349 Die Frage nach der Wirklichkeit des Krieges ist eine der schwierigsten historiographi- schen Fragen; das Beispiel der Schlacht von Kursk kann das veranschaulichen. Obwohl sie als größte Panzerschlacht der Welt und Wendepunkt des deutsch-sowjetischen Krieges stets im Mittelpunkt des Interesses stand, sind zentrale Fragen nach wie vor ungeklärt. Sie werden durch diese konzise Schlachtbeschreibung nicht nur definitiv beantwortet. Diese zeigt auch, fast wie in einem Lehrstück, wie sehr gerade eine politische, psycholo- gische und moralische Grenz- und Ausnahmesituation wie der Krieg die Mythenbildung fördert. Roman Töppel Kursk – Mythen und Wirklichkeit einer Schlacht Horst Naumann (✝) gewidmet 66 Jahre sind nunmehr seit der Schlacht bei Kursk vergangen. Angestoßen durch die langsame Öffnung des russischen Militärarchivs Anfang der 1990er-Jahre und durch kritischere russische Publikationen über diese zentrale Schlacht des „Gro- ßen Vaterländischen Krieges“ ist in den vergangenen Jahren viel zur Aufarbei- tung der militärischen Ereignisse im Sommer 1943 geleistet worden. Doch wirken die alten Mythen, welche die beteiligten Militärs nach dem Krieg verbreiteten, immer noch nach, schon weil sie jahrzehntelang die zeitgenössischen Quellen ersetzen mussten. Dieser Beitrag will einige solcher Behauptungen kritisch beleuchten. So stellt sich beispielsweise die Frage, ob die seinerzeit führenden deutschen Militärs wie Generaloberst Walter Model, dessen 9. Armee von Norden zum Angriff auf Kursk antreten sollte, wirklich gegen eine Offensive waren, wie häufig angenommen wird. Und stimmt die Aussage von Generalfeldmarschall Erich von Manstein, die deutsche Offensive sei auf ihrem Höhepunkt wegen der angloamerikanischen Landung auf Sizilien am 10. Juli 1943 abgebrochen worden? Hat man damit einen deutschen Sieg verschenkt? Einige Historiker behaupten dies bis zum heu- tigen Tag. Neben solch alten Legenden ist in der deutschen Forschung der letzten Jahre auch eine gewisse Verklärung der Schlacht zu bemerken, nicht zuletzt verursacht durch die jüngeren russischen Veröffentlichungen, die drastisch vor Augen füh- ren, mit welcher Rücksichtslosigkeit die sowjetische Führung ihre Kräfte einsetzte und welchen gewaltigen Preis die Sowjetunion für ihre Siege bezahlen musste. Da die deutschen Verluste demgegenüber beinahe gering erscheinen, werden sie in neueren deutschen Veröffentlichungen mitunter bagatellisiert. Die taktische Effizienz der Wehrmacht wird immer stärker hervorgehoben, Unzulänglichkeiten sowie Fehlentscheidungen deutscher Befehlshaber werden ausgeblendet. Gleich- zeitig wird die zahlenmäßige Stärke der deutschen Verbände, namentlich der Panzerkräfte, minimiert, um dadurch die materielle Überlegenheit der Roten Armee noch stärker herauszustellen, als sie bereits in Wirklichkeit war. Doch wie stark war die deutsche Panzerwaffe, als sie am 5. Juli 1943 zum Angriff auf Kursk VfZ 3/2009 © Oldenbourg 2009 DOI 10.1524/vfzg.2009.0047 Jahrgang 57 (2009), Heft 3 Inhaltsverzeichnis: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv.html URL: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2009_3.pdf VfZ-Recherche: http://vfz.ifz-muenchen.de 350 Aufsätze antrat? Verlief die deutsche Offensive in den ersten