BRGÖ 2016 Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs

Alfred WALDSTÄTTEN, Die Wiener Gerichtsorganisation und die Organisation der Zivilgerichtsbarkeit seit 1848/50

The Organisation of Courts in and the Civil Courts System since 1848/50 The present organisation of courts with its main characteristics was created, based on earlier structures, in the years 1848 to 1854. Since then, many things have changed. It was not until 1898 that a new, modern civil procedure code was enacted together with additional, modern accompanying legislation. Keywords: civil justice law – organization of justice – Vienna courts

Der Zeitraum von 1848 bis 1851 chische Appellationsgericht als Gericht zweiter Instanz (auch für Oberösterreich und Salzburg Eine der Folgen der Revolution des Jahres 1848 zuständig), und weiters eine bunte Landschaft war die Notwendigkeit der durchgehenden an Gerichten erster Instanz: Hervorzuheben sind Verstaatlichung der Gerichtsbarkeit in erster das Nö. Landrecht, ein reines Zivilgericht (vor Instanz (die bislang nur zum Teil durch staatli- allem der Personalgerichtsstand3 des Adels, aber che Gerichte besorgt worden war) und in Ver- auch mit weiteren Kompetenzen), dann das (mit bindung damit die Schaffung einer neuen Ge- dem Nö. Landrecht verknüpfte) Merkantil- und richtsorganisation.1 Wechselgericht; der Magistrat der Stadt Wien Am Vorabend der Revolution gab es in Wien die mit dem politisch-ökonomischen Senat,4 dem Oberste Justizstelle (als Oberstes Gericht und Zivilsenat (1841: Zivilgericht), und dem Krimi- oberste Administrativbehörde in Justizsachen), nalsenat (1841: Kriminalgericht), beide Letztere sodann, ihr nachgeordnet,2 das Niederösterrei- jeweils unter der Leitung eines Vizebürgermeis- ters. Ergänzend gab es im politisch- 1 Der Blickwinkel dieses Aufsatzes liegt auf Wien ökonomischen Senat eine Senatsabteilung für einerseits im heutigen, andererseits im früher jeweils die Schweren Polizeiübertretungen.5 Schließlich aktuellen Umfang, wobei es zum Verständnis der Organisationsvorschriften mitunter auch geboten erscheint, die Betrachtung auf ganz Niederösterreich 3 Der Personalgerichtsstand ist ein Vorläufer dessen, auszudehnen. Die damals und seither getroffenen was wir heute als allgemeinen Gerichtsstand bezeich- Maßnahmen sind, insbesondere was die zahlreichen nen (Gegensatz: insbesondere der Realgerichtsstand). Änderungen anlangt, komplex und vielschichtig, 4 Das ist der Magistrat im heutigen (engeren) Sinn. sodass in diesem Aufsatz auf deren Details und Hin- 5 Das Strafgesetzbuch (StB) 1803 behandelte in seinem tergründe nicht näher eingegangen werden kann. I. Teil die Verbrechen (samt Prozessrecht) und in Diese möge der geneigte Leser dem Werk des Verfas- seinem II. die Schweren Polizeiübertretungen (das sers „Staatliche Gerichte in Wien seit Maria Theresia“ sind in gewissem Sinne die Vorläufer der heutigen (m.w.N.) entnehmen – dessen erster Teil bezieht sich Vergehen), ebenfalls samt dem Prozessrecht – das war auf die Zeit bis 1848, der zweite auf die Zeit danach. eine Art „gerichtliches Verwaltungsstrafrecht“ mit 2 Eine Struktur, die vor allem durch die Josefinischen dem Rechtszug an die politischen (= Verwaltungs-) Justizreformen geschaffen wurde. Behörden.

http://dx.doi.org/10.1553/BRGOE2016-2s397 398 Alfred WALDSTÄTTEN gab es zahlreiche Patrimonialgerichte (Gerichte Polizeiübertretungen“ (StG 1803) wurden in der Grundherrschaften) unterschiedlicher Grö- Vergehen einerseits (das waren die schwereren ße.6 Delikte) und Übertretungen andererseits (das Noch im Frühjahr 1848 wurde die Oberste Jus- waren die minderen Delikte) unterteilt. Die Be- tizstelle in den Obersten Gerichtshof und das zirkskollegialgerichte waren zuständig als Er- Justizministerium aufgespalten.7 kenntnisgerichte für Vergehen und als Untersu- Die eingehenden weiteren Planungen brachten chungsgerichte für Verbrechen (überdies hatten für Niederösterreich (samt Wien) folgende neue die Landesgerichte für einen engeren Sprengel Gerichtsorganisation:8 auch die Funktion eines Bezirkskollegialgerich- tes); die Übertretungen gehörten vor die Be- Das Nö. Appellationsgericht wurde in zwei zirksgerichte schlechthin. Die Landesgerichte Oberlandesgerichte geteilt: Eines für Niederös- (als solche) waren (insbesondere) zuständig als terreich (in Wien), das andere für Oberösterreich Erkenntnisgerichte für Verbrechen. und Salzburg in Linz.9 In Wien (im damaligen Umfang) wurden acht Weiters wurden vier Landesgerichte errichtet: In Bezirksgerichte entsprechend den (nach Einge- Wien (auch für den Sprengel des BG Tulln und meindung der so genannten Vorstädte) damals den größten Teil des Weinviertels, einen Ge- vorgesehenen acht Stadtbezirken errichtet (der richtshof in Korneuburg gab es damals noch spätere Bezirk Margareten war noch Teil von nicht), Krems, St. Pölten und Wiener Neustadt, ).10 Das BG hatte wegen dazu ein Handelsgericht für den Sprengel des seiner Bedeutung drei Sektionen, wobei die drit- Landesgerichtes Wien (ansonsten waren die te als Landtafel- und (für das Gebiet aller acht Handelssenate der Landesgerichte zuständig). Wiener BGe) Grundbuchsamt fungierte.11 Von Schließlich wurden (außerhalb von Wien) den weiteren Bezirksgerichten in Niederöster- 73 Bezirksgerichte errichtet, davon waren elf reich hatten nur drei ihren Sitz im heutigen „Bezirkskollegialgerichte“, die übrigen 62 (dazu kamen acht weitere in Wien) „einfache“ Be- zirksgerichte (Einzelrichter). Die „Schweren

