Carsten Nicolai „Farben hören, Töne sehen. Ich entwerfe den Prozess, aber ich bin nicht der Autor. Der Prozess ist der Autor. Man kann einen Prozess ewig weiterlaufen lassen, würde sozusagen ewig Bilder oder Sound produzieren.“ 1 Farben hören Unsere fünf Sinne verdanken wir einem evolutionären sche Karten erinnerten. Chladni war überzeugt, etwas Zufall: fünf nah beieinander liegende Formen von Aussergewöhnliches entdeckt zu haben: die bildliche Sinneserfahrung, dennoch sind sie deutlich voneinan- Darstellung des Klanges, eine direkte Verbindung zwi- der getrennt, jeder für einen anderen Zweck und mit schen den Sinnen, die für ästhetische Wahrnehmung anderen Eigenschaften. Im Laufe der Moderne jedoch stehen – Sehen und Hören. Angesichts der entstan- haben Künstler und Naturwissenschaftler immer wie- denen Muster soll er in seiner Überraschung ausge- der versucht, diese Trennung der Sinneserfahrungen rufen haben: „Der Klang malt!“ Chladnis Experimente zu überwinden, um den nicht wegzudenkenden Unter- haben in die grundlegenden Lehrbücher der Physik schied zwischen Sehen, Hören, Schmecken, Tasten Eingang gefunden. Sie haben auch eine ganze Reihe und Riechen zu überbrücken. Ernst Chladni, Begrün- zeitgenössischer Künstler inspiriert. Insbesondere ist in der der modernen Akustik, strich im Jahr 1786 einen diesem Zusammenhang der Maler, Wissenschaftler Violinenbogen über den Rand einer Metallplatte, die und Musiker Hans Jenny hervorzuheben. Ein Jahrhun- mit Sand bedeckt war. Indem er dies tat, begannen dert vor Chladni berichtet der Philosoph John Locke die Sandkörner unterschiedliche Gestalten zu bilden, von seiner Verwunderung angesichts eines Falles, wo von einfachen Linien und Kurven bis zu komplizierten ein „gebildeter, blinder Mann“ die Farbe Scharlachrot Mustern, die an Sterne, Labyrinthe oder topographi- als den Klang einer Trompete empfand. 2 3 Roter Urklang „Wellen kräuseln sich in Form von konzentrischen Kreisen, stossen aufeinander, verbinden sich, erzeugen dabei Schwingungsknoten und Farbpaletten.“ Die „Synästhesie“, wie sich dieses spezielle Phänomen das Bemühen ablesen, die „echten, neurologischen“ der sinnlichen Verschränkung nennt, ist vermutlich so Fälle von den „lediglich metaphorischen“ Aussagen alt wie die Menschheit; erst in den letzten zweihundert der Künstler zu unterscheiden. Man denke an Wassily Jahren ist sie jedoch auch unter Naturwissenschaft- Kandinsky, der hoffte, dass seine abstrakten Bilder lern und Künstlern verstärkt ins Bewusstsein gerückt. musikalische Empfindungen hervorrufen mögen, oder Der Schriftsteller Vladimir Nabokov stellte zudem fest, Earle Brown und Cornelius Cardew, deren „grafische dass bestimmte Vokallaute bei ihm spezielle Farbtöne Partituren“ aus Formen und Figuren bestanden, die evozierten. Der Künstler David Hockney berichtet, dass der Musiker in Klänge übertrug. Synästhesie, so lautet er unter anderem Bühnenbilder für die Metropolitan die These, begründet sich in der Verschaltung der Opera entwarf, indem er einfach die Musik als Farbe Nervenzellen in der Gehirnmasse und ist zudem wohl und Form wahrnahm. Und der Komponist Olivier nicht lediglich die ästhetische Vorstellungsleistung Messaien erzählte in einem Interview: „Ich habe eine des Künstlers und des entsprechenden Publikums. Zu- besondere Begabung – ich kann nichts dagegen tun, dem ist die synästhetische Erfahrung persönlich und aber immer, wenn ich Musik höre oder auch nur Noten nach innen gewandt, sie ist nicht öffentlich oder nach lese, sehe ich Farben.“ Der Fülle neuerer wissenschaft- außen gerichtet. In einer Wiederbelebung der Experi- licher Literatur zum Thema Synästhesie lässt sich mente Chladnis werden diese Projekten gezeigt. 4 Roter Urklang Töne und ihre Assoziationen 5 Ein roter Urklang wird mit warmen, dunklen Farben und hauptsächlich harmonischen Tönen assoziiert. Dreiklänge mit dem Basiston im Bass Weit hinten, hinter den Wortber- eignen sich besonders gut. gen, fern der Länder Vokalien und Konsonantien leben die Blindtexte. Abgeschieden wohnen sie in Buch- stabhausen an der Küste des Seman- tik, eines großen Sprachozeans. Kreise stossen aufeinander, verbinden sich, erzeugen die Tonsignale über einen Fernseher abzuspielen, oder Inhalts. Anstatt des gewöhnlichen empirischen erlöschen, als ob sie unter einer unerträglichen dabei auch Schwingungsknoten und Störungsmuster. um die synästhetischen Möglichkeiten des elektroni- Inhalts von Fernsehen – der Überflutung mit Bildern Spannung stünden. Insgesamt gesehen ist „telefun- Zugleich wissenschaftlich und ästhetisch, überschrei- schen Signals erkunden zu können. Durch einfache und Darstellungen – erhalten wir schlichtweg Elekt- ken“ eine Art abstraktes Schauspiel in zwei Akten und tet Nicolai mit seinen Projekten die Grenze zwischen Vorgehensweise wird der Fernseher völlig verwandelt