SWR2 Musikpassagen

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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE __________________________________________________________________________ SWR2 Musikpassagen Schildkröte macht Sachen Die Gruppe Tortoise aus Chicago Von Bernd Gürtler Sendung: Sonntag, 12. Februar 2017, 23.03 Uhr Redaktion: Anette Sidhu-Ingenhoff Produktion: SWR 2017 __________________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. __________________________________________________________________________ Service: Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Musikpassagen sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Bestellungen per E-Mail: [email protected] __________________________________________________________________________ Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Und heute, Schildkröte macht Sachen. Die Gruppe Tortoise aus Chicago steht auf dem Programm der nächsten Stunde. Es gibt ein Interview mit Tortoise- Schlagzeuger John McEntire und Musik. Viel Spaß beim Zuhören wünscht Bernd Gürtler. TORTOISE: Glass Museum (5:27) CD/02 Als Tortoise Mitte der neunziger Jahre die Bildfläche betreten, ist ihr Sound derart neu und ungewöhnlich, dass sich ein eigener Stilbegriff erforderlich macht. Von Postrock sollte fortan die Rede sein. Wussten sie, wie anders sie sind? Frage an John McEntire?! O-Ton: (englisch/deutsch) (0:44) (01) Wussten wir eher nicht. Uns erschien es wie die selbstverständlichste Sache der Welt, was wir vorhatten. Erst mit der Zeit merkten wir den Unterschied, im Kontext. Zwei Jahrzehnte später sind Tortoise nicht mehr so neu, ungewöhnlich ist diese Band nach wie vor, egal in welchem Kontext. TORTOISE: The Taute And Tame (5:01) CD/04 Das druckvolle, intensive Spiel, der Groove, vom Wesen her sind Tortoise eine Rockband. Es gibt schöne Melodien, ohne dass eine irgendwie geartete Liedform bemüht wird. Die Stücke sind Stücke, keine Songs und erschließen sich am ehesten als Hörgebilde aus Formen und Farben, die sich zueinander verhalten. Fast wie in der abstrakten Kunst. Als Materialien dienen Elemente aus Krautrock, Dub Reggae, Elektropop, Jazz oder aus der Neuen Musik. Das war es, was sie vorhatten, um John McEntire aufzugreifen? So ungefähr. O-Ton: (englisch/deutsch) (0:31) (02) Wir wollten frei sein in der Form, keine Agenda abarbeiten. Anders sein als die Projekte, bei denen wir davor oder parallel eingespannt gewesen sind. … Aus den Stilelementen unserer Umgebung wollten wir eine eigene Stimme entwickeln. Die Kernmitglieder Doug McCombs, Bundy Brown, John Herndon, Jeff Parker und John McEntire hatten vor ihrem Bandbeitritt schon eine Karriere hinter sich und Erfahrungen in diversen Stilgattungen gesammelt. Und weil auf einen Sänger keine Rücksicht genommen werden musste, prinzipiell sind Tortoise eine Instrumentalband, entstand nahezu unbegrenzter Entfaltungsraum. Ein Konzept, das zweifellos auch eine Kehrseite hat. TORTOISE: Swung From The Gutters (5:52) CD/02 Warum verzichten Tortoise auf Gesang? Es hat sich einfach nicht ergeben, entgegnet Schlagzeuger John McEntire. 2 O-Ton: (englisch/deutsch) (0:19) (03) Ein Sänger stand komischerweise nie zur Debatte, als es losging. Wir wollten gar nicht unbedingt eine Instrumentalband sein. Gesang war einfach kein Thema. …Wir wollten spielen und schauen, was geht. Niemand fand, jemand sollte singen. Dummerweise stellt Instrumentalmusik die Rockkritik jedes Mal vor ungeahnte Herausforderungen. Schwer zu sagen ohne Text, worum es geht und was das überhaupt alles soll. Nicht, dass uns das nicht aufgefallen wäre, entgegnet John McEntire. O-Ton: (englisch) (0:03) (04) Ganz schwierig wird es, wenn doch Botschaften von gewisser Wichtigkeit zur Verbreitung anstehen. Wie 2001 beim Album „Standards“, als George W Bush Präsident der Vereinigten Staaten wurde und die Band sich äußern wollte. O-Ton: (englisch/deutsch) (0:37) (05) Dort wurde es das erste Mal offenkundig. Normalerweise ging es darum, eine Atmosphäre zu schaffen, angereichert mit persönlicher Weltbetrachtung. … Als „Standards“ entstand, spürten wir, es steht auf des Messer Schneide. Nichts Gutes erwartet uns. Das war ein eindeutiger Kommentar. Die Botschaft wurde dann dem Albumcover mitgegeben. Auf der Vorderseite, eine verfremdete US-Flagge. Das erste Stück beginnt wie die verfremdete US- Nationalhymne. Einen kurzen Moment rumort das „Star Spangled Banner“ in der Jimi Hendrix-Version 1969 vom Woodstock Festival im Untergrund. Bevor sich eine Vielschichtigkeit auftut wie bei keinem