Herbert W. Jardner Zwischenräume Erzählungen, Essays, Randbemerkungen Sonderausgabe Vingilot Press Berlin, im Januar 2019 1 Und zum Glück ist es der Sage erlaubt, mancherlei zu erzählen, was man der Geschichte vielleicht nicht glauben würde. Auguste Lechner 2 Inhalt Auftakt: Welche Realität, Papa? 5 Das Glück des Gehens 6 Eins 6 Zwei 10 Drei 13 Im Nahraum Brandenburg 22 Ein Yogin im Hinterwald 29 Fisterra Blues 35 Eins 35 Zwei 41 Drei 47 Lichträger in dunkler Zeit. Mythologie für Astrologen 52 Camille Claudel: Ein Leben im Zeichen Schütze 52 Chiron als Mitherrscher im Schützen 53 Lichtträger in dunkler Zeit 55 Chirons Dilema in der Biographie Jugendlicher 60 Anmerkungen 68 Der Baum von Gernika 73 Kamm und Flöte. Ein ethnopoetischer Diskurs 80 Eins 80 Zwei 81 Drei 83 Zwischen den Stühlen. Ein modernes Initiationsmärchen 85 Bücher, Portale, Initiationen 90 Niemalsland: Das doppelte London 91 Schwellenwesen und Grenzgänger 95 Richard betwixt and between 100 Re-Integration in Ober-London 108 Anmerkungen 114 Ausklang: Zwischen einst und jetzt 120 3 Quellen Einige der in diesem Band gesammelten Schriften habe ich im Verlauf der letzten Jahrzehnte in meinem Wissenschaftsforum Vingilot – Beiträge zur Anthropologie online veröffentlicht. Bei anderen handelt es sich um Kapitel aus noch unveröffentlichten Reiseerzählungen. Prolog: Welche Realität, Papa? Vingilot, 2009. Das Glück des Gehens, in: Pilgern in Brandenburg. Unterwegs ins Dritte Alter, Vingilot 2016 [https://hwjblogs.wordpress.com/2016/05/15/moving-my-way/]. Im Nahraum Brandenburg, unveröffentlicht, 2017. Ein Yogin im Hinterwald, in: Die Söhne Timors, unveröffentlichtes Forschungsmanuskript, 1996-2006. Fisterra Blues, in: Himmelspfad und Sternenfeld, unveröffentlichte Reiseerzählung, 2018. Lichträger in dunkler Zeit, Mythologische Reflexionen für Astrologen, Vingilot, 2015 [https://gruenesonnen.wordpress.com/2015/03/29/lichttrager-in-dunkler-zeit/]. Der Baum von Gernika, in: Himmelpfad und Sternenfeld. Santiago-Tagebücher, Vingilot 2017. [https://hwjcaminodelnorteblog.wordpress.com/2017/05/11/gernika/] Kamm und Flöte. Ein ethnopoetischer Diskurs, Vingilot, 2011. [https://hwjblogs.wordpress.com/essays/kamm-und-floete/] Zwischen den Stühlen. Ein modernes Initiationsmärchen, veröffentlich unter dem Titel Initiation und Individuation in postmoderner Fantasy. Eine textkritische Würdigung von Neil Gaimans Roman Niemalsland, Grin Verlag, 2005. [https://www.grin.com/document/384216] Ausklang: Zwischen einst und jetzt. Eine Fantasie aus Splittern, die Material aus Die Söhne Timors verwendet. Ich nenne diesen Text eine Fantasie, weil sich reale und fiktive Daten vielfältig überrschneiden, ohne die Atmosphäre zu zerstören, die das moderne Amanuban charakterisiert. 