ronen, Pixel, Licht, Linie und Rahmen. Ungeachtet des 30 kurzen Szenen. Die Protagonisten sind Punkte, Hören und Sehen, indem er Darstellungen schafft, und neu interpretiert: das von der kommerziellen technologischen und konzeptionellen Hintergrundes, Linien, Blöcke, unterschiedliche Stärken, Intensitäten, die unmittelbar körperlich, öffentlich zugänglich und Kultur bevorzugte Medium wird mit seiner Informa- überraschen die Eleganz, Schlichtheit, Schönheit von Geschwindigkeiten, und ihre Bühne ist der schwarze sinnlich begreifbar sind. Nicolais „telefunken“ ist tionsüberflutung plötzlich zu einer leergefegten „telefunken“. Die kratzenden Brummtöne, die Impulse Raum des Fernsehbildschirms. Wie auch Chladni und sicherlich die Glanzleistung seiner eigenen Synästhe- Plattform, die der Darstellung abstrakter minimalisti- und Loops auf der Tonspur 1–20, mit dem gemeinsa- Jenny zeigt Nicolai, dass Naturwissenschaft und tik und potenziert diese Einblicke ins Unendliche. Das scher Kunst dient. Auch der CD-Player erfährt diese men Titel „impulse to line“ generieren eine faszinie- Kunst zusammenwirken können, um die künstlichen Netz der Materie wird jenseits des sinnlichen Reiches Verwandlung: er ist nicht länger nur ein eigenständiges rende Anordnung weisser und horizontaler Balken, Grenzen aufzulösen, die unserem gewöhnlichen der Flüssigkeiten ausgeworfen und durch den äthe- Gerät für das Abspielen von Musik, vielmehr wird er die aufsteigen und fallen, mit einander verschmelzen sinnlichen Zugang zur Welt gesetzt sind. Er demons- rischen Bereich der Elektrizität gezogen. Die synäs- zum Auslösungsmechanismus einer audio-visuel- und sich wieder trennen, sich vor dem schwarzen triert, dass die Synästhesie kein seltenes neuronales thetische Erfahrung, die sich im inneren, organischen len Assemblage. Um es wie Kant oder Heidegger zu Hintergrund des Fernsehers ausdehnen und zusam- Phänomen ist, sondern eine geeignete Beschreibungs- Raum des menschlichen Gehirns abspielt, wird auf das sagen, „telefunken“ lenkt unsere Aufmerksamkeit menziehen. Die Tonspuren 21– 30 „testtones“ erzeu- möglichkeit für Materie. Oder wie Jenny es vielleicht äussere, anorganische Wirken von Maschinen über- auf den transzendentalen Bereich des Fernsehers, auf gen Lichtblöcke, die pulsieren, flackern, sich krümmen, formulieren würde: Nicolai erinnert uns daran, dass tragen. „telefunken“ fordert den Zuhörer auf, die Bedingungen der Möglichkeit eines jeden Bildes zittern und in einen Moment ausharren, bevor sie alle Materie letztendlich kreative Vibration ist. 6 7 Grüne Flucht „Die bildliche Darstellung des Klanges, eine direkte Verbindung zwischen den Sinnen, die für ästhetische Wahrnehmung steht – Sehen und Hören.“ Solche Kreise stossen aufeinander, verbinden sich und über einen Fernseher abzuspielen, um die synästhe- erzeugen dabei Schwingungsknoten und Störungs- tischen Möglichkeiten des elektronischen Signals muster. Zugleich wissenschaftlich und ästhetisch, erkunden zu können. Durch einfache Vorgehensweise überschreitet Nicolai mit seinen Projekten die Grenze wird der Fernseher völlig verwandelt und neu inter- zwischen Hören und Sehen, indem er Darstellun- pretiert: das von der kommerziellen Kultur bevorzugte gen schafft, die unmittelbar körperlich und sinnlich Medium wird mit seiner Informationsüberflutung begreifbar sind. Nicolais „telefunken“ ist sicherlich plötzlich zu einer leergefegten Plattform, die der die Glanzleistung seiner eigenen Synästhetik und Darstellung abstrakter minimalistischer Kunst dient. potenziert diese Einblicke ins Unendliche. Das Netz der Auch der CD-Player erfährt diese Verwandlung: er ist Materie wird jenseits des sinnlichen Reiches der Flüs- nicht länger nur ein eigenständiges Gerät für das Ab- sigkeiten ausgeworfen und durch den ätherischen spielen von Musik, vielmehr wird er zum Auslösungs- Bereich der Elektrizität gezogen. Die synästhetische mechanismus einer audio-visuellen Assemblage. Erfahrung, die sich im inneren, organischen Raum des Um es wie Kant zu sagen, „telefunken“ lenkt unsere menschlichen Gehirns abspielt, wird auf das äussere, Aufmerksamkeit auf den transzendentalen Bereich anorganische Wirken von Maschinen übertragen. des Fernsehers, auf die Bedingungen der Möglichkeit „telefunken“ fordert den Zuhörer auf, die Tonsignale eines jeden Bildes oder Inhalts. 8 Grüne Flucht Natur und organische Klänge 9 Die grüne Farbe ist häufig mit der Natur und dem Leben verknüpft. Es sind die leichten Klänge, die nicht harmonisch sein müssen. Nach den über zehn Jahre zurückliegenden Einzel- Vermittlung seines Kunstschaffens über einen Audio- to-Album „Unieqav” und „Glass”. Als ein Mitbegründer Ästhetik der Mathematik geprägt. Codes und Daten, ausstellungen in der Schirn Kunsthalle Frankfurt
Details
-
File Typepdf
-
Upload Time-
-
Content LanguagesEnglish
-
