Sprechen über Neue Musik Eine Analyse der Sekundärliteratur und Komponistenkommentare zu Pierre Boulez’ Le Marteau sans maître (1954), Karlheinz Stockhausens Gesang der Jünglinge (1956) und György Ligetis Atmosphères (1961) Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie (Dr. phil.) vorgelegt der Philosophischen Fakultät II der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Musik, Abteilung Musikwissenschaft von Julia Heimerdinger ∗∗∗ Datum der Verteidigung 4. Juli 2013 Gutachter: Prof. Dr. Wolfgang Auhagen Prof. Dr. Wolfgang Hirschmann I Inhalt 1. Einleitung 1 2. Untersuchungsgegenstand und Methode 10 2.1. Textkorpora 10 2.2. Methode 12 2.2.1. Problemstellung und das Programm MAXQDA 12 2.2.2. Die Variablentabelle und die Liste der Codes 15 2.2.3. Auswertung: Analysefunktionen und Visual Tools 32 3. Pierre Boulez: Le Marteau sans maître (1954) 35 3.1. „Das Glück einer irrationalen Dimension“. Pierre Boulez’ Werkkommentare 35 3.2. Die Rätsel des Marteau sans maître 47 3.2.1. Die auffällige Sprache zu Le Marteau sans maître 58 3.2.2. Wahrnehmung und Interpretation 68 4. Karlheinz Stockhausen: Gesang der Jünglinge (elektronische Musik) (1955-1956) 85 4.1. Kontinuum. Stockhausens Werkkommentare 85 4.2. Kontinuum? Gesang der Jünglinge 95 4.2.1. Die auffällige Sprache zum Gesang der Jünglinge 101 4.2.2. Wahrnehmung und Interpretation 109 5. György Ligeti: Atmosphères (1961) 123 5.1. Von der musikalischen Vorstellung zum musikalischen Schein. Ligetis Werkkommentare 123 5.1.2. Ligetis auffällige Sprache 129 5.1.3. Wahrnehmung und Interpretation 134 5.2. Die große Vorstellung. Atmosphères 143 5.2.2. Die auffällige Sprache zu Atmosphères 155 5.2.3. Wahrnehmung und Interpretation 163 6. Werkübergreifende Ergebnisse 179 6.1. Die auffällige Sprache 180 6.1.1. Komplexität 181 6.1.2. Superlative/Extreme/Radikales 182 6.1.3. Gewalt/Zerstörung 183 6.1.4. Macht/Autorität 185 6.1.5. Rätsel 186 II 6.1.6. Welt/Universum 187 6.1.7. Theologisch geprägtes Vokabular & Gottesanalogien 188 6.1.8. Schönheit & Aura 188 6.1.9. Evolution 189 6.2. Wahrnehmung und Interpretation 189 6.2.1. Phantombilder 190 6.2.2. Emotionen, Ausdruck, Drama 194 6.2.3. Effekte, Wirkungen, Impressionen 198 6.2.4. Weitgehende Aussagen, Deutungen 200 6.2.5. Verstehen, Hören, Vorder- & Hintergrund 201 6.2.6. Phasen und Tendenzen 202 6.3. Ausblick 204 7. Literaturverzeichnis 206 8. Grafische Darstellungen AUFFÄLLIGE SPRACHE 222 8.0. Legende 225 8.1. Pierre Boulez: Le Marteau sans maître 226 8.2. Karlheinz Stockhausen: Gesang der Jünglinge 259 8.3. György Ligeti: Atmosphères 284 1 1. Einleitung Thema dieser Arbeit ist das Sprechen über Neue Musik, speziell das Sprechen über drei sehr bekannte Werke der europäischen Nachkriegsavantgarde: Pierre Boulez’ Le Marteau sans maître (1954), Karlheinz Stockhausens Gesang der Jünglinge (1956) und György Ligetis Atmosphères (1961). Ziel der Analyse der Sekundärliteratur und der Komponistenkommen- tare zu den drei Werken ist es, herauszustellen, welche Begriffe im Kontext dieser Musik eine Rolle spielen und was über Themen der Wahrnehmung und Interpretation gesagt wird. Bei der Darstellung der verschiedenen Textkorpora wird von folgenden Fragen ausgegangen: Worüber wird