Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien April 2011

Abschied von den Stacheln des Igels

Neues von In diesem Jahr wird er 77: Sir Harrison Birtwistle, einer der führenden Komponisten Großbritanniens und einer der wichtigsten weltweit. Für sein erstes Klaviertrio ließ er sich ungewöhnlich lange Zeit. Lisa Batiashvili, Adrian Brendel und Till Fellner präsentieren den späten Erstling im Kammermusik-Zyklus.

Unter den vielen Aussagen über Sir Harrison Birtwistle, die im Lauf seiner langjährigen Karriere in Umlauf gebracht worden sind, ist besonders eine im kollektiven Gedächtnis haften geblieben. Sie stammt vom Musikschriftsteller Meirion Bowen, der Birtwistle in einem 1975 geschriebenen Artikel mit einem Igel verglich – und das nicht nur deshalb, weil sein Vorname dem französischen „hérisson“ gleicht, sondern auch wegen Sir Harrisons leicht „stacheligem“ Charakter. („Den Birtwistle zu interviewen ist ein bisschen wie der Versuch, Pandas sich paaren zu lassen“, bemerkte einmal der Kritiker Paul Grifftiths.) Bowens Igel-Vergleich wiederum geht zurück auf einen Aufsatz des Philosophen Sir Isiah Berlin, der seinerseits ein Fragment von Archilocus zitiert: „Der Fuchs weiß viele Dinge, doch der Igel weiß nur ein Ding, aber ein großes.“

Gar viele Dinge und ein bleibender Charakter Nun, so genau stimmt das zwar nicht, denn natürlich weiß auch Birtwistle – zumal in kompositorischen Sachen – gar viele Dinge. Dennoch sind in seiner Musik manche dieser Dinge lebenslang konstant geblieben – vielleicht erweitert oder mit neuen Dingen ergänzt, aber selten völlig weggeworfen. So schreibt denn auch Jonathan Cross über Birtwistles Oper „“ (die vor zwei Jahren beim Wiener Festival Osterklang aufgeführt wurde), dass dieses Werk beispielhaft zeige, wie Birtwistles „Beschäftigungen mit Mythos, Ritual, Zeit und mit gewissen musikalischen Grundsätzen von Puls und Tonhöhe ein ständiger Charakterzug geblieben sind“. Und auch in seinem neuen Trio für Violine, Violoncello und Klavier – das am 14. April im Brahms-Saal des Wiener Musikvereins seine österreichische Erstaufführung erfährt – sind nochmals viele solcher typischen Merkmale des Komponisten zu erkennen.

Lust am Theater Eines davon ist gewiss ein dauerndes Interesse für „Theater“ – und gemeint sind hier nicht nur die eigentlichen Bühnenwerke, von denen Birtwistle eine ganze Reihe geschrieben hat (z. B. die Oper „“, „“, „“, „“, „“ und eben „The Last Supper“). Gemeint ist – in einem weiteren Sinn des Wortes –, dass Sir Harrison auch rein instrumentale Stücke stets als „theatralisch“ konzipiert hat, so dass im Zusammenspiel der Instrumente eine Art von „Secret Theatre“ (um den Titel eines seiner Werke zu zitieren) entsteht. „Ich sehe Instrumente als Schauspieler an und interessiere mich für ihr Rollenspiel“, hat er einmal bekannt; und bessere Partner für eine solche Exploration der musikalischen „Schauspielerei“ hätte er sicher nicht finden können als die drei Interpreteten seines Trios – die Geigerin Lisa Batiashvili, den Cellisten Adrian Brendel und den Pianisten Till Fellner.

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Schichten im Zusammenspiel Im Trio sind sogar die individuellen Rollen dieser musikalischen „Schauspieler“ mitunter so weit voneinander unabhängig, dass diese nicht nur – zeitgleich – musikalisches Material von ganz unterschiedlichem Charakter präsentieren, sondern auch ihr eigenes Tempo haben. Was uns zu noch weiteren konstant gebliebenen Aspketen von Birtwistles kompositorischem Verfahren führt. Denn einerseits erinnert diese Überlagerung von verschiedenen Musiken an Birtwistles Vorliebe für eine Textur, die aus mehr oder weniger autonomen „Schichten“ besteht – das wohl bekannteste Beispiel dafür findet sich in seinem Orchesterstück „“ (1986), in dem die musikalischen Schichten metaphorisch mit geologischen Erdschichten verglichen werden. Anderseits aber erinnert die Tatsache, dass diese „Schichten“ in einigen Passagen des Trios ihr eigenes Tempo haben, an Birtwistles besonderes Interesse – wie schon von Jonathan Cross erwähnt – für die musikalische Zeit.