Tagen tatsächlich so rei- bungslos und unter so geringen Verlusten? Wie glaubwürdig sind zeitgenössische deutsche Erfolgsmeldungen? Und war die berühmte Panzerschlacht bei Procho- rovka, früher der Inbegriff eines entscheidenden sowjetischen Sieges über die deutschen Panzertruppen, für letztere doch nur ein gewöhnliches Gefecht? Anhand der wichtigsten Veröffentlichungen der letzten Jahre soll im Folgen- den aufgezeigt werden, wie sich trotz aller Fortschritte der Forschung nach wie vor alte und neue Legenden zu einem Bild verbinden, das von der Wirklichkeit des damaligen Geschehens abweicht. Der Beitrag konzentriert sich dabei auf die erste Phase der insgesamt fast zwei Monate dauernden Schlacht bei Kursk, und zwar auf die deutsche Sommeroffensive mit dem Decknamen „Zitadelle“. Wer wollte den Angriff auf Kursk? Lange Zeit galt Hitler als der Initiator des Unternehmens „Zitadelle“. Die seiner- zeit führenden Militärs distanzierten sich nach dem Krieg durchweg von „Hitlers Offensive“1 – kaum erstaunlich: Schließlich war die Operation gescheitert. Inzwi- schen weiß man, dass die Idee zum Angriff gegen den Frontvorsprung bei Kursk keineswegs von Hitler kam, sondern vom Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd, Generalfeldmarschall Erich von Manstein2. Hitler war zunächst gegen einen Angriff auf Kursk. Dies geht etwa aus einem Telefongespräch hervor, das Man- stein am 18. März 1943, noch vor dem Abschluss der Winteroperationen 1942/ 43, mit dem Chef des Generalstabs des Heeres, General Kurt Zeitzler, führte. Als Manstein den Generalstabschef von den Erfolgsaussichten einer sofortigen gemeinsamen Operation der Heeresgruppen Mitte und Süd in Richtung Kursk zu überzeugen versuchte, entgegnete Zeitzler, Hitler wünsche ein Angriffsunter- nehmen südöstlich von Char’kov, und zwar bei Cˇuguev und Izjum – also nicht bei Kursk3. Drei Tage nach diesem Telefongespräch wiederholte Hitler bei einer Lagebe- sprechung auf dem Berghof nochmals diese Absicht4. Am selben Tag teilte Zeitz- ler Manstein mit, Hitler habe befohlen, die Vorbereitungen für den beabsichtig- ten Angriff auf Kursk einzustellen zugunsten einer Offensive nach Südosten5. Manstein gelang es jedoch, Hitler am folgenden Tag von seinem Plan zu überzeu- gen, doch befahl dieser, dass die von ihm favorisierte Operation im kommenden 1 So z. B. Kurt Zeitzler, Das Ringen um die großen Entscheidungen im zweiten Weltkriege. Abwehrschlachten in Rußland nach dem Wendepunkt im Kriege, in: Bundesarchiv-Militärar- chiv Freiburg (künftig: BA-MA), ZA 1/1734 (Studie D-406), Bl. 56, Kapitelüberschrift. 2 Vgl. Roman Töppel, Legendenbildung in der Geschichtsschreibung – Die Schlacht bei Kursk, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 61 (2002), S. 372–376. 3 Siehe dazu die Karte auf S. 353; vgl. auch Eberhard Schwarz, Die Stabilisierung der Ostfront nach Stalingrad. Mansteins Gegenschlag zwischen Donez und Dnjepr im Frühjahr 1943, Göttin- gen/Zürich 1986, S. 228. 4 Vgl. Helmut Heiber (Hrsg.), Hitlers Lagebesprechungen. Die Protokollfragmente seiner mili- tärischen Konferenzen 1942–1945, Stuttgart 1962, S. 199 u. S. 201. 