Auftrag zugleich, vor allem aber ein Ort für ein 3 Paul Bellendorf von der orientierte, kontrollierte Klimakonditionierung auf lebendiges Miteinander. Bürgermeister Wolfgang Deutschen Bundesstif- den Weg zu bringen. Zoll unterstrich die Bedeutung derartiger Pro- tung Umwelt (Projektför- jekte für die Klosterinsel Reichenau. Gesicherte derer) und Harald Gar- recht, Direktor der Mate- Auftakt zur Tagung Erkenntnisse müssen vermittelt werden, um zu- rialprüfungsanstalt der künftig als Grundlage unseres Handelns zu dienen. Universität Stuttgart Die Präsentation der Untersuchungsergebnisse Frau Bettina Sutter-Peters, Baudirektorin am Erz- (Projektpartner), während fand im März 2017 im Rahmen einer Fachtagung bischöflichen Bauamt in Konstanz, betonte, wie einer Tagungspause. auf der Insel Reichenau in einer Tagungsstätte un- wichtig die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure für alle Aspekte der Erhaltung sei.

Was verbindet Umwelt- und Kulturgüterschutz?

Paul Bellendorf, Leiter des Referats Umwelt und Kulturgüter bei der DBU, beschäftigte die Frage „Wie lässt sich ein Vorhaben zum Erhalt der Wand- malereien in St. Georg in den Förderkanon einer Umweltstiftung einordnen?“. Die DBU wurde am 18. Juli 1990 mit einem Gesetz des Deutschen Bundestags als rechtsfähige Stiftung des bürger- lichen Rechts mit Sitz in Osnabrück gegründet. Das Stiftungsvermögen in Höhe von rund 2,5 Mio. DM stammte aus der Privatisierung der bundeseigenen Salzgitter AG. Zu den Aufgaben der DBU zählt ge-

216 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 mäß Stiftungsgesetz unter anderem die „Bewah- rung und Sicherung national wertvoller Kulturgü- ter im Hinblick auf schädliche Umwelteinflüsse (Modellvorhaben)“. Denn nicht nur die Umwelt wird durch den Menschen negativ beeinflusst, son- dern auch das (national wertvolle) Kulturgut ist durch anthropogene Einflüsse in seinem Bestand bedroht. Seit 2016 definieren neue Leitlinien die Arbeit der DBU. Die neuen Themen basieren auf den wis- senschaftlichen Erkenntnissen zu den Planetaren Grenzen sowie auf den Zielen der UNO zu nach- haltiger Entwicklung. Beide haben auch für den Kulturgüterschutz eine nicht unerhebliche Bedeu- tung und müssen daher bei allen Aktivitäten auf dem Gebiet des Kulturerbeerhalts berücksichtigt beziehungsweise entsprechend mitbedacht wer- den. In den letzten Jahren hat sich ein eigenes, von der EU gefördertes Forschungsprojekt (Climate for Cul- mechanismen. Bei der Erforschung dieser Zu- 4 Padua, Scrovegni- ture) mit den Folgen des Klimawandels und der Zu- sammenhänge ist die Denkmalpflege immer auch Kapelle, Wandmalerei nahme von Wetterextremereignissen befasst. auf die Unterstützung von Forschungsprojekten von Giotto: Darbringung Diese bedrohen nicht nur frei bewitterte Kunst- durch Drittmittel angewiesen. Für die Wissen- im Tempel mit plastisch und Kulturgüter wie Gartendenkmale, sondern ha- schaft bot das Projekt die Möglichkeit, innovative ausgebildeten Nimben von Maria, Jesusknabe ben auch Auswirkungen auf das Klima in Innen- Verfahren und Methoden der Materialcharakteri- und Simeon. räumen und betreffen somit auch den Erhalt von sierung und der Zustandsanalyse am Bauwerk zu Wandmalereien. Es ist daher unerlässlich, dass in testen. Zukunft sowohl bestehende als auch neue Kon- Susann Seyfert vom Landesamt für Denkmalpflege zepte der Konservierung und Restaurierung diese konnte in ihrem Beitrag vermitteln, dass Denk- Herausforderungen berücksichtigen. malpflege im UNESCO-Welterbe nicht nur die Von der DBU im Bereich des Kulturgüterschutzes hochrangigen Kulturdenkmale umfasst, sondern geförderte Projekte zeichneten sich schon immer sich weitaus komplexer gestaltet als auf den ers- durch ein hohes Maß an Interdisziplinarität aus. ten Blick erkennbar. Neben den Gebäuden veran- Hier forschen Restauratoren und Denkmalpfleger schaulichen auch landwirtschaftliche Traditionen gemeinsam mit Chemikern, Geologen, Bauphysi- wie Gemüse- und Weinanbau oder Fischzucht die kern, Archäologen oder Kunsthistorikern. Mit die- Geschichte der Klosterinsel (Abb. 6). In den kom- sem Ansatz wurden auch schon in der Vergan- menden vier Jahren wird dank einer eigens hierfür genheit mehrere Projekte zum Erhalt von national eingerichteten Stelle am Landesamt für Denkmal- bedeutenden Wandmalereien unterstützt. Allen pflege ein Welterbemanagementplan erarbeitet. Projekten ist gemein, dass die jeweiligen Objekte Dieser stellt ein integriertes Planungs- und Hand- durch anthropogene Umwelteinflüsse in ihrem Be- lungskonzept zur Festlegung der Ziele und Maß- stand gefährdet waren und innovative Methoden, nahmen dar, mit denen der Schutz, die Pflege, die Verfahren oder Produkte modellhaft für eine lang- Nutzung und die Entwicklung von Welterbestät- fristige Erhaltung entwickelt wurden. ten verwirklicht werden sollen. Eine Einführung zur Vorgeschichte des DBU-Pro- Denkmalpflege und Wissenschaft jekts war Gegenstand eines Beitrags der Autorin selbst. Erst das Wissen um die wechselvolle Ge- Claus Wolf, Präsident des Landesamts für Denk- schichte von St. Georg und seiner Ausstattung er- malpflege, und Harald Garrecht, Direktor der Ma- möglicht es, die Komplexität der Problemstellung terialprüfungsanstalt (MPA) der Universität Stutt- zu erfassen. gart, betonten die Bedeutung von Forschungs- Unter dem Titel „Projektziele und offene Fragen“ projekten für Denkmalpflege und Wissenschaft. setzte sich Harald Garrecht mit der Motivation für Grundlagenforschung ist originäre Aufgabe der den Antrag und dessen Zielsetzung, der Entwick- Denkmalpflege, aber nie als Selbstzweck, sondern lung und Umsetzung einer präventiven Klima - immer als Handlungsleitfaden für die Akteure am stabilisierung, auseinander. Diese dient dazu, bio- Objekt. Dabei spielt die interdisziplinäre Heran - genes Wachstum auf den Wandmalereien und gehensweise eine große Rolle für das Verständnis Schäden durch physikalische und chemische Pro- von komplexen Zusammenhängen und Verfalls- zesse zu vermeiden. Hierzu müssen zunächst alle

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 217 der Wandmalereien 2001/02. Die seitdem jährlich stattfindenden Wartungen beinhalten unter an- derem die Abnahme von Staub im Bereich stark verschmutzter Partien der Wandmalereien (Abb. 4; 5) wie beispielsweise auf den plastisch ausgebil- deten Nimben. So erfolgreich dieses Modell für Pa- dua zu sein scheint, für St. Georg käme es in die- ser Form nicht in Frage, da hier die Nutzung als Kir- che auch zukünftig im Vordergrund stehen wird, während in der Scrovegni-Kapelle in Padua bereits seit Jahrzehnten nur in sehr seltenen Fällen litur- gische Feiern stattfinden, ihre Nutzung also über- 5 Padua, Scrovegni- objektspezifischen Einflüsse auf die Wandmale- wiegend museal ist. Kapelle: Abnahme von reien erfasst werden. Erst auf der Basis dieser Da- Der Sprung zum Thema St. Georg gelang auf be- lose aufliegendem Staub ten kann ein Klimakorridor für die einzelnen Raum- eindruckende Weise mit der Abendveranstaltung während einer Wartung teile vorgegeben werden. in der Kirche selbst. Caroline Schärli vom Kunst- und Kontrolle der Wand- historischen Seminar der Universität Basel führte malereien. Blick über den Tellerrand: die Tagungsteilnehmer in die Ikonografie der Giotto in Padua Wandmalereien ein. Anschließend brachten Ro- land Uhl an der Orgel und Ines Happle-Lung mit ih- Den Projektteilnehmern war es ein Anliegen, die rer Stimme und der Flöte die Wände „zum Klin- Präsentation der Forschungsergebnisse jeweils mit gen“ und tauchten den Raum in eine ganz außer- dem Blick über den Tellerrand hinaus zu verknüp- gewöhnliche Stimmung. fen. Daher bildete in jedem Themenblock ein Beitrag aus einer anderen Institution oder einem Präsentation der Ergebnisse: anderen Land den Auftakt. Francesca Capanna, Vi- Dokumentation zedirektorin des 1939 gegründeten Zentralinsti- tuts für Restaurierung in Rom (heute ISCR, Istituto Im ersten Themenblock des nachfolgenden Tages Superiore per la Conservazione ed il Restauro), be- präsentierte die Autorin die Dokumentation der richtete über die Erfahrungen in der von Giotto 1980er Jahre, die in ihrer Systematik und Metho- ausgemalten Scrovegni-Kapelle – 15 Jahre nach dik für die damalige Zeit einzigartig war und somit Einführung einer Klimasteuerung und Besucher- Maßstäbe für zukünftige Auseinandersetzungen lenkung. Die Besucher werden hier über einen kli- mit St. Georg, aber auch mit anderen Objekten matisierten Anbau in die Kapelle geführt. Das festschrieb. Das digitale Zeitalter hatte noch kei- Außenklima wurde komplett vom Innenraumklima nen Eingang in den Alltag der Restauratoren ge- 6 Neben den Gebäuden der Kapelle abgekoppelt. Die Steuerung des Kli- funden, die Berichte wurden maschinenschriftlich veranschaulichen auch landwirtschaftliche Tradi- mas in der Kapelle orientiert sich an verschiedenen verfasst, die Fotografie war analog und die Kar- tionen wie Gemüse- und Parametern wie relativer Feuchte, Temperatur und tierungen wurden von den Folieneintragungen auf Weinanbau oder Fisch- Größe beziehungsweise Einfluss der Besucher- den Fotografien mittels Pantografen auf die Pläne zucht die Geschichte der gruppen. Erst nach einer etwa ein Jahr dauernden im Maßstab 1:25 übertragen. Möglichkeiten und Klosterinsel Reichenau. Überwachung des Klimas folgte die Restaurierung Grenzen der digitalen Technologie zeigte Gisbert Sacher (fokus GmbH Leipzig) auf, der als Beteilig- ter am DBU-Projekt auch die Neuaufnahme der Wandmalereien und die Abwicklung der Nord- und Südwand im Maßstab 1:5 bei 300 dpi im Auf- und Streiflicht durchgeführt hat (Abb. 7; 8). Da- bei ergibt sich für einen Bildpunkt eine Größe von 0,4 mm am Objekt. Diese Auflösung erlaubt das digitale Arbeiten bis zu einem Maßstab von 1:2 am Computerbildschirm ohne sichtbare Pixel. Peter Fornaro von der Universität Basel (Digital Humanities Lab) fesselte mit Einsichten zum Durch- bruch der Digitalfotografie und der Revolutionie- rung der 3-D-Technologie, an dem seiner Meinung nach der Film „Avatar“ nicht ganz unbeteiligt war. Digitale Bilder übertreffen heute die Qualität ana- loger Aufnahmen in allen Belangen. Mit den neuen Möglichkeiten der Computational Photography

