Außenminister Genscher, Kanzler Schmidt im Kabinett 1978

„Zum Schafott geführt“ Der noch regierende Kanzler Helmut Schmidt hat seinem ehemaligen Bündnispartner Vergeltung für den „Verrat“ angedroht.

Koalitionäre Genscher, Schmidt kurz vor dem Regierungswechsel 1982 DER KANZLER HELMUT SCHMIDT

DER SPIEGEL Nr. 38 vom 20. 9. 1982 Noch nachträglich aber suchte er den 48 Stunden nach diesem von Kohl und (gekürzte Fassung) Eindruck zu verwischen, der Kanzler Genscher bereits avisierten Antrag muss habe ihm das Drehbuch aus der Hand dann der den neuen Regie - as Ende der sozialliberalen Ära genommen. Er habe schon um 7.30 Uhr rungschef wählen – . Er eröffnet dem CDU-Vorsitzenden seine Rücktrittsabsichten kundgetan, so braucht dazu die absolute Mehrheit im DHelmut Kohl die Chance zur ließ Genscher, Taktik über alles, ver - Parlament, 249 Stimmen, 23 mehr, als Kanzlerschaft schon in dieser Woche. breiten. die Union hat. Der Wettstreit zwischen Folge für die bisherigen Koalitionspart - Vor der SPD-Fraktion stellte der Kanz - Kanzler und Kandidat vom letzten Frei - ner: Die oft zerstrittenen Sozialdemo - ler die historische Wahrheit klar: „Ich tag: Schmidt wie Kohl möchten gleicher - kraten sind zusammengerückt, die ab - ging davon aus, dass die FDP-Minister maßen vom Kanzler bonus profitieren, trünnigen Freidemokraten mitten in ei - zurücktreten würden. Andernfalls“, so um bei den Wahlen besser abzuschnei - ner Zerreißprobe. habe er dem Bundespräsidenten gegen - den. So hatte sich Hans-Dietrich Genscher über schon angedeutet, „hätte ich von Die Sozialdemokraten hatten die Dra - seinen Abschied aus der sozialliberalen meinem Recht Gebrauch gemacht, sie maturgie für den 17. September (Willy Koalition nicht vorgestellt. aus dem Kabinett zu entlassen.“ Brandt: „Kein Tag wie jeder andere“) In aller Frühe rief der FDP-Vorsitzen - Genschers Problem: Er sieht sich aus minu tiös festgelegt. de am Freitag seine Führungsmannschaft der Regierungsbank entfernt, noch bevor Während in Bonn am Mittwoch noch zu sich, um die Aussprache des Kanzlers neue Plätze angewärmt sind. Und am das Kabinett tagte, traf sich im Luxus - mit FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf letzten Freitag war sogar eine Zeit lang hotel „Frankfurter Hof“ am Frankfurter Lambsdorff vorzubereiten. fraglich, ob er überhaupt alsbald wieder Kaiserplatz der SPD-Vorsitzende mit sei - Zwar ahnte der Vizekanzler schon, Platz nehmen könne. nem Stellvertreter , Präsi - Helmut Schmidt wolle dem Grafen Dau - In stundenlangen Diskussionen muss - diumsmitglied Hans-Jochen Vogel und menschrauben anlegen. Er stellte sich te Genscher mit seinen Parteifreunden Parteigeschäftsführer zum auch darauf ein, dass die Sozial de mo - in Fraktion und Vorstand feilschen, ob Mittagessen. kraten Neuwahlen anpeilten. Aber un - er dem Vorsitzenden der Christdemokra - Brandt wurde ermächtigt, noch am sel - beirrt wollte er sich an sein eigenes Dreh - ten Helmut Kohl mit einem konstrukti - ben Tag dem Kanzler in Bonn Meldung buch halten. ven Misstrauens votum zur Kanzlerschaft zu machen: Die SPD unterstütze alles, „Sich nicht provozieren lassen“, so be - verhelfen darf. Seine eigenen Freunde was Schmidt plane, auch die Aufforde - schrieb Generalsekretär Günter Verheu - wollen ihn lieber in ein Abenteuer mit rung zu Neuwahlen. gen die Absichten seines Chefs: „Den Die Partei sei bereit, sofort einen Son - Countdown nicht in Gang setzen.“ Doch Die Sozialdemokraten derparteitag einzuberufen, um eine als Lambsdorff vom Kanzler zurückkehr - Wahlkampfplattform zu beschließen. te, musste der FDP-Vorsitzende erken - hatten die Dramaturgie für Verantwortlich dafür sei der Kanzler als nen: Sein Spiel war aus. den 17. September Spitzenkandidat. Schmidt hatte klargestellt, es gebe Brandt: „Das ist doch selbstverständ - nichts mehr zu reden, alles sei entschie - minutiös festgelegt. lich. Da gibt es keinen Ärger zwischen den. Im Bundestag, so teilte er seinem Schmidt und der Partei.“ Besucher cool mit, wolle er ihn gar nicht unabsehbaren Folgen hineintreiben: Neu - Gegen 18 Uhr trafen sich im Bonner annehmen. Für ihn gebe es nur einen wahlen. „Er wird jetzt“, höhnt Staats - Bundeshausbüro Wehners die großen Schuldigen: Genscher. Und er erwarte, sekretär Bölling, „zu Edeka-Discount - drei der SPD: Brandt, Schmidt, Wehner. fügte er hinzu, dass der Außenminister preisen gehandelt.“ Der Kanzler nahm das Blankomandat die Konsequenzen ziehe. „Die Entschei - Am späten Freitagabend im Vorstand der Genossen dankbar an; die Herren dung des Kanzlers“, erläuterte Staatsse - der eigenen Partei ließ Genscher sicher - verständigten sich auf das Ritual für kretär Klaus Bölling, „gründete sich auf heitshalber gar nicht erst über Neuwah - Freitag. Treulosigkeit des Hallensers.“ len abstimmen – nur darüber, ob jetzt Anderntags, am Donnerstagnachmit - Als der aus Halle an der Saale stam - Verhandlungen mit der Union begonnen tag, berieten Brandt, Schmidt und Rau mende Genscher gegen zehn bei seinem werden sollen. Das Ergebnis war denk - noch mit den Juristen Vogel und Schmu - Regierungschef vorgelassen wurde, war bar knapp: 18 FDP-Vorständler votierten de verfassungsrechtliche Konsequenzen nicht mehr viel zu besprechen. Schmidt für Genscher und für Gespräche mit der Prozedur. Die Alternative, durch trug ein paar Kernsätze aus seiner Rede Kohl, 15 dagegen, einer enthielt sich, eine Grundgesetzänderung eine Selbst - ) . U ( vor. Genscher reichte den Rücktritt ein. Fraktionschef Wolfgang Mischnick war auflösung des Parlaments nach dem Bei - N I E