4 Auftakt: Welche Realität, Papa? D ie Zukunft fiel mit wuchtigem Aufprall in die Gegenwart und riss die Vergangenheit ab, die haltlos durch den Raum taumelte. Entsetzt stellte ich fest, dass wir bei unserem überstürzten Aufbruch das Wichtigste zurückgelassen hatten. Unwiederbringlich verloren erschien in diesem Augenblick unsere Geschichte und mit ihr unsere Wurzeln. Mit einem letzten Blick versuchte ich meine schnell schwindende Heimat festzuhalten. Vergeblich! Eng zusammengedrängt kauerten meine Freunde und Leidensgefährten in der großen runden Halle eines Fahrzeugs, das mit unvorstellbarer Geschwindigkeit durch die Galaxis des Blauen Schimmers raste. Nur allmählich lösten sich die widerstrebenden Gefühle, und ich konnte mich wieder in meine Gegenwart entfalten. Hier und Jetzt, Dasein, Dieses und Ich waren nicht länger eins und gliederten sich erneut in mir altvertrauter Weise. I ch schaute mich um, und richtete meinen Blick auf diesen oder jenen meiner Freunde. In ihren Augen fand ich Splitter meiner eigenen Gefühle und Gedanken. Wie mein Herz schien sich auch das ihre langsam der zäh in der Halle lastenden Atmosphäre zu entziehen. Der alte Neno, dessen weißes Haupthaar und hochgebundener Bart Jahrhunderte zu umfassen schien, erhob sich langsam und schwerfällig. Sein klarer Blick bildete einen eigentümlichen Kontrast zu seinen behutsamen Bewegungen. Zunächst schaute er haltlos in die Runde, fand aber schneller und schneller Richtung und Orientierung und versenkte sich in jeden von uns. „Wer weiß nicht,“ begann er, „wer von uns weiß nicht um die Notwendigkeit, das zurückzulassen, was hinter uns liegt? Und wer von uns empfindet nicht mit gleicher Stärke die Trauer des Abschieds? Die Zeit, die uns unsere Ahnen in unseren Träumen gewiesen haben, ist endlich angebrochen. Unsere alte Heimat verschwindet langsam und unaufhaltsam. Mir scheint all das, was wir waren und wünschten in den Abgrund des Vergessens zu sinken. Doch habt keine Furcht, noch nie entstand Neues aus dem Nichts.“ Zweifelnd blickte der junge Timo in die Augen seiner Nachbarn. „Aber,“ so fragte er, „ist uns denn nichts geblieben, außer dem Aufbruch und dem Weg, der vor uns liegt? Wir kontrollieren nicht einmal die Kraft, die uns in diesem Moment immer weiter vorwärts zieht. Dieses wunderliche Gefährt – welche Bewandtnis es auch immer haben mag – in das wir uns eben noch blind vor Furcht und Panik stürzten . .“ E in Krachen und Bersten wie von frischem Holz, wenn es splittert, zerstörte meinen Traum. Ich blickte mich um und sah, dass seit gestern kaum etwas anders geworden war. Immer noch saßen wir zusammengedrängt, nass und frierend, unter dem vorkragenden Abri des Rabenfelsens. Ganz in der Nähe war der nächste, mächtiger Baumriese, dessen Wurzeln die Regenfluten unterspült hatten, umgestürzt. Mitten im Toben und Wüten der Elemente griff ich nach dem Licht, das mein Traum entzündet hatte. Die Geschichte meines Lebens, so schoss es mir blitzartig durch den Kopf, unsere Geschichte, nur die ist jetzt noch wichtig. 5 Das Glück des Gehens Der Schreibende ist ein Grenzgänger. Nach seinen Entrückungen kehrt er in die eigene Welt heim, um sein Lied zu singen, in dem er seine Gemeinschaft teilnehmen lässt, was er in der anderen »Welt« erfahren hat. Michael Obert Eins I n Theodor Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg findet sich eine auf den ersten Blick verstörende Bemerkung: Der Reisende in der Mark muß sich ferner mit einer feineren Art von Natur- und Landschaftssinn ausgerüstet fühlen. Es gibt gröbliche Augen, die gleich einen Gletscher oder Meeressturm verlangen, um befriedigt zu sein. Diese mögen zu Hause bleiben. Es ist mit der märkischen Natur wie mit manchen Frauen. »Auch die häßlichste - sagt das Sprichwort - hat immer noch sieben Schönheiten.