218 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 können dreidimensionale Oberflächen aus Foto- grafien berechnet und unterschiedliche Material- eigenschaften sichtbar gemacht werden. All dies hat die Welt der Dokumentation nachhaltig ver- ändert. Die Zusammenarbeit der DBU-Projekt- partner mit dem Digital Humanities Lab ermög- lichte es, die Wandmalereien von St. Georg in ein laufendes Forschungsprojekt der Universität Ba- sel einzubinden und verschiedene fotografische Verfahren zu testen (Abb. 9). Besonders zu nennen sind hier das Reflectance Transformation Imaging (RTI) und das Polynomial Texture Mapping (PTM). Kunstwissenschaft. So konnte in der Krypta von 7 Im Rahmen des DBU- Wie die im Rahmen eines solchen Forschungspro- St. Georg erstmals ein Pigment nachgewiesen wer- Projekts erstellter neuer jekts anfallenden Datenmengen verarbeitet und den, das sich aufgrund äußerer Einflüsse optisch Bildplan der Nordwand verfügbar gehalten werden, beleuchtete Judit derart verändert hat, dass es nicht mehr als brillant mit Übertragung der Be- Zöldföldi von der MPA Stuttgart. Sie hat gemein- gelbe Farbe wahrzunehmen ist, sondern nur noch reichseinteilung aus der fotogrammetrischen sam mit einem ungarischen Kollegen eine Daten- als ein hellgrauer Grundton. Dokumentation des Lan- bank entwickelt, die ein systematisches und nach- Eine sorgfältige Analyse der im Mauerwerk und desdenkmalamts aus den haltiges Management der materialwissenschaft- in den Säulen der Krypta vorhandenen leicht lös- 1980er Jahren. lichen Daten ermöglicht. lichen und bauschädlichen Salze (Abb. 11) war Vor- aussetzung für eine vom Verhalten dieser Materi- 8 Ausschnitt aus einem Material alien abhängige Klimasteuerung. Judit Zöldföldi im Rahmen des DBU-Pro- widmete sich dieser Problematik. Ergänzend zur jekts erstellten neuen Über die Möglichkeiten optischer Untersuchungs- üblichen Laboranalytik kamen in St. Georg meh- Bildplan der Nordwand verfahren und materialwissenschaftlicher Analy- rere zerstörungsfreie in-situ-Methoden zum Ein- im Streiflicht. Deutlich sen und welche Erkenntnisse sich für Restaurato- satz, die es erlaubten, möglichst viele Informatio- sichtbar die Mörtelgren- zen, die durch den Auf- ren daraus gewinnen lassen, referierte Werner nen zu den Materialeigenschaften und den un- trag von verschiedenen Koch von der Fachhochschule in Potsdam. terschiedlichsten Salzen zu erhalten. Gerüstebenen aus ent - Spannende Ergebnisse konnten die Projektbetei- stehen. ligten Anna Schönemann (Hochschule für Technik Mikrobiologie und gefräßige Staubläuse und Wirtschaft Berlin) und Boaz Paz (Paz-Labora- torien für Archäometrie Bad Kreuznach) vorstellen. Einen eigenen Themenblock bildeten die Ausfüh- Dabei standen nicht nur zerstörungsfreie Unter- rungen zur Mikrobiologie. Cornelia Gehrmann- suchungsverfahren zur Pigmentbestimmung im Janßen, Hochschule für Angewandte Wissen- Fokus, sondern auch neue Erkenntnisse für die schaft und Kunst, Fakultät Bauen und Erhalten,

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 219 9 Beispiel für die Sicht- barmachung von Rissen und Kellenspuren in den Wandmalereien (links) durch eine besondere Technik der Digitalfoto- grafie (RTI und PTM).

10 Schimmelpilz-Isolate aus der Luftkeimmessung in St. Georg.

aus nahm sich der Gefährdung von den Wandmalereien liegenden Stäube sind unter- Wandmalereien durch mikrobiellen Befall an. Sie schiedlich stark mit Salzen und Mikrobiologie be- referierte über die Möglichkeiten der Prävention lastet. Inwieweit von ihnen eine Gefährdung für und der Abtötung von Schimmel. Der konkreten die Malereien ausgeht, hängt maßgeblich von den Schimmelproblematik in St. Georg widmete sich klimatischen Rahmenbedingungen ab. Die Besu- die Mikrobiologin Stefanie Scheerer (Stuttgart). cherfrequenz konnte im Rahmen des Forschungs- Dies beinhaltete sowohl die Auswertung der projekts nicht nur anhand der Aktionspläne der Untersuchungen seit den 1980er Jahren als auch Tourist-Information abgelesen werden, sondern eine umfassende Bestandsaufnahme sowohl der schlägt sich in den deutlich sichtbaren Messergeb- luftgetragenen mikrobiellen Belastung als auch nissen zur Staubentwicklung nieder. Sichtbare Be- der Oberflächenbesiedlung im Kirchenschiff und standteile der Stäube sind farbige Fasern (Abb. 13), in der Krypta (Abb. 10). Im Zuge des DBU-Projekts die vermutlich von den Kleidungsstücken der Be- konnten zudem Reinigungsverfahren zur Ab- sucher stammen. Interessanterweise konnten auch nahme des mikrobiellen Befalls in der Krypta ge- verschiedenfarbige Pigmentpellets in den Stäuben testet werden. Erfreulichstes Ergebnis war die Fest- angetroffen werden, bei denen es sich nach Ana- 11 Salzausblühungen an stellung, dass die mikrobielle Belastung in der lyse des Rathgen-Forschungslabors in Berlin um so der Ostwand der Krypta Krypta seit Einrichtung der im DBU-Vorhaben ent- genannte Kotpellets von Kleinsttieren, vermutlich im April 2015. wickelten und umgesetzten Klimasteuerung rück- von Staubläusen, handelt. Diese scheinen sich, so läufig ist. die bisherigen Erkenntnisse, von den Bindemitteln Welche Erkenntnisse lassen sich aus den zuneh- der Malerei des 19. Jahrhunderts zu ernähren und menden Staubablagerungen (Abb. 12) auf den den nicht verdaulichen Teil, nämlich das anorga- Wandmalereien gewinnen? Diese Frage stand bei nische Pulver, das als Farbmittel verwendet wurde, 12 Staubablagerungen auf den Wandmalereien den Untersuchungen der Materialprüfungsanstalt auszuscheiden (Abb. 14). Dass die Tierchen das von St. Georg, hier Detail Stuttgart durch Jürgen Frick und Manuela Reichert Bindemittel des 19. Jahrhunderts dem des Mittel- unterhalb der Bildszene sowie durch die Universität Darmstadt (Dirk Scheu- alters vorziehen, erbrachten die Pigmentanalysen der Heilung des Bildgebo- vens, Jean Michel Zapf) im Fokus. Aus der sehr der Kotpellets, in denen die Farbmittel der jünge- renen. komplexen Bewertung nur so viel: Auch die auf ren Ausmalungsphase nachgewiesen werden konnten. Stephan Weinbruch und Dirk Scheuvens von der TU Darmstadt zeigten auf, zu welch span- nenden Ergebnissen die Analyse einzelner Partikel kommen kann. Partikuläre Verunreinigungen kön- nen zahlreiche negative Auswirkungen auf Kunst- werke haben. Ihre Quellen zu bestimmen ist ein ei- gener Forschungszweig. Eine besondere Bedeu- tung hat dabei das Aufwirbeln von Stäuben durch Besucher.

Klima

Den letzten Themenblock bildeten verschiedene Betrachtungen zum Thema Klima. Elka Neycheva vom Institut für Werkstoffe im Bauwesen der Uni- versität Stuttgart hat die Klimamessungen der letz- ten 30 Jahre von St. Georg ausgewertet, um Ge- fährdungspotenziale und mögliche Schädigungs- prozesse analysieren und bewerten zu können. Wesentliche Erkenntnisse daraus sind ein stetiger

220 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 Anstieg der relativen Luftfeuchte im Raum seit Ein- Klimasteuerung werden in St. Georg der Luft- 13 Bunte Fasern aus der richtung der elektrisch gesteuerten Lüftungsflügel wechsel über den kontrollierten Betrieb der Fens- Staubprobe von Abb. 12. im Jahr 2004 bei gleichzeitiger Abnahme der ter wie auch die Wärmezufuhr genutzt. Sobald mit Raumtemperatur. Große Unterschiede zeigen sich einer Außenluftzufuhr das Raum- und Nahfeld- 14 Fasern und bunte auch im Nahfeld der Wandmalereien (Nordwand klima verbessert werden kann, initiiert das rech- Partikel aus der Staub- probe von Abb. 12. Bei gegenüber Südwand) sowie zeitweise eine mas- nergestützte System das Öffnen der Fenster. Ver- den bunten Partikeln sive Erwärmung der Malereioberflächen im Be- schlechtern sich die Klimaverhältnisse durch den handelt es sich um Kot- reich der Sonneneinstrahlung um 8 bis 12 Kelvin Luftwechsel, werden die Fenster geschlossen. In pellets von Kleinsttieren. (Abb. 15). Für die Bewertung einer Gefährdung der kalten Jahreszeit lässt sich das Nahfeldklima der Wandmalereien entwickelte Elka Neycheva ein durch einen Luftwechsel nur begrenzt verbessern. objektspezifisches Bewertungstool. In diesen Phasen kann der Kirche und der Krypta Welche Folgen die lokale Erwärmung einer Secco- bei Bedarf kontrolliert Wärme zugeführt werden. Wandmalerei für das Sorptionsverhalten und so- Dadurch sinkt die relative Feuchte im Nahfeld der mit für Formveränderungen haben kann, zeigte Si- Wandmalereien so weit ab, dass der Gefährdung 15 Sonnenwanderung mone Reeb in ihrem Gemeinschaftsbeitrag mit Ha- durch biogenes Wachstum, durch Salzphasen- auf der Nordwand von rald Garrecht, Christian Renner und Dana Ullmann wechsel oder durch Formänderungen wirksam be- St. Georg im März 2016. vom IWB in Stuttgart anhand von Labortests auf. gegnet werden kann. Die kontrollierte Wärme - Dies über die Installation eines Mikroskops in Bil- zufuhr wird in der Krypta mit im Raum aufgestell- 16 Monitoring zur dern erfassen zu können war leider nicht möglich, ten elektrischen Rippenheizrohren umgesetzt. In Klimastabilisierung in der da die Schwingungen des Glockengeläuts zu star- der Kirche wird die vorhandene Sitzbankheizung Kirche: Die einzelnen ken Störungen führten. genutzt, um bei Bedarf die Nahfeldfeuchte an den Fühler in den Bildszenen Abschließend präsentierte Harald Garrecht das im Wandmalereien kontrolliert abzusenken. Grund- zeigen die jeweiligen Klimawerte (Temperatur, Rahmen des DBU-Projekts weiterentwickelte und sätzlich wird dabei die Wärmezufuhr aus Kosten- Oberflächentemperatur, nunmehr in Betrieb befindliche Klimamesssystem gründen auf das zwingend erforderliche Maß zur relative Feuchte und (Abb. 16). Dieses ermöglicht eine sofortige Be- Abwendung von Schäden, beispielsweise zur Ver- Taupunkt) an, nach de- wertung der klimabedingten Beanspruchung der hinderung von Kondensatbildung, begrenzt. nen die Steuerung von Wandmalereien und erlaubt, Maßnahmen abzu- Den letzten Block der Tagung bildeten vier The- Lüftung und Temperie- leiten, die zur Raumluftverbesserung führen. Zur menführungen in St. Georg, die mit der Besichti- rung erfolgt.

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 221 17 Abschluss der Tagung in der Kirche St. Georg nach Führungen in ver- schiedenen Gruppen.