Am Freitag, 17. September 1982, erleb - gar nicht anwesend. spiel der Berliner Verfassung vorzuschla - T S L L U te der Mann, der mehr als ein Jahrzehnt Und die Linken suchen das Scherben - gen, wurde schnell verworfen: Die Bür - /

N in der Bundesrepublik die Politik macht - gericht auf einem Sonderparteitag in den ger würden eine Manipulation wittern, O M I S

voll mitbestimmte, der als heimlicher nächsten drei Wochen. wenn des Kanzlers letzte Amtshandlung N E V S

Kanzler gefeiert, die SPD bis an die Den Weg zu Neuwahlen hatte Schmidt eine Änderung des Grundgesetzes wäre. ; ) . O ( Grenzen des Zumutbaren trieb, seine im Bundestag gewiesen: Er warb um Am Donnerstag stand der Stunden - S E F politi sche Demütigung. Der Chef der eine Vereinbarung zwischen den Partei - plan für Freitag; bis ins Detail bekannt R E D

kleinsten Bundestagsfraktion, die inzwi - en, damit nach einer von ihm gestellten war er nur wenigen. D S D A schen in der Wählergunst von 10,6 Pro - Vertrauensfrage der Bundestag aufgelöst Die Operation „Neuwahlen“ der SPD M I

zent bis an die Fünfprozentgrenze abge - werden könne. Nur auf diesem Umweg setzte auf den Überraschungseffekt – R E G N rutscht ist, wurde auf wahre Maße zu - wären, nach dem Grundgesetz, Neuwah - nicht nur bei der Union, auch bei der I H C R rückgestutzt. len überhaupt möglich, solange die Op - FDP. Im kleinen Kreis juxte sich Brandt A D

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Genscher sah am Freitagabend klar, position nicht über ein konstruktives am Donnerstag: „Es ist zu vermuten, P U J

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„dass die Existenz der Partei auf dem Misstrauensvotum einen neuen Kanzler dass einige bei der FDP morgen früh den S O T O