5 Vgl. Schwarz, Die Stabilisierung der Ostfront, S. 229. VfZ 3/2009 Jahrgang 57 (2009), Heft 3 Inhaltsverzeichnis: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv.html URL: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2009_3.pdf VfZ-Recherche: http://vfz.ifz-muenchen.de Roman Töppel: Kursk – Mythen und Wirklichkeit einer Schlacht 351 Frühjahr als erste durchgeführt werden solle, vor dem von Manstein anvisierten Unternehmen gegen den Kursker Frontbogen6. Dass ausgerechnet Zeitzler nach dem Krieg vehement behauptete, der Zangenangriff gegen den Kursker Frontbo- gen sei allein Hitlers Idee gewesen7, muss umso mehr erstaunen, als er genau wusste, dass das Gegenteil der Fall war. Am 23. März 1943 hatte er selbst dem ent- täuschten Manstein telefonisch mitgeteilt, die Weisung, den Vorstoß auf Kursk nicht durchzuführen und stattdessen eine Angriffsoperation im Südosten von Char’kov vorzubereiten, sei „in definitiver Form vom Obersalzberg“ gekommen8. Zeitzler schrieb Hitler nachträglich jedoch nicht nur die Urheberschaft an der Idee zum Angriff auf Kursk zu. Er behauptete darüber hinaus, er habe immer wieder vergeblich versucht, Hitler diese Idee auszureden9. In Wirklichkeit war jedoch Manstein der geistige Vater des Unternehmens „Zitadelle“, und Zeitzler selbst wurde in den folgenden Wochen einer der stärksten Befürworter der Ope- ration10. Manstein und Zeitzler standen allerdings nicht allein. Auch der Oberbe- fehlshaber der Heeresgruppe Mitte, Generalfeldmarschall Günther von Kluge, machte sich die Idee eines Angriffs gegen den Kursker Frontbogen zu eigen. Dies geht nicht nur aus Lagebeurteilungen hervor, die Kluge im Juni 1943 vor- legte11, sondern auch aus einer bislang kaum beachteten Niederschrift des Ge- nerals Friedrich Hoßbach vom 12. Juli 195112 über einige Gespräche, die er mit führenden Militärs nach seiner Übernahme des Kommandos über die 31. Infan- teriedivision führte. Am 14. Mai 1943 traf Hoßbach mit dem Chef der Opera- tionsabteilung des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalleutnant Adolf Heu- singer, zusammen. Hoßbach fragte Heusinger, ob das Unternehmen „Zitadelle“ schon beschlossene Sache sei und ob Hitler und das Oberkommando des Heeres (OKH) diese Offensive unbedingt wollten. Heusinger habe diese Frage verneint, 6 Vgl. ebenda, S. 229 f. Hitlers Idee einer Operation südöstlich von Char’kov nahm in den fol- genden Wochen in der Planung zweier alternativer Angriffsunternehmen konkrete Gestalt an. Der eine Vorschlag erhielt den Namen „Habicht“, der zweite, weitläufigere den Namen „Pan- ther“. Kartenskizze mit den Angriffsrichtungen und Zielen der beiden Operationen in: Ernst Klink, Das Gesetz des Handelns. Die Operation „Zitadelle“ 1943, Stuttgart 1966, Skizze 3. Zur Planung der Unternehmen vgl. ebenda, S. 57–71. 7 Zeitzler, Das Ringen um die großen Entscheidungen, in: BA-MA, ZA 1/1734 (Studie D-406), Bl. 56–72. 8 Schwarz, Die Stabilisierung der Ostfront, S. 230, Anm. 195. 9 Zeitzler, Das Ringen um die großen Entscheidungen, in: BA-MA, ZA 1/1734 (Studie D-406), Bl. 61 f. u. Bl. 72. 10 Vgl. Töppel, Legendenbildung in der Geschichtsschreibung, S. 374. 11 Vgl. Klink, Das Gesetz des Handelns, S. 107 f.; Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (Wehrmachtführungsstab) 1940–1945, geführt von Helmuth Greiner und Percy E. Schramm,
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