Wilhelm Mensing: Bekämpft, gesucht, benutzt. 111 Bekämpft, gesucht, benutzt Zur Geschichte der Gestapo-V-Leute und „Gestapo-Agenten“ Wilhelm Mensing Nachrichtendienstlich zu arbeiten und bearbeitet zu werden gehört zum Dasein einer (auch) illegal und konspirativ tätigen revolutionären Partei. Vor dem Zeitalter der hochentwickelten elektronischen Massenkommunikation bedeutete das vor allem den Einsatz und die Abwehr von Agenten, „Spitzeln“ im Parteijargon. Das entspricht der Erfahrung der Leninschen Partei und nicht minder der KPD, deren Entwicklung und Politik auf vielfältige Weise dem Vorbild der Partei Lenins entsprach. Der Einsatz von Geheimagenten gegen die KPD gewann mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten Anfang 1933 eine bis dahin nicht gekannte Quantität und Qualität , weil die erbittertsten politischen Feinde der Kommunisten nun alle staatliche Macht gegen sie einsetzen konnten. Aber die KPD hatte damals schon mehr als ein Jahrzehnt Erfahrung in der Abwehr von V-Leuten der Polizei oder ihr gegenüber feindlich ein- gestellter politischer Organisationen. Die V-Leute stammten zu einem nicht geringen Teil aus ihren eigenen Reihen. Erfahrungen mit dem Einsatz eigener V-Leute, die ent- weder selbst der Partei angehörten oder „eingekauft“ waren, hatte die KPD ebenfalls.1 Schon bald nach ihrer Gründung begann die KPD systematisch Informationen über „Spitzel“ zu sammeln, die gegen sie arbeiteten. Diese Informationen wurden in regel- mäßig veröffentlichten „Spitzel-Almanachen“ veröffentlicht. Dies sollte sowohl der Warnung der eigenen Partei als auch der Abschreckung derer dienen, die V-Leute ge- gen die KPD einsetzen oder sich selbst als V-Mann anwerben lassen wollten. Das Be- dürfnis, die eigenen Leute zu warnen und den politischen Gegner abzuschrecken, wuchs sprunghaft mit der Machtübernahme der Nazis im Januar 1933. Illegal verbrei- tete „Schwarze Listen“ lieferten teils recht präzise, teils ungenaue Angaben über ent- larvte oder vermutete V-Leute der Gestapo und anderer NS-Nachrichtendienste. Auch wenn diese Listen nicht zuverlässig waren und die illegalen Kader der Partei oft nicht schnell genug erreichten, fanden sich die so Verdächtigten doch bald in den Akten der Gestapo. Die Gestapo sah sich in der Regel veranlaßt, „gelistete“ V-Leute nicht weiter einzusetzen – weniger aus Rücksicht auf die Gefahren, die ihnen von ihren früheren Genossen drohten, als vielmehr wegen der vorhersehbaren Unergiebigkeit ihres Ein- satzes. So halfen die Listen der KPD im Kampf gegen die Nazis zwar nicht unmittel- bar als Warnung vor (ehemaligen) Genossen im Dienst des Gegners, aber immerhin doch mittelbar durch die Beeinträchtigung seines Nachrichtenapparates. Dennoch hat der Einsatz von V-Leuten durch die NS-Nachrichtendienste der illegalen KPD sehr großen Schaden zugefügt: Erheblich war der Verlust an Kadern durch die Informatio- nen, die den Exekutivorganen des NS-Regimes über ihre V-Leute zuflossen. Einige ehemalige KPD-Mitglieder stellen in ihren Erinnerungen die These auf, daß auf die ei- ne oder andere Weise alle Festgenommenen Opfer von V-Leuten gewesen seien. Zwar nicht immer unmittelbar, aber oft dadurch, daß ein V-Mann (VM) der Gestapo einen 1 Vgl. dazu