1 99. 8. April 1975

1 99. 8. April 1975

SPD – 07. WP Fraktionssitzung: 08. 04. 1975 (Tonbandtranskript) 99. 8. April 1975: Fraktionssitzung (Tonbandtranskript) AdsD, SPD-BT-Fraktion 7. WP, 6/TONS000037. Titel: »Fraktionssitzung am 08. 04. 1975«. Beginn: 15.00 Uhr. Aufnahmedauer: 03:13:02. Vorsitz: Wehner. Sitzungsverlauf: A. TOP 1: Politischer Bericht des SPD-Vorsitzenden Brandt (Reise in die USA; Reise nach Mexiko; Reise nach Venezuela; Situation in Portugal; Europarat; Umfragen). Aussprache der Fraktion (Vietnam; Portugal; Mexiko; Europäisches Arbeiterkomitee/Europäische Arbeiterpartei). B. Bericht von Bundeskanzler Schmidt (Humanitäre Hilfe für Vietnam; humanitäre Lage der Kurden in der Türkei; Kissinger-Mission im Nahen und Mittleren Osten; Wahl- kampf in Schleswig-Holstein, Saarland und in Nordrhein-Westfalen; bundesdeutsche Konjunktur; Volkswagen) – Aussprache der Fraktion (Zinswende; Artikel von Bundes- minister Leber in der »Frankfurter Allgemeinen«). C. TOP 2: Bericht aus dem Fraktionsvorstand (Schreiben Walter Arendts an die Bundes- tagspräsidentin über die Rentenreform 1972; Energieprogramm; Untersuchungsaus- schüsse, u. a. Guillaume; Enquetekommission; Vorsitz Verteidigungsausschuss). D. TOP 4: Aktuelles aus den Arbeitskreisen (Delegationsreise der Arbeitsgruppe Haushalt; Novelle des Güterkraftverkehrsgesetzes). – TOP 3: Informationen (Verleumdungen im Bundesanzeiger; Reaktion auf CDU/CSU-Antrag zur Erhaltung der Pressevielfalt; Ter- mine für die Novellierung der betrieblichen Mitbestimmung; Unstimmigkeiten bei der Kindergeldzahlung; Verwendung übrig gebliebener Mittel des Konjunkturprogramms für die Schaffung von Arbeits- oder Ausbildungsplätzen). E. Vorbereitung der Plenarsitzungen: TOP 5: Tagesordnung und Ablauf der Plenarsitzun- gen. – TOP 6: 2. und 3. Beratung Änderung Bundeswahlgesetz. – TOP 7: 2. und 3. Bera- tung Förderung von Wohnungseigentum und Wohnbesitz. – TOP 8: 1. Beratung Gesetz zu dem Gesundheitsabkommen zwischen der Bundesrepublik und der DDR. – TOP 9: 1. Beratung Regierungsentwurf und Bundesratsentwurf Bundesausbildungsförderungs- gesetz. – TOP 10: Ausschussbericht betr. Neufassung der Geheimschutzordnung. F. Vorlagen aus den Arbeitskreisen: TOP 11: Änderung des Zivildienstgesetzes. – Sonsti- ges: TOP 12: Ausschussumbesetzungen. – TOP 13: Bundestagsdelegationen. – TOP 14: Nächste Termine. – Verschiedenes. [A.] Wehner: Die Sitzung ist eröffnet. – Ich heiße unser neues Fraktionsmitglied, den Ge- nossen Siegfried Röhlig herzlich willkommen, der erstmals hier sitzt. (Beifall.) Im Plenum war er schon zur Stelle in der Woche vor Ostern, pünktlich. Er ist Nachfol- ger von dem Willi Berkhan, der grade verdeckt wird durch Jahn, dem ich sowieso zum Geburtstag zu gratulieren habe. (Beifall.) Wir werden ja nicht vergessen, dass er zur Fraktion solange gehört hat und weiterzieht, obwohl er jetzt der – wie ich von ihm gelesen habe – Wehrbeauftragte aller im Bundes- tag ist. Was richtig ist! Aber bei uns ist er jederzeit willkommen. (Beifall.) Copyright © 2020 KGParl 1 SPD – 07. WP Fraktionssitzung: 08. 04. 