Renato Curcio Mit offenem Blick Ein Gespräch zur Geschichte der Roten Brigaden in Italien von Mario Scialoja Aus dem Italienischen von Dario Azzellini ID Verlag 2 3 Einleitung Renato Curcio Das vorliegende Buch bezieht sich auf einige Ereignisse aus meinem Mit offenem Blick Leben – auf die Erinnerungen, die ich daran habe. Es zeichnet ein ganz Ein Gespräch zur Geschichte der bestimmtes Bild von mir: eines, das in vielen Gesprächen in einem Roten Brigaden in Italien schmucklosen kleinen Zimmer im Gefängnis Rebibbia1 entstanden ist. von Mario Scialoja. Meine Erinnerungen wären sehr wahrscheinlich nicht die gleichen gewesen, hätte ich im Schatten einer großen Buche gesessen. Auch ist die Aus dem Italienischen biographische Erzählung oftmals trügerisch. Sie steckt willkürliche Unter- von Dario Azzellini schiede im Fluß der gesellschaftlichen Ereignisse ab und bedient sich der Lektorat: Kittel/Fanizadeh unbeständigen Sprache individueller Mythen. Ich bitte die Leser, den über die Jahre veränderten Blick zu beachten © ID Verlag und die folgenden Seiten leichten Herzens zu durchstreifen, ohne sich Postfach 360 605 durch jene Schatten der »Endgültigkeit« betrügen zu lassen, die das 10972 Berlin geschriebene Wort irgendwie immer mit sich schleift, selbst wenn es ISBN: 3-89408-068-x leichthin geäußert wurde. 1. Auflage 1997 Ich habe mich auf das Gespräch mit Mario Scialoja aus zwei Gründen eingelassen: Ich wollte mich den vielen Fragen stellen, die von mehreren © der italienischen Originalausgabe Seiten an mich gerichtet wurden. Da ich eine Person des öffentlichen Arnoldo Mondadori Editore SpA Lebens bin, glaube ich, daß dies unausweichlich ist. Es wäre kleinmütig, sich dem zu entziehen. Hinzu kam, daß ich die Arbeiten des Interviewers Gestaltung: seit Jahren verfolgte, ihn persönlich bereits kannte und ihm auch ver- SupportAgentur, Berlin traute. Druck: Winddruck, Siegen Zum Schluß noch eine Anmerkung: Sollte ich mit meinen Worten jemanden empfindlich getroffen haben, bitte ich um Nachsicht. Ich habe Buchauslieferungen es vermutlich nicht vorsätzlich getan, da ich kein Freund der herrschende BRD und Österreich: SoVa Mode der Beleidigungen, Unterstellungen und Verleumdungen bin. Schweiz: Pinkus Genossenschaft Niederlande: Papieren Tijger Renato Curcio 4 5 Zum ersten Mal interviewte ich Renato Curcio im Januar 1975, als er sich In meiner Rolle als Chronist war ich bemüht, in der Erinnerung des im Gefängnis von Casale Monferrato befand. Ich ließ ihm die Fragen Interviewten zu graben. Mein Ziel war, Curcio dazu zu bewegen, ein schriftlich über seinen Anwalt, Edoardo di Giovanni, zukommen, über historisches Gesamtbild zu präsentieren, gerade um den Jüngeren jene den ich auch einige Tage später die getippten Antworten bekam. Damals dramatischen Ereignisse aus den 70er Jahren etwas näherzubringen. benutzte der Leiter der Roten Brigaden noch ausschließlich das schema- Mit offenem Blick ist das Ergebnis von fünfzehn Gesprächen, etwa 35 tische und abstruse Kauderwelsch des rigidesten Marxismus-Leninismus. aufgezeichneten Stunden, durchgeführt am Tisch eines »Anwaltszimmers« Auf persönliche Fragen zu antworten, lehnte er ab. in Rebibbia. Zwölf Jahre später, im Januar 1987, traf ich Curcio zum ersten Mal Wie im Journalismus üblich, hatte ich anfangs meinen Gesprächs- persönlich im Gefängnis Rebibbia. Das Gespräch dauerte über drei partner gesiezt, aber im Laufe der Zeit und mit Vertiefung unserer Aus- Stunden. einandersetzung schien diese Formel in störender Weise künstlich, und Mit diesem Interview brach er sein langes Schweigen in der Gefan- wir gingen zum »Du« über. genschaft: Er definierte seine Position als die einer Person, die »nichts Ich möchte nicht vergessen, mich bei der Generaldirektion der Haft- bereut 2, nicht abschwört 3 und unbeugsam 4« ist. Gleichzeitig lancierte er anstalten für die gewährten Genehmigungen, und besonders beim Wach- einen Appell zugunsten der »Kampagne für die Freiheit« aller politischen personal des Gefängnisses von Rebibbia für die Höflichkeit, die es mir Gefangenen und Exilierten. Ich traf auf einen freundlichen Mann, der entgegenbrachte, zu bedanken. klar und gefaßt Auskunft gab. Und ich fand Gefallen an seiner nüchter- Mario Scialoja nen und direkten Art, in die er seine sehr lebendigen Erzählungen ein- streute. Ich war überzeugt, daß im direkten Gespräch sehr viel über das Leben und die Wege einer Symbolfigur des bewaffneten Kampfes zu erfahren sein würde. Ich schlug Curcio das Projekt eines Interview-Buches vor. Er entgegnete, daß er lieber »als freier Mann« sprechen würde, ohne die Ein- schränkungen der Haft, wenn er Teile seiner Existenz bloßlegen sollte. In den folgenden Jahren, bei weiteren Treffen, sprach ich immer wie- der von dem Projekt. Im Frühjahr 1992 gelangte der Gründer der Roten Brigaden endlich zu der Überzeugung, daß der Augenblick, seine Geschichte zu erzählen, gekommen sei. Nun liegt sie vor, um analysiert und kritisiert zu werden. Verleugnen muß er sich dabei nicht. 