183 | Wolfgang Schmid | Die medizinische Versorgung in den Landkreisen Mayen und Koblenz-Land sowie in der Stadt Koblenz um 1900 Gesundheit und Hygiene im Kaiserreich Unser Thema ist hochaktuell: Es geht um die medizi- Das 19. Jahrhundert war nicht nur die Zeit der in- nische Versorgung auf dem Lande in einer Phase des dustriellen Revolution, sondern auch eine Zeit ge- demographischen Wandels. Die heutige Bevölke- waltiger medizinischer Fortschritte: Die Ursachen rung wird immer älter und hat einen immer höheren der Seuchen wurden entdeckt und bekämpft , die Bedarf an ärztlichen und pfl egerischen Leistungen. moderne Chirurgie kam auf, der Fortschritt in der Dem steht eine boomende Dienstleistungsbranche Hygiene setzte sich nicht nur in den Krankenhäu- gegenüber, in der die Krankenkassen, die Pharmain- sern durch, sondern drang von den Städten ausge- dustrie, die Kassenärztliche Vereinigung, der Hart- hend auch aufs Land vor. Der Staat griff mit preußi- mannbund und der Gesetzgeber mit harten Banda- scher Gründlichkeit in viele Bereiche des täglichen gen kämpfen, geht es doch um einen Kuchen im Wert Lebens ein. Aber wie gut oder wie schlecht war die von 328 Mrd. Euro; Tendenz steigend. medizinische Versorgung im ländlichen Raum vor einhundert Jahren? Hinzu kommen weitere Faktoren: Seit dem 19. Jahrhundert ist das Wissen um die Ursachen der Für die Gegenwart besitzen wir den „Kreisatlas zur Krankheiten, ihre Entstehung, Vermeidung und vertragsärztlichen Versorgung. Kreis Mayen-Ko- Behandlung erheblich gewachsen. Verbunden mit blenz. Stadt Koblenz“ von 2014, der jede Arztpraxis einer besseren Ernährung und dem weitgehenden und jedes Klinikbett aufzählt sowie umfangreiches Verschwinden harter körperlicher Arbeit hat dies statistisches Material zur Struktur und Gesundheit zu einer deutlichen Verlängerung der Lebenser- der Bevölkerung zusammenträgt.1 Leider entstand wartung gefü hrt. Parallel dazu sind auch die An- der heutige Kreis Mayen-Koblenz erst im Jahre sprüche gestiegen; fü r Geld scheint alles möglich: 1970, und die Verwaltungsreform ist der natürliche Mutterschaft mit 60, volles Haar mit 70, ein ma- Feind des Historikers, weil sie statistische Reihen kelloses Gebiss mit 80, künstliche Hüft gelenke mit durchtrennt und neue räumliche Bezugseinheiten 90 und zum 100. Geburtstag ein Treppenlift . Die schafft . 1816 entstanden die Kreise Koblenz und Frage nach „gut“ oder „schlecht“, nach „gesund“ Mayen, 1887 gliederte man die Stadt Koblenz aus oder „krank“ ist aber auch eine des höchst unter- dem Landkreis Koblenz-Land aus. Dem Landkreis schiedlichen Ermessens und Befi ndens. Der eine Mayen wurde 1932 der halbe Kreis Adenau zuge- kann warten, bis am Montag sein Hausarzt die Pra- wiesen. 1970 fu sionierten dann die beiden Land- xis wieder geöff net hat, der andere muss sofort in kreise zum Kreis Mayen-Koblenz. die Notaufnahme. Einer fü hlt sich in den Häusern des Gemeinschaft sklinikums Mittelrhein gut auf- gehoben, der andere glaubt, so schwer erkrankt zu 1 https://www.kv-rlp.de/fileadmin/user_upload/Down- sein, dass ihm fachkundig nur im Bundeswehrzen- loads/Institution/Engagement/Versorgungsforschung/ tralkrankenhaus geholfen werden kann. Kreisatlas_Mayen-Koblenz_Koblenz.pdf 