Internationales Symposion Vor‐ und Gründungsgeschichte der Südosteuropa‐Gesellschaft: Kritische Fragen zu Kontexten und Kontinuitäten 16./ 17. Dezember 2013 Carl Friedrich von Siemens Stiftung, München Michael Martens ∗ Rudolf Vogel – eine Biographie zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik „Die Deutschen haben ein großes Fass voll brauner Farbe und streichen sich damit gegenseitig an. Das ist ein Geschäft. Man sollte weder seine Intelligenz noch seine Moral so weit zurückschrauben, dass man darauf einginge.“ (Ernst Jünger: Tagebucheintrag, datiert auf den 29. Mai 1977. Zitiert nach: „Siebzig verweht II“, Ausgabe Klett‐Cotta, 1981) „In Deutschland gab es keine zureichende Tradition, keinen verlässlichen Abscheu sozialer und intellektueller Eliten vor solchem Mob. Die Frage, wie es in einem kultivierten Land zu so etwas habe kommen können, ist falsch gestellt: es war eben kein kultiviertes Land in diesem Sinne.“ (Jan Philipp Reemtsma: Ansprache zum 9. November 2013, Paulskirche, Frankfurt am Main) Vorbemerkung Bei dieser Arbeit handelt es sich um die erweiterte Fassung eines auf dem Symposion zur Ge‐ schichte der Südosteuropa‐Gesellschaft in München im Dezember 2013 gehaltenen Vortrags, dessen Ursprung wiederum auf eine Recherche für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom Februar 2013 zurückgeht. Abgeschlossen wurde die Arbeit im Mai 2014. Zwar gibt es für jene, die ein weitergehendes Interesse an dem Thema haben – etwa zum Zweck einer Dissertation oder im Zuge eines Forschungsprojekts –, noch potenziell aufschlussreiche, bisher nicht eingese‐ hene Quellen mit möglichen Hinweisen auf Vogels Verhältnis zum NS‐Regime und seinen Um‐ ∗ Michael Martens, Jg. 1973, ist Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ für die Türkei und den Balkan. Der vorliegende Beitrag ist die überarbeitete und deutlich erweiterte Fassung seines Vortrags beim internationalen Symposion der Südosteuropa‐Gesellschaft zum Thema „Vor‐ und Gründungsgeschichte der Südosteuropa‐Gesellschaft: Kritische Fragen zu Kontexten und Kontinuitäten“. Er erschien unter dem gleich‐ namigen Schwerpunktthema in Heft 4/2014 der Südosteuropa Mitteilungen in stark gekürzter Form, S. 92‐111 (Redaktion des Beitrags: Dr. Claudia Hopf). © Südosteuropa-Gesellschaft, Widenmayerstraße 49, 80538 München; Telefon +49/89/21 21 54-0, Telefax +49/89/2 28 94 69, E-Mail: [email protected]; www.sogde.org 2 gang damit in der Bundesrepublik. Dies gilt etwa für einen zehn Ordner umfassenden Vorgang im Archiv der Zentralstelle Ludwigsburg, der Hinweise auf Vogels Dienstzeit in Thessaloniki enthal‐ ten könnte. Aus dem Archiv der Zentralstelle wurde dem Autor mitgeteilt, auf der Karteikarte zum SS‐Mann Alois Brunner fänden sich Hinweise darauf, Vogels Name könne in einem Verfah‐ ren zur Beteiligung von Beamten des Auswärtigen Amtes an der NS‐Vernichtungspolitik genannt worden sein. Wenn die Nachforschungen hier dennoch als abgeschlossen bezeichnet werden, so deshalb, weil mögliche zusätzliche Entdeckungen in Archiven oder aus anderen Quellen unser Bild von Rudolf Vogel zwar ergänzen, es nach Lage der Dinge aber schwerlich von Grund auf re‐ vidieren können.1 Ob spätere Generationen, sollte sie der Sachverhalt