« Die spröde brandenburgische Landschaft als Flora, Fauna und Klima, durch die der Wanderer geht, bildet den Fokus meines affektiven Betroffenseins. Rationalisierung und Intellektualisierung haben meine Welt entzaubert, sodass ich mich inmitten der urbanen Öde eines extremen Mittels bedienen muss, um mir meiner Herkunft bewusst zu werden: Ich muss wieder zu Fuß gehen. Wo Menschen früherer Kulturen authentische Erzählungen und Mythen besaßen, breiten sich in seinem Leben nun triviale Erklärungen aus, die ihm seine Welt nur noch mühsam erklären. Was Landschaft bedeutet, lässt sich nicht durch deskriptive Beschreibungen oder beeindruckende Hochglanzfotografien verstehen. Landschaft, und die Natur, die sie ist, lässt sich nur im unmittelbaren leiblichen Kontakt verstehen. Novalis liegt mir im Ohr, der versucht hat, die Landschaft, die ihn umgab, zu spüren wie eine Erweiterung seines Leibs. Fontanes Statement für Reisende, die sich aufmachen, die Landschaften, Ortschaften und historischen Hinterlassenschaften Brandenburgs mit feinerem Sinn zu suchen, wurde mein Leitstern, als es darum ging, die Fremde vor meiner eignen Haustüre zu erkunden. Das Besondere auch im Gewohnten zu finden, war zu Beginn nur graue Theorie. Ich beschloss im Nahraum zu wandern, und mich von der touristischen Infrastruktur weitgehend fern zu halten. Ich fand eine ganz besondere Fremde vor, mit der ich zuerst nichts anfangen konnte. Brandenburg ist das Umland von Berlin, dachte ich. Aber es ist genau umgekehrt: Berlin ist die Urbanität Brandenburgs, die sich gegen die scheinbare Leere von Sand und Heide wehrt. Die Stadt ist in das Land eingehüllt, ganz von Landschaft umschlossen. Durch seine Urbanität und Internationalität hat sich Berlin bis zur Unkenntlichkeit entbrandenburgt. Dass ist weder gut noch schlecht, sondern die Gelegenheit, Stadt und Land in unmittelbarer Nähe und Mischung zu erleben. Aus Berlin kann ich zu Fuß nach Brandenburg gehen; und kreuz und quer durch Brandenburg zurück nach Berlin. I m Gefolge der Aufklärung und der wissenschaftlichen Revolution ging dem modernen Wanderer eine wichtige Bedeutungsdimension verloren. Anders als noch der mittelalterliche Pilger kann er seine Umgebung und ihre mannigfaltigen Atmosphären nicht mehr unverstellt empfinden. Wo die Umwelt einst magisch aufgeladen oder mythisch besiedelt war, finden die 6 meisten jetzt nur noch dürre Fakten. Wer kultiviert noch, wie Island, einen Feenglauben? Durch seine zweite Vertreibung aus dem Paradies fühlte sich die Krone der Schöpfung nicht mehr in der Welt geborgen, sondern benutzt sie als Laboratorium und Reservoir, als ihm unbegrenzt zur Verfügung stehender Gemischtwarenladen, der ihm äußerlich geworden ist. Die industrielle und technische Revolution wurde zum Ursprung der Zerstörung und Ausbeutung der Natur. Wachsendes Wissen und verbesserte Mittel der Naturbeherrschung zähmten die menschliche Unbesonnenheit nicht, sie machten sie zu einer tödlichen Waffe. An dem ökologischen Fußabdruck, den wir hinterlassen, werden die Nachkommenden unsere Einstellung
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