Tortoise-Album bis dahin. „Standards“ ist ihre reifste Leistung, nach den ebenfalls sensationellen Vorgängeralben „TNT“, „Millions Now Living Will Never Die“ und dem Albumdebüt von 1994, schlicht benannt nach der Band. TORTOISE: Seneca (6:22) CD/01 TORTOISE: Eros (4:26) CD/02 Als George W Bush ins Weiße Haus einzog, schien es, schlimmer könnte es nicht mehr kommen. Jetzt ist Donald Trump US-Präsident, ein arroganter Macho, Rassist und Populist, der es mit der Wahrheit offenbar nicht so genau nimmt. Woher dennoch dieser Zuspruch. Tortoise-Schlagzeuger John McEntire ist ratlos wie die meisten. O-Ton: (englisch/deutsch) (0:45) (06) Mehrere Gründe. Viele scheinen zu glauben, er sei einer wie du und ich. Jemand, der sich gibt wie er ist. Was eine bescheuerte Idee ist, wenn einer ist wie er. … Beängstigend der Rassismus und das, was drumherum hochkocht. Man dachte, das hätten wir überwunden. Offenbar ein Irrtum, völlig verrückt. 3 Die Donald Trump-Wahl, nach dem Brexit-Votum der Briten, das Lehrstück jüngerer Vergangenheit zum verantwortungsbewussten Umgang eines jeden mit seiner Wählerstimme im Wahllokal. TORTOISE: The Fall Of Seven Diamonds Plus One (3:40) CD/07 Wer hat die Neue Musik bei Tortoise eingebracht? Auch eine interessante Frage. John McEntire muss nicht lange überlegen. O-Ton: (englisch/deutsch) (0:16) (07) Das war ich, durch mein Musikstudium stand ich im Stoff, und die anderen sind empfänglich gewesen. John McEntire ist Absolvent des altehrwürdigen Oberlin Conservatory Of Music in Oberlin, Ohio. Zwei Vertreter der Neuen Musik sind ihm besonders ans Herz gewachsen. O-Ton: (englisch/deutsch) (0:42) (08) Steve Reich auf jeden Fall, wegen seiner frühen Kompositionen für Schlagwerk. Und Terry Riley. Dank ihnen sind Rhythmus und Zählzeit ein Gestaltungsmittel der westlichen Musik geworden, neben Tonart und Harmonie. … Die beiden rissen Barrieren nieder und erschlossen dem Komponieren Neuland. Bei welchem Tortoise-Stück die Neue Musik besonders markante Spuren hinterlässt? John McEntire wüsste eins. O-Ton: (englisch/deutsch) (0:47) (09) Bei „Gescape“, dem langen Stück des neuen Albums. Beim Schreiben dachte ich an den frühen Terry Riley. Man weiß nicht, steht das in 4/4 oder 6/4.… Kleinere zellulare Bereiche dehnen sich, einfache Intervalle und Muster überlagern sich. Das wäre ein Beispiel. Das neue Album mit „Gescape“ erschien im Frühjahr 2016 und heißt „The Catastrophist“. TORTOISE: Gescape (7:37) CD/07 Fast alle Tortoise-Alben folgen einer bestimmten Dramaturgie. Zu Beginn zwei längere Stücke, die ineinander übergehen und zusammen etwas noch Größeres ergeben. Danach ein, zwei, drei Skizzen. Danach noch ein oder zwei längere Stücke, zum Schluss zu weitere Skizzen. Nach „Standards“, dem Überfliegeralbum von 2001 ändern sich die Abläufe etwas. Gleichzeitig verdichten sich die Strukturen, und auf „The Catastrophist“ von 2016 wird das erste Mal gesungen. Bei zwei Stücken. Eins ist die Coverversion vom „Rock On“ des englischen Operettenglamrockers David 4 Essex aus dem Jahr 1973, das dem Rock eine ungewisse Zukunft prophezeit. John McEntire weiß nicht recht. O-Ton: (englisch/deutsch) (0:10) (10) Ich denke, es geht um den Verlust der Unschuld. Aber klar, es gibt mehrere Betrachtungsweisen. Um die Zukunft von Tortoise ist John McEntire nicht bange. O-Ton: (englisch/deutsch) (0:38) (11) Wir werden uns weiterhin Herausforderungen selbst organisieren, Dinge tun, die wir interessant und aufregend finden. Stilgattungen liegen längst hinter uns. … Im Kern geht es um nichts anderes als dass wir uns für jedes Album, jede Tour neu erfinden. Es muss spannend bleiben für uns. Da die Gesangsposition bei Tortoise nach wie vor vakant ist, gehört die „Rock On“- Version vorerst nicht zum Tourneeprogramm. Bei der Albumeinspielung konnte Todd Rittmann von der amerikanischen Noise-Rock-Formation US Maple aushelfen. TORTOISE: Rock On (3:12) CD/03 Der sehr spezielle Rocksound und der Bandname, zusammen mit der lustigen Schildkröten-Kindercomic-Zeichnung von der Rückseite des Debütalbums eine perfekte Kombination. Tortoise heißt Schildkröte. Schau an, dachte man, Tier macht Sachen. Sind sich die Band und das Tier über die Jahre ähnlich geworden? John McEntire findet die Frage absurd, obwohl … O-Ton: (englisch/deutsch) (0:13) (12) Keine Ahnung, echt. Aber dass wir fürs nächste Album nicht noch mal sieben Jahre brauchen, vielleicht sollten wir daran arbeiten. Soll heißen, dass sich Tortoise inzwischen ein schildkrötisches Arbeitstempo zugelegt

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