überhaupt noch interes‐ sieren, eine Neuinterpretation der uns vorliegenden Fakten vornehmen werden, ist eine Frage, die hier ohnehin nicht beantwortet werden kann. Istanbul, den 6. Mai 2014 Inhalt I. Die Leere zwischen den Zeilen – Rudolf Vogel als Journalist in der NS‐Diktatur II. „Wie die Ratten“ – Vogel als Erzähler III. Prägungen und Fügungen – Vogel und der oberschlesische „Abstimmungskampf“ IV. Auf dem Weg ins Unheil – Berliner Jahre V. Im Krieg – Polen, Paris, Thessaloniki VI. Der Fall Vogel und Wikipedia VII. Keine Quelle, nirgends – Zu Vogels mutmaßlicher Mitgliedschaft in der SS und seiner vermeintlichen Rolle als Fluchthelfer von Alois Brunner VIII. Ende erster Akt – Tirana, Sarajevo, Gefangenschaft IX. Im Schatten junger Wirtschaftsblüte – Vogels Karriere in der Bundesrepublik X. Entwicklungshilfe als Wiedergutmachung? – Vogels Nachlass in St. Augustin XI. Ein ausgewiesener Antifaschist – Rudolf Vogel und die Südosteuropa‐Gesellschaft XII. „Das war uns damals vollkommen unbekannt“ – Ein Gespräch mit Walter Althammer XIII. „Vom Verhalten Vogels im NS‐Regime war nichts bekannt“ – Ein Gespräch mit Roland Schönfeld XIV. Wir und Die – Rudolf Vogel und unsere moralischen Maßstäbe XV. Emotionale Seilschaften – Versuch einer Einordnung 1 An weiterer Forschung Interessierte könnten auch versuchen, Vogels Nachfahren zu kontaktieren. Sollte es im Familienbesitz Fotos oder andere Dokumente geben, dürften insbesondere etwaige Aufnahmen oder Briefe aus dem Polenfeldzug sowie aus Vogels Zeit in Thessaloniki von Interesse sein, sofern die Hinterbliebenen Einblick gewähren. Möglich ist auch, dass sich im Vorlass Walter Althammers im Archiv für Christlich‐Soziale Demokra‐ tie der Hanns‐Seidl‐Stiftung, der unter anderem Korrespondenz der Jahre 1962‐1985 enthält, Hinweise auf Vogel befinden. Schließlich könnten sich weitere Details aus der Durchsicht der Akten des SOG‐Archivs aus den 1950er und 1960er Jahren ergeben, die an das Bayerische Hauptstaatsarchiv in München übergeben wurden. © Südosteuropa-Gesellschaft, Widenmayerstraße 49, 80538 München; Telefon +49/89/21 21 54-0, Telefax +49/89/2 28 94 69, E-Mail: [email protected]; www.sogde.org 3 I. Die Leere zwischen den Zeilen – Rudolf Vogel als Journalist in der NS‐Diktatur Am 18. April 1906 wurde in der Industrie‐ und Bergarbeiterstadt Beuthen in Oberschlesien als eines von neun Kindern der Lehrersohn Rudolf Vogel geboren. Etwas mehr als drei Jahr‐ zehnte später war Vogel Journalist im von den Nationalsozialisten beherrschten Deutsch‐ land. Wiederum Jahrzehnte später, im März 1989, beendete Vogel, ein alter Mann nunmehr, die Arbeit an seinen im Selbstverlag erschienenen Lebenserinnerungen. Vogel blickte auf eine beachtliche politische Karriere in der Bundesrepublik zurück: Er war 15 Jahre lang Ab‐ geordneter des Deutschen Bundestages für die CDU gewesen (sowie in dieser Zeit Mitglied und zeitweilig stellvertretender Vorsitzender des Haushaltsausschusses als Obmann seiner Partei), deutscher Botschafter bei der OECD in Paris, danach Staatssekretär im Bundes‐ schatzministerium, zudem über Jahrzehnte Präsident beziehungsweise Vizepräsident der Südosteuropa‐Gesellschaft (SOG).2 Im Rückblick auf dieses Leben legte Vogel zwei Bände mit