184 Die medizinische Versorgung in den Landkreisen Mayen und Koblenz-Land Haus- und Fachärzte. Kreisatlas zur vertragsärztlichen Versorgung. Kreis Mayen-Koblenz. Stadt Koblenz (2014). Karte: Kassenärztliche Vereinigung Rheinland-Pfalz 1835 veröff entlichte der Arzt und Historiker Ju- unterstützt wurden, z. B. durch Medizin, Kinder- lius Wegeler den „Versuch einer medicinischen kleidung und Schulgeld. Das städtische Hospital Topographie von Koblenz“.2 Er lobte die Häuser nahm „altersschwache und gebrechliche Einwohner und Straßen der Stadt, es gäbe aber auch „enge, auf Lebenszeit“ auf, außerdem „erkrankte Einwoh- feuchte und dunkle Wohnungen der ärmeren Klasse“, ner der Stadt“, „erkrankte Reisende und Fremde“, welche die Tuberkulose begünstigten. Zufr ieden Handwerksgesellen sowie Dienstboten. Für die war er mit dem Trinkwasser, das man aus Brun- Landbevölkerung war es nicht vorgesehen. nen schöpft e – eine moderne Wasserversorgung entstand erst Jahrzehnte später nach den großen Im Hospital waren ein Arzt, ein Wundarzt und sie- Choleraepidemien. 13.307 Seelen lebten in der ben Barmherzige Schwestern tätig. 1832 wurden Stadt, darunter 900 Handwerker, 46 Metzger, 35 648 Personen verpfl egt und 537 Kranke behandelt, Bäcker, 130 Wirte, 168 männliche und 1.010 weib- davon hatten 244 innere und 108 äußere Krankhei- liche Dienstboten, außerdem 13 Blinde und vier ten, 168 die Krätze und 17 Syphilis. Dafü r machte Taubstumme. 250 „Individuen“, die oft eine Familie Wegeler teilweise die Bordelle verantwortlich, die besaßen, erhielten aufgrund ihrer Armut öff entli- er als notwendiges Übel bezeichnete. In Koblenz che Unterstützung. Noch größer war die Zahl der gab es 20 Ärzte, von denen 15 „Wundärzte“ (Chir- Personen, die „aus den verschiedenen Armenfonds“ urgen) waren und neun eine Approbation als „Ge- burtshelfer“ hatten. Sechs von ihnen gehörten dem Militär an. Hinzu kamen weitere fü nf Wundärzte, 2 http://www.dilibri.de/urn/urn:nbn:de:0128-1-9270. von denen vier zusätzlich Geburtshelfer waren. Die medizinische Versorgung in den Landkreisen Mayen und Koblenz-Land 185 Krankenhaus in Bassenheim. Aquarell (um 1900). Martinus- Museum Bassenheim Repro: Wolfgang Schmid Außerdem zählte man fü nf Apotheken sowie eine lose sei selten, dagegen waren „Unterleibsleiden“ im Hospital. Wenn man die sechs Militärärzte un- bei Personen, „die viel sitzen und grübeln, viel es- berücksichtigt lässt, die ja vorrangig fü r die Gar- sen und wenig schlafen“ verbreitet, vor allem bei nison zuständig waren, deren Größe Wegeler aber Schuhmachern und Webern. Von den in „Coblenz nicht angibt, dann kommt man auf 19 Ärzte bzw. geborenen Irren“ befanden sich drei in der „Irren- 14,2 Doktoren auf 10.000 Einwohner. Heute sind Heil-Anstalt zu Siegburg“ und einer in der „Irren- es in der Stadt Koblenz 30,4 und im Kreis Mayen- Versorgungs-Anstalt zu St. Thomas bei Andernach“. Koblenz 13,9 – die Ärztedichte war also 1832 er- staunlich hoch. Bei den Apotheken sind es 3,8 pro Machen wir einen Sprung von 70 Jahren. Das 10.000 Bewohner, heute beträgt die Quote fü r die „Adreßbuch der Residenzstadt Coblenz, der Stadt Stadt 3,6 und fü r den Kreis 2,4. Ehrenbreitstein und der Gemeinden Pfaff endorf, Horchheim und Arenberg, der Gemeinde Metter- Wegeler stellt fest: „Koblenz ist unstreitig eine der nich und der Stadt Vallendar“ von 1909 verzeich- gesundesten Städte am Rhein.