Glossar

Pantograf Das Gerät wird auch als Storchenschnabel bezeich- net. Mechanisches Präzi- sionsinstrument zum Über- tragen von Zeichnungen gung von Krypta und Michaelskapelle auch Stoff den großen Fensterflächen des Mittelschiffes und sowohl im gleichen Maß- für Diskussionen in kleineren Gruppen ermöglich- vieles mehr). stab als auch in größerem ten (Abb. 17). Nur ein sorgfältiger Umgang mit dem uns anver- oder kleinerem Maßstab. trauten Welterbe vermag seinen langfristigen Er- Planetare Grenzen Fazit halt zu sichern. Dazu gehört neben der Besucher- lenkung in den Sommermonaten auch die weitere Mit planetaren Grenzen werden die 2009 von ei- Das Forschungsprojekt hatte zum Ziel, das Klima Erforschung dieses einzigartigen und hochkom- nem 28-köpfigen Wissen- bedarfsgerecht zu konditionieren und auf ein für plexen Kulturdenkmals mit den bedeutendsten schaftlerteam identifizier- die Wandmalereien gefährdungsfreies Niveau zu frühmittelalterlichen Wandmalereien nördlich der ten Prozesse und ökologi- bringen. Zahlreiche neue Erkenntnisse ergaben Alpen. schen Grenzen sich aus den unterschiedlichen Materialunter - beschrieben, welche das suchungen sowie der Auswertung der seit über Literatur Leben auf der Erde bedro- 30 Jahren dauernden Klimamessungen. In vielen hen: Klimawandel, Verlust an Biodiversität, Eintrag Bereichen ist ein enormer Wissenszuwachs ent- UNESCO-Weltkulturerbe Reichenau. Die Wandmale- von Stickstoff und Phos- standen. Belegt werden konnte, dass die Staub- reien in der Kirche St. Georg. Interdisziplinarität als phor in die Biosphäre, ablagerungen auf der Wandmalerei ein hohes Schlüssel zu einer nachhaltigen Denkmalpflege. Ta- Landnutzungsänderung, Gefährdungspotenzial mit sich bringen und die An- gungsband des DBU-Abschlusskolloquiums 22.–24. Versauerung der Ozeane, zahl der Besucher wiederum großen Einfluss auf März 2017, hg. v. Dörthe Jakobs und Harald Garrecht Süßwassernutzung, Abbau das Verwirbeln von Staub im Raum hat. Gleich- (Arbeitsheft 33, Regierungspräsidium Stuttgart, Lan- der stratosphärischen Ozonschicht, atmosphäri- zeitig ließ sich nachweisen, dass die 2003 durch desamt für Denkmalpflege), Stuttgart 2017 (mit sche Aerosole und Eintrag Zwangsschließung der Türen als Klimaschleuse ein- weiterführender Literatur zu den einzelnen For- neuer Stoffe wie Chemika- gerichtete Vorhalle ihren Zweck erfüllt, indem sie schungsschwerpunkten). lien, radioaktive Materia- einen zu schnellen Luftwechsel im Raum verhin- Vgl. auch Denkmalpflege in Baden-Württemberg. lien, Nanomaterialien und dert und das Aufwirbeln von Staub durch Zugluft Nachrichtenblatt der Landesdenkmalpflege (Heft 1/ Mikroplastik. bei offenstehenden Türen verringert. Dass man mit 2001; Heft 3/ 2003; Heft 1/ 2004; Heft 3/ 2014). den jetzt getätigten Untersuchungen im Rahmen Reflectance Transfor- mation Imaging (RTI) des DBU-Projekts nicht die Hände in den Schoß le - Praktischer Hinweis gen kann, haben die Untersuchungen ebenfalls er- Computergestützte Me- thode zum Fotografieren. bracht. Im Juli 2017 fand eine einwöchige Kam- 5. Oktober 2017: Universität Stuttgart, Vaihingen: ein- Von einem Objekt werden pagne der Projektteilnehmer statt, in der die Unter- tägige Veranstaltung zum DBU-Projekt mit Präsenta- mehrere Fotos mit gleicher suchungen im Hinblick auf die neuen Erkenntnisse tionen der Ergebnisse. Kameraeinstellung und va- fortgesetzt wurden und eine Evaluierung der Klima- 23. Oktober 2017: Insel Reichenau: öffentlicher Vor- riablen Beleuchtungsposi- steuerung erfolgte. Dies beinhaltete unter ande- trag zum DBU-Forschungsprojekt; 17 bis 19 Uhr Zu- tionen gemacht und an- rem eine Überprüfung der Aktivität des mikrobiel - sammenfassung der Ergebnisse. schließend zu einer Poly - nomial Texture Map (PTM) len Befalls auf den Wandmalereien. Gegenstand Veranstaltungsdetails unter: zusammengerechnet. Im der Kampagne war aber auch eine Zusammen- www.denkmalpflege-bw.de digitalen Ergebnis kann stellung sämtlicher Handlungsanweisungen, die www.mpa.uni-stuttgart.de man durch Veränderung aus den Forschungsergebnissen resultieren. In Ab- der Lichtposition das Ob- stimmung mit allen Beteiligten wird auf dieser Ba- jekt im Auflicht und allen sis ein Maßnahmenkatalog für 2018 entwickelt, Schräglichtvarianten sicht- von dem die dringlichsten Anforderungen umge- Dr. Dörthe Jakobs bar machen und mehr In- formationen erhalten als setzt werden sollen (wie beispielsweise ein erneu- Landesamt für Denkmalpflege bei gewöhnlichen Auf- und ter Austausch der neuzeitlichen Sockelputze in der im Regierungspräsidium Stuttgart Streiflichtaufnahmen. Krypta, die Anbringung eines UV/IR-Schutzes an Dienstsitz Esslingen

222 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 Restaurierung des „Öchsles“ Vom Umgang mit fahrbereiten Kulturdenkmalen

Kulturdenkmale sind zumeist unbeweglich und fest mit ihrem Standort ver- bunden. Es gibt jedoch auch bewegliche Kulturdenkmale wie etwa Lokomoti- ven. Sollen diese Kulturdenkmale tatsächlich in Bewegung – also fahrtüchtig und fahrbereit gehalten werden, so müssen sie nicht nur regelmäßigen War- tungen und Prüfungen unterzogen werden, sondern auch ihre Sicherheit und Funktionsfähigkeit im Schienenverkehr gewährleistet sein. Beim denkmalpfle- gerisch-restauratorischen Umgang mit Lokomotiven ergeben sich daher immer wieder dieselben Fragestellungen und Herausforderungen. Einerseits gilt als oberste Maxime der Denkmalpflege die weitestgehende Erhaltung originaler, bauzeitlicher Substanz. Andererseits müssen bei einer fahrbereiten Lokomotive Glossar sicherheits- und funktionsrelevante Bauteile stets in gutem Zustand sein und Feuerbüchse auch „Brennraum“. In Verschleißteile, wie etwa die Heizrohre oder Räder, regelmäßig überarbeitet der Feuerbüchse wird das oder gar erneuert werden. Diesen „denkmalpflegerischen Spagat“ gilt es zu „Feuer“ unterhalten. Ge- schlossen mit der Feue- verstehen, wenn man Lokomotiven nicht nur als museale Ausstellungsstücke rungstür, die durch den betrachten, sondern diese ihrer Aufgabe gemäß auch unter Dampf auf der Heizer mit Kohle beauf- Schiene erleben möchte. schlagt wird. Auf der an - deren Seite zu den Siede- Markus Numberger/ Rolf-Dieter Blumer rohren offener Brennraum. Heißdampfzylinder/ Nassdampfzyliner Die ersten Dampfloks dieser Bauart der Esslinger wurde die Lokomotive auf mögliche bauliche Ver- Die ersten Loks wurden mit Maschinenfabrik waren anfangs als Stammloko- änderungen und historische Reparaturmaßnah- Nassdampf (also Wasser- motiven auf der Strecke der Öchslebahn im Einsatz men untersucht und die Ergebnisse festgehalten. dampf) betrieben. Durch Erhitzen von Wasser ent- und sind daher als Kulturdenkmal erfasst. Die Ebenso entstand eine restauratorische Fassungs- steht Wasserdampf, der ein Dampflok 99633 ist neben ihrer in Bad Buchau untersuchung, die Aufschluss über die historische Vielfaches an Volumen be- unbewegt ausgestellten „Schwesterlok“ 99637 Farbgebung der Lokomotive erbrachte. Abschlie- sitzt wie das zuvor erhitzte das einzige noch erhaltene Exemplar. Der Name ßend konnten die gewonnenen Erkenntnisse in die Wasser. In einem geschlos- „Öchsle“ bezog sich früher nicht auf die Lok, son- vom Landesamt für Denkmalpflege erstellten An- senen Raum (z.B. Kessel) dern auf die von Biberach nach Ochsenhausen füh- sichtspläne in Bauphasenpläne überführt werden. entsteht somit hoher Druck, rende Strecke. Die Lok zog den Namen jedoch auf der Zylinder antreiben und eine Lok bewegen kann. sich, da sie leihweise auf verschiedenen anderen Bauart, Ausstattung und 1896 wurde erstmals Heiß- Schmalspurnetzen fuhr und mit ihrer Herkunft in technische Daten dampf eingesetzt: „über- Verbindung gebracht wurde. hitzter“ Wasserdampf, der Der Verein „Öchsle Schmalspurbahn e.V.“ in Och- Bei der Dampflokomotive 99633 handelt es sich somit eine noch größere senhausen ist seit dem Jahr 2002 im Besitz der um eine Lokomotive der Gattung Tssd, die in der Volumenzunahme und noch Dampflokomotive 99633. Nun wurde die Loko- Maschinenfabrik Esslingen gebaut wurde (Abb. 1). höheren Druck erzeugt. Die Mallet-Lokomotiven besit- motive 2012 bis 2015 wieder in einen fahrberei- Das Besondere ist das geteilte Triebwerk der Bau- zen einen Duplex-Antrieb ten Zustand für die Nutzung auf der Museums- art Mallet, in Württemberg auch als „Duplex-Ver- (also ein zweigeteiltes Fahr- strecke versetzt. Grundlage für ein fachgerechtes bund-Lokomotive“ bezeichnet. Das hintere Trieb- werk), das besonders gut Sanierungskonzept war eine Bestandsdokumen- werk mit den Heißdampfzylindern (HD) ruht fest für kurvenreiche Bergstre- tation, die im Vorfeld erstellt und vom Landesamt im Außenrahmen, der schwanenhalsförmig bis zur cken geeignet ist. Jedes für Denkmalpflege beauftragt wurde. ersten Achse reicht und den Kessel abstützt. Die Fahrwerk verfügt somit Zielsetzung war, die bisherige Betriebs- und Re- vordere Triebwerksgruppe mit den Nassdampf - über separate Druckzylin- der: das vordere Fahrwerk paraturgeschichte der Lokomotive in Wort und zylindern (ND) befindet sich dagegen in einem die Niederdruck- bzw. Nass- Bild fortschreibbar zu dokumentieren. Dazu er- Drehgestell mit Innenrahmen. dampfzylinder, das hintere folgte vor Ort eine Auswertung des Betriebs- und Im Betriebsbuch der Lokomotive finden sich zu An- Fahrwerk die Hochdruck- Kesselbuchs der Lokomotive. Darüber hinaus fang die wesentlichen Daten, die für Zulassung bzw. Heißdampfzylinder.

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 223 Werkstättenamt Friedrichshafen statt. Neben der Auswechslung sämtlicher Heizrohre und einer Kes- selprüfung wurden mehrere Apparaturen neu ein- gebaut, so eine große Luftpumpe, ein großes Füh- rerbremsventil, ein Doppelluftdruckmesser, ein Luftdruckregler der Bauart Schleifer und ein Hilfs- luftbehälter. Im Jahr 1929 nahm die 99633 in Bad Buchau ihren Betrieb auf. Ebenfalls im Herbst dieses Jahres wur- den erneut alle Heizrohre ausgewechselt, zudem die Rauchkammer geflickt und teilweise erneuert. Die Radreifen wurden abgedreht sowie Stangen- und Achslager neu ausgegossen. In den 1930er Jahren kamen im Reichsbahn-Aus- besserungswerk Friedrichshafen zahlreiche wei- tere Wartungs- und Reparaturarbeiten zur Durch- 1 Die Maschinenfabrik und Betrieb von Bedeutung sind. So wurde der Be- führung. Neben den regelmäßigen Erneuerungen Esslingen produzierte für schaffungsvertrag für die Lokomotive am 5. De- der Verschleißteile erhielt die Dampflokomotive die Württembergische zember 1898 unterzeichnet. Als Jahr der Anferti- 1932 eine neue Feuerbüchse sowie neue Radrei- Staatsbahn ab 1899 die gung gilt 1899. Tag der Endabnahme und Auslie- fen. 1934 erfolgte die Installation eines Dynamos Schmalspurlokomotiven ferung war der 20. Januar 1900. Als Kosten der für die elektrische Zugbeleuchtung. 1938 wurde der Reihe Tssd. Unter den Lokomotive samt Kessel mit Ausrüstung (ohne Ten- die Rauchkammerstirnwand erneuert. In den Fabriknummern 3070 bis der) werden 46000 Reichsmark erwähnt. Die Nass- 1940er Jahren tauschte das Reichsbahn-Ausbes- 3072 wurden 1899 die ersten drei Loks herge- dampflokomotive besitzt eine Spurweite von serungswerk Aalen die Radreifen aus. 1943 muss- stellt, die dann bei der 0,75 m und eine zulässige Höchstgeschwindigkeit ten sämtliche Buntmetalle (in der Regel Kupfer und Staatsbahn die Nummern von 30 km/ h. Die Gesamtlänge zwischen den Puf- Kupferlegierungen) ausgebaut werden, um für die 41, 42 und 43 (später fern der Lokomotive wird mit 8226 mm und das Rüstungsindustrie Verwendung zu finden. 1950 99633) erhielten. 1901 Gewicht der leeren Lokomotive ohne Tender mit erneuerte das Ausbesserungswerk Offenburg die folgten die nächsten drei 21,8 t angegeben. Der Kessel hatte ein Fassungs- Feuerbüchse. baugleichen Schwester- vermögen von 2,5 m3 Wasser. Außerdem konnten Im Frühjahr 1960 fuhr das Öchsle kurzfristig in Lokomotiven mit den 1,2 qm Kohle geladen werden. Güglingen, Landkreis Heilbronn (Zabergäubahn), Fabriknummern 3198 bis wurde aber nach nur knapp zwei Monaten wieder 3200, die bei der Staats- bahn unter den Num- Betriebs- und Restaurierungsgeschichte in Bad Buchau in Betrieb gestellt. Ab 1964 nahm mern 44, 45 und 46 fuh- die Lokomotive den Wechselbetrieb zwischen Bad ren. Auslieferungsfoto Die Dampflokomotive 99633 wurde 1899, zu- Buchau und Ochsenhausen auf, wo man sie der 99 633 aus der Zeit sammen mit zwei Schwesterloks, unter der Fa- schließlich am 30. Oktober 1968 in Ochsenhausen um 1900 mit der Betriebs - briknummer 3072 gebaut (Abb. 2). Alle drei Lo- abstellte und am 18. März 1969 ausmusterte. nummer 43 der König- komotiven mit den württembergischen Loknum- Im Herbst 1969 übernahm die Deutsche Gesell- lich Württembergischen mern 41, 42 und 43 wurden 1900 nach Ochsen- schaft für Eisenbahngeschichte (DGEG) die Loko- Staats-Eisenbahnen. hausen ausgeliefert. Bis heute hat nur Nr. 43 über- motive. Diese blieb zunächst aber noch in Och- lebt. Um 1920 erhielt sie als Lokomotive der deut- senhausen stehen. Im März 1970 kam das Öchsle schen Reichsbahn ihre noch heute gültige Be- nach Bochum-Dahlhausen zum Bahnbetriebswerk triebsnummer 99633. Wie Betriebs- und Kessel- der DGEG. Die museale Aufarbeitung der Loko- buch deutlich machen, fanden an der Lokomotive motive begann im Februar 1973 im Ausbesse- in regelmäßigen Abständen Wartungsarbeiten im rungswerk Heilbronn und 1978 in Möckmühl. Im Rahmen der Haupt- und Zwischenuntersuchun- Rahmen der Aufarbeitung wurden in den 1980er gen statt. Dabei wurden zumeist die Verschleiß- Jahren Erneuerungsarbeiten durchgeführt: sämt- teile repariert beziehungsweise ausgetauscht, wie liche Heizrohre sowie der vordere und der hintere etwa die Heizrohre oder die Achs- und Stangen- Pufferträger, teilweise die Verkleidungsbleche an lager. Zwangsläufig mussten dabei immer auch Kessel und Rauchkammer sowie Teile der Führer- zahlreiche Bolzen und Schrauben erneuert werden. hausverkleidung und des Kohlekastens. Neben diesen im Betriebs- und Kesselbuch fest- Am 6. November 1982 nahm das Öchsle zunächst gehaltenen Maßnahmen wurden sicherlich noch seinen Betrieb auf der Strecke der Jagsttalbahn auf. 2 Typenschild am Dampf- vielfältige weitere Reparaturen und kleinere Aus- Ab 30. März 1985 fuhr die Lokomotive dann für dom der Lokomotive besserungen im Lokschuppen vorgenommen, die drei Jahre auf der Museumsbahnstrecke in Och- 99633 mit Auslieferungs- jedoch undokumentiert blieben. senhausen, bis sie schließlich 1988 in Möckmühl nummer 3072 der Ma- Die erste größere dokumentierte Reparaturmaß- abgestellt wurde. Bei einer Instandsetzung des schinenfabrik Esslingen. nahme fand im Herbst 1927 durch das Reichsbahn- Fahrwerks 1991 erneuerte das Dampflokomoti-