im einzelnen Mensing, Wilhelm: Vertrauensleute kommunistischer Herkunft bei der Ge- stapo und NS-Nachrichtendiensten am Beispiel von Rhein und Ruhr. In: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 2004, S. 111 ff; Ders.: Gestapo V-Leute kommunistischer Herkunft – auch ein Strukturproblem der KPD? In: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Beziehungen. For- schungen und Forschungsberichte 34/2005, S. 71 ff. 112 ZdF 17/2005 Hinweis lieferte, der es ihr ermöglichte, ganze Gruppen aufzurollen. Und dann die Be- einträchtigung der Arbeit durch das Mißtrauen unter den Illegalen: Dieses Mißtrauen hatte mitunter zur Folge, daß Funktionäre die Übernahme eines Postens verweigerten, weil sie vom Ausmaß der VM-Tätigkeit am Dienstort erfahren hatten. Zur Auseinandersetzung der KPD mit Gestapo-VM während der NS-Zeit in Deutschland Auf manche Kommunisten strahlte die SA nach der nationalsozialistischen Macht- übernahme den Reiz der „mächtigeren Bataillone“ aus. Bisweilen liefen ganze Grup- pen zur SA über. Eben noch kommunistische Schalmeienspieler formierten sie sich zu einer Kapelle für den SA-Sturm 5 von Horst Wessel.2 Auch NS-Nachrichtendienste profitierten von opportunistischen Überläufern.3 Bald war es aber vor allem das gewal- tige Erpressungspotential der NS-Nachrichtendienste gegenüber den illegalisierten Kommunisten, das die stärkste Bedrohung für deren Weiterarbeit darstellte. Es reichte von Verhaftungen, die kaum durch kontrollierte Rechtsregeln begrenzt waren, bis zur brutalen Anwendung körperlicher und seelischer Gewalt. Oft genügte die Gewaltan- drohung oder das Bekanntwerden der Schicksale festgenommener Genossen, um ge- heime Mitarbeiter unter den Kommunisten zu gewinnen. Die KPD versuchte durch strenge Kaderauswahl und die Einführung strenger Konspi- rationsregeln, der Bereitschaft von Genossen zu geheimen Diensten für die Gestapo und die übrigen NS-Nachrichtendienste wie auch dem Eindringen von V-Leuten aus den eigenen Reihen entgegenzuwirken. Darüber hinaus mühte sich die Partei auch pro- pagandistisch so intensiv wie anhaltend der Gefahr entgegenzutreten, durch den Erfin- dungsreichtum und die Grausamkeit der Gestapo handlungsunfähig zu werden.4 Wenn sich schon nicht bestreiten ließ, daß es „schwachgewordene Elemente aus dem Prole- tariat“ gab, so wurde in Publikationen der KPD um so nachdrücklicher die Notwen- digkeit und Wirkung der „Wachsamkeit“ herausgestellt: „Die Spitzel wurden von ehr- lichen Menschen entlarvt und angeprangert. […] Die Wachsamkeit der Antifaschisten machten den sauberen Plan der Gestapo, zu spitzeln […] zunichte“. Und weiter in der Internationale: „Einheit und Massenwachsamkeit aber werden dieses schändliche Treiben5 zunichte machen […], wenn beim geringsten Verdacht ohne Zögern zugegrif- 6 fen wird.“ 2 Mensing, Wilhelm: Maulwürfe im Kulturbeet. Zürich 1983 (edition interfrom 156), S. 69. 3 Ein früher Fall mit lang anhaltenden schlimmen Auswirkungen war der des Apparat-Mitarbeiters Al- fred Sitter in Essen. Seine Geschichte ist in dem zuvor genannten Beitrag im Jahrbuch für histori- sche Kommunismusforschung dargestellt. 