BETRACHTUNG DES GESAMTWERKS: „DAS WERK IST DIE TOTENMASKE DER KONZEPTION“ ¯®ª ÏWALTER BENJAMIN, EINBAHNSTRASSEÐ Abgeschlossene, unabschließbare, entworfene und gescheiterte/ zurückgezogene Werke von Pierre Boulez in einem unendlichen work in progress Im Werkverzeichnis der von der Paul Sacher Stiung edierten Sammlung „Pierre Boulez“1297 gibt es viele Werke, die entweder in vielen Fassungen über einen länge- ren Zeitraum immer wieder stark verändert weitergeschrieben wurden oder auch solche, die der Komponist ausdrücklich als verworfen bezeichnet und sie damit aus seinem Werk-Katalog gestrichen hat. Schließlich gibt es eine Anzahl von Stü- cken, die als abgeschlossen betrachtet werden können wie der berühmte Marteau sans maître von 1954. Ganz selten indessen ist der ausdrückliche Hinweis nach vielen Fassungen, mit deren Bearbeitung und Re-Komposition Boulez Jahrzehnte lang befasst war, wie bei Pli selon pli, wo es heißt: „version dénitve, 1989“. Weiter existieren Werke, von denen wir heute annehmen würden, dass sie vollendet sind wie die beiden „Livres“ („Bücher“) der Structures pour deux pianos (1951/52- 1954/62), zu denen der Komponist aber zusätzlich einen dritten Band vorgesehen hat, der konzeptionell schon weit fortgeschritten war und zu dem es zahlreiche Skizzen gibt, die sich wiederum auf die genetische Methode von Paul Klee und die romantische Poetik des leeren, eingelegten Blattes in einem Roman von E. T. A. Homann beziehen. Schließlich, und dies ist im Vorfeld unserer Überlegungen von grundsätzlicher Bedeutung, hatte Boulez einem abgeschlossenen Werkbegri gegenüber prinzipielle Zweifel, die im Zusammenhang der Entstehung von Poly- phonie X soweit gingen, dass er die überlieferte Form eines geschlossenen Werkes überhaupt zerstören wollte. So schreibt er in einem frühen Brief vom 30. Dezem- ber 1950 an seinen Freund John Cage im Zusammenhang der Polyphonies (dem Werk, das konzeptionell der Komposition von Polyphonie X vorausging), dass er damit „vor allem den Begri vom musikalischen Werk abschaen [möchte], das im Konzertsaal gegeben wird und aus einer festgelegten Anzahl von Sätzen be- steht; statt dessen ein Notenbuch, worin man die Dimensionen eines Gedichtban- 1296 Walter Benjamin, Einbahnstraße, Benjamin, Ges. Schriften, IV, 1., hg. v. Tillmann Rexroth, Frankfurt am Main 1991, S. 107. 1297 Sammlung Pierre Boulez. Musikmanuskripte (=Inventare der Paul Sacher Stiftung, Bd. 3), hg. v. Robert Piencikowski, Mainz 2008 (Schott-Verlag). F5998_Zenck.indd 727 29.09.16 11:45 «¯¬ BETRACHTUNG DES GESAMTWERKS des nden wird.“1298 Mit dem frühen „Werk“ der Polyphonies hatte er eine relativ oene Form vor Augen, die vor allem darin bestand, dass der Dirigent und die Musiker aus den 14 bzw. 21 Teilen deren Abfolge selbst auswählen und für die Auührung im Konzert festlegen könnten. Boulez hat zwar diese erste Version der Polyphonies zugunsten von Polyphonie X verworfen, es ist aber unverkennbar, dass er mit der beabsichtigen Auösung des traditionellen Werkbegris ein „oenes Kunstwerk“ im Sinne hatte, das er dann mit der dritten Klaviersonate (1954-56) verwirklichte. Bezeichnend ist dabei die kritische Selbstrevision von Positionen, denn auch die zweite Version der Polyphonies mit dem Titel der skandalträchtigen Urauührung von Polyphonie X 1951 in Donaueschingen unter dem Dirigenten Hans Rosbaud hat Boulez zurückgezogen und mit einer so ausdrücklichen Ver- werfung belegt, dass er dies Werk im Gegensatz zu anderen zurückgezogenen nie wieder anfassen wollte (etwa im Gegensatz zur verworfenen und spiralförmig konzipierten Raum-Konzeption von Poésie pour pouvoir von 1956, dessen Ent- wicklungspotential Boulez später dann im Jahre 1981 mit dem nicht-euklidischen Raum von Répons wieder aufnahm und weiter entwickelte). Zu den ganz verschie- denen Werk-Konzeptionen zählen schließlich auch diejenigen, die weit über den reinen Entwurfscharakter hinaus gediehen waren, wie das frühe Chorwerk Oubli signal lapidé (1952-53) nach Gedichten von Armand Gatti – und das nur in Brief- form konzipierte Werk A la santé du serpent (1948), das einmal als viertes Stück innerhalb einer auf Gedichte von René Char bezogenen Tetralogie zusammen mit Le Visage nuptial, (1946-1989,Le Soleil des eaux (1948-1968) und Le Marteau sans maître (1952-1955) gehören sollte. Offener, geschlossener Werkbegriff im 19. und 20./21. Jahrhundert? Es ist hier nicht der Ort, Boulez’ Vorstellung vom geschlossenen Werk, das er überwinden wollte, in Frage zustellen. Dennoch ist ein doppelter historischer Hintergrund für die weitere Diskussion in Erinnerung zu rufen. Einmal gab es durchaus die Vorstellung eines opus perfectum metaphysicum, etwa in Wagners Parsifal (ob es eine wahnhae Idee war, sei dahingestellt). Gegenüber diesem voll- endeten und metaphysisch begründeten Werk bestand aber zum anderen der Sachverhalt, dass in der Auührungsgeschichte von Werken der Wiener Klassik im frühen 19. Jahrhundert in Wien, selten ganze Werke im Konzert gespielt wur- den, sondern immer auch nur einzelne Sätze, so dass auf einen Satz einer Mo- zart-Sinfonie durchaus ein anderer Satz aus einem Klavierkonzert Beethovens folgen konnte, das wiederum von der berühmte Arie „A perdo“ Beethovens wei- tergeführt und das Konzert zum Abschluss brachte. Darüber hinaus, um Boulez’ Position hier weiter in Zweifel zu ziehen, ging die romantische Konzeption etwa 1298 Pierre Boulez – John Cage. Der Briefwechsel, Frankfurt am Main 1997, S. 94. F5998_Zenck.indd 728 29.09.16 11:45.
Details
-
File Typepdf
-
Upload Time-
-
Content LanguagesEnglish
-
Upload UserAnonymous/Not logged-in
-
File Pages2 Page
-
File Size-