1975 (Tonbandtranskript) Ja, ein großer Teil von Mitgliedern unserer Fraktion hat es möglich machen können, trotz vieler anderer einander überschneidender Sitzungen, heute Mittag zu dem Steh- empfang anlässlich Fritz Schäfers 60. Geburtstag zu kommen. Wir haben auf diese Wei- se versucht, ihn darüber zu trösten, dass er 60 geworden ist. (Beifall.) Wird das Wort zur Tagesordnung gewünscht, Genossen? Wenn nicht, dann rufe ich auf Punkt 1. Dazu hat das Wort Willy Brandt. Brandt (Berlin): Liebe Genossinnen und Genossen, ich möchte zunächst der Fraktion einige Eindrücke vermitteln, die ich während der Karwoche in den Vereinigten Staaten gesammelt habe. ’Ne ganze Menge Leute dort gesehen, Präsident, Außenminister, Leu- te aus dem Senat und Repräsentantenhaus, Leute in New York, Leute auch außerhalb dieser beiden großen Städte. Der eine und andere wird vielleicht registriert haben, dass ich bei der Rückkehr sagte, bei meinen vielen Besuchen, und ich habe im Laufe der letzten Jahre viele Besuche in den Vereinigten Staaten gemacht, habe ich das Land und seine politisch führenden Kräfte noch nie in einem solchen Zustand der Unsicherheit und der Irritation erlebt. Und ich möchte, dass die Genossen dies verstehen, immer vorausgesetzt, dass meine Deutung richtig ist, dass die Genossen dies nicht nur bezie- hen auf die Erschütterung, die eingetreten ist in Bezug auf die weltpolitische Rolle der Vereinigten Staaten. Da spielt natürlich die Entwicklung in Südostasien eine beträchtli- che Rolle. Es fällt zusammen – obwohl das, was man als den Watergate-Komplex be- zeichnet hat, mehr oder weniger abgehandelt ist –, es fällt zusammen doch mit starken inneren Spannungen und Reibungen, die sich ja im Grunde zu einem konstitutionellen Konflikt verschärfen. Die Lage ist ja die, dass man zwar in den Vereinigten Staaten schon häufig im Laufe der Geschichte einen Kongress gehabt hat mit anderer parteipo- litischer Färbung, als es der politischen Richtung des Präsidenten entspricht, aber selten eine Situation wie jetzt, wo der Kongress sagt, und zwar gilt das nicht nur nach den Parteilinien Demokraten – Republikaner, sondern eine ganze Reihe von Republikanern sind hier mit dem größten Teil der Demokraten einer Meinung, dass sie bestimmte Teile der Politik des Präsidenten nicht zu tragen und vor allem auch zu finanzieren bereit sind. Und manche dieser Dinge sind in meiner eigenen Gegenwart unter den Beteiligten aus Regierung und Kongress abgehandelt worden, so dass ich einen ziemlich genauen Einblick in diese Dinge habe gewinnen können. Nun bitte ich, nicht dies einfach – wie es hier und da bei uns in der Presse erscheint – aufzufassen als einen plötzlichen und, wie manche dann auch meinen, lang andauern- den Rückfall der Vereinigten Staaten in das, was man Isolationismus nennt. Es gibt, ich sage verständlicherweise, das kann man auch aus einigen Umfragen ablesen, es gibt zweifellos dort ein Gefühl der Müdigkeit gegenüber manchen weltpolitischen Engage- ments, die die im Laufe der Jahre eingegangen sind. Meine Einschätzung ist, dies wird nicht die amerikanische Politik werden, schon gar nicht auf Europa bezogen, auch nicht auf ihr Verhältnis zur Sowjetunion bezogen – das, was man Isolationismus nennt. Aber es lohnt, doch damit zu rechnen, dass diese westliche Führungsmacht, dieser auch Hauptverbündete der Bundesrepublik Deutschland und des westlichen Europa