Sir Harrisons Uhren So scheinen zum Beispiel die metronomischen Andeutungen im Trio auf einer einfachen Reihe von Zahlenverhältnissen zu basieren. Alle können als Teiler respektive Divisoren der Zahlen 108, 126, 144 oder 180 verstanden werden: eine Reihe also, wovon die ersten vier Glieder im Verhältnis 6:7:8:10 stehen, die letzten zwei wiederum im Verhältnis 3:2. Ein solcher Vorgang erinnert an das „pulse labyrinth“ in der Partitur von „“ (1977), das es dem Dirigenten ermöglicht, alle Tempi miteinander in streng mathematische Verbindung zu bringen. Wie in „Silbury Air“ verwendet Birtwistle auch im Trio diese Zahlenverhältnisse, um ein Tempo mit dem nächsten durch einen gemeinsamen Nenner reibungslos zu verbinden – ein Vorgehen, das natürlich nicht unweit von der Elliott Carters berühmter „metric modulation“ steht. Auch im Sinne des von Cross erwähnten „Pulses“ ist Birtwistles besonderes Interesse am Faktor „Zeit“ im Trio hörbar – besonders dort, wo sich streng rhythmisierte Figuren, oft von einem Ostinato-Charakter, mit quasi-mechanischer Präzision wiederholen. Schon in frühren Stücken ging es um solche Dinge, wie schon die Titel verrieten: „Carmen Arcadiae Mechanicae Perpetuum“ (1977) oder „Harrison’s Clocks“ (1998). Und so hören wir in einigen Schichten der komplexen Trio-Textur noch Sir Harrisons Uhren ticken oder das mechanische Arkadien sein endloses Lied singen.

Überwundendes Unbehagen? Aber so konstant auch gewisse Aspekte in Sir Harrisons musikalischer Technik geblieben sein mögen, so sehr ginge man doch fehl, wenn man Birtwistle unterstellen wollte, er sei einfach sein Leben lang stehengeblieben. Denn wie Jonathan Cross zu recht bemerkt, „ist seine Musik in mancher Hinsicht sehr anders geworden“. Und besonders in zwei – gegenseitig aufeinander einwirkenden – Aspekten unterscheidet sich das Trio klar von seinen frühen Werken. Einer davon ist eigentlich die Besetzung des Klaviertrios selbst. Wie manche Kommentatoren bemerkt haben, war Birtwistles Klangbild immer stark von den Umständen seines Heranwachsens geprägt. 1934 im nordenglischen Accrington geboren, hat er mit sieben angefangen, Klarinette zu lernen, und später in der Militärkapelle dieser recht uncharmanten Industriestadt gespielt. Auch seine weitere musikalische Ausbildung – erst am damaligen Royal Manchester College of Music, später in der Kapelle der Royal Artillery – durchlief er als Klarinettist, und so haben, wie Jonathan Cross bemerkt, die Klänge von Bläsern und Schlagzeug „seine klangliche Fantasie während des größten Teil seines Lebens dominiert“.

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Cross meinte sogar, dass Birtwistle „ein ausgesprochenes Unbehagen“ habe, „für Streichinstrumente zu schreiben. Desto überraschender mag es also scheinen, dass er sich jetzt für eine so „klassische“ Besetzung wie jene eines Klaviertrios entschieden hat.

Die langen Schluchzer der Violinen Hier freilich kommt eine andere stilistische Entwicklung Birtwistles ins Spiel: sein verstärktes Interesse am Melos, an der musikalische Linie. Zwar ist auch die Beschäftigung damit nichts wirklich Neues bei Birtwistle, wie schon die Titel sehr früher Stücke wie „Monody for Corpus Christi“ (1957) oder „Linoi“ (1968) verraten. Aber in späteren Jahren trat dieses Interesse mehr und mehr in Vordergrund – mit dem Effekt, dass sich mehr Möglichkeiten eröffneten, lyrisch und melodisch für Instrumente wie Streicher zu schreiben. Und dies vielleicht nirgendwo mehr als in den letzten Takten des Trios, in denen – gegen sich wiederholende Figuren in verschiedenen Tempi für Violoncello und Klavier – die Violine eine kurze, sinkende, sich gleichfalls wiederholende Phrase intoniert. Eine Phrase, die womöglich den Sinn des Zitats von Paul Verlaine in der Partitur vielleicht wiederspiegelt: „les sanglots longs/ Des violons“ [„die langen Schluchzer der Violinen“].

Ja, der Igel weiß nur ein Ding, wenn auch ein großes, und manches in der Musik von Harrison Birtwistle ist immer konstant geblieben. Aber bei solchen Stellen hat man den Eindruck, dass sie – gewiss nur dann und wann und wohl nicht dauerhaft – etwas weniger „stachelig“ geworden ist.

Peter Burt Dr. Peter Burt, Musikwissenschaftler aus England, veröffentlichte u. a. Buch „The Music of Toru Takemitsu“.

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