Spiel steht“. präsentiert. Eindruck haben, man habe ihnen dicke F

6/7568 SPIEGEL BIOGRAFIE 95 Nadeln in den Hintern gestochen.“ Und in der letzten Woche, als der Brandts Vorahnungen gingen noch wei - Wechsel praktisch schon feststand, ver - ter: „Schmidt setzt Kohl unter unglaub - höhnte Strauß im „Bayernkurier“ den li - lichen politischen Druck. Der (Kohl) lässt beralen Wirtschaftsminister, der schließ - dann erst mal den Genscher kommen lich jahrelang die sozialliberale Regie - und sagt ihm: „Jetzt will er euch fertig - rungspolitik mitverantwortet habe: „War machen. Jetzt müssen wir handeln, denn der FDP-Mann Lambsdorff – was Hans-Dietrich!“ freilich auch für seinen Vorgänger, den Die Nadeln saßen. Die Freien Demo - FDP-Mann Friderichs, gilt – 13 Jahre kraten piesackte die Angst vor dem Exi - lang in einem Schweigelager in Sibirien tus. Alle wussten: So schlecht waren sie verschwunden? Steckte Lambsdorff 13 selten dran. Jahre lang in einer Taucherglocke in der Den Unterschlupf an der Seite der So - Südsee? War Lambsdorff 13 Jahre lang zialdemokraten hatten sie wegen unfai - im indischen Dschungel verschollen?“ ren Verhaltens räumen müssen; ihr neu - Und: „Erkläret mir, Graf Oerindur, die - es Quartier bei den Unionschristen hat - sen Zwiespalt der Natur!“ ten sie noch nicht erreicht. Ebenso wenig wie Strauß hat Schmidt Viel zu fordern hat die FDP nicht seine Vorliebe für ein Mehrheitswahl - mehr. Franz Josef Strauß will die Libe - recht aufgegeben. Wenn es nur noch Di - ralen am liebsten abweisen; sie sind auf rektmandate gäbe, blieben kleine Partei - Gedeih und Verderb auf Helmut Kohl en wie die FDP, freilich auch die Grünen, angewiesen, der die FDP oder ihre Reste außen vor; ihre Wähler müssten sich für im Kampf gegen die Vorherrschaft des eine der beiden großen Volksparteien Bayern braucht. entscheiden. Im FDP-Fraktionssaal warteten am Schmidt scheut nicht einmal das Risi - Freitag kurz nach zehn trotzige Sozial- ko, dass die SPD bei Neuwahlen „Federn und sprungbereite Altliberale auf ihre lassen“ muss; wichtiger scheint ihm, dass Vorderleute. Die Schmidt-Rede, warnte es den Freidemokraten schlimmer erge - Mischnick dann, nach Vorablektüre des hen könnte. Wie weiland CDU-Kanzler Manuskripts, sei eindeutig: Der Kanzler will jetzt auch der bezichtige die Liberalen, Handlungsfä - FDP-Politiker Lambsdorff 1982 Sozialdemokrat die Pendlerpartei aus higkeit und Ansehen der Bundesregie - In einer Taucherglocke in der Südsee? dem Parlament werfen. rung zu beschädigen. Mischnick: „Damit Schmidt: „Ich nehme in Kauf, wenn kündigt die SPD das Bündnis auf!“ Hauptschuldigen am Scheitern der Ko - die SPD auf 30 Prozent absackt, wenn Den sonst ruhigen Fraktionsvorsitzen - alition hielt: Hans-Dietrich Genscher. Im - nur die FDP nicht wieder reinkommt.“ den erregte der Vorwurf des Kanzlers, mer wieder habe er sich in den letzten Der SPD-Kanzler, berichten Vertraute, die FDP-Führung habe bei der Debatte Wochen in Gesprächen mit seinem Vize sei dabei, seine tiefe Abneigung gegen - zur „Lage der Nation“ in der vorletzten um Kompromisse bemüht („Ich habe es über Grünen und Alternativen zu über - Woche nicht klar Stellung bezogen. an gutem Willen nicht fehlen lassen“). prüfen. Auch Schmidt beginne, langsa - Mischnick: „Das ist eine Lüge, die der Doch der Freidemokrat habe die Ver - mer zwar als , zu begreifen, Bundeskanzler da verbreitet.“ handlungen „nur zum Schein geführt“, dass der SPD, einmal in der Opposition, Genscher teilte mit, er habe dem Bun - um einen Vorwand zu finden, dem Pu - nur mit den grünen Wählern eine neue deskanzler seinen Rücktritt erklärt. blikum den Partnertausch plausibel ma - Mehrheit zuwachsen kann. Lambsdorff erhob sich: „Ich schließe chen zu können. Auf kürzere Sicht baut der SPD-Kanz - mich an.“ Alles blickte auf Baum. Der Und: Statt sich eindeutig zur gemein- ler darauf, dass eine mobilisierte sozial - Innenminister: „Da werde ich ja wohl samen Politik zu bekennen, sei „über demokratische Basis und überzeugt so - auch zurücktreten müssen.“ Aus der Tie - Zeit- und Fahrpläne für den Wechsel ge - zialliberale Sympathisanten bei der fe seines Sitzes grunzte Landwirtschafts - redet“ worden. Er könne es nicht län- FDP seine Partei am kommenden Sonn - minister Josef Ertl: „Ich natürlich auch.“ ger zu lassen, dass durch diese „Machen - tag in Hessen aus dem Tief führen. Letz - Sozialexperte Hansheinrich Schmidt schaften“, durch „eigensüchtiges politi - te Woche rechneten Schmidt-Berater jammerte, alles sei nun überflüssig, was sches Handeln“ des Koalitionspartners sogar mit zwei oder drei FDP-Abgeord - am Vortag noch verabredet worden sei. das Re gierungsamt beschädigt und dem neten, die sich Genschers Treuebruch Die Linken der FDP-Fraktion hatten Ansehen der Bundesrepublik geschadet durch einen Wechsel zur SPD entziehen geplant, die Fraktion per Abstimmung werde. könnten. auf die sozialliberale Koalition festzu - Mit seiner Schelte am treulosen Part - Nicht nur bei der SPD, auch in der nageln. Schmidt: „Das ist der schlimmste ner Genscher, „diesem Quisling“, tat FDP-Fraktion sitzt der Groll über den Tag in meiner parlamentarischen Lauf - Helmut Schmidt den ersten Zug in seiner Verrat an der gemeinsamen soziallibera -

A bahn.“ Vernichtungsstrategie gegen die Libera - len Sache tief. So klatschten 13 liberale P D

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E In der sozialdemokratischen Fraktion len. Tief enttäuscht vom Verrat des FDP- Parlamentarier, darunter der FDP-Rech - C N A

I hatte der Kanzler eben angekündigt, er Chefs, sieht Schmidt sich auf einmal we - te Horst-Ludwig Riemer, demonstrativ L L A

E werde sich nicht darauf einlassen, den nigstens darin einig mit CSU-Führer Beifall, als der Kanzler letzten Freitag R U T Grafen Lambsdorff mit seiner wirt - Strauß, der schon lange ein Verschwin - seinen „Stolz auf das in der soziallibera - C I P

/ schaftspolitischen Denkschrift zur „Zen - den der lästigen Liberalen von der poli - len Koalition Geleistete“ bekannte. N E D

N tralfigur“ der Krise hochzustilisieren. tischen Bildfläche wünscht. Strauß zu Als die Freidemokraten, einige vom A S

: Im Plenum machte der Kanzler un - Freunden: „Ich bin es leid mit diesen Inhalt der kurzen Plenardebatte wie be - O T O

F missverständlich klar, wen er für den Kriegsgewinnlern.“ täubt, in den Fraktionssaal zurückkehr -

96 SPIEGEL BIOGRAFIE 6/7568 DER KANZLER HELMUT SCHMIDT ten, bat Genscher um Ermächtigung für blizistischer Unterstützung der beiden dann auch über Neuwahlen reden. Gen - Sachverhandlungen mit der Union, de - Mediengiganten rechnen könne, falls sie scher, sonst der Meister politischer Tak - nen ein konstruktives Misstrauensvotum vom September an den Wechsel zur Uni - tik, hatte sich verkalkuliert. Schmidt für Kohl folgen solle. on in der Wirtschafts- und Finanzpolitik kam ihm zuvor. Der Denkfehler des Frei - Werde Kohl gewählt, so Genscher, deutlicher sichtbar mache. demokraten: Er hatte nicht damit ge - dann soll es nach „einer gewissen Zeit“ Die Verlagsherren hätten Hilfe ver - rechnet, dass Schmidt sich eher vom bis - Neuwahlen geben. Ohne Plazet für ein sprochen, zugleich jedoch Zusatzwün - herigen Bündnispartner trennen als es konstruktives Misstrauensvotum werde sche angemeldet: Die FDP möge doch, zulassen würde, dass er und die SPD ei - der FDP vorgeworfen, sie verlasse zwar bitte schön, auch in der Außenpolitik die ner weiteren liberalen Erpressung nach - eine Koalition, verhindere aber eine Kontroverse mit dem bisherigen Partner gäben. neue Regierung und lähme damit den suchen. Am 30. August stimmte Schmidt wäh - Staat. Im Klartext: Genscher möge, so der rend einer Präsidiumssitzung seiner Par - Ingrid Matthäus-Maier, Burkhard dem Kanzler hinterbrachte Wunsch des tei zum ersten Mal im Gespräch mit dem Hirsch und vor allem Generalsekretär Springer-Vertreters, die Treue der SPD Berliner Oppositionsführer Hans-Jochen Günter Verheugen hielten dagegen. In zum westlichen Bündnis infrage stellen. Vogel der Ansicht zu, dass die „Grenze der Partei werde ein fliegender Wechsel Der Außenminister habe, wenn auch zö - des für die SPD Zumutbaren“ überschrit - zur Union nicht verstanden. Schmidt gernd, zugestimmt. Letzte Änderungen ten sei. Anlass war ein Interview, in dem versuche, die FDP „moralisch zu ver- an einem in der vergangenen Woche ver - Lambsdorff das Schicksal der Bonner Ko - nichten“. öffentlichten Artikel in der amerikani - alition mit dem Ausgang der hessischen Verheugen: „Darauf kann man nicht schen Zeitschrift „Foreign Affairs“ ( SPIE - Landtagswahl verknüpft hatte. Von da mit taktischen Zügen antworten, son - GEL 36/1982) waren das Resultat des bay - an gings zügig bergab. dern nur mit einer Haltung, die auch mo - rischen Paktes. Die nächsten Stationen auf dem ange - ralischen Ansprüchen genügt“, nämlich Was den Kanzler zum sofortigen Han - strebten Weg zu Neuwahlen: Schmidt mit einem Ja zu Neuwahlen – ohne vor - deln trieb, war die zusätzliche Informa - überrascht die sozialdemokratischen Mi - herige Kohl-Wahl. tion, Genscher und Lambsdorff hätten nister mit der Feststellung, außer Lambs - Mischnick bemühte die Verfassung. Er den Verlegern auch ihr Szenario für den dorff sei auch Genscher auf dem Weg glaube zwar auch, dass Verheugens Vor - Wechsel enthüllt. Die Abfolge: Schüren zur Union. Der Kanzler rüffelt Lambs - schlag in der Partei populärer wäre als des wirtschafts- und außenpolitischen dorff in bisher einmaliger Form und ver - ein konstruktives Misstrauensvotum. Konflikts, Rückzug der FDP-Minister langt öffentliche Reue. Dass der Graf Doch ein gewähltes Parlament müsse aus dem Bonner Kabinett nach der Hes - nicht einknickt, hat Schmidt kalkuliert; zunächst nach regierungsfähigen Mehr - sen-Wahl am 26. September, Duldung doch glaubt er, dass die Interviewsprü - heiten suchen, bevor der komplizierte der Minderheitsregierung Schmidt bis che „zum Rausschmiss noch nicht aus - Weg zu Neuwahlen freigegeben werden zum FDP-Parteitag Anfang November gereicht haben“ (Schmidt). könne. in Berlin. Bereits am Rande einer Wahlveran - Es scheint, als ob die Mehrheit zum Dort, so Genschers Wunschbild, wer - staltung in Darmstadt verkündet er am Regieren reichen wird. Auf Wunsch de er die letzten Zauderer aus seiner Par - 2. September im vertraulichen Gespräch, Hirschs stimmte die Fraktion geheim tei zur neuen Koalition mit der Union was er eine Woche später in seinem „Be - über die von Genscher erbetene Hand - überreden – mit dem Argument: Die Li - richt zur Lage der Nation“ vor dem Bun - lungsvollmacht ab. 33 Abgeordnete beralen müssten dem Land wieder eine destag zu Protokoll gibt: „Reisende soll stimmten dafür – 10 mehr als nötig –, 18 handlungsfähige Regierung bescheren. man nicht aufhalten.“ Und Genscher be - dagegen, einer enthielt sich. Zwei Abge - Nach einer Übergangszeit könne man streitet vor dem Plenum nicht, dass er ordnete fehlten, die kranken Hans-Gün - ter Hoppe und Friedrich Wendig, sichere Kandidaten für den Genscher-Kurs. Lange war Schmidt unsicher, ob Gen - scher tatsächlich den Wechsel betreibe. Noch während der Ferien am Brahmsee hatte Klaus Bölling, vergeblich, seinen Chef vor außenpolitischen Absetzbewe - gungen des Außenministers gewarnt. Schmidt wurde erst hellhörig, als er nach dem Urlaub von einem liberalkonserva - tiven Komplott erfuhr; erst danach war dem Kanzler klar, dass Lambsdorff kei - neswegs nur auf eigene Rechnung gegen die sozialliberale Koalition agitierte, sondern mit Rückendeckung Genschers vorging. Die Nachricht: Im August hätten sich der Außen- und der Wirtschaftsminister in Bayern mit Topleuten der konservati - ven Verlagshäuser Burda und Springer P A getroffen, Franz Burda senior sei mit von : O T O der Partie gewesen. In dieser Runde F forschten die beiden Liberalen, so wurde Sozialdemokrat Schmidt, demissionierende FDP-Minister bei Präsident Carstens (2. v. l.) 1982 Schmidt zugetragen, ob die FDP mit pu - „Reisende soll man nicht aufhalten“

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die Fahrkarte bereits in der Tasche hat. müsse sie vor aller Öffentlichkeit den tion wollten ihren Kanzler stützen, wenn Am 9. September wird sichtbar: Der Kanzler stürzen und Kohl zum Nachfol - er tags darauf im Kabinett mit Lambs - Bruch ist da; das Bündnis Schmidt/Gen - ger wählen. Von Oertzen: „Und wenn dorff, aber auch mit Genscher wegen der scher ist nicht mehr zu kitten. Schmidt nur ein Prozent Chancen be - Thesen des Wirtschaftsministers abrech - Nun geht es nur noch um die Drama - sitzt, die Koalition zu tragbaren Bedin - nen werde. turgie des Schlussakts. Helmut Schmidt gungen zu erhalten, müsste er diese Am Mittwochmorgen bat der Kanzler will wenigstens jetzt noch Tatkraft be - Chance zu nutzen versuchen.“ die sozialdemokratischen Minister zum weisen, nicht den Statisten in einem Die „wichtigste Vorlage“ (Bremens Frühstück in den Bungalow. Wenig spä - Spiel abgeben, in dem andere, Christ- Bürgermeister Hans Koschnick) für den ter musste Finanzminister Manfred Lahn - und Freidemokraten, Regie führen. Kanzler, glaubwürdig zum letzten Schlag stein den Etat ’83 im Bundestag einbrin - Bereits in seiner Rede zur „Lage der gegen die FDP auszuholen, lieferte dann gen, obwohl dem Kanzler klar war, dass Nation“ hatte der Kanzler die Richtung aber das Thesenpapier des Bundeswirt - er dieses Haushaltsgesetz mit größter angedeutet, als er das Recht desjenigen, schaftsministers zur Bekämpfung von Wahrscheinlichkeit nicht mehr unter - der „Kanzler wird oder bleibt“, hervor - Arbeitslosigkeit und Rezession. Im Vor - zeichnen wird. hob, „über Artikel 68 nach einer Ver - stand der SPD warnten die Genossen Beim Morgenkaffee wurde Schmidt trauensfrage die Auflösung des Bundes - einhellig davor, sich mit den Manches - deutlich: Die FDP werde im Oktober tages und Neuwahlen herbeizuführen“. ter-liberalen Rezepten des Grafen im De - „rausgehen“, und „keiner wird es verhin - Und er verlangte von Kohl öffentlich, tail überhaupt zu befassen. dern können“. Genscher werde auf sei - er müsse sich „die geschichtliche Legiti - Koschnick verwies auf Wirtschaftsmi - nem Parteitag die Delegierten mit der mität, die nur der Wähler … geben nister Lambsdorffs Forderungen, einem Alternative erpressen, ob sie ihm folgen kann“, besorgen, sollte er sich durch ein Ausbau der Mitbestimmung, des Daten - oder ob sie die FDP zerstören wollten. Misstrauensvotum zum Kanzler wählen schutzes und einer Verschärfung der be - Wer Genscher dann folge, argumen - lassen. Was am 9. September noch wie trieblichen Bilanzierungsvorschriften ab - tierte Schmidt, werde fortan dem im Polemik wirkte, sollte in der vorigen zuschwören: „Das ist eine Kriegserklä - Lambsdorff-Papier niedergelegten Kurs Woche Leitsatz zum Ende der sozial - rung an die SPD und die Aufkündigung nach rechts folgen; für eine sozialliberale liberalen Koalition werden. der Solidarität mit den Gewerkschaften. Politik gebe es mit dieser FDP keine Im Tagebuch der letzten Woche der Die Leute in den Betrieben fragen uns, Chance. Er selbst aber sei bereit, so mun - Regierung Schmidt/Genscher stand für wo wir stehen.“ terte der Chef seine Leute auf, bei mög - Kanzler und SPD-Chef am vorletzten Jetzt hatte der Kanzler, was er brauch - lichen vorgezogenen Neuwahlen noch Sonntag ein Gespräch mit den Vorsitzen - te: ein Dokument, von dem er anneh - einmal für die SPD zu kandidieren. den der SPD-Bezirks- und -Landesver - men durfte, dass es die große Mehrheit Helmut Schmidts Bedingung: Er wer - bände; ein Teilnehmer räsonierte, die seiner Partei ablehnt. Der offizielle de keine Politik vertreten, die ihn un - Bürger hätten „die Nase voll von denen Grund zur Kündigung der Koalition mit glaubwürdig mache, weil sie sich nicht in Bonn“. Empfehlung der Mehrheit: der Genscher-Partei war da. mit seiner bisherigen Haltung in der Schmidt solle dem zähen Sterben durch Am Dienstag versammelte der Kanz - Wirtschafts-, Sozial-, Finanz- und Sicher - Neuwahlen ein Ende machen. ler nach dem üblichen Koalitionsge - heitspolitik decke. In der Kabinettssit - Einige Linke wie Peter von Oertzen, spräch Brandt, Wehner und Parteige - zung knöpfte er sich dann scharf Gen - Günter Schlatter und Günther Jansen schäftsführer Peter Glotz um sich. Bei scher und den Thesen-Autor Lambsdorff rieten dagegen zum Durchhalten. Wenn den SPD-Oberen sicherte sich Schmidt vor. Sein Lob für den SPD-Finanzminis - die FDP die Koalition verlassen wolle, für die letzte Runde ab: Partei und Frak - ter Lahnstein („eine hervorragende Haushaltsrede“) gab dem Kanzler gute Gelegenheit, auf Lambsdorff überzulei - ten: „Das Gleiche kann ich von Herrn Lambsdorffs Papier nicht behaupten.“ In der Öffentlichkeit werde die Lambs - dorff-Schrift als „Manifest der Sezession“ („Die Zeit“) angesehen; sie stehe im Wi - derspruch zum Jahreswirtschaftsbericht, mithin zur Politik der Bundesregierung. Schmidt: „Einige in Ihrer Partei wollen das als Hebel zum Wechsel benutzen.“ Dann kam die Drohung, die er am Abend zuvor mit seinen Beratern vor - formuliert hatte: „Wenn Sie sich nicht in der Lage sehen, die Grundlagen der Re - gierungspolitik zu vertreten, dann bin ich in der Lage, sehr schnell darauf zu reagieren.“ Schmidt: „Ich möchte jetzt G R E

B wissen, ob für Sie die Richtlinien nicht R O V - mehr als verbindlich anzusehen sind, E Z L

U und bitte Sie, klar zu sagen, welche Ab - H C S sichten Sie haben.“ D R A

H Lambsdorff wich aus: Er habe „die C I R

: Grundlinien der Politik“ nicht verlassen. O T O

F Der Kanzler gab zurück: „Das ist für Gegner Schmidt, Kohl nach Amtsübergabe 1982: Dramaturgie des Schlussakts mich nicht befriedigend, ich möchte wis -

98 SPIEGEL BIOGRAFIE 6/7568 sen, woran ich bin mit Ihnen. Was sind Letzte Woche war das Ziel erreicht. Ihre politischen Absichten. Was haben Aber Genscher wirkte eher wie ein Ge - Sie vor?“ Wenn Lambsdorff in der Haus - schlagener; Lambsdorff wie der Sieger. haltsdebatte nicht bei der Regierungs- Der Graf hatte die Rolle seines Lebens linie bleiben wolle, „möchte ich Sie bit - gefunden, mit seinem Papier Hand an ten, das Wort nicht zu ergreifen“. Gen - das Regierungsbündnis gelegt. scher wollte abwiegeln: Man könne sich Den Freitag erlebte der Graf als pri - doch Gedanken machen, wie es der Graf vaten Triumph, nachdem Schmidt ihn getan habe. Es sei eine ganz andere Fra - vorher öffentlich hatte demütigen lassen. ge, ob man diese Gedanken ganz oder Genscher musste ihn noch am Mittwoch nur teilweise übernehme oder ob man mahnen, er dürfe jetzt keinesfalls allein, sie teilweise verändere. Schmidt: „Nein, ohne Rücksicht auf die Partei, die Kon - ich will es jetzt wissen.“ sequenzen ziehen. Lambsdorff geriet ins Stottern: „Ich Lambsdorff am Mittwoch: „Typisch stehe zu dem Etat und den gemeinsam Kanzler, Schulaufgaben schlecht ge - getroffenen Beschlüssen und zum Jah - macht. Setzen, fünf.“ Allmählich kam reswirtschaftsbericht.“ Als Genscher Stolz auf: „Ich bin der Buhmann.“ schlichten wollte, wurde Schmidt patzig: Weniger stolz präsentierte sich der „Sie brauchen sich nicht ständig zu Wort Parteivorsitzende. Sein Taktieren brach - zu melden. Lambsdorff braucht keinen te ihn überall ins Zwielicht, richtete beim Fürsprecher. Der sitzt hier.“ Koalitionspartner und bei den eigenen Am Ende hatte der Kanzler die beiden Freunden Enttäuschung und Verbitte - Liberalen derart ausmanövriert, dass sie rung an. Schon zeigt sich Mischnick be - nicht mehr zurückkonnten. Genscher sorgt, dass – wie nach dem Sturz von und Lambsdorff konnten die Fiktion Kanzler Ludwig Erhard 1966 – auch jetzt nicht mehr aufrechterhalten, dass sie die wieder tiefe Gräben zwischen den Flü - Fortsetzung der Koalition bis 1984 noch geln der Partei gerissen werden. wollten. „Das sind Wunden“, so Mischnick Die Weichen für den Wechsel hatte über die Situation damals, „die bis heute Genscher schon bald nach der Bundes - nicht verheilt sind.“ Das Zerwürfnis jetzt tagswahl 1980 gestellt. Den 10,6-Prozent- Kanzler Schmidt im Bundestag 1982 sei „noch schlimmer als damals“. Erfolg deutete er als Aufforderung der Nicht mehr zu kitten Günter Verheugen stellte schon fest, Wähler, seine Partei auf neuen Kurs zu dass „viel Vertrauen kaputtgegangen bringen. Nach den freidemokratischen auch er halte am Bündnis fest. Der Frak - ist“. Selbst Lambsdorff hat gemerkt: Wahlanalysen war es ihm nämlich gelun - tionsvorsitzende Wolfgang Mischnick „Die menschlichen Beziehungen begin - gen, besonders im Unionslager Stimmen hatte sich nach eigenen Angaben schon nen zu leiden.“ Nach dem Bruch re- zu gewinnen; jetzt sollte dafür Dank ab - im Herbst 1981 gewundert, dass Gen - agierten viele liberale Abgeordnete gestattet werden. scher und Lambsdorff geradezu unglück - fassungslos. Den Tränen nahe gestand Schon damals wurde Lambsdorff als lich wirkten, als die Koalitionäre sich Helga Schuchardt, das habe sie nicht er - Hauptdarsteller im Drehbuch für den noch einmal über den Etat einig wurden. wartet. Burkhard Hirschs Eindruck: Koalitionsbruch erkoren. Der „Erhard Im Juli 1982 beschwichtigte Genscher „Hier wird man zum Schafott geführt der Achtzigerjahre“, wie der FDP-Chef den Fraktionsvorsitzenden, er selber wol - und weiß nicht, warum.“ den Grafen im Wahlkampf hochgelobt le ja weitermachen: Aber Lambsdorff Es wurde schon dämmrig in Bonn, als hatte, sollte zur Galionsfigur einer ge - drohe mit Rücktritt. Bundeskanzler und -außenminister Hel - wandelten FDP aufgebaut werden und Generalsekretär Günter Verheugen mut Schmidt am Freitagabend sein so - die Wähler binden, die vielleicht nur auf beteuerte lange, ihm sei nichts von zialdemokratisches Minderheitskabinett der Flucht vor dem Kanzlerkandidaten Wechselplänen seines Vorsitzenden be - zur Premierensitzung versammelte. Die Franz Josef Strauß zu den Freidemokra - kannt. Mit ihm oder in einem Gremium Ressorts der ausgeschiedenen Liberalen ten gestoßen waren. der Partei seien sie jedenfalls nicht be - waren nicht nur durch die neuen Dop - Im August 1981 bereitete Genscher mit sprochen worden: „Alles blieb im infor - pelminister Jürgen Schmude (Justiz und seinem Brief von der Wende die Partei - mellen Bereich“, so Verheugen, „es gab Innen), Björn Engholm (Bildung und freunde auf den Absprung vor. Damit keinen demokratischen Entscheidungs - Landwirtschaft) sowie Manfred Lahn - begann das Versteckspiel, die Irrefüh - prozess.“ Selbst Lambsdorff wurde zeit - stein (Finanzen und Wirtschaft), sondern rung des Regierungspartners und der ei - weise irre am Verhalten des Parteichefs. auch durch die beamteten Staatssekre - genen Partei, die „Machenschaften“ Er fühlte sich als Wegbereiter für den täre vertreten. An diese Spitzenbeamte (Schmidt) oder die „taktischen Doppel - Wechsel vorgeschickt, fand sich aber oft appellierte der Kanzler, „vielleicht mehr bödigkeiten“ (Brandt). allein im Gelände. Genscher hatte sich Arbeit zu übernehmen“, damit die Ge - S E

Er hielt alle hin; nur einer war vollstän - dann wieder weggeduckt, weil er Wider - schäfte weiterlaufen. F

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dig eingeweiht. Genscher in einem Fern - stand bei Parteifreunden spürte. Dass der Stress nicht allzu lange dau - D S gespräch am 17. August 1981 nach Singa - Erst als die hessischen Freidemokraten ert, daran ließ Schmidt keinen Zweifel. D A

M I pur zu Lambsdorff: „Wir müssen aus die - eine Koalitionszusage zugunsten der Vielleicht nur „10 bis 14 Tage“, wenn R E G

ser Koalition herauskommen.“ Die Haus - CDU trafen, verließ Genscher die De - Kohl in der nächsten Woche zum kon - N I H C haltsberatung, vereinbarten die beiden, ckung und redete von „neuen Mehrhei - struktiven Misstrauensvotum aufrufe. R A D

sei die günstigste Chance für den Ausstieg. ten“. Langsam wurde klar, was er be - „Noch höchstens 70 Tage“, wenn Kohl P P U J

Bis zuletzt ließ er dagegen Innen - trieb: die systematische Zerrüttung des und Genscher ohne Misstrauensvotum : O T O minister in dem Glauben, Bündnisses in Bonn. zu Neuwahlen bereit seien. n F

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