224 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 venwerk Meiningen sämtliche Radreifen. 2002 kam das Öchsle schließlich wieder zurück an seine ursprüngliche Wirkungsstätte nach Ochsenhausen und befindet sich seither im Besitz der „Öchsle- Museumsbahn e.V.“.

Voruntersuchungen 2011

Die regelmäßigen Wartungs- und Prüfungsarbei- ten am Öchsle haben 2010 gezeigt, dass ein wei- terer Betrieb der Lokomotive nur durch die Er- neuerung des Kessels möglich ist (Abb. 3). Um zu prüfen, welche Bauteile der Lokomotive noch zum Originalbestand von 1899 gehören und welche Elemente über die Jahrzehnte ausgetauscht und erneuert wurden, ließ das Landesamt für Denk- malpflege 2011 eine visuelle Bestandsdokumen- tation zur Öchslebahnlok durch das Büro für Bau- forschung und Denkmalschutz mit Sitz in Esslingen erstellen. Diese Visualisierung der Bau- und Um- bauphasen bietet schnell und aufschlussreich Ein- Veränderungsphasen in Plänen dargestellt werden 3 Der neue Kessel auf blick in die originale Substanz des Fahrzeugs (Abb. 4). dem alten Fahrwerk im (Grundlage, Fortschreibung und Erweiterung des Während der Untersuchungen stellte sich die Juli 2013. Betriebs- und Kesselbuchs). An der Öchslelok Frage, ob sich an originalen Bauteilen noch Reste 99633 wurde dieses Verfahren, das wir von der einer älteren Farbfassung befinden könnten. Aus Kartierung an Bauwerken her kennen, erstmals an historischen Unterlagen geht hervor, dass für die einem technischen Kulturdenkmal angewandt. Lokomotiven der württembergischen Staatseisen- Die Ergebnisse wurden parallel in die durch das bahn ursprünglich eine grüne Farbfassung vorge- Landesamt für Denkmalpflege erstellten foto- sehen war. Um dieser Frage nachzugehen, wurde grammetrischen Zeichnungen und Ansichtspläne eine restauratorische Fassungsuntersuchung zur Lokomotive eingetragen. Auf dieser Grundlage durch Diplom-Restauratorin Sophie Richter (Heil- können, ähnlich wie in der Baudenkmalpflege üb- bronn) erstellt. Obwohl zahlreiche Bleche und Ver- lich, die ermittelten Bauphasen beziehungsweise kleidungen über die Jahrzehnte erneuert oder bei

4 Bauphasenkartierung an der linken Längsan- sicht der Lokomotive nach den Restaurierungs- Bauphasen 3. Bauphase 1947–1952 (a) 5. Bauphase 1991 maßnahmen. 1. Bauphase 1899 (a, i) Wasserkästen abgenommen und vollständig Erneuerung Radreifen aufgearbeitet, Flickung? Herstellung Maschinenfabrik Esslingen 6. Bauphase 2013–2014 2. Bauphase 1927–1938 (a) 4. Bauphase 1970–1982 (a) Erneuerung von Kessel, Rauchkammer, vor - Erneuerung Luftpumpe, Neue Feuer - Erneuerung von Dampfventil am Dampfdom, derer Pufferstange und Federaufhängungen vorderer und hinterer Pufferträger, teilweise buchse, Elektrische Zugbeleuchtung, ungeklärt Rauchkammer- Stirnwand und Türauf- Verkleidungsbleche an Kessel und Rauchkam- schlagring erneuert mer, Fuhrerhausverkleidung, Kohlekasten, Schraffierte Bereiche sind nicht gesichert, zeigen heizerseitiger Wasserkasten aber die wahrscheinlichste Phase 225 Pufferträger Reparaturmaßnahmen abgestrahlt wurden, zeig- spruch genommene und zudem Wind und Wetter Massiver Block meist an der ten sich in Spaltbereichen zwischen den Blechen ausgesetzte Maschine kommt um eine Erneue- Vorder- und Rückseite einer des Führerhauses tatsächlich noch Reste einer grü- rung ihrer betriebswichtigen Bauteile nicht herum. Lok, früher auch „Ramm- nen Farbfassung. Damit war der Nachweis er- Dies ist der Denkmalpflege auch bewusst. Will bord“ genannt. Ein als bracht, dass die Lokomotive in den ersten Jahren man die historische Substanz eines solchen Denk- Rahmenquerverbindung ihres Betriebs einen grünen Farbanstrich besaß. mals um jeden Preis erhalten, so ist eine Nutzung dienendes, Stoß und Kräfte aufnehmendes U-förmiges der Lokomotiven im Fahrbetrieb dauerhaft aus- Bauteil aus dickem Blech. Aktuelle Restaurierung 2012 bis 2015 geschlossen. Es bleibt dann nur das Abstellen des an sich beweglichen Kulturdenkmals als Mu- Rauchkammer Da der historische Kessel samt Feuerbüchse und seumsobjekt in einem möglichst witterungsge- Vor dem Kessel und unter Rauchkammer einer Kesselprüfung nicht mehr schützten Raum. Will man hingegen auch zu- dem Kamin liegende große standgehalten hätte, wurde 2012 mit dem Neu- künftigen Generation noch zeigen, mit welchem Kammer, in der sich Rauch bau des Kessels bei der Firma Tschuda in Graz Aufwand und welcher Arbeit eine Dampfloko- aus der Feuerbüchse „be- (Österreich) begonnen. Dieser neue Kessel konnte motive zum Rollen gebracht wurde, wie sich diese ruhigen“ konnte und mit dem Restdampf gemischt im März 2013 beim TÜV Austria in Wien mit einer im Betrieb anhört und riecht, dann bleibt der Aus- in Richtung Kamin austrat. Kaltwasserdruckprobe abgenommen werden. Der tausch sicherheits- und funktionsrelevanter Teile Verschlossen wurde dieser gesamte Rahmen sowie der Kohlen- und der Was- unumgänglich. Umso wichtiger ist dann jedoch Raum mit der Rauchkam- serkasten wurden bei der Zillertalbahn in Jenbach eine umfassende Dokumentation des Ist-Zustands mertür an der Stirnseite der (Österreich) aufgearbeitet und neu beschichtet. und ein präzises Weiterführen der historisch über- Lok mit den charakteristi- Zahlreiche kleinere Ausbesserungs- und Repara- lieferten Kessel- und Betriebsbücher, die zu jeder schen Verschlussschrau- turarbeiten führte der Verein „Öchsle-Museums- Dampflokomotive gehören. Zudem ist auch die benhebeln. bahn e.V.“ in ehrenamtlicher Tätigkeit durch. Im Fortschreibung der denkmalpflegerischen Bestands- Stangenlager Mai 2014 konnte der neue Kessel samt Feuer- dokumentation mitsamt zugehöriger Baupha- Lager an den „Treibstan- büchse und Rauchkammer bei der Zillertalbahn senkartierung wünschenswert, die bildlich vor Au- genköpfen“, meist aus mit dem Fahrwerk wiedervereint werden. Das gen führt, aus welcher Zeit welche Bauteile über- Messing oder weißem La- erste Anheizen des neuen Kessels geschah im Ok- liefert sind. germetall. tober 2014. Am 25. April 2015 war die offizielle Im Fall von fahrbereiten Lokomotiven kann der Wiederinbetriebnahme der Lokomotive in Ochsen- Grundsatz „restaurieren heißt nicht wieder neu Gattung Tssd hausen und am 2. Mai 2015 erfolgte die „Jungfern- machen“ also nur eingeschränkt gelten. Die Sicher- T: Tenderlokomotive; fahrt“ des sanierten Öchsles in Ochsenhausen heit bei der Nutzung einer Lokomotive geht vor. ss: Schmalspur; d: Duplex- (Abb. 5). Für die Restaurierung der Lok konnte ein antrieb. Zuschuss aus Landesmitteln in Höhe von etwa Praktischer Hinweis 40000 Euro gewährt werden. Zudem steuerte die Denkmalstiftung Baden-Württemberg eine Förde- Mehr Informationen und Fahrpläne finden Sie unter rung in Höhe von 25 000 Euro bei. www.oechsle-bahn.de

Denkmalpflegerisches Konzept und Fazit Rolf-Dieter Blumer Landesamt für Denkmalpflege Wie die Betriebs- und Restaurierungsgeschichte im Regierungspräsidium Stuttgart deutlich vor Augen führt, müssen fahrbereite Lo- Dienstsitz Esslingen komotiven ständigen Wartungen und Reparaturen unterzogen werden. Somit kann es an funktions- Markus Numberger 5 Jungfernfahrt der wichtigen Bauteilen und insbesondere an vom Ver- Büro für Bauforschung und Denkmalschutz frisch sanierten Lokomo- schleiß betroffenen Elementen kaum noch origi- Im Heppächer 6 tive 99633 im Mai 2015. nale Teile von 1899 geben. Eine ständig in An- 73728 Esslingen am Neckar Ortstermin

Zeugnis der Eisenbahngeschichte Sanierung des Rappensteinportals in Laufenburg, Kr. Waldshut

Die Hochrheinbahn wurde als Teil der Badischen Rappensteins errichtet. Das westliche, nun sanierte Hauptbahn von Mannheim nach Konstanz 1856 Portal zeichnet sich durch eindrucksvolles Zyklo- bis 1863 angelegt. Das Teilstück von Basel bis penmauerwerk und zinnenbewehrte Ecktürme aus. Waldshut, auf dem sich der Rappensteintunnel be- So wehrhaft das Portal erscheinen mag, führte die findet, wurde am 30. Oktober 1856 eröffnet. ständige Durchfeuchtung des Fugenmörtels in Ver- Die Bahnstrecke war als grenzüberschreitendes bindung mit starkem Wurzelbewuchs im Inneren Projekt geplant: So ist die Deutsche Bahn per der Türme doch zu Standsicherheitsschäden und Staatsvertrag von 1852 bis heute Eigner auch der- zur Lockerung des Deckmauerwerks. jenigen Abschnitte, die sich zwischen Erzingen und Basierend auf den bauzeitlichen Ausführungsplä- Bietingen auf Schweizer Staatsgebiet befinden. nen entwickelte das beauftragte Ingenieurbüro in Seit ihrer Eröffnung ist die Hochrheinbahn Le- Abstimmung mit dem Landesamt für Denkmal- bensader einer ganzen Region und anschauliches pflege das Sanierungskonzept: Im Inneren der Eck- Dokument der Verkehrs- und Technikgeschichte. türme verankern nun vertikale Betonpfähle das Der Bau der Bahnlinie stellte die Ingenieure vor to- Bauwerk im anstehenden Fels. Zusätzliche Spiral- pografische, logistische und technische Herausfor- anker und Mörtelinjektionen sichern das Zyklo- derungen. Auf Bahnkilometer 311 wartete eine an- penmauerwerk gegen Absturz. Steinmetzmäßig spruchsvolle Engstelle: der Rappenstein, ein steil stellte sich der Gneis unbeeindruckt von der lan- aufragender Felsen aus hartem Gneis, an den sich gen Nutzung dar, lediglich die Fugen wurden mit die Laufenburger Altstadt schmiegt. Es blieb nur die Trass-Kalk-Mörtel überarbeitet. Untertunnelung des Bergs. Da Dynamit noch nicht Die konstruktive Zusammenarbeit zwischen den zur Verfügung stand, erfolgte der Vortrieb aus- Projektpartnern sowie die behutsame Planung und schließlich durch Muskelkraft. Die veranschlagten Ausführung der Maßnahme können Vorbildwir- Kosten in Höhe von 30000 stiegen auf über drei kung entfalten und stimmen zuversichtlich für den Millionen Gulden – damit kosteten die 337 m des Erhalt des Rappensteinportals für die kommenden Rappensteintunnels fast so viel wie die übrigen Stre- 150 Jahre. ckenkilometer der Hochrheinbahn zusammen. Nach zwei Jahren Bauzeit gelang am 8. September Hendrik Leonhardt 1856 der Durchbruch. Als triumphales Signal des Landesamt für Denkmalpflege Sieges über den Berg wurden auf der östlichen und im Regierungspräsidium Stuttgart westlichen Seite Tunnelportale aus dem Gneis des Dienstsitz Freiburg

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 227 weiterung nach Süden nun innerhalb der Stadt la- Rezensionen gen und somit ihre Funktion verloren hatten. Wie lange sie erhalten blieben, wann der Stadtgraben Christian Kayser: Die Stadtmauer von zugeschüttet und wann die Stadtmauer abgebro- Memmingen. Memminger Forschungen. chen wurde, wird nicht angegeben. Informationen Wissenschaftliche Reihe zur Memminger hierzu können sicherlich noch archäologische Aus- Geschichte Band 8 grabungen und archivalische Studien ergeben. Doch ist auch denkbar, dass sich Teile der Mauern Memmingen 2016, 343 S., zahlr. Abb., in heutigen Gebäuden befinden und somit die Bau- ISBN 978-3-946241-08-9, 25,– Euro forschung hier entsprechend aufmerksam sein muss. Ebenfalls nicht berücksichtigt werden Früh- Die in weiten Teilen noch sehr gut und umfang- formen der Befestigung wie (teilweise archäolo- reich erhaltene Stadtbefestigung ist ein besonde- gisch nachgewiesene) Wälle, da sie für den Bau- res Denkmal der Stadt Memmingen. Da dieses forscher nicht greifbar sind (S. 25). Aus denselben Denkmal nur in seiner Gesamtheit verstanden wer- Gründen werden die Stadtgräben ebenso besten- den und der denkmalpflegerische Umgang mit ihr falls kursorisch erwähnt. Dies mag für den an nur gelingen kann, wenn die Einzelteile analysiert Stadtbefestigungen in ihrer Gesamtheit Interes- werden, hat die Stadtverwaltung Christian Kayser sierten schade sein, orientiert sich jedoch streng den Auftrag zur bauhistorischen Erforschung er- an der Aufgabenstellung und ist somit nicht zu kri- teilt. Gleichzeitig wurde dies durch umfangreiche tisieren. Archivstudien unterstützt. Diese Untersuchungen Die Dokumentation der erhaltenen Bauteile nimmt sollten den anstehenden Instandsetzungsmaß- mit etwa 290 Seiten den größten Umfang ein nahmen die notwendige fachliche Grundlage lie- (S. 55– 340). Mindestens 550Abbildungen, dar- fern. unter viele Befundfotos, aber auch historische Dar- Die ersten beiden Teile des Buchs beinhalten die stellungen (Merianplan 1643, Dochtermannplan Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse 1650, Plan von Ruprecht und du Chaffat von 1737, (S. 13–54). Dies dreht zwar die Abfolge der For- Urkataster von 1819), Stadtmodelle (1669, 1822– schung um, ist aber sinnvoll, um einen Einstieg ins 1830) sowie moderne maßstabsgerechte Bauauf- Thema zu gewährleisten. Die 1158 zur Stadt er- nahmen ermöglichen es, die Lage der besproche- hobene Siedlung war ursprünglich 6 ha groß und nen Bauelemente (Stadtmauer, Mauertürme, Tor- liegt im nordwestlichen Teil der heutigen Altstadt. türme) nachzuvollziehen. Ihre Datierung und Eine „um 1275/ 1300“ erfolgte Erweiterung (Kalch- Bewertung ist Grundlage des zukünftigen denk- vorstadt) nach Osten verdoppelte die bisherige malpflegerischen Handelns. Wichtige Hinweise Stadtfläche. Im 14. und 15. Jahrhundert erfuhr zur Zeitstellung einzelner Bauteile können aus Memmingen einen wirtschaftlichen Aufschwung, 100 Dendrodaten gezogen werden. Zahlreiche der sich in politischem Einfluss und auch in Bevöl- Highlights sind im Text aufzufinden: So zeigen Den- kerungswachstum niederschlug. Der Bau einer drodaten, dass im Südwesten und im Nordosten neuen Mauer mit etwa 1200 m Länge in der Zeit der Stadt größere Teile des Wehrgangs der Zeit um zwischen etwa 1370 und 1390 im Süden der bis- 1385 bis heute erhalten sind (S. 144, 244– 249), im herigen Stadt war die umfangreichste Baumaß- Süden der Durchlass eines Stadtbachs über den nahme der Gemeinschaft. Damit hatte sich die wassergefüllten Stadtgraben ablesbar ist (S. 174, Stadtfläche auf 35 ha vergrößert, die Stadtum- 176), am Kemptner Tor noch die Freskobemalung wehrung auf eine Gesamtlänge von 3000 m. Die der Zeit um 1450 in größeren Teilen besteht (S. 193– Mauer war 1,5 m stark und durchschnittlich 8 m 195) sowie am „Einlass“ eine frühe liegende Stuhl- hoch. So betrug das gesamte Bauvolumen etwa konstruktion der Zeit um 1475 vorhanden ist 36000 m3. Die älteren Teile bestehen wie die der (S. 275), um nur einige Beispiele zu nennen. ersten und zweiten Stadtmauer noch aus Kalktuff, Leider geht aus dem Buch nicht hervor, ob sich der die ab 1385 gebauten Elemente aus Ziegeln. Die Autor im Rahmen der Erforschung zu den künfti- jüngste Stadterweiterung war die Ulmer Vorstadt gen denkmalpflegerischen Leitlinien geäußert hat im Norden (1450– 1500). und dies für die Drucklegung weggelassen wurde, Im 16. Jahrhundert erfolgte die Anpassung an zeit- oder ob man bewusst auf eine Stellungnahme genössische Anforderungen, insbesondere durch verzichtet hat, da die Entscheidungen fallbezogen den Ausbau der Stadtmauer nach Süden. Weitere getroffen werden müssen. Dennoch wäre es für Verstärkungen wurden im 17. und 18. Jahrhundert ähnliche Projekte hilfreich, wenn zumindest grund- hinzugefügt. Ab dem 19. Jahrhundert ist der teil- sätzliche Richtlinien zum künftigen Umgang for- weise Rückbau und Abbruch durchgeführt worden. muliert worden wären. Sinnvollerweise hätten Keine Berücksichtigung in der Untersuchung er- auch die Mauerabschnitte markiert werden müs- fahren die Teile der Stadtmauer, die durch die Er- sen, von denen man sicher weiß, dass sie erst in

228 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 den vergangenen Jahrzehnten wieder aufge - Frühmittelalter bis zur Neuzeit vorangestellt. Be- mauert wurden und somit auch denkmalpflege- dingt durch den Mangel an schriftlichen und ar- risch nicht gleichwertig mit der originalen Bau- chäologischen Quellen bis zum 11. Jahrhundert substanz sind (S. 54, 74f.). Redaktionell sind nur wird die Entwicklung der Ortschaft in einem grö- Kleinigkeiten zu bemängeln. Das Fehlen von Ab- ßeren Zusammenhang erfasst. Detailliert be- bildungsnummern erschwert das Verweisen, etli- schreiben die Autoren die Entwicklung des Orts che Schreibfehler wären vermeidbar gewesen. Ei- unter dem Einfluss des Zisterzienserklosters Be- nige Fotos – insbesondere von den Stadtmodel- benhausen und der Stadt Esslingen sowie der Graf- len – sind unscharf. schaft beziehungsweise ab 1495 des Herzogtums Insgesamt ist das vorliegende Buch eine gelungene Württemberg im Spätmittelalter. Um der Komple- Dokumentation des „größten Denkmals“ von xität der neuzeitlichen, gut überlieferten Orts - Memmingen. Die Einbeziehung aller verfügbaren geschichte Rechnung zu tragen, ist der letzte Ab- Quellen schafft eine breite und belastbare Grund- schnitt des Kapitels thematisch gegliedert. Schwer- lage für die historischen Aussagen. Dadurch ver- punkte bilden hierbei die Themen: Glaube und fügt der Denkmalschutz über eine exzellente Aus- Aberglaube, Kirche und Politik, Kriege und Krank- gangsbasis bei den anstehenden Sanierungen und heiten sowie Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Instandsetzungen. Das Buch kann ein Vorbild sein Eine Zeittafel, die allerdings erst im Jahr 1478 be- für die Erforschung und Publikation vergleichbarer ginnt, ergänzt das Kapitel. Stadtumwehrungen. Die im zweiten Kapitel von Günther Eckstein be- Andreas Haasis-Berner handelte Baugeschichte bezieht sich abschnitts- weise auf den Kirchenbau der Romanik, die vier Evangelische Kirchengemeinde Plienin- Bauabschnitte des Turms von der Romanik bis zur gen – Hohenheim (Hg.): Die Martins- Spätgotik (Kirche und Teile des Turms), auf den kirche in Plieningen. Geschichte – Aus- gotischen Chor mit Sakristei und auf die Bau- und stattung – Erhaltung Umbauphase des Barocks im Jahr 1751. Die letz- ten beiden Abschnitte sind der Umbauphase von Stuttgart, Evangelische Kirchengemeinde Plie - 1901 und den Maßnahmen nach 1901 gewidmet. ningen-Hohenheim 2016, 237 S., zahlr. Abb., Dabei führten die kritische Sichtung der wissen- ISBN 978-3-00- 054186-5, 34,90 Euro schaftlichen Literatur, eine Neubewertung der Bau- akten und nicht zuletzt die Ergebnisse der aktuel- Die Martinskirche mit ihrem romanischen Lang- len Bauuntersuchung zu zahlreichen neuen Er- haus, dem spätgotischen Chor und dem aus ver- kenntnissen. Anschaulich illustriert werden diese schiedenen Epochen stammenden Turm gilt als durch historische Aufnahmen, aktuelle Detailfotos Wahrzeichen Plieningens und wird seit dem und farbige Baualterspläne. 19. Jahrhundert in vielen Publikationen beschrie- Die Beiträge von Claudia Zesch und Thilo Schad ben und gewürdigt. Mit ihr ist ein Bauwerk er - zur Bauplastik und Ausstattung im dritten Kapitel halten, das nicht nur viele Generationen von Kir- behandeln schwerpunktmäßig die romanischen chenbesuchern verbindet, sondern auch eine her- Traufreliefs der Langhausfassaden und basieren im ausragende kunsthistorische Stellung im Filder- Wesentlichen auf dem Kirchenführer von 2006. raum und darüber hinaus einnimmt. Das vierte und umfangreichste Kapitel ist den Vor- Sichtbare Schäden an den Fassaden und der Dach- untersuchungen und den Instandsetzungen von konstruktion des Kirchenbaus erforderten zwi- 2007 bis 2008 und von 2013 bis 2015 gewidmet. schen 2013 und 2015 umfangreiche Sicherungs- Hier wird von Peter Schell, Sara Larisch, Karin Läp- und Konservierungsmaßnahmen, die auf einer ple, Heidi Mattern, Till Läpple sowie Günther Eck- sorgfältigen planungs- und baubegleitenden stein, Anja Probitschka und Susanne Rall-Steck- Schadens- und Bestandsanalyse basierten. Ziel der daub das methodische Vorgehen ausführlich be- Maßnahmen war es, die historischen und ästheti- schrieben, die Untersuchungsergebnisse erläutert schen Werte des Bauwerks zu bewahren. und die daraus resultierenden Planungen begrün- Mit der aus den Voruntersuchungen und den det sowie die durchgeführten Maßnahmen im De- baulichen Maßnahmen resultierenden Veröffent- tail vorgestellt. Beginnend mit der Innenrenovie- lichung zur Plieninger Kirche wurde nun eine um- rung folgen die Bestands- und Schadenserfassung fassende und qualitätvoll bebilderte Publikation sowie die Maßnahmenbeschreibung der steiner- vorgelegt, die mit einer Vielzahl neuer Erkennt- nen Fassaden von Langhaus, Chor und Sakristei. nisse zur Baugeschichte und Bautechnik aufwartet. Daran schließt sich eine Bestands- und Schadens- Das Buch ist in fünf Kapitel gegliedert. Dabei ist erfassung sowie eine Maßnahmenbeschreibung dem Kapitel zur Baugeschichte eines mit Aufsät- des Dachwerks dieser drei Bauteile an. Das Kapitel zen von Adorf Martin Steiner und Claudia Zesch endet mit einer Verformungs- und Konstruktions- zur Orts- und Kirchengeschichte Plieningens vom analyse sowie einer Schadens- und Maßnahmen-

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 229 Stolz thront die Hoch- beschreibung des schiefen Kirchturms mit seinem wacht, Namensgeberin teilweise noch aus dem 17. Jahrhundert stammen - des neu ausgelobten Sti- den Bestand an glasierten Ziegeln. pendiums zu bauhistori- Das letzte und fünfte Kapitel dürfte vor allem Plie- scher Forschung, über ninger Bürgerinnen und Bürger ansprechen, da der Stadt Esslingen am hier Thomas Honold anschaulich die Strukturen der Neckar. Württembergischen Landeskirche, die Entwicklung der Kirchengemeinde Plieningen-Hohenheim und das Gemeindeleben darstellt. Leider fehlt in der an- schließenden tabellarischen Chronologie die erste nachweisliche Nennung des Orts 1083. Das repräsentative Buch ist nicht nur eine gelun- gene Zusammenfassung der Ortsgeschichte und der Instandsetzung der Martinskirche für ein lokal- geschichtlich interessiertes Leserpublikum. Durch die ausführliche Darstellung des methodischen Vorgehens bei der Vorbereitung und Durchfüh- rung der Maßnahmen ist es auch von allgemeinem an deutschsprachigen Hochschulen mit einem Interesse für Planer und Denkmalpfleger. Zur An- Interessenschwerpunkt auf den Gebieten Archi- schaulichkeit tragen ganz wesentlich die anspre- tekturgeschichte, Denkmal- und Bauforschung, chende grafische Gestaltung sowie die zahlreichen Restaurierung, Mittelalterarchäologie, Stadtfor- aussagekräftigen Fotos, Pläne und Kartierungen schung, Kunstgeschichte oder verwandten For- bei. schungsgebieten. Es kann für freie oder universi- Anne-Christin Schöne täre Publikationsprojekte, für Projekte im Rahmen von Studienabschlussarbeiten (Magister-, Diplom- oder Masterarbeiten) sowie im Zusammenhang Mitteilungen mit Dissertations- und Habilitationsschriften ver- geben werden. Ausschlaggebend ist die Publika- Vergabe des Hochwacht-Stipendiums tionsabsicht. Der thematische Bezug zur Stadt Ess- zu bauhistorischer Forschung 2018 lingen muss erkennbar sein. Für die Dauer von sechs Monaten, beginnend am Für die Sommermonate von Mai bis Oktober 2018 1. Mai und endend am 31. Oktober 2018, bietet lobt die ZukunftsStiftung Heinz Weiler gemeinsam die ZukunftsStiftung gemeinsam mit der Stadt Ess- mit der Stadt Esslingen am Neckar und mit Unter- lingen folgende Rahmenbedingungen zur Durch- stützung des Landesamts für Denkmalpflege ein führung des Stipendiums: Wohn- und Arbeitsstipendium in der Hochwacht – Freies Wohnatelier in der Hochwacht Esslingen aus. Die Bewerbungsfrist läuft bis 31. Oktober – Unterhaltszuschuss von 1500 Euro monatlich 2017. – Federführende Begleitung und Betreuung durch Die Hochwacht ist Teil der mittelalterlichen Befes- das Kulturamt Esslingen unter Einbeziehung der tigungsanlage der ehemaligen Reichsstadt Esslin- Unteren Denkmalschutzbehörde Esslingen, des gen. Sie war das Domizil eines der Hochwächter, Stadtarchivs und des Landesamts für Denkmal- der die Aufgabe hatte, die Bewohner der Stadt pflege Baden-Württemberg rechtzeitig vor Brand und Feinden zu warnen. – Einbindung in die lebendige Kulturszene Esslin- Ziel des Stipendiums ist zum einen, angehenden gens Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Raum – Möglichkeit zur Präsentation des Forschungs- zur ungestörten, konzentrierten Forschung zu bie- fortschritts während der Laufzeit des Stipendi- ten, zum anderen Publikationen zu fördern, die ums, etwa durch einen Vortrag beziehungs- sich mit den verschiedensten Aspekten der Stadt- weise ein Kolloquium geschichte Esslingens befassen. Der Bogen kann – Möglichkeit zur Vorstellung des abgeschlosse- hier zeitlich und thematisch weit gespannt werden. nen Forschungsprojekts beziehungsweise der So sind sowohl stadtarchäologische, architektur- Publikation, begleitet durch die ZukunftsStif- historische, kunsthistorische, gartenhistorische, tung, das Kulturamt und das Landesamt für kirchliche, städtebauliche, konservatorische oder Denkmalpflege Baden-Württemberg. denkmaltheoretische Untersuchungen möglich, die sich auf Einzelobjekte oder Objektgruppen be- Das Landesamt für Denkmalpflege bietet Unter- ziehen können. stützung auf technischer Ebene, zum Beispiel bei Zur Bewerbung um das Hochwacht-Stipendium der Feldforschung, der Erhebung von Daten usw. aufgefordert ist der wissenschaftliche Nachwuchs (Vermessung, Fotografie, digitale Techniken) und

230 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 bei der Publikation von Beiträgen des/ der Stipen- Führung mit einem diaten/ in sowie zur Durchführung von Vorträgen Sieder durch die Stadt. oder Kolloquien. Grundlage der Bewerbung ist ein entsprechendes Forschungsprojekt über ein Thema in Esslingen. Für die Bewerbung steht ein Antragsformular zur Verfügung, das auf der Internetseite der Zu- kunftsStiftung Heinz Weiler oder beim Landesamt für Denkmalpflege heruntergeladen werden kann: www.zukunftsstiftung.de/ stipendium.html www.denkmalpflege-bw.de/ service/ stellenaus schreibungen Das ausgefüllte Formblatt ist zusammen mit einer Projektskizze, einer Kurzbiografie, gegebenenfalls einer Publikationsliste und bei Studienarbeiten mit dem gutachterlichen Begleitschreiben der Betreu- erin/ des Betreuers zu senden an hochwacht@ess lingen.de Gärten das Mottothema. Orgelmusik rundet das Auskünfte erteilen der Leiter des Kulturamts der Programm ab. Im Anschluss an den Festakt lädt Stadt Esslingen: [email protected] Oberbürgermeister Pelgrim zum Empfang ins Rat- und die Geschäftsstelle der ZukunftsStiftung Heinz haus ein. Weiler: [email protected] Ab 17 Uhr haben Sie dann bei der Nacht des of- fenen Denkmals Gelegenheit, den Blick hinter die Tag des offenen Denkmals 2017 Türen sonst verschlossener Denkmale zu werfen. In der ehemals freien Reichsstadt ist das Thema Eröffnung und Nacht des offenen Denkmals „Macht und Pracht“ allgegenwärtig. Durch die Sa- 9. September 2017 line zu Reichtum gelangt, führten Wohlstand und Schwäbisch Hall, St. Michael und Altstadt Selbstbewusstsein zu allen Zeiten zu einer mehr oder weniger umfangreichen Bautätigkeit. Neben Zum Auftakt des diesjährigen Tags des offenen mittelalterlichen Steinhäusern demonstrieren bis Denkmals mit dem Thema „Macht und Pracht“ heute insbesondere die Bauten des 16. Jahrhun- lädt die Landesdenkmalpflege am 9. September derts sowie die nach dem Stadtbrand von 1728 2017 in die Stadt Schwäbisch Hall ein. Um 14 Uhr wiederaufgebauten Gebäude den Repräsentations- beginnt in St. Michael die Eröffnungsfeier mit willen ihrer Bauherren. Ansprachen des Landesbischofs der evangelischen Tauchen Sie an diesem Abend ein in die farbig illu - Landeskirche Württemberg Dr. H.c. July und der minierte historische Altstadt und entdecken Sie ne- Ministerin Dr. Hoffmeister-Kraut (MdL) vom Minis- ben prachtvollen Kirchen, Gasthäusern und Ver- terium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau, waltungsbauten zahlreiche üppig ausgestattete in denen auch dem 500-jährigen Reformations - Bürgerhäuser. Macht und Stärke manifestieren Die zum Hotel 21 umge- jubiläum gedacht wird. Im Festvortrag „Macht und sich aber auch in den Stadtbefestigungen und dem nutzte Villa Weilertor ist Pracht – Werte und Werke im Dialog“ beleuchtet inzwischen zum Kulturhaus umgenutzten ehema- bei der Nacht des offenen Prof. Dr. Helmut-Eberhard Paulus, ehemaliger ligen Gefängnis mit noch erlebbaren Zellentrakten. Denkmals geöffnet (Trep- Direktor der Stiftung Thüringer Schlösser und Insgesamt umfasst das Programm über 110 An- penhaus).

An diesem Abend wird die Altstadt vom Kocher aus farbig angestrahlt.

231 Haalamt, das ehemalige Haalgerichtshaus der Sie- der, ist geöffnet. Ein Sieder in historischer Tracht führt bei einem Stadtrundgang in Tradition und Brauchtum der Sieder ein. Auch beim Stationen - theater der Laien-Schauspielgruppe Haalunkel un- ter Begleitung der Musikgruppe Haalgschrey er- wacht das Alltagsleben im mittelalterlichen Hall wieder zum Leben. Haalplatz und Marktplatz sind die beiden Zentren des Abends, dort wie auch an der Johanniterkirche und im Sudhaus gibt es zusätzlich zum umfang- reichen Programm Bewirtung. Am Marktplatz wer- den am Infostand der Denkmalpflege ab 16 Uhr Ti- ckets für die Führungen ausgegeben. Bitte be- achten Sie, dass für zahlreiche Angebote vorab ein Ticket abgeholt werden muss. Hier erhalten Sie auch die Programmübersicht des Abends. Bei Einbruch der Dunkelheit wird die Stadtsilhou- ette vom Kocher aus in farbiges Licht getaucht. Die Ratsbibliothek der gebote, darunter offene Häuser, Führungen, Vor- Wir wünschen allen Besuchern einen spannenden Reichsstadt Schwäbisch träge, Ausstellungen, Schauspiel, künstlerische Ak- Abend mit viel Freude. Hall ist eine der wenigen tionen, Musik und Fotopoints. An mehreren Orten Nicht nur in Schwäbisch Hall, sondern in ganz Ba- erhaltenen Bibliotheken informieren Restauratoren und Architekten in den-Württemberg öffnen am darauf folgenden dieser Art in Südwest- Werkberichten über Sanierungsmaßnahmen. Ein Sonntag, 10. September, anlässlich des bundes- deutschland und bei der Highlight stellen die Dachstuhlführungen im Neu- weiten Tags des offenen Denkmals besondere Ob- Nacht des offenen Denk- bau, St. Michael und St. Katharina dar. Künstleri- jekte ihre sonst verschlossenen Türen. Interessierte mals geöffnet. sche Kreativität entfaltet sich an diesem Abend im finden das Angebot auf der Internetseite der Deut- Atelierhaus Hirtenscheuer sowie in einer Galerie schen Stiftung Denkmalschutz: www.tag-des- und einer Druckwerkstatt in der Oberen Herrn- offenen-denkmals.de/ programm. gasse. Speziell für Kinder gibt es eine Aktion im Das Angebot der Landesdenkmalpflege liegt als Hällisch-Fränkischen Museum sowie eine Famili- Flyer dieser Ausgabe des Nachrichtenblatts bei. enführung durch die Stadt. Zweites Thema des Abends ist das 500-jährige Re- Vortrag „Sechs Höhlen, zwei Täler, formationsjubiläum mit der Neueröffnung eines ein Welterbe – Höhlen und Eiszeitkunst“ Ausstellungsbereichs im Hällisch-Fränkischen Mu- seum, Vorträgen im Brenzhaus und einer Führung 7. November 2017, 18 Uhr in St. Michael. Wer Kostümierungen mag, folgt Regierungspräsidium Tübingen, Margarethe Brenz auf einem Rundgang ins Schwä- Konrad-Adenauer-Str. 20, 72072 Tübingen bisch Hall der Reformationszeit. Einen weiteren Schwerpunkt stemmen die Sieder. In Höhlen der Schwäbischen Alb wurden die ältes - Beim Schausieden auf dem Haalplatz wird in ei- ten figürlichen Kunstobjekte und Musikinstrumen - ner nachgebauten Siedepfanne Salz gesiedet. Das te der Menschheit entdeckt. Im Juli wurden die

Ansicht des Neubausaals sowie der alten Stadt - befestigung.

232 sechs Höhlenfundstellen und die sie umgebende Landschaft aufgrund ihrer einzigartigen Funde in die Liste der UNESCO-Welterbestätten eingetra- gen. Conny Meister vom Landesamt für Denkmal - pflege, gemeinsam mit Stephan Heidenreich Be- arbeiter des Welterbeantrags, präsentiert in die- sem Vortrag unter anderem die wenige Zentimeter großen Elfenbeinschnitzereien, die Menschen und Tiere der Eiszeit sowie Mischwesen darstellen. Auch die aus den Höhlen stammenden Schmuck- gegenstände wie Elfenbeinperlen und durchlochte Tierzahnanhänger werden thematisiert. Die ältes- ten Musikinstrumente der Welt liegen in Form von Flöten aus Vogelknochen und Mammutelfenbein vor. Die Objekte sind etwa 40000 Jahre alt und wurden in den Fundstellen Geißenklösterle, Hohle Fels und Sirgenstein im Achtal sowie Vogelherd, Hohlenstein-Stadel und Bocksteinhöhle im Lone- tal entdeckt. Die sechs Höhlen liegen allesamt im Lone- und Achtal und stellen aufgrund ihrer singulären Kon- zentration von altsteinzeitlichen Fundplätzen Am zweiten Tag sind die Fenster das zentrale Der Hohle Fels im Achtal außergewöhnliche Fundlandschaften eiszeitlicher Thema der Tagung. Das theologische Programm mit der dort gefundenen Jäger und Sammler dar. Die Region war nachweis - und die Bau- und Nutzungsgeschichte der Kirche, Venus im Vordergrund. lich ein zentrales Siedlungsareal der frühesten mo- die unmittelbar mit der Entstehung der Reforma- dernen Menschen in Europa. torenfenster zusammenhängt, werden erläutert. Neben Hintergrund und Bedeutung der Objekte Drei weitere Vorträge widmen sich dem denkmal- werden beim Vortrag die Höhlen und die Land- pflegerischen Umgang mit den Ravensburger Fens- schaft beleuchtet, darüber hinaus zeichnet Conny tern. Neben der Qualität des Bestands geht es da- Meister den Weg von der Nominierung bis hin zur bei auch um restauratorische Fragestellungen, die Welterbeeinschreibung nach. anhand der durchgeführten Musterrestaurierung Die Veranstaltung ist eine Kooperation der Deut- vorgestellt werden. Abgerundet wird der The- schen Stiftung Denkmalschutz, des Regierungs- menblock mit einem Bericht über das studentische präsidiums Tübingen und des Landesamts für Projekt zur Erfassung der im 20. Jahrhundert aus- Denkmalpflege. gebauten Mittermaier-Scheiben. Der letzte Teil des Weitere Informationen: www.iceageart.de Kolloquiums verlässt Ravensburg und thematisiert zum einen das Gesamtwerk Ludwig Mittermaiers. Kolloquium „Die Reformatoren- Zum anderen soll anhand eines Überblicks zur Glas- fenster von Ludwig Mittermaier malerei des 19. Jahrhunderts dargelegt werden, in der Evangelischen Stadtkirche in dass neben der Mittermaier-Werkstatt zahlreiche Ravensburg“ weitere Firmen in Baden-Württemberg qualitativ hochwertige Verglasungen schufen. Während des 23. bis 24. November 2017 in Ravensburg Kolloquiums gibt es die Möglichkeit, die Ausstel- Schwörsaal im Waaghaus lung zu besichtigen. Marienplatz 28, 88212 Ravensburg Kolloquium und Ausstellung sind Teil eines seit 2016 am Landesamt für Denkmalpflege laufenden Zum Abschluss der Ausstellung „gemalt und ins Projekts, das sich intensiv mit den Fenstern aus- Glas geschmolzen“ (s. Hinweis bei Ausstellungs- einandersetzt. Das Projekt wird gefördert von der ankündigungen) veranstaltet das Landesamt für Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Denkmalpflege vom 23. bis 24. November 2017 in Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Ravensburg ein Kolloquium zu den Ravensburger Bundestags, vom Ministerium für Wirtschaft, Ar- Reformatorenfenstern. beit und Wohnungsbau – Oberste Denkmal- Nach einer Einführung in die regionale Geschichte schutzbehörde und von der Evangelischen Stadt- der Reformation und der Luther-Rezeption im kirche Ravensburg. Weiterführende Informationen 19. Jahrhundert widmet sich der Abendvortrag der zu Programm und Anmeldung finden Sie in Kürze vielfältigen Denkmallandschaft, die bis heute von auf der Website des Landesamts für Denkmal- den Auswirkungen dieses Umbruchs im 16. Jahr- pflege Baden-Württemberg (www.denkmalpflege- hundert zeugt. bw.de).

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 233 dem Besucher Einblick in die Entstehung der Ver- Ausstellungen glasung und die Arbeitsweise einer Glasmalerei- werkstatt um 1860. Weitere Teile der Ausstellung „gemalt und ins glas geschmolzen“ ordnen die Reformatorenfenster in die Bauge- schichte der Kirche ein und erläutern den Umgang 21. Oktober bis 24. November 2017 mit den vorhandenen Glasmalereien im Laufe ihres Evangelische Stadtkirche Ravensburg über 150-jährigen Bestehens. Einige ausgewählte Marienplatz 5, 88212 Ravensburg und ausgebaute Felder eröffnen dem Betrachter täglich 9–17 Uhr. Eintritt kostenfrei in seltener Nahansicht Details in den Darstellungen und ihre malerische Umsetzung durch die Werk- In Ravensburg hat sich ein deutschlandweit ein- statt Ludwig Mittermaiers. zigartiger Fensterzyklus in der Evangelischen Stadt- Seit 2016 wird die Evangelische Stadtkirche in Ra- kirche erhalten. Im Auftrag der Kirchengemeinde vensburg saniert. Die Maßnahmen haben zur entstanden 1861 in der Werkstatt von Ludwig Mit- Folge, dass man sich intensiv mit dem vorhande- termaier aus Lauingen sieben großformatige Fens- nen und ganz unterschiedlich erhaltenen Fenster- ter mit den Darstellungen wichtiger Vertreter der bestand befassen muss. Vor diesem Hintergrund Reformation. Sie bilden das Herzstück der Aus- kann das Landesamt für Denkmalpflege ein Pro- stellung „gemalt und ins glas geschmolzen“. Die jekt durchführen, das sich gründlich mit den Fens- Entwürfe zu den vier Reformatoren Johannes tern auseinandersetzt, und dessen Ergebnisse in Brenz, Martin Luther, Philipp Melanchthon und Ul- der Ausstellung der Öffentlichkeit vorstellen. Wei- rich Zwingli wurden von Gustav König aus Mün- tere Informationen zum Projekt und Kolloquium chen gezeichnet. Die Vorlagen für die weltlichen finden Sie in vorangehender Mitteilung. Herrscher König Gustav II. Adolf von Schweden, Kurfürst Friedrich III. von Sachsen, genannt Fried- Versorgt fürs Jenseits? rich der Weise, und Herzog Christoph von Würt- Neue Grabfunde aus Baden temberg stammen dagegen von Carl Christian Andreae aus Dresden. Als Teil der ehemals voll- 15. September 2017 bis 22. April 2018 ständigen Neuverglasung der Kirche zeugen die Archäologisches Museum Colombischlössle Fenster bis heute vom protestantischen Selbstver- Rotteckring 5, 79098 Freiburg ständnis im 19. Jahrhundert. Di–So 10–17 Uhr Die Ausstellung befindet sich in den beiden Ka- pellen, die sich an das südliche Seitenschiff der Unter dem Titel „Vorgesorgt fürs Jenseits“ prä- Evangelischen Kirche anschließen. Neben den ein- sentiert das Archäologische Museum Colom- gebauten Fenstern sind die original erhaltenen Ent- bischlössle in Freiburg ab Mitte September Objekte wurfskartons sowie zahlreiche Exponate aus dem aus aktuellen Grabungen der Landesdenkmal- Nachlass Mittermaiers zu sehen und gestatten pflege, die den Wandel der Bestattungsformen von der Steinzeit bis zur römischen Kaiserzeit auf- zeigen. Zum Teil einzigartige Grabfunde aus En- dingen am Kaiserstuhl, Ettenheim, Bad Krozingen, Wyhl und Diersheim heben hierbei die Bedeutung des Oberrheingebiets hervor. Was erzählen Grab- bräuche und -beigaben über die verstorbenen Menschen und ihre Angehörigen damals – und auch heute? Die Inszenierung mit herausragenden Exponaten veranschaulicht neueste Ergebnisse der archäologischen Denkmalpflege in Baden-Würt- temberg und ergänzt die Ausstellungen der Städ- tischen Museen Freiburg zum Thema „Tod“.

Wanderausstellung „Archäologie – Landwirtschaft und Forstwirtschaft“

30. August bis 10. September 2017 Gartenschau in Bad Herrenalb Pavillon Treffpunkt Baden-Württemberg

In Bad Herrenalb findet dieses Jahr die kleine Gar- tenschau in Baden-Württemberg statt. Vom 30. Au-

234 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 Zwei Rückepferde ziehen kleinere Baumstämme im Bereich einer keltischen Viereckschanze denkmal- schonend aus dem Wald.

gust bis 10. September zeigt das Landesamt für Im Jahr 1951 geboren in Soest (Westfalen), wid- Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart mete sich Herr Goer dem Studium der Kunstge- dort die Wanderausstellung „Archäologie – Land- schichte, der Empirischen Kulturwissenschaft und wirtschaft – Forstwirtschaft. Wege zur integrativen der Allgemeinen Rhetorik in Münster und Tübin- Nutzung von Bodendenkmalen in der Kulturland- gen. Der Abschluss erfolgte 1980 mit einer kunst- schaft“. Zu sehen ist sie im Pavillon „Treffpunkt Ba- historisch-kulturwissenschaftlichen Dissertation den-Württemberg“ in der Kurpromenade im Kur- über illustrierte Flugblätter im Dreißigjährigen park. Krieg. Seit 1981 war Herr Goer in der Denkmal- Zahlreiche archäologische Denkmale sind in stark pflege tätig, zunächst am Landesdenkmalamt Ba- frequentierten und landwirtschaftlich intensiv ge- den-Württemberg. Dort begann er als wissen- nutzten Gebieten unserer Kulturlandschaft zu fin- schaftlicher Angestellter im Referat Inventarisation, den. Da die konventionelle Bewirtschaftung von wo er für die Erfassung der Kulturdenkmale im Bo- Denkmalflächen die archäologische Substanz stark denseekreis zuständig war. Sieben Jahre später beeinträchtigen kann, kommen der Land- und übernahm er die Leitung der Listeninventarisation Forstwirtschaft wichtige Schlüsselrollen bei der Er- im Regierungsbezirk Stuttgart, die er bis 1995 in- haltung unseres archäologischen Erbes zu. Eine res- nehatte. Von Anfang an hat er die Arbeit als In- sortübergreifende Arbeitsgemeinschaft verschie- ventarisator nicht als reine Forschungstätigkeit be- dener Fachbereiche der Landesverwaltung hat sich griffen, sondern die Aufgabe der Denkmalpflege des Themas angenommen und eine Wanderaus- auch darin gesehen, das Denkmalwissen weiter- stellung konzipiert. Sie führt in die Thematik ein zugeben sowie innerhalb und außerhalb des Amts und stellt die erarbeiteten Schutzstrategien an- anschaulich zu vermitteln. Beste Gelegenheit dazu hand archäologischer Fallbeispiele aus Baden- hatte er ab 1990 als Lehrbeauftragter und seit Württemberg vor. 2005 als Honorarprofessor am Institut für Kunst- geschichte der Universität Stuttgart und außerhalb der akademischen Zirkel im Vorstand des interna- Personalia tionalen „Arbeitskreises für Hausforschung“. Der aufklärerischen Devise, dass Vermitteln ein Prof. Dr. Michael Goer in den Ruhestand zentraler Auftrag der Denkmalpflege ist, blieb er verabschiedet auch treu, als er 1995 in die praktische Denkmal- pflege wechselte. Hier wirkte er als Gebietsreferent Am 30. April verabschiedete sich Landeskonser- für den Hohelohekreis und den Kreis Esslingen vator Prof. Dr. Michael Goer, Referatsleiter der direkt mit bei der Konzeptfindung der Bau- und Bau- und Kunstdenkmalpflege, nach 36 Jahren im Kunstdenkmalpflege in enger Zusammenarbeit Dienst der Landesdenkmalpflege in den Ruhe- mit Eigentümern, Bauherren und Investoren. Die stand. Im Rahmen eines internen Fachkolloquiums von ihm zuvor erarbeiteten gattungsspezifischen im Landesamt für Denkmalpflege in Esslingen am Kriterien bei der Bewertung von Kulturdenkma- Neckar dankte Prof. Dr. Claus Wolf im Beisein von len konnte er so unmittelbar zur Anwendung brin- namhaften Gästen und langjährigen Wegbeglei- gen. Neben den lokalen und regionalen Pflich- tern dem scheidenden Landeskonservator für ten eines Gebietsreferenten hatte er seitdem auch seine engagierte Arbeit: „Als auf Konsens be- „besondere und überregionale Aufgaben“. Hierzu dachter Denkmalpfleger hat Michael Goer auch in gehörte beispielsweise die Begleitung des Pro- ausweglos scheinenden Situationen für alle Par- gramms zum bilateralen Kulturaustausch zwi- teien gangbare Lösungen gefunden“, betonte schen Baden-Württemberg und Ungarn in den Herr Wolf. 1990er Jahren und perspektivisch sicherlich auch

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 235 wissen, seine Erfahrung, aber auch sein Sinn für praktische Umsetzungsmöglichkeiten und seine Begabung für Vermittlung zum Erhalt einer Viel- zahl von Kulturdenkmalen im Land beigetragen haben. Die den Westfalen gerne attestierte „Dick- schädeligkeit“ hat der gebürtige Soester dabei nur dann eingesetzt, wenn der Weg des Konsens’ endgültig versperrt war. Dies war im Laufe von 36 Dienstjahren immer wieder nötig, aber meis- tens ließ sich auch dann noch eine einvernehm - liche Lösung finden. Herausragende Beispiele für diesen im besten Sinne des Wortes positiven Prag- matismus sind zum Beispiel die Klosteranlagen in Fachbereichsleiter die spätere Aufnahme von drei baden-württem- Blaubeuren und Salem oder auch die „Baumgarten- Dr. Volkmar Eidloth über- bergischen Baudenkmalen auf die UNESCO-Welt- mensa“ in Tübingen. reicht dem bekennenden erbeliste: Klosterinsel Reichenau (seit 2000), Klos- Gerade diese Konsensfähigkeit auch bei schwieri- BVB-Fan Prof. Dr. Michael ter Maulbronn (seit 2003) und das Architektoni- gen Projekten ist bei den Partnerinnen und Part- Goer anlässlich seines sche Werk von Le Corbusier (seit 2016). nern der Denkmalpflege sehr geschätzt worden, Ruhestands eine Garnitur Ende 2000 übernahm er die Leitung des Referats was Vertreter der Kirchen und der Staatlichen Ver- passender Bettwäsche. Bau- und Kunstdenkmalpflege im Regierungsbe- mögens- und Hochbauverwaltung Baden-Würt- zirk Tübingen und leitete die Tübinger Außenstelle temberg wiederholt bestätigt haben. des Landesdenkmalamts. Auch hier verstand er Nach der Aufspaltung des ehemaligen Landesdenk - sich als fachlicher wie methodisch unterstützender malamts auf verschiedene Regierungspräsidien im Vermittler und Begleiter seiner Mitarbeiterinnen Januar 2005 konnte er Ende 2014 die Zusammen - und Mitarbeiter. Bereits drei Jahre später wurde führung der Landesdenkmalpflege in einem Lan- er dann als Nachfolger von Franz Meckes Leiter der desamt (als Abteilung 8 des Regierungspräsidiums Abteilung Bau- und Kunstdenkmalpflege, die er Stuttgart) als späte Genugtuung empfinden, wo- bis zu seinem Ruhestand, seit der Reform der Struk- mit sich dann auch sein persönlicher beruflicher turreform Ende 2014 im „neuen“ Landesamt für Werdegang vollendete. Denkmalpflege innehatte. Er trat damals vor etwas Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Landes- mehr als 16 Jahren mit dem Ziel an, inhaltliche und amts für Denkmalpflege und der Abteilungspräsi- strukturelle Schwerpunkte für die Bau- und Kunst- dent danken Herrn Goer sehr für seinen Einsatz, denkmalpflege zu setzen. Dies ist ihm mit dem seine Unterstützung und seinen Rat während die- Ausbau des Förderwesens hervorragend gelungen. ser langen Zeit und wünschen ihm für seinen Ruhe - Hier zeigt sich deutlich, wie sein profundes Fach- stand alles Gute.

Abbildungsnachweis D. W. Schmidt; S208o SLUB Dresden / Deutsche Fotothek / Peter, Richardsen.; U1, U2ol RPS-LAD, M. Steffen; S161 Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und S208u Thomas Steg; S210m Uhrenfabrik Junghans, Schramberg; S210u ZKM Wohnungsbau des Landes Baden-Württemberg; S162o RPS-LAD, Th. Beutels- | Karlsruhe, Volker Naumann; S211o RPS-LAD, IGM; S211u SLUB Dresden / pacher; S162u RPS-LAD, Y. Mühleis; Universität Tübingen, E. Dutkiewicz / Deutsche Fotothek / Stoedtner, Franz; S212ol Robert Bosch GmbH Histori- H. Jensen/ J. Lipták; Zusammenstellung: RPS-LAD, S. M. Heidenreich; S163 sche Kommunikation (C/CCH); S212or Steffen Vogt für wulf architekten; RPS-LAD, S.M. Heidenreich / C. Meister; S164o, S166 RPS-LAD, Chr. Stef- S212u Stadtarchiv Karlsruhe 8/PBS oXIVe 192; S213o HS Pforzheim, Harald fen; S164u RPS-LAD, O. Braasch; S167, S168o RPS-LAD, M. Steffen; S168u, Koch; S213u RPS-LAD, Lea Reiff; S214 Joshua Buchenau; S215 Thorbecke / S169 RPS-LAD, M. Steffen / Chr. Steffen; S170o, S171, S173–174o, S175, Fraunhofer IRB Verlag; S216ol, S222 RPS-LAD, Jochen Ansel; S216or, S219u S176ul Landesmedienzentrum Baden-Württemberg; S170u, S176ur Mar- fokus GmbH Leipzig; S216u, S220m–220u, S221ul RPS-LAD, Dörthe Jakobs; kus Schwerer; S172 Günther Bayerl; S174u–175o Rose Hajdu; S176o Staat- S217 ISCR, Angelo Rafaelo Rubino; S218o ISCR Antonio Guglielmi; S218u liche Schlösser und Gärten Baden-Württemberg, Werner Hiller-König; S177, RPS-LAD, Felix Pilz; S219o fokus GmbH Leipzig u. RPS-LAD; S220ol Digital S182ur Heinz Scheiffele/WMF Group; S178 Foto: H. Zwietasch (MK 23410 Humanities Lab, Basel, Peter Fornaro; S220or BioPhil Stefanie Scheerer; u. MK 18493)/ Foto: A. Wiedemann (MK 24865 u. MK 23411); S179o, S183 S221o MPA Manuela Reichert; S221ur MPA Harald Garrecht; S223 Minis- RPS-LAD, Widmaier; S179u Stadtarchiv Karlsruhe; S180–181o RPS-LAD, terium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau des Landes Baden-Würt- Hajdu; S181u RPS-LAD, Hausner; S182o RPS-LAD, Aufn.-Datum: 1965; temberg, Martin Lorenz; S224o Fabrikfoto ME / DGEG-Archiv; S224u, S225u S182ul Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Sammlung Holder; S184, Markus Numberger, Esslingen; S225o, S226 Öchsle Schmalspurbahn e.V.; S186–189 RPS-LAD, Andreas Dubslaff; S185o RPS-LAD, Dieter Büchner; S227 RPS-LAD, BH; S228 Historischer Verein Memmingen; S229 Paul Schürrle S185u Bayerisches Hauptstaatsarchiv – Geheimes Hausarchiv, Hs. 317; GmbH &Co.KG, Leinfelden-Echterdingen; S230 Stadt Esslingen a.N., Foto- S190o, S192or–192u, S194u RPS-LAD, Claudia Mohn; S190u Hans Dietl; lia; S231o, S231m Touristik und Marketing Schwäbisch Hall, Ufuk Arslan; S191o, S193–194o, S195 RPS-LAD, Martin Hahn; S191u Landesarchiv Ba- S231u Touristik und Marketing Schwäbisch Hall, Airlight; S232o Touristik und den-Württemberg, Abt. Hauptstaatsarchiv Stuttgart; S192ol RPS-LAD, Volk- Marketing Schwäbisch Hall, Jean-Claude Winkler; S232u Touristik und Mar- mar Eidloth; S196 Museen Konstanz, Rosgartenmuseum (fol025l); S197 keting Schwäbisch Hall, Achim Mende; S233 RPS-LAD, Hannah Parow-Sou- E. Stephan auf Basis der Daten von R.-J. Prilloff 2000; S198o E. Stephan; chon u. Hilde Jensen; S234o RPS-LAD; S234u Archäologisches Museum S198u Zeichnung nach Ingrid Ulbricht, Die Verarbeitung von Knochen, Ge- Colombischlössle, Freiburg; S235 RPS-LAD, I. Kretschmer; S236 RPS-LAD, weih und Horn im mittelalterlichen Schleswig. Ausgrabungen in Schleswig Andreas Dubslaff. 3. Neumünster 1984, S. 8; S199 Manuela Schreiner, ALM; S200ol Museen Konstanz, Rosgartenmuseum (fol024r); S200or Museen Konstanz, Ros - RPS-LAD = Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart; gartenmuseum (fol025l); S200u Museen Konstanz, Rosgartenmuseum OB = Otto Braasch; KF = Karl Fisch; IGM = Iris Geiger-Messner; BH = Bernd (fol070r); S201 Museen Konstanz, Rosgartenmuseum (fol025r); S203, S204u Hausner; YM = Yvonne Mühleis; FP = Felix Pilz; ALM = Archäolo gisches Lan- RPS-LAD, U. Plate; S204o Moderne Bauformen XXVIII, 1929; S205o, S206, desmuseum Baden-Württemberg, Konstanz; LGL = Landesamt für Geo - S207or Baurechtsamt; S205u Privatarchiv Esther Walther, Zürich; S207ol information und Landentwicklung Baden-Württemberg.

236 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 | 2017 M ain 1 Ach- und Lonetal, Höhlen und Eiszeitkunst der Schwäbischen Alb hein R als UNESCO-Welterbe, S.162 Tauberbischofsheim Tauber 2 Bebenhausen, Maulbronn, Alpirsbach, Orte der Reformation, Mannheim Neckar S.170 3 Heiddelelbberergg 3 Heidelberg, Kornmarktmadonna, Kocher Ja S.184 KARLS RUHE gst Heilbronn 4 Konstanz, Speiseplan während Schwäbisch Hall des Konstanzer Konzils, S.196

5 Stuttgart, „Klein Palästina“ der Karlsruhe jüdischen Architekten Bloch & 2 Maulbronn S TUTTGART Guggenheimer, S.203 Pforzheim SStutttuttggartart Aalen 5 6 Reichenau, Wandmalereien Baden-Baden Esslingen in der Kirche St. Georg, S.215 Rhein Neckar 7 Ochsenhausen, Restaurierung der Lonetal 1 Öchsle-Schmalspurbahn, S.223 Bebenhausen 2 Tübingen Donau Offenburg Alpirsbach 2 Ulm 8 Laufenburg, Sanierung des Achtal 1 Rappensteinportals, S.227

FREIBURG TÜBINGEN

Sigmaringen Biberach Bibera7 ch Ochsenhausen

Tuttlingen Freiburg Donau Iller Ravensburg Reichenau 6 Laufenburg 4 Lörrach Bodensee 8 KonstanzKonstanz

Rhein

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3/2017 46. Jahrgang

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