4 Vgl. etwa die wohl 1934 entstandene Anleitung „Massenkampf gegen Spitzel und Provokateure“, die Aufforderungen und Anleitungen zur „Mobilisierung und Einbeziehung der breiten Arbeiter- massen“ bis hin zur „Kindermobilisation gegen einen Spitzel“ enthält (SAPMO-BArch DY 30 / IV 2/4/376, Bl. 29 f.). 5 Mit besonderem Abscheu berichtete der Autor: „Ja, man hat selbst nicht davor zurückgeschreckt, Schulkinder als Spitzel gegen ihre eigenen Eltern zu erziehen. So wurde die sogenannte Heiligkeit der Familie mit Füßen getreten.“ Er konnte nicht ahnen, daß nur eine halbe Generation später die Staatssicherheit der DDR den Einsatz von Schülern als inoffizielle Mitarbeiter systematisch ausbau- en würde. Vgl. Behnke, Klaus/Wolf, Jürgen: Stasi auf dem Schulhof – Der Mißbrauch von Kindern und Jugendlichen durch das Ministerium für Staatssicherheit. Berlin 1998. 6 Anonym: ACHTUNG, GESTAPO!, In: Die Internationale – Zeitschrift für Theorie und Praxis des Marxismus, Heft ½ 1938, S. 92 ff. Die KPD unterschied in ihrer Gegenpropaganda fast nie zwi- schen Gestapo und anderen NS-Nachrichtendiensten einschließlich des SD, obwohl in den frühen Wilhelm Mensing: Bekämpft, gesucht, benutzt. 113 Selbst die Forderung, „beim geringsten Verdacht zuzugreifen“, ging einem parteiamt- lichen Autor noch nicht weit genug: „Jeder Entlassene, mag er sich noch so gut gehal- ten haben, darf nicht in die illegale Arbeit einbezogen werden!“ Schon die bloße Tat- sache, daß die Gestapo einen Genossen wieder freiließ, sollte ausreichen, ihn verdäch- tig zu machen. Solche Grundsätze waren ebenso verständlich wie selbstzerstörerisch. Etliche unter den nach wenigen Tagen, Wochen oder Monaten der Haft ohne Strafver- fahren und Verurteilung freigelassenen Kommunisten haben sich aufgrund unter- schiedlich starken Drucks insgeheim auf eine Verpflichtung als V-Leute der Gestapo eingelassen. Manche haben sich dieser Verpflichtung zu entziehen verstanden: die ei- nen durch Emigration und Offenbarung ihrer erzwungenen Verpflichtung,7 die ande- ren durch die gezielte Lieferung nutzloser Stimmungsberichte und vorgeschütztes Mißtrauen der Genossen gegen ihre Person.8 Mindestens vom KPD-Funktionär Hein- rich Muth ist bekannt, daß er nach seiner Verpflichtung als VM – unter äußerstem Druck, nachdem sein Bruder von der Gestapo zu Tode gefoltert worden war – zwar einerseits der Gestapo Genossen preisgegeben, aber andererseits weiter illegale Arbeit für die Partei geleistet hat. Das erfuhr die Gestapo bald. Muth verbrachte viele Jahre in KZ-Haft, bis er sich während eines „Bombenurlaubs“ nach fast acht Jahren erneut ver- pflichtete und dann sehr „erfolgreich“ für die Gestapo arbeitete.9 Bei ihm und anderen Funktionären handelte die KPD auf der regionalen Ebene der von der Parteiführung ausgegebenen Maxime geradewegs zuwider. Eine Generation später bestätigte die Schwägerin von Heinrich Muth diese Praxis: „Funktionäre, die aus der ‚Schutzhaft’ entlassen worden waren, wurden als verantwortliche Genossen eingesetzt, unter ihnen […] Heini Muth.“10 Das war wohl auch unvermeidlich. Denn es gab bald nur noch wenige Funktionäre, die nicht in Haft gewesen waren. Und an der Parteibasis herrschte eher eine gegenteilige Stimmung: Man sollte „die alten Kämpfer der KPD, welche im KZ gewesen
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