in der Sekundärliteratur und in den Komponistenkommentaren überhaupt und wie viel gesprochen? Inwiefern reicht die Sprache auffällig über ein fachsprachliches bzw. musikterminologisches Besprechen der Musik hinaus? Welche Aussagen finden sich zu Aspekten wie Wirkungen, Emotionen, Bedeutungen, zum Verstehen und Hören, und auf welche musikalischen Sachverhalte beziehen sich diese Aussagen? ∗∗∗ Musik der europäischen Nachkriegsavantgarde hat den Ruf, schwer zugänglich und schwer verständlich zu sein. Entsprechend schwierig scheint es, angemessen über sie zu sprechen. Dies ist jedenfalls ein Eindruck, den man angesichts der umfangreichen Literatur und der Diskussionen zum Thema gewinnen kann. Andeutungen in diese Richtung finden sich schon in Titeln und Überschriften wie: „Warum ist die Neue Musik so schwer verständlich? Plädoyer für ein historisches Verständnis“ (Carl Dahlhaus 1986),1 „Keine Angst vor neuen Tönen“ (Ingo Metzmacher 2005), „Warum hört sich Neue Musik oft so anstrengend an?“ (Christiane Tewinkel 2005) oder „Fear of Music. Why People get Rothko but don’t get Stockhausen“ (David Stubbs 2009).2 1 Mit dem Titel rekurriert Dahlhaus offenbar auf Alban Bergs Aufsatz zu Arnold Schönbergs 50. Geburtstag 1924 „Warum ist Schönbergs Musik so schwer verständlich?“ (Arnold Schönberg zum 50. Geburtstage, 13. September 1924. Sonderheft der Musikblätter des Anbruch, 6. Jg., August-September-Heft 1924, S. 329–341. Der Text befindet sich inklusive Audiobeispiele auf der Website des Arnold Schönberg Centers Wien: http:// www.schoenberg.at/index.php?option=com_content&view=article&id=478&..). Theodor W. Adorno griff diese Formulierung bereits 1931 für seinen Vortrag: „Warum ist die neue Kunst so schwer verständlich?“ auf (in: Theodor W. Adorno, Musikalische Schriften V, Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden, Bd. 18, Frankfurt a.M. 1997, S. 824–831). 2 Quellen, die im Text wiederholt zitiert werden, werden verkürzt nach dem Schema [Autor Jahreszahl] angegeben und im Literaturverzeichnis vollständig nachgewiesen. Einmalig zitierte Quellen werden in den Fußnoten vollständig nachgewiesen: Ingo Metzmacher (2005), Keine Angst vor neuen Tönen, Berlin. Christiane Tewinkel (2004), Bin ich normal, wenn ich mich im Konzert langweile?, Köln. David Stubbs (2009), Fear of Music. Why People get Rothko but don’t get Stockhausen, Winchester. 2 Einleitung Dass bei der Auseinandersetzung mit Neuer Musik die Struktur-Wahrnehmung als die adäquateste Rezeptionsform anzusehen sei, ist ein weiterer Eindruck, der sich in Texten wie dem eben genannten Aufsatz von Dahlhaus vermittelt. Dahlhaus spricht hier zwar erst von zwei „ästhetisch legitimierbaren Möglichkeiten des Verstehens von Musik“, dem „Gefühls- verständnis“ und der „Struktur-Wahrnehmung“, und erklärt das „Gefühlsverständnis“ bei Neuer Musik für „am wenigsten gefährdet“: Den Ausdrucksbereich von Schönbergs Melodram Erwartung oder der Begleitmusik zu einer Lichtspielszene oder den Charakter von György Ligetis Orchesterstück Atmosphères zu verken- nen, dürfte nahezu unmöglich sein (ohne dass ein Rückhalt an musikalischer Bildung nötig wäre). (Dahlhaus 1986, S. 337) Ohne den „unverkennbaren Charakter“ von Ligetis Atmosphères