in den nächsten Jahren mehr mit sich selbst beschäftigt sein wird, als es den Außenverantwor- tungen und Verpflichtungen einer so großen Macht vielleicht zuträglich ist. Es gibt kaum antieuropäische Aspekte in diesem Vorgang, soweit man ihn beobachten kann – eher im Gegenteil. Es gibt eher aufgrund der Entwicklung in Südostasien eine Neigung, die Verbindung zu Europa noch zu straffen und auch das, was man Détente nennt, das heißt das Verhältnis zur Sowjetunion nicht abkühlen zu lassen, wenn man es vermeiden Copyright © 2020 KGParl 2 SPD – 07. WP Fraktionssitzung: 08. 04. 1975 (Tonbandtranskript) kann, sondern zu entwickeln und auch an den West-Ost-Dingen auf Europa bezogen weiter mitzuwirken. Ich habe auch schon auf meiner Pressekonferenz in der vorigen Woche gesagt, dass meiner Meinung nach gerade in dieser Situation, die ich nur mit einigen Stichworten kennzeichne, aus unserer eigenen Sicht und aus meiner eigenen Überzeugung alles, was in die Richtung von Antiamerikanismus geht, dumm ist und politisch gesehen Gift wäre. Dies ist eine Zeit, in der die Europäer zeigen müssen, dass sie sich auf die Schwie- rigkeiten eines Partners – nicht irgendeines, sondern des wichtigsten Partners – einzu- stellen vermögen und einen Dialog zu führen in der Lage sind, wie er jetzt erforderlich ist. Ich möchte hier ein offenes Wort sagen, liebe Genossen, zu dem Thema Vietnam. Ich sage das auch, nachdem wir heute im Präsidium der Partei darüber gesprochen haben und uns verständigt haben, dass wir eine etwas sorgfältige Stellungnahme ausarbeiten wollen, die allerdings vielleicht schon etwas überholt wird dadurch, dass vielleicht auch – aber da wird in einem anderen Zusammenhang wohl noch die Rede von sein – das Thema wohl schon in diesen Tagen auch vor dem Bundestag auf die eine oder andere Weise zur Sprache kommt, weil andere ein Bedürfnis danach haben, es zur Sprache zu bringen. Ich würde sagen, wir wären von allen guten Geistern verlassen, wenn wir aus- gerechnet in der Bundesrepublik Deutschland und als deutsche Sozialdemokraten im Jahr 1975 eine Debatte nachvollziehen wollten, mit der die Amerikaner sich selbst 15 Jahre lang jetzt quälen und vor allen Dingen die letzten fünf Jahre gequält haben. (Vereinzelter Beifall.) Ganz zu schweigen von all den Opfern, die in diesem tragischen Konflikt draufgegan- gen sind. Ich will übrigens, damit die Adressen nicht falsch verstanden werden – ich habe mit großem Respekt gelesen, was Georg Leber geschrieben hat, und verstehe auch seine Sorgen, die Sorgen eines Verteidigungsministers mit dem Blick auch auf die Streitkräfte in den Vereinigten Staaten. Insofern – das, was ich selbst zur Beurteilung zu sagen habe, hat nicht dies als Adresse, sondern ich sage unabhängig davon, dass ich sehr die Genossen darum bitten muss, wie immer der Einzelne die Dinge im Laufe der Jahre gesehen hat, uns nicht hineinzureden, als könne man von irgendeinem Parallelismus ausgehen zwischen Südostasien und Europa, und als sei die Politik Amerikas in Südost- europa – damit handelten wir gegen unseren eigenen Interessen, wenn wir dies täten – in einen Zusammenhang zu stellen zur Ernsthaftigkeit der amerikanischen Verpflich-

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