6 7 1. Die erste Brigade Wie seid ihr auf den Namen Rote Brigaden gekommen? Wir fuhren gerade mit dem Auto quer durch Mailand. Es war ein lauer Septembernachmittag im Jahre 1970. Wir saßen zusammengepfercht in einem klapprigen Fiat 850. Margherita und ich waren in Begleitung eines Arbeiters von Pirelli und eines anderen Genossen, eines späteren Briga- disten, dessen Name ich nicht nenne, da niemals gegen ihn ermittelt wurde. Die Atmosphäre war bereits weit weniger prickelnd als im Jahr zuvor. Nach dem Bombenanschlag, dem Massaker auf der Piazza Fon- tana 5, war die allgemeine Stimmung düster und angespannt. Wir disku- tierten über Themen, die uns in jenen Tagen dringlich schienen: über die Krise von Sinistra Proletaria 6 und wie andere Formen der Präsenz bei den Arbeiterkämpfen in den Mailänder Fabriken zu entwickeln wären. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir unverhüllt agiert. Man hatte uns fotografiert und gefilmt, einige Arbeiter waren bereits entlassen worden. So konnte es nicht weitergehen. Die Entscheidung, »Sinistra Proletaria« als Projekt zu beerdigen, war bereits gefällt. Die Frage war: Wie sollte es nun weiterge- hen? Wir saßen im Auto und sprachen über all diese Dinge. Ich erzählte von den Tupamaros in Uruguay 7, einer Guerilla, die nicht mehr nur in den ländlichen Gebieten kämpfte, sondern sich auch in den Städten orga- nisierte. Ich meinte, wir sollten uns ein Beispiel an ihnen nehmen. Wir waren kurz vor dem Piazzale Loreto, als der Arbeiter aus Bicocca 8 die Diskussionen auf seine Weise zusammenfaßte: »Wir können uns die- ses Jahr nicht länger vom Pellegrini verarschen lassen. Der wird sonst nie aufhören, sich hinter irgendwelche Container zu stellen und Fotos zu machen ...« Pellegrini war einer der Aufseher bei Pirelli. Er machte seinen Job und bespitzelte Demos in der Fabrik, Streikposten, kleine Versamm- lungen. Er knipste einfach alles. 8 9 »Warum fackeln wir ihm nicht sein Auto ab?« schlug der andere Nein, nach Pisacane konnten wir uns nicht benennen, das wäre kein gutes Genosse vor. »Wenn wir ihm direkt in der Fabrik eins draufgeben, verlie- Omen gewesen. ren einige ihren Arbeitsplatz, wenn wir ihm aber das Auto einäschern und Also, was für Brigaden? Das passende Eigenschaftswort fiel uns auf der ein Flugblatt in Umlauf bringen, in dem wir sagen: Du gehst uns auf den Via Padova ein. Wir fuhren gerade an einer historischen Sektion der Keks, wir haben deine Spitzeleien satt, verpiß dich ...« In den voran- PCI10 vorbei, als der Genosse am Steuer unsere Ausschweifungen unter- gegangenen Monaten hatte es viele Gespräche über die Notwendigkeit brach: »Seht her, diese Sektion war in der Nachkriegszeit eine Hochburg militanter Aktionen gegeben. Sie waren reine Zeitverschwendung gewe- der Volante Rossa 11, mein Vater war auch dabei ...« sen. Aber irgend etwas sagte mir, daß wir genau in diesem Moment, in »Dann nennen wir uns die Volante Rossa von Pirelli«, meinte der diesem kleinen alten Wagen, kurz davor standen, eine wirkliche Arbeiter, der einen Namensvorschlag nach dem anderen machte. »Nein«, Entscheidung zu treffen ... antworteten wir,« die Volante Rossa gehört der Vergangenheit an, wir kön- nen doch nicht einen historischen Namen nehmen.« Aber wie seid ihr auf den Namen gekommen? Daraufhin sagte Margherita: »Soweit ich weiß, war die Befreiung von Das kommt gleich. Das Auto anzuzünden, das konnte gehen. Ein Droh- Andreas Baader durch die Genossen der RAF, der Roten Armee Fraktion, Flugblatt zu schreiben auch. Aber wie sollten wir es unterzeichnen? die erste Stadtguerillaaktion in Europa: ›Armee‹ scheint mir zwar in unse- Einfach anonym zu bleiben, das wollten wir auf keinen Fall. Die rem Fall etwas übertrieben, aber Rote Brigade gefällt mir. Rote Brigade, Möglichkeit der Anonymität wurde gleich ausgeschlossen. »Es ist ja nur was meint ihr?« ein Auto und dazu auch noch ein ziemlich kaputtes«, sagten wir uns, »aber Ich fand sofort, daß es gut klang. Die anderen ebenfalls, und so wurde wenn wir schon eine solche Aktion machen, und uns auf neue Wege bege- der Name gleich beschlossen. Für die ersten Aktionen bei Pirelli schrieben ben, dann müssen wir das auch richtig machen, dann müssen wir auch wir Flugblätter, die mit »Rote Brigade«, also im Singular, unterzeichnet sagen, wer es gewesen ist ...« waren. Wir waren in jenen Herbsttagen nur ein kleines Grüppchen. »Na, dann sagen wir es halt«, meinte der Arbeiter von Pirelli, »wir Dessen waren wir uns auch bewußt. brauchen einen schönen Namen, einen, der einfach, direkt und gleich- zeitig Programm ist.« Und der fünfzackige Stern im Kreis? Wir fuhren gerade auf
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