“ In den letzten Jah- net 46 Ärzte.3 Aus den detaillierten Angaben kann ren kämen Ruhr, Typhus und Cholera nur selten man eine zunehmende Spezialisierung erkennen: vor. „Nervenfieber“, das häufi g den Darm angreife, Vier Doktoren haben sich auf HNO-Erkrankungen sei sehr verbreitet. Das Kindbettfi eber sei selten. spezialisiert, drei waren Augenärzte, einer Kinder- Scharlach und Masern träten epidemisch auf, eben- arzt und einer betrieb eine „Privatklinik fü r Frau- so die Infl uenza. „Scrofeln [Hauttuberkulose] und enkrankheiten“, weiter gab es zwei Frauenärzte, Rachitis“ seien ein Dauerthema, zudem ein unleidi- eine „Privatklinik fü r Haut- und Geschlechtskrank- ges, weil die Ärzte nichts gegen die Fehlernährung der Kinder sowie den Schmutz und die schlechte Luft in den Wohnungen machen könnten. Tuberku- 3 http://www.dilibri.de/rlb/periodical/titleinfo/6757. 186 Die medizinische Versorgung in den Landkreisen Mayen und Koblenz-Land Postkarte mit Kranken- hauskapelle und Schloss in Bassenheim (um 1950). Dr. Cord-Michael Sander. Repro: Wolfgang Schmid heiten“ und einen „homöopathischen Arzt“. Bemer- nen in Koblenz-Moselweiß, das St. Josephinenstift kenswert sind auch die Sprechstunden; fast alle (die Haye’sche Stift ung), das Marienhaus der Fran- Ärzte hatten sonntagvormittags geöff net. Zu den ziskanerinnen und den Marienhof der Schwestern 46 Ärzten kamen sechs Zahnärzte. Koblenz hatte vom Heiligen Geist. Hinzu kamen katholische und damals 54.000 Einwohner in 11.000 Haushalten, evangelische Waisenhäuser sowie mehrere Klein- man kommt auf 9,6 Ärzte pro 10.000 Patienten, kinder-Bewahranstalten. also deutlich weniger als 1835, wobei die Mehrzahl der Ärzte in der Altstadt und nicht in den einge- Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs war die meindeten Vororten ansässig war. Dies gilt auch fü r Stadt Koblenz zu einem medizinischen Versor- die Apotheken, deren Zahl weiterhin sechs betrug. gungszentrum fü r die Großregion geworden. Deut- Außerdem fi nden wir in dem Adressbuch 14 Heb- lich erkennt man, wie sich der Fortschritt in allen ammen, zehn „Krankenpfl egeartikel-Handlungen“ Bereichen der medizinischen Forschung in den gro- und neun Zahntechniker, von denen acht am Sonn- ßen Städten der Rheinprovinz ausgebreitet hatte. tagvormittag auf Kunden warteten. Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der Ver- Das „Städtische Hospital“ beschäft igte 1909 drei eine. Das Adressbuch von 1909 liefert uns eine Ärzte, drei Assistenzärzte und 30 Borromäerinnen. aufschlussreiche Übersicht über die Koblenzer Ver- Weiter gab es ein „Städtisches Wöchnerinnen- eine, die berufsständische, kulturelle, karitative, Asyl“ mit einem Arzt und einer Hebamme sowie gesellige und sportliche Ziele verfolgten. So gab das Evangelische Stift St. Martin mit zwei Ärzten es den „Coblenzer Aerzteverein“ und den „Deut- und acht Kaiserswerther Diakonissen. Leider ha- schen Apotheker-Verein: Kreis Coblenz“ sowie den ben wir keine genauen Angaben zum Krankenhaus „Rheinischen Apothekerverein“
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