Erinnerungen vor. Band eins, 410 Seiten stark, umfasst die eigentlichen Erinnerungen.3 Der knapp 190 Seiten umfassende zweite Band enthält vom Autor ausgewählte eigene Reden, Interviews, Aufsätze und andere erläuternde Texte zu seinem Lebensweg.4 Dieser zweite Band bietet uns auch zwei aufschlussreiche Dokumente zu Vogels Zeit als Journalist. Das erste ist ein Artikel, den Vogel für die nach der Okkupation Frankreichs von der Besatzungs‐ macht gegründete deutschsprachige „Pariser Zeitung“ verfasste, deren Redakteur er zeitwei‐ lig war. Vogel beschreibt eine Reise durch Vichy‐Frankreich, und zwar in derart gemäßigtem Ton, dass der in einer NS‐Zeitung veröffentlichte Text auch ein halbes Jahrhundert später noch vorzeigbar ist.5 Ebenfalls Teil des Anhangbandes der Erinnerungen von Rudolf Vogel ist ein Text aus dem Jahr 1947. Es handelt sich um „ein Urteil über den Journalismus im Dritten Reich, das ich vollinhaltlich teile“6, wie Vogel im Inhaltsverzeichnis seiner Erinnerungen anmerkt. Dieser Text ist ein Schlüsseldokument für die Beantwortung der Frage, wie Vogel in der Bundesre‐ publik mit seinem journalistischen Wirken in der NS‐Zeit umging. Wir können zwar nicht wis‐ sen, wie er seine Rolle als Journalist in jener Zeit im Rückblick tatsächlich sah und wie er sie vor sich selbst bewertete – aber wir erfahren aus diesem Dokument, wie er wollte, dass sie gesehen und bewertet werde. Dass Vogel dieses Dokument offenbar über Jahrzehnte auf‐ 2 Einzelheiten zu Vogels Karriere als Bundestagsabgeordneter siehe u.a.: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Abge‐ ordnete des Deutschen Bundestages, Band 4. Vogel, Rudolf: Aufzeichnungen und Erinnerungen. S. 237–304, Boldt‐Verlag, Boppard am Rhein 1988. (Im Folgenden zitiert als: Aufzeichnungen, Boppard 1988). Außerdem: Vierhaus, Rudolf und Herbst, Ludolf (Hrsg.): Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundesta‐ ges 1949‐2002, K.G. Saur, München 2002, S. 901. 3 Vogel, Rudolf: Erinnerungen von Dr. Rudolf Vogel, Band I, Berg 3, März 1989, Selbstverlag, S. 5. Im Folgenden zitiert als: „Vogel, Erinnerungen I“. 4 Vogel, Rudolf: Anhang zu den Erinnerungen von Dr. Rudolf Vogel, Band II, Berg 3, März 1989, Selbstverlag. Im Folgenden zitiert als: „Vogel, Erinnerungen II“. Ich danke der Südosteuropa‐Gesellschaft, die mir die beiden Bände in Kopie zur Verfügung stellte. 5 „Auf der Suche nach Ideen. Gespräche im unbesetzten Frankreich.“ Ein Veröffentlichungsdatum des mit „Dr. Rudolf Vogel“ gezeichneten Artikels ist nicht erkennbar. Der Text, so wie Vogel ihn anführt, scheint als Kopie einem Sammelband entnommen zu sein, da als Seitenzahlen die Seiten 102‐109 angegeben sind und auch der Umbruch einem Buch entspricht. Es könnte sich um einen Band mit ausgewählten Texten aus der „Pariser Zei‐ tung“ für Wehrmachtsangehörige handeln. Vogel kündigt im Inhaltsverzeichnis seiner Memoiren an, der Text sei „einer meiner vielen Reiseartikel über das besetzte und unbesetzte Frankreich in der ´Pariser Zeitung´ 1941“. Aus Vogels Pariser Zeit gibt es tatsächlich eine ganze Reihe ähnlicher Artikel, darunter nüchterne Analy‐ sen weltpolitischer Vorgänge und kulturhistorische Betrachtungen. 6 Vogel,
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