jedoch zu erläutern, und obwohl er vorher noch davon gesprochen hatte, dass der Neuen Musik nicht mit „Ze- loten“ gedient sei, „die sämtliche Gegner unterschiedslos als süchtig nach einer Emotiona- lität verdächtigen, deren Genuß man sich durch das Postulat rationaler Anstrengung nicht stören lassen möchte“ (ebd., S. 337), äußert sich Dahlhaus einige Seiten später selbst in diesem Sinne: Andererseits ist Neue Musik, wenn die Sprache unangetastet bleibt, in Gefahr, zur bloßen Illustration von Vorgängen, die die Musik schildert, mißbraucht zu werden, weniger vom Komponisten, der sich selten die Ästhetik der Filmmusik außerhalb des Films zu eigen macht, als vom Publikum, das die Verstehens-Chance ergreift, die in der Degradierung der Musik zur bloßen Begleitung – in der Suspendierung ihrer formalen Ansprüche – nun einmal liegt. Zwölftonmusik, die in einem Schau- oder Hörspiel als tönende Chiffre von Angst zitiert wird – und der Anfang der schlechten Tradition wurde von Schönberg selbst gemacht –, erscheint sogar konservativen Hörern als durchaus verständlich und ist fast schon ein Stereotyp, wird allerdings kaum als Musik, sondern gewissermaßen über die Musik hinweg als Indiz des ausgedrückten Affekts wahrgenommen. Daß der Schein von Verständlichkeit eine bloße Täuschung ist, erweist sich denn auch rasch, wenn man das Publikum einen Augenblick lang mit der Musik für sich konfrontiert, es also dem Zwang zu struktureller, bilderloser Wahrnehmung aussetzt. (Ebd., S. 349) Das wiederholte Thematisieren der Gefahr einer Fehlinterpretation, prominent auch in Adornos „Einleitung in die Musiksoziologie“ beschrieben als Gefahr der Bewusstseins- Okkupation durch „klangsinnliche und technologische Merkmale“ oder den „sinnfälligen Aus- drucksgehalt“, die verhinderten, dass Musik „als Schrift eines Gesellschaftlichen“ lesbar werde,3 scheint nicht ohne Einfluss auf das Musikschrifttum gewesen zu sein. So bemerkt Nicholas Cook zur Dominanz des Struktur-Denkens in „Analyzing Musical Multimedia“ noch 2004: 3 Theodor W. Adorno (1981), Einleitung in die Musiksoziologie, 4. Auflage, Frankfurt a.M., S. 212. 3 According to Pieter van den Toorn, ‚in modern times … music has succeeded as musical structure (i.e. as „music“) or it has barely succeeded at all.‘ [Pieter van den Toorn, Stravinsky and The Rite of Spring (Oxford, 1987), 17, 18] Certainly analysis has succeeded as structure or not at all – indeed the two terms have become more or less synonomous. (Cook 2004, S. vii) Während bestimmte Arten des Wahrnehmens und Interpretierens Neuer Musik, wie das Gefühlsverständnis, immer wieder problematisiert werden, äußern sich dieselben Autoren durchaus zu diesen Themen, wenn auch meist sehr vage. So sagt Adorno über Stockhausens Gesang der Jünglinge, dass dieses Stück etwas „Dunkles und Bedrohliches“ zeige,4 aber nicht, an welchen „klangsinnlichen und technologischen Merkmalen“ er das erkennt. Sobald ein Laie eine entsprechende Aussage macht, z.B. im Rahmen einer Studie zur Einstellungsänderung gegenüber Neuer Musik, wird diese wahrscheinlich als Missverständnis ausgelegt und über die Gründe dafür spekuliert.5 Das Sprechen über Neue Musik
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