6 Außer Betracht bleiben hier das Obersthofmar- 10 Mehrfach liest man, dass Wien damals „bis zum schallamt, die Militärgerichte (sie übten eine vollstän- “ (der ungefähr dort verlief, wo später die dige Gerichtsbarkeit aus, in Zivilsachen bis 1869, in Gürtelstraße errichtet wurde) ausgeweitet wurde. Das Strafsachen bis 1920), die Gefällsgerichte (in gewissen trifft nur für den Bereich nördlich von Gaudenzdorf Steuerangelegenheiten), sowie die Gerichtsbarkeit des zu. Südlich davon reichte die neue (sehr unregelmä- Öffentlichen Rechts (insbesondere Reichsgericht / ßig verlaufende) Stadtgrenze bis zum St. Marxer Verfassungsgerichtshof, Verwaltungsgerichtshof, Friedhof zum Teil weit über den Linienwall hinaus, Bundesgerichtshof). was von geringer praktischer Bedeutung war, weil 7 „Vorschrift“ des Justizministers vom 15. 5. 1848; das dieses Gebiet weitgehend unbebaut war. Zum unge- in der Justizgesetzsammlung (JGS), Nr. 1176, abge- fähren Verlauf siehe WALDSTÄTTEN, Gerichte, 89f., druckte Justizhofdekret vom 31. 8. 1848 war bloß eine insb. Anm. 323. Der 1874 neu gebildete Stadtbezirk (neu datierte) nachträgliche Bekanntmachung. Zur (damals viel kleiner als heute) wurde ohne Entstehungsgeschichte siehe WALDSTÄTTEN, Gerichte, Stadterweiterung auf Stadtgebiet errichtet. Der Bezirk 78, Anm. 279, unter Hinweis auf Josef KASERER, Margareten wurde erst 1861/62 gebildet, die neue Handbuch der Österreichischen Justizverwaltung, Bezirkseinteilung wurde 1862 effektiv. 1. Bd., 20. 11 Die beiden anderen Sektionen waren jeweils für 8 RGBl. 288/1849; zum Werdegang siehe ausführlich einen bestimmten Teil der Inneren Stadt zuständig. bei KOHL, Gerichtsorganisation. Beschreibung der Sprengel der Wiener BGe: 9 RGBl. 289/1849. nö. LGBl. 77/1849. Die Wiener Gerichtsorganisation und die Organisation der Zivilgerichtsbarkeit seit 1848/50 399

Stadtgebiet, nämlich , Sechshaus und Ergänzend erging eine Notariatsordnung;23 ein .12 Grundbuchsgesetz wurde zwar angekündigt, In Niederösterreich wurden (außerhalb der kam aber erst 1871 zustande. Stadt Wien) 17 Bezirkshauptmannschaften er- richtet.13 Parallel zu diesen Organisierungsarbeiten wur- Der Zeitraum von 1852 bis 1867 de gleichsam ein ganzes Paket an neuen Nor- Mit den beiden kaiserlichen Patenten vom men geschaffen: Die materiellen Teile des 31. Dezember 1851,24 bekannt als „Silvesterpa- StG 1803 wurden etwas modifiziert,14 die pro- tente“, erfolgte auch formell der Übergang zum zessualen Teile wurden durch eine neue (libera- Neoabsolutismus. Mit kaiserlichem Kabinett- le) Strafprozessordnung ersetzt,15 es wurden schreiben vom selben Tag25 wurden die Grund- eine neue Jurisdiktionsnorm,16 ein Außerstreit- sätze für die Neuordnung des Reiches bekannt gesetz17 und ein Organisches Gesetz über die gegeben. Soweit hier von Bedeutung, waren u.a. Gerichtsstellen18 geschaffen. Die Allgemeine zwei Gesichtspunkte besonders erheblich: Die gerichtsordnung (AGO) war weiterhin anzu- neue Organisation hatte billiger zu sein und vor wenden. allem waren außerhalb der Städte mit Gerichts- Das neue Oberlandesgericht in Wien wurde höfen Bezirksämter zu errichten, die für Admi- 19 zum 1. Mai 1850 aktiviert, der Beginn der nistrativ-, Justiz- und Fiskalangelegenheiten Wirksamkeit der übrigen neuen Gerichtsbehör- zuständig sein sollten (so genannte „gemischte den (einschließlich der Staatsanwaltschaften) für Bezirksämter“).26 Niederösterreich (samt Wien) erfolgte mit dem Umgehend wurden die Geschworenengerichts- 1. Juli 1850.20 Die Umsetzung erfolgte sichtlich barkeit und die Generalprokuratur beim Obers- klaglos. ten Gerichtshof aufgehoben.27 Mit 1. September Mit Patent vom 7. August 1850 wurde das Statut 1852 trat ein neues StG in Kraft, das, wenngleich des Obersten Gerichts- und Kassationshofes vielfach novelliert, bis Ende 1974 galt.28 erlassen.21 Das oberste Gericht war nun für das gesamte Gebiet der Monarchie, auch für Un- garn, zuständig; der bisher bestandene lom- 23 RGBl. 366/1850. bardo-venetianische Senat wurde aufgehoben.22 24 RGBl. 2 und 3/1852. 25 RGBl. 4/1852. 12 Wobei das heutige Stadtgebiet auch zu den Spren- 26 Das ist eine verkürzte Darstellung. Siehe näher geln anderer Bezirksgerichte gehörte. Siehe den Plan insbesondere bei KOHL, Gerichtsorganisation, m.w.N. in OPLL, Karten, Tafel 48, wiedergegeben auch in Motiv für die Vereinigung der Geschäfte bei einer WALDSTÄTTEN, Gerichte, 428 und 429. (einzigen) Behörde sollen Klagen der Bevölkerung 13 Nö. LGBl. 353/1849. über zu große Sprengel bzw. leichtere Erreichbarkeit 14 U.a. RGBl. 24/1850. der Behörden gewesen sein (Ebd. 41). Die Wünsche 15 RGBl. 25/1850. waren wohl nicht unberechtigt, bedenkt man, dass an 16 RGBl. 237/1850. die Stelle der sehr zahlreichen Patrimonialbehörden 17 RGBl. 255/1850. viel weniger staatliche Behörden getreten waren; dem 18 RGBl. 258/1850. Grundsatz der Trennung von Justiz und Verwaltung 19 RGBl. 138/1850. kam damals gegenüber solchen praktischen Überle- 20 RGBl. 234/1850. gungen sichtlich kein relevanter Stellenwert zu. 21 RGBl. 325/1850. 27 RGBl. 5, 24/1852. 22 Bildung eines Aushilfssenates beim OGH für die 28 RGBl. 117/1852; das war eine ergänzte, aber auch ungarischen Angelegenheiten: Wiener Zeitung 24. 12. überarbeitete und auch neu gefasste Ausgabe der 1850, 3912. materiellen Teile des StG 1803. Begleitend dazu die

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Die Schaffung einer neuen Gerichtsorganisation gab es nicht mehr.35 Die Bezirkshauptmann- nahm einige Zeit in Anspruch, wobei auch neue schaften wurden aufgelöst (im Prinzip entspra- Gesetze ausgearbeitet wurden (die erst mit der chen die Sprengel der Bezirksämter mit gewis- Wirksamkeit der neuen Gerichtsorganisation in sen Abweichungen jenen der bisherigen Be- Kraft traten), so die Zivil-Jurisdiktionsnorm,29 zirksgerichte). eine Strafprozessordnung,30 wie auch ein Außer- d) An den Orten der Gerichtshöfe erster Instanz streitgesetz (es galt, ebenfalls vielfach novelliert, städtisch-delegierte Bezirksgerichte. Das waren bis Ende 2004).31 keine selbständigen Bezirksgerichte mehr, son- Nach der neuen Organisation32 waren für Nie- dern gewissermaßen Exposituren der Gerichts- derösterreich (samt Wien) vorgesehen: höfe.36 Sie waren (weiterhin) in Zivil- wie auch a) Ein Oberlandesgericht, nun wieder zuständig in Strafsachen zuständig, hatten aber geringere auch für Oberösterreich und Salzburg. Kompetenzen als die Bezirksämter,37 insbeson- b) Sechs Gerichtshöfe erster Instanz, nämlich das dere kam die Grundbuchsführung dem Ge- 38 Landesgericht sowie das Handelsgericht in richtshof zu (bis 1940 ). Wien (für den Sprengel des LG), dann Kreisge- Was Wien anlangt, wurden die bisherigen acht richte33 in Korneuburg (womit der Sprengel des Bezirksgerichte in städtisch-delegierte Bezirks- LG Wien und des HG Wien nicht mehr in das gerichte umgewandelt (die dritte Sektion des Weinviertel reichte),34 Krems, St. Pölten und BG Innere Stadt, das Landtafel- und Grund- Wiener Neustadt. buchsamt, kam zum Landesgericht selbst). c) Außerhalb der Orte der Gerichtshöfe erster Das neu gebildete Oberlandesgericht wurde mit Instanz „gemischte Bezirksämter“, von denen 31. August 1854 aktiviert,39 die übrigen Ge- manche als Untersuchungsgerichte bestimmt richtsbehörden und Bezirksämter mit waren – die früheren Bezirkskollegialgerichte 30. September 1854, zugleich hatten die ver- schiedenen Vorschriften, die auf die neue Orga- nisation abstellten, in Kraft zu treten40. Diese Organisation blieb nun längere Zeit Verordnung RGBl. 118/1852 zur Anpassung der Zu- stabil.41 ständigkeiten. Das Landesgericht in Wien war (weiterhin) ein 29 RGBl. 251/1852. 42 30 RGBl. 151/1853; sie war nicht liberal wie ihre Vor- einheitliches Gericht. 1859 wurde erwogen, es gängerin ex 1850, sondern brachte wiederum den Inquisitionsprozess in veränderter Form. 31 RGBl. 208/1854. 35 Als Erkenntnisgerichte hinsichtlich der Vergehen 32 RGBl. 249/1853. hatten die Gerichtshöfe erster Instanz einzuschreiten. 33 Wohl aus der Überlegung, dass bei den Kreisgerich- 36 Sie hatten kein eigenes Personal, es gehörte zum ten (typologisch) weniger wichtige Sachen anfielen als Gerichtshof – ein Zustand, der bei den Richtern bis beim Landesgericht, waren die Richter der KGe zum Richterdienstgesetz 1962 andauerte. An den schlechter besoldet als jene des LG. Das KG hatte Orten der Kreisgerichte wurden demnach „politische auch keinen Präsidenten, sondern einen Präses – Bezirksämter“ errichtet; Wien behielt seine Sonder- Angleichung erst 1869, RGBl. 48. stellung. 34 Südlich der Donau umfasste der Sprengel des LG 37 Siehe dazu näher KOHL, Gerichtsorganisation, ins- Wien nicht mehr jenen des Bezirksamtes (BA) Tulln, besondere 108. wohl aber weiterhin jene der BAe Bruck an der Lei- 38 dRGBl. I 301. tha, Hainburg, Schwechat, Mödling, Hietzing, Sechs- 39 RGBl. 206/1854. haus, Hernals, Purkersdorf und Klosterneuburg. Die 40 RGBl. 216, 218/1854. Ausweitung des LG-Sprengels auf Gebiete nördlich 41 Im Kern haben wir heute noch die (wenngleich der Donau erfolgte erst zu Beginn des 20. Jhdts. vielfach geänderte) Gerichtsorganisation 1854. Die Wiener Gerichtsorganisation und die Organisation der Zivilgerichtsbarkeit seit 1848/50 401 wegen seiner Größe in ein LG für Zivil- und traten, soweit hier erheblich, in Niederösterreich eines für Strafsachen zu teilen. Das erfolgte zwar an die Stelle der gemischten Bezirksämter Be- nicht, doch wurde dem Leiter der strafgerichtli- zirksgerichte und 18 Bezirkshauptmannschaf- chen Abteilung hinsichtlich seines Bereiches ein ten.47 Die städtisch-delegierten Bezirksgerichte gewisses Maß an Selbständigkeit eingeräumt.43 blieben bestehen. Der für die Monarchie unglücklich verlaufene 1871 wurde ein Grundbuchsgesetz erlassen;48 Krieg 1859 brachte allmählich die Rückkehr zum die weiteren Gesetze zur Anlage der Grundbü- Konstitutionalismus. Aufgrund des Oktoberdip- cher ergingen in der Folge, für Niederösterreich lomes vom 20. Oktober 1860 erlangte, soweit (samt Wien) 1874.49 hier erheblich, Ungarn wieder seine frühere „Dauerthemen“ der damaligen Jahre waren die relative Selbständigkeit, was zur Folge hatte, Schaffung einer modernen Strafprozessordnung dass der Wirkungsbereich des Justizministeri- wie auch einer modernen Zivilprozessordnung ums wie auch des Obersten Gerichtshofes ent- (an Stelle der Allgemeinen Gerichtsordnung). sprechend eingeschränkt wurde.44 Ersteres gelang: Die neue StPO trat am 1. Jänner 1863 wurden das Allgemeine Handelsgesetz- 1874 in Kraft.50 Zweiteres gelang vorerst nicht; buch (AHGB) in Kraft gesetzt45 und ein neues allerdings ergingen das Gesetz über das Mahn- Handelsregister eingeführt.46 verfahren51 und das Gesetz über das Bagatellver- Der ebenfalls verlorene Krieg 1866 brachte die fahren,52 das in gewissen geringfügigen Streitsa- Dezemberverfassung 1867. chen ein vereinfachtes Verfahren (nach moder- nen Grundsätzen) vor den Bezirksgerichten brachte (und dem entsprechend auch die Errich- Der Zeitraum von 1868 bis 1918 tung des Bagatellgerichtes für Handelssachen in Wien53). Die neuen staatsrechtlichen Verhältnisse brach- Das Anwachsen der Bevölkerung in Wien und ten (abermals und endgültig) die Trennung von in den Vororten hatte naturgemäß auch eine Justiz und Verwaltung: Mit 31. August 1868 starke Steigerung der Arbeit bei den Gerichten zur Folge. Das führte zum Entschluss, überlaste- 42 Es war aber von Anfang an (Juli 1850) disloziert: te Bezirksgerichte zu teilen.54 Vom BG Hernals Das Präsidium und die Zivilabteilung befanden sich in einem heute nicht mehr bestehenden Gebäude am Minoritenplatz (sie übersiedelten sodann 1881 in den 47 RGBl. 44, 101, 117/1868. Justizpalast), die Strafabteilung im „Grauen Haus“. Es 48 RGBl. 95/1871. gab einen Präsidenten und 1850 drei „Senatspräsiden- 49 RGBl. 88/1874; die Durchführung der Anlage der ten“, ab der Reform 1854 drei Vizepräsidenten. Der neuen Grundbücher (das sind diejenigen, die durch Präsident (mit einem Vizepräsidenten) leitete das das EDV-Grundbuch abgelöst wurden) nahm Jahre in gesamte Gericht und die Zivilabteilung, ein Vizeprä- Anspruch und war in Wien im ersten Quartal 1885, sident – wohl der rangälteste – (mit dem weiteren) die im übrigen Niederösterreich im Jahr 1890 beendet Strafabteilung; dieser erhielt 1873 den Titel „Zweiter (Justizamtsblatt 1885, 110; 1890, 46). Präsident“ (der Präsident des LG den Titel „Erster 50 RGBl. 119/1873; damit wurde auch die Generalpro- Präsident“). kuratur beim Obersten Gerichtshof wieder errichtet. 43 In diesem Sinne später und mit anderem Wortlaut Diese StPO gilt, oftmals auch wesentlich geändert für andere Landesgerichte Justizamtsblatt 10/1905. und wiederverlautbart, noch heute. 44 Siehe RGBl. 225, 226/1860 und die in der Wiener 51 RGBl. 66/1873. Zeitung vom 21. 10. 1860 wiedergegebenen kaiserli- 52 RGBl. 67/1873. chen Handschreiben. 53 RGBl. 101/1873. 45 RGBl. 1/1863. 54 Zu große Einheiten waren nach den damaligen 46 RGBl. 27/1863. Auffassungen unerwünscht, zumal es auch Probleme

402 Alfred WALDSTÄTTEN wurden die BGe und Währing abge- 1. Jänner 1880 die Strafsachen vom spalten55 (aktiviert mit 18. Juni 1877 bzw. BG Josefstadt68 und mit 1. Mai 1881 vom 15. Jänner 187756). Das BG Wieden wurde geteilt BG Innere Stadt.69 und es wurden die BGe Margareten und Favori- Anfang der 1890er-Jahre wurde Wien durch die ten errichtet57 (Aktivierung beider Gerichte per Eingemeindung der Vororte wesentlich erwei- 1. November 188258).59 Ebenfalls geteilt wurde tert und zählte nun 19 Bezirke (alle südlich der das BG Sechshaus,60 es entstanden die Donau).70 Dazu wurde die Wiener Gerichtsor- BGe Fünfhaus (per 1. Juni 188861) und Unter- ganisation den neuen Gegebenheiten angepasst (später: Meidling; aktiviert mit (per 1. April 189271): Die einbezogenen Bezirks- 1. Jänner 188562). Es folgten die Teilung des gerichte und das neu errichtete BG BG Innere Stadt63 in Innere Stadt I (das ist das wurden zu städtisch-delegierten Bezirksgerich- „alte“) und II (das ist das „neue“, aktiviert mit ten (Untermeidling wurde in Meidling, Sechs- 1. Jänner 189064), sodann 1890 die Teilung des haus in Rudolfsheim umbenannt), hatten aber BG Leopoldstadt65 in I (das ist das (ebenso wie das BG Favoriten) die Gerichtsbar- „alte“) und II (das ist das „neue“, ohne Strafsa- keit für die außerhalb des Standortes eines Ge- chen; aktiviert zum 1. August 189166). richtshofes geltenden Bestimmungen auszu- Sozusagen parallel dazu setzte die Entwicklung üben. Dazu kam es zu Anpassungen der Spren- ein, bezirksgerichtliche Strafsachen sukzessive gel entsprechend der neuen Bezirkseinteilung. bei bestimmten Bezirksgerichten zu konzentrie- Im zeitlichen Zusammenhang mit der Stadter- ren.67 Das BG übernahm mit weiterung wurde das BG Döbling errichtet (ab- getrennt vom BG Währing, per 1. Jänner 189472). mit der Unterbringung gab. Überhaupt war Raumnot Nach jahrelangen Vorarbeiten trat mit 1. Jänner oft ein Grund für Organisationsänderungen. Nach der 1898 die große Reform der Zivilverfahrensgeset- damaligen Gesetzestechnik wurde das neue Gericht ze (samt weiteren Normen) in Kraft:73 Die Zivil- zunächst durch Verordnung (grundsätzlich) errichtet prozessordnung (ZPO), Jurisdiktionsnorm (JN), und sodann mit weiterer Verordnung aktiviert. Oben werden die Daten der Aktivierung genannt. Exekutionsordnung (EO), dann auch ein neues 55 RGBl. 24, 25/1876. Gerichtsorganisationsgesetz (GOG) und eine 56 RGBl. 24, 130/1876. neue Geschäftsordnung (Geo). 57 RGBl. 13/1882. Auf die Wiener Gerichtsorganisation selbst hatte 58 RGBl. 63/1882. 74 59 Das BG Favoriten war zunächst nur in Zivilsachen die Reform relativ geringe Auswirkungen. Das zuständig, ab 1891 (RGBl. 60) auch in Strafsachen (Grundbuchsführung ab 1893 – zuvor beim Landes- 68 RGBl. 115/1879. gericht). 69 RGBl. 2/1881. 60 RGBl. 176/1882. 70 Nö. LGBl. 45/1890, die Umsetzung dauerte aber bis 61 RGBl. 25/1888. 1892. S. näher WALDSTÄTTEN, Gerichte, 183f, m.w.N. 62 RGBl. 164/1884. Der 20. Bezirk entstand (durch Teilung des 2.) erst 63 RGBl. 132/1889. 1900 (nö. LGBl. 17). 64 RGBl. 154/1889. 71 RGBl. 36/1892. 65 RGBl. 192/1890. 72 RGBl. 154/1893. 66 RGBl. 75/1891. 73 Gesetze RGBl. 110–113/1895, RGBl. 78, 79, 217/1896, 67 Das hatte vor allem praktische Gründe, wie insbe- RGBl. 112/1897. sondere Raumnot, und dauerte Jahrzehnte. Abschluss 74 Wohl aber gab es einen vermehrten Personal- wie der Entwicklung waren die Strafabteilungen des auch Raumbedarf (Verhandlungssäle), was auch zu Amtsgerichtes Wien, aus denen 1945 das StrafBG Übersiedlungen führte. S. ebenfalls WALDSTÄTTEN, Wien entstand. Das BG Alsergrund hatte seinen Sitz Gerichte, 190–193. Die Frage des vermehrten Perso- im „Grauen Haus“. nalbedarfes wäre näher zu untersuchen: Das Verfah-

Die Wiener Gerichtsorganisation und die Organisation der Zivilgerichtsbarkeit seit 1848/50 403

Landesgericht Wien blieb ein einheitliches Ge- Mit 1. Jänner 1904 wurde das (noch nicht in richt, die beiden Abteilungen erhielten aber die Wien gelegene) BG aktiviert.80 Bezeichnung Landesgericht in (nicht: für) Zivil- 1905 wurden größere Gebiete auf der linken rechtssachen und Landesgericht in Strafsachen, Donauseite als 21. Bezirk eingemeindet, 1910 die Leiter den Titel „Präsident“ (des ...). Der dann noch der restliche Teil der Ortsgemeinde Unterschied zwischen den städtisch-delegierten Strebersdorf.81 Diese Gebiete bildeten den und den übrigen Bezirksgerichten wurde Sprengel des BG .82 75 (grundsätzlich) beseitigt, die Bezeichnung Seit 1850/54 galt der Grundsatz (mit Ausnah- „städtisch-delegiert“ verschwand. Neu errichtet men), dass das Bezirksgericht durch einen Ein- wurde das Exekutionsgericht Wien (formell als zelrichter, der Gerichtshof erster Instanz in Zi- 76 Expositur des BG Innere Stadt II ); vereinigt vilsachen durch einen Dreiersenat, das Oberlan- wurden die BGe und (zum desgericht durch einen Fünfer- und der Oberste BG Neubau), dann die BGe und Gerichtshof durch einen Siebenersenat entschie- Alsergrund, Letztere aber zugleich in die den. 1907 wurde dies insofern geändert, als nun BGe Josefstadt in Zivilsachen und Josefstadt in der Oberste Gerichtshof grundsätzlich in Fün- 77 Strafsachen geteilt. fersenaten und das Oberlandesgericht in be- Zum 1. Jänner 1898 wurden übrigens auch die stimmten Fällen in Dreiersenaten zu entscheiden noch heute gebräuchlichen Talare eingeführt hatte (später wurde beim Oberlandesgericht der (samt Baretten: „Amtskleid“)78 – zuvor wurde in Dreiersenat die Regel).83 Uniform verhandelt (es gab eine eigene Uniform Noch vor Beginn des Ersten Weltkrieges kam es für die Beamten, zu denen auch die Richter und beim Gerichtshof erster Instanz zum Beginn des Staatsanwälte zählten). Einzelrichterverfahrens in Zivilsachen.84 Mit 1. Juli 1898 wurde in Wien das Gewerbege- 1908 übersiedelten die beiden Bezirksgerichte 79 richt (Vorläufer des Arbeitsgerichtes) errichtet. Innere Stadt in den neu errichteten ersten Bau- teil des Gerichtsgebäudes Riemergasse und ren nach der Allgemeinen Gerichtsordnung war zwar wurden dort vereinigt.85 Mit 1. Jänner 1913 wur- im Wesentlichen schriftlich, doch erfolgten auch da- den die BGe Wieden und Margareten zum mals die Einvernahmen zu Beweiszwecken mündlich. BG Margareten (mit Sitz im Gerichtsgebäude Und das nimmt heutzutage im Zivilprozess erster Mittersteig, dessen zweiter Bauteil fertig gestellt Instanz die allermeiste Zeit in Anspruch. 86 75 Wenngleich weiterhin die Landes- und Kreisgerich- worden war) vereinigt. Der Neubau des Ge- te für ihren engeren Sprengel die Grundbücher zu richtstraktes des BG Leopoldstadt I (Schiffamts- führen hatten. 76 RGBl. 157/1897. 77 RGBl. 282/1897; dem BG Josefstadt in Strafsachen, den Schiedsgerichten der Sozialversicherungen s. zuständig für die Bezirke 1, 8 und 9, wurde mit 1. 5. WALDSTÄTTEN, Gerichte, 193f. 1899 auch die Strafgerichtsbarkeit für den 16. Bezirk 80 RGBl 220/1903; errichtet RGBl. 187/1901. übertragen – RGBl. 235/1898 (es gab auch spätere 81 Nö. LGBl. 1/1905, 170/1910. Änderungen). Dieses Gericht ist der Vorläufer des 82 RGBl. 208–210/1905; das BG Floridsdorf war 1895/96 StrafBG. im Sprengel des KG Korneuburg errichtet worden: 78 RGBl. 187/1897. RGBl. 160/1895, 138/1896, und kam nun zum Sprengel 79 RGBl. 58/1898; das Gesetz RGBl. 63/1869 hatte die der Wiener Gerichtshöfe erster Instanz. Möglichkeit zur Errichtung von Gewerbegerichten 83 RGBl. 41/1907. geschaffen, das waren aber keine staatlichen, sondern 84 RGBl. 118/1914. reine Laiengerichte. Die „neuen“ Gewerbegerichte auf 85 RGBl. 43/1908; dorthin übersiedelten auch das Exe- Grundlage des Gesetzes RGBl. 218/1896 waren staatli- kutionsgericht und die Auktionshalle. che Gerichte. 1946: „Arbeitsgerichte“ (BGBl. 170). Zu 86 RGBl. 206/1912.

404 Alfred WALDSTÄTTEN gasse / Donaustraße) wurde 1915 abgeschlossen; gel.94 Das BG Josefstadt in Strafsachen (dessen beide BG Leopoldstadt wurden dort zum Zuständigkeiten ausgeweitet wurden) wurde in 1. August 1915 unter der Bezeichnung „Strafbezirksgericht I in Wien“ umbenannt (weil BG Leopoldstadt vereinigt.87 es dem LGSt I unterstand95), das BG Josefstadt in Zivilsachen noch 1921 in (nur) BG Josefstadt. Mit 15. Oktober 1920 wurde in Wien ein eigenes Die Erste Republik Jugendgericht als selbständiges Bezirksgericht (1918–1938) geschaffen.96 Seine Zuständigkeiten wurden 1923/1925 erweitert,97 mit 1. Jänner 1929 ent- Noch 1918 wurde beim Gerichtshof (unter be- stand daraus der Jugendgerichtshof.98 stimmten Voraussetzungen) das als befristetes Die Eingliederung des Burgenlandes in die Re- Provisorium gedachte Einzelrichterverfahren in publik Österreich war für die Wiener Gerichts- Strafsachen („Vereinfachtes Verfahren“) einge- organisation insofern von Belang, als das Gebiet führt,88 sodann 1920 die Schöffengerichtsbar- den Wiener Gerichtshöfen (nicht auch dem keit.89 LGSt I, sondern nur dem LGSt II) unterstellt Das Jahr 1920 brachte auch die Aufhebung der wurde.99 Militärgerichtsbarkeit per 1. Oktober 1920.90 In der Zwischenkriegszeit kam es (vorwiegend Damit stand der („zivilen“) Justizverwaltung aus Ersparungsgründen) zur Vereinigung eini- das große Militärgerichtsgebäude am Hernalser ger Wiener Bezirksgerichte: Favoriten und Sim- Gürtel zur Verfügung. Das (bislang einheitliche) mering zum BG Favoriten mit 1. Oktober 1920;100 Landesgericht Wien wurde zum 1. Oktober 1920 Rudolfsheim und Fünfhaus mit 15. Oktober 1922 in drei selbständige Gerichtshöfe geteilt:91 In das zum BG Fünfhaus;101 Ottakring und Hernals mit Landesgericht für (nicht mehr: „in“) Zivilrechts- 20. September 1924 zum BG Hernals;102 Währing sachen (ZRS), das Landesgericht für Strafsa- und Döbling mit 16. November 1925 zum chen I (LGSt I) mit Sitz im „Grauen Haus“ und BG Döbling.103 Im Herbst 1931 war der 1927 das Landesgericht für Strafsachen II (LGSt II) ausgebrannte Justizpalast soweit wieder herge- mit Sitz im ehemaligen Militärgerichtsgebäude stellt, dass er bezogen werden konnte. Es wur- am Hernalser Gürtel.92 Der Sprengel des LGSt I den dort die BGe Innere Stadt und Neubau un- umfasste die bevölkerungsreicheren Wiener Bezirksgerichts-Sprengel, der des LGSt II die übrigen und jene der außerhalb von Wien gele-

93 genen. 1921 gab es eine Anpassung der Spren- 94 BGBl. 310/1921. 95 BGBl. 311/1921. 96 StGBl. 439/1920 auf Grundlage des Gesetzes 87 RGBl. 194/1915. StGBl. 46/1919. 88 StGBl. 93/1918; bis 1926; abermals eingeführt mit 97 BGBl. 119/1923, 24/1925. der Novelle BGBl. I 82/1934. 98 BGBl. 234/1928. 89 StGBl. 279/1920. 99 BGBl 476/1921, 18/1922; das Landesgericht Öden- 90 StGBl. 321/1920. burg konnte ja nicht errichtet werden. Der „Schatten- 91 StGBl. 402/1920. dorfer Prozess“ (1927) fand somit vor dem LGSt II 92 Das Gebäude wird demnach im Volksmund immer statt, allerdings im großen Schwurgerichtssaal des noch das „Zweier-Landl“ genannt. LGSt I (weil das LGSt II keinen so großen Saal hatte). 93 Gemäß der Größe der Gebäude und der Kapazität 100 StGBl. 429/1920. der Gefangenenhäuser war das Verhältnis etwa 2 : 1 101 BGBl. 665/1922. (LG I zu LG II). Die Sprengeleinteilung änderte sich in 102 BGBl. 334/1924. der Folge etwas. 103 Justizamtsblatt Nr. 32. Die Wiener Gerichtsorganisation und die Organisation der Zivilgerichtsbarkeit seit 1848/50 405 tergebracht und Letzteres per 1. Jänner 1932 mit 24 (Mödling), 25 (Liesing) und 26 (Kloster- dem BG Innere Stadt vereinigt.104 neuburg).111 1926 wurde ein neues Gerichtsorgan geschaffen: Größere Änderungen gab es im Jahr 1939: Der Rechtspfleger;105 die Einrichtung bewährte Das Reichsjustizministerium, Abteilung Öster- sich und der Wirkungskreis wurde erstmals reich, wurde mit Ende Februar aufgelöst; ein 1929106 und sodann in weiterer Folge mehrfach Teil des Personals kam nach Berlin, Personal ausgeweitet.107 und Möbel wurden aber auch verwendet, um das neue Oberlandesgericht Linz zu errichten (mit 1. März 1939).112 Die NS-Zeit (1938–1945) Mit dem 1. April 1939 wurden der Oberste Ge- richtshof und die Generalprokuratur aufgeho- Der „Anschluss“ hatte auf die Wiener Gerichts- ben und deren Agenden grundsätzlich dem organisation keine unmittelbaren Auswirkun- Reichsgericht und der Reichsanwaltschaft über- gen,108 sieht man davon ab, dass das Justizminis- tragen.113 terium in Wien nun sozusagen als „Filialbetrieb“ geführt wurde: Reichsjustizministerium, Abtei- Mit 1. Mai 1939 wurden die fünf Wiener Ge- lung Österreich. richtshöfe zum Landgericht Wien vereinigt, weiters wurde das Amtsgericht (AG) Innere Im August 1938 wurden die reichsdeutschen Stadt in AG Wien umbenannt114 und es über- Bezeichnungen „Amtsgericht“ bzw. „Landge- nahm die Agenden des StrafAG I und des Exe- richt“ eingeführt.109 Mit 15. Oktober 1938 wurde kutionsgerichtes; das AG für Handelssachen Wien wesentlich erweitert und in 26 Bezirke wurde aufgelöst.115 eingeteilt.110 „Neu“ waren die Bezirke 22 (Groß- Enzersdorf, auch unter Einbeziehung von Teilen Zum 1. Jänner 1940 wurden in Wien die des bisherigen 21. Bezirkes), 23 (Schwechat), AGe Leopoldstadt, Landstraße, Margareten und Josefstadt mit dem AG Wien, sowie das AG Meidling mit dem AG Fünfhaus vereinigt,116 auch wurden die Zuständigkeiten des AG Wien 104 Justizamtsblatt 1932, Nr. 2. 105 BGBl. 76/1926; das sind nichtrichterliche Beamte, denen bestimmte Angelegenheiten der Gerichtsbar- 111 Auch ansonsten kam es bei den Bezirken zu keit zur selbständigen Besorgung übertragen werden Grenzänderungen. Besonders ist hervorzuheben, dass können. die bisherigen Bezirke 14 (Rudolfsheim) und 106 BGBl. 222, 412/1929. 15 (Fünfhaus) zum neuen 15. Bezirk vereinigt und der 107 1944: Allgemeine Verfügung vom 19. September, bisherige 13. Bezirk in die neuen Bezirke 13 (Hietzing) Deutsche Justiz 249 (organisationsnormen, die wir und 14 () geteilt wurde. nach heutigem Verständnis als Gesetz oder Verord- 112 dRGBl. I 166/1939; GBlÖ. 198/1939. nung im Reichsgesetzblatt suchen würden, ergingen 113 dRGBl. I 358, 448/1939; GBlÖ. 307, 353/1939; beim auch mit „Allgemeinen Verfügungen“ [AV], die in Reichsgericht wurden zwei Senate gebildet, die mit der amtlichen Zeitschrift [mit Amtsblattteil] „Deut- österreichischen Agenden betraut waren. In Öster- sche Justiz“ [DJ] veröffentlicht wurden); sodann reich wurden den Oberlandesgerichten gewisse dritt- BGBl. 196/1947; BGBl. 182, 184/1950; 1962 wurde mit instanzliche Agenden (bei Rekursen) übertragen. Art. 87a B-VG eine verfassungsrechtliche Grundlage 114 Die Bezeichnung „Amtsgericht Wien“ ist missver- geschaffen (BGBl. 162), dazu erging das Rechtspfle- ständlich, weil es ja nur für einen Teil von Wien zu- gergesetz, BGBl. 180/1962, abgelöst durch das Rechts- ständig war. Es war im Februar 1939 vom Justizpalast pflegergesetz BGBl. 560/1985. in das Gerichtsgebäude Riemergasse übersiedelt. 108 Wohl aber personelle. 115 dRGBl. I 751/1939 = GBlÖ. 522/1939, abgeändert 109 dRGBl. I 998/1938, GBlÖ. 350/1938. durch die AV DJ 699. 110 VOBl. Wien 23. 116 dRGBl. I 2439/1940. 406 Alfred WALDSTÄTTEN erweitert.117 Hervorzuheben ist, dass mit 1. März setzlichen Grundlagen wurden zum Teil erst 1940 die Zuständigkeit zur Führung der Grund- „nachgeschoben“,121 so insbesondere das Ge- bücher, soweit die Landgerichte zuständig ge- richtsorganisationsgesetz 1945,122 das Behörden- wesen waren, auf die Amtsgerichte am Sitz des überleitungsgesetz,123 die Verordnungen über Gerichtshofes überging (in Wien auf das die Zuständigkeiten der Bezirksgerichte und der AG Wien).118 In der Folge gab es weitere auch Gerichtshöfe erster Instanz in Wien.124 Die Zivil- kriegsbedingte Änderungen, die kaum nachhal- gerichte nahmen ihre judizielle Tätigkeit erst im tig waren.119 Zuge des Sommers 1945 auf.125 Mit 1. Jänner 1955 wurden aus dem BG Innere Stadt Wien das BG für Handelssachen und das Die Zweite Republik (seit 1945) Exekutionsgericht (wieder-)errichtet.126 Es folgte nun hinsichtlich der Wiener Gerichts- Anders als im November 1918 musste im April organisation eine längere Phase der Stabilität. 1945 die Justiz in Wien geradezu bei „null“ be- Wenngleich nicht unmittelbar für die Gerichts- ginnen: Gebäude waren zerstört oder beschä- organisation, so doch aus praktischer Sicht be- digt, der Gerichtsbetrieb war eingestellt, es sonders relevant waren in der Folge die allmäh- mangelte an Personal, das Justizressort war neu liche Einführung der EDV im Gerichtsbetrieb zu errichten und es waren die Einrichtungen des und die Umstellung des Grundbuches auf Deutschen Reiches geordnet überzuleiten. Noch EDV,127 dann die Umstellung des Handelsregis- Ende April 1945 wurde das Landgericht Wien ters auf das Firmenbuch.128 wieder in – diesmal aber nur vier – selbständige Gerichtshöfe „zerlegt“, nämlich in das Landes- Auf Gerichtshofebene kam es mit 1. Jänner 1987 gericht für Zivilrechtssachen, das Handelsge- zur Errichtung des Arbeits- und Sozialgerichtes richt, das Landesgericht für Strafsachen und den (für den Umfang des Sprengels des Landesge- 129 Jugendgerichthof (es gibt seither, anders als von richtes für ZRS Wien). 1993 erhielten auch die 1920 bis 1938/39, nur ein Landesgericht für bisherigen Kreisgerichte die Bezeichnung „Lan- 130 Strafsachen und nicht deren zwei). Die Gerichte desgericht“, weiters wurden mit 1. Jänner 1997 erhielten wieder ihre früheren Bezeichnungen; die „Niederösterreichischen Umland-Bezirks- aus dem BG Innere Stadt (AG Wien) wurde das gerichte Wiens“ (Purkersdorf, Bruck an der Strafbezirksgericht ausgeschieden, das mit dem Leitha , Groß-Enzersdorf, Hainburg, Kloster- Landesgericht für Strafsachen am 18. Juni 1945 seinen Betrieb aufnahm.120 Vieles geschah da- 121 Die Anfangsphase ist durch viel Improvisation mals zunächst eher „auf kurzem Weg“, die ge- gekennzeichnet. 122 StGBl. 47/1945. 123 StGBl. 94/1945. 117 Weiters Anpassungen der AG-Sprengel in Wien; 124 StGBl. 122, 203/1945. von den Burgenländischen Amtsgerichten verblieb 125 Es herrschte „Stillstand der Rechtspflege“, die BGe nur Neusiedl bei Wien, die übrigen kamen zum entfalteten allenfalls eine beratende Tätigkeit oder LG Wr. Neustadt bzw. zum LG Graz. Überdies erfolg- auch in Außerstreit- und Grundbuchssachen. ten mit der AV DJ 1899 u.a. Ausweitungen der Zu- 126 BGBl. 200/1954. ständigkeiten des AG Wien. 127 BGBl. 550/1980. 118 dRGBl I 301/1940; das Grundbuchs- und Landtafel- 128 BGBl. 10/1991. amt des LG Wien wurde demnach dem AG Wien 129 BGBl. 104/1985; das Arbeits- und Sozialgericht trat angegliedert, verblieb aber bis 1987 im Justizpalast. an die Stelle des Arbeitsgerichtes und der Schiedsge- 119 Siehe bei WALDSTÄTTEN, Gerichte, insbesondere richte der Sozialversicherung, soweit sie für den 273–279. Sprengel des LG für ZRS zuständig waren. 120 Siehe WALDSTÄTTEN, Gerichte, 296–302, m.w.N. 130 BGBl. 91/1993. Die Wiener Gerichtsorganisation und die Organisation der Zivilgerichtsbarkeit seit 1848/50 407 neuburg und Schwechat sowie Mödling) den und dessen Agenden dem BG Hietzing sowie niederösterreichischen Landesgerichten St. Pölten, dem BG für Handelssachen Wien zugewiesen Korneuburg und Wr. Neustadt zugewiesen, werden, was aber durch das Gesetz BGBl. I womit die Zuständigkeit der Gerichtshöfe erster 28/2016 i.V.m. der Bezirksgerichte-Verordnung Instanz in Wien auf das Stadtgebiet beschränkt Niederösterreich 2016 sozusagen „abgeblasen“ wurde. Schließlich wurde der Jugendgerichtshof wurde.139 mit Ende Juni 2003 aufgelöst, seine Agenden gingen teils auf das Landesgericht für Strafsa- chen und teils auf die Wiener Bezirksgerichte über.131 Auf bezirksgerichtlicher Ebene setzte in den 1980er-Jahren eine Entwicklung mit dem Ziel ein, „Vollgerichte“ unter Auflassung von Spezi- albezirksgerichten (nämlich des StrafBG und des Exekutionsgerichtes) zu schaffen (das BG für Handelssachen blieb davon ausgenommen).132 Dazu erging das Bezirksgerichtsorganisations- gesetz für Wien,133 mit dem auch das neue BG zum 1. Jänner 1985 errichtet wurde. Die weiteren „Vollgerichte“ waren das BG Hernals per 1. Jänner 1989,134 dann das 139 Die Genesis dieser vorgesehenen Maßnahme war BG Döbling mit 1. Jänner 1991,135 das mit kompliziert: Für Wien bedarf es eines Gesetzes, für Niederösterreich einer Verordnung. Dies erfolgte 136 1. Jänner 1993 wiedererrichtete BG Josefstadt, zunächst mit der „Gerichtsorganisationsnovelle sodann mit 1. April 1997 das BG Hietzing, das Wien-Niederösterreich“, BGBl. I 81/2012, in Verbin- BG Fünfhaus und das wiedererrichtete dung mit der Bezirksgerichte-Verordnung Niederös- BG Meidling, womit zugleich das StrafBG und terreich 2012, BGBl. II 204. Diese Organisationsände- rung, die (zunächst) mit 1. 7. 2014 in Kraft treten soll- das Exekutionsgericht (nämlich das, was davon te, war aber wohl wegen Verletzung der im Verfas- noch vorhanden war) aufgelöst wurden.137 sungsrang stehenden Bestimmung des § 8 Abs. 5 lit. d Schließlich wurde noch mit 1. Jänner 2001 das erster Halbsatz des Übergangsgesetzes (ÜG 1920) BG Leopoldstadt wiedererrichtet.138 vom 1. 10. 1920 i.d.F. BGBl 368/1925 (evident) verfas- sungswidrig (S. dazu WALDSTÄTTEN, verfassungswid- Zum 1. Juli 2016 sollten die Sprengel der Wiener rige neue Organisationsvorschrift: Verletzung des Gerichtshöfe erster Instanz auf den Sprengel des „Schneideverbotes“ – zu ähnlichen Maßnahmen in BG Purkersdorf ausgedehnt, dieses BG aufgelöst Oberösterreich siehe u.a. das Erkenntnis des VfGH vom 11. 3. 2014, V 4/2014, und weitere Zahlen). Da- raufhin wurde mit den Novellen BGBl. I 40/2014 131 BGBl. I 30/2003. (Art. 10) und BGBl. II 147/2014 (verkürzt gesagt) das 132 Ebenfalls ausgenommen waren die bezirksgericht- Inkrafttreten auf den 1. 7. 2016 verschoben und es lichen Agenden des Jugendgerichtshofes, das erfolgte wurde sodann das Hindernis „wegnovelliert“ (Entfall sodann mit der Auflösung des Jugendgerichtshofes des § 8 Abs. 5 lit. d erster Halbsatz ÜG 1920: im Jahr 2003. BGBl. I 77/2014). Dagegen gab es aber weiterhin ver- 133 BGBl. 203/1985. fassungsrechtliche Bedenken (siehe dazu auch 134 BGBl. 291/1988. HERBST, Gerichtsbezirk), sodass mit dem Gesetz 135 BGBl. 260/1990. BGBl. I 28/2016 die Novelle BGBl. I 81/2012 aufgeho- 136 BGBl. 756/1992. ben wurde (komplementär dazu erging die Bezirks- 137 BGBl. 761/1996. gerichte-Verordnung Niederösterreich 2016, BGBl. II 138 BGBl. I 57/1999. 147). 408 Alfred WALDSTÄTTEN

Korrespondenz: Literatur:

Dr. Alfred Waldstätten Florian HERBST, Was ist ein Gerichtsbezirk?, in: JBl. Senatspräsident des VwGH 137 (2015) 545–556. Wickenburggasse 19/14 Josef KASERER, Handbuch der österreichischen Justiz- 1080 Wien verwaltung. 4 Bde. (Wien 1882–1884). Gerald KOHL, Die Anfänge der modernen Gerichtsor- ganisation in Niederösterreich (= Studien und For- schungen aus dem Niederösterreichischen Institut Abkürzungen: für Landeskunde 83, St. Pölten 2000). AG Amtsgericht Ferdinand OPLL, Wien im Bild historischer Karten. AV Allgemeine Verfügung Die Entwicklung der Stadt bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts (Wien–Köln–Graz ²2004). DJ Deutsche Justiz (Zeitschrift) Alfred WALDSTÄTTEN, Staatliche Gerichte in Wien seit dRGBl. Deutsches Reichsgesetzblatt Maria Theresia. Beiträge zu ihrer Geschichte. Ein Siehe auch das allgemeine Abkürzungsverzeichnis: Handbuch (= Forschungen und Beiträge zur Wie- [http://www.rechtsgeschichte.at/files/abk.pdf] ner Stadtgeschichte 54, Innsbruck—Wien–Bozen 2011). Alfred WALDSTÄTTEN, Eine verfassungswidrige neue Organisationsvorschrift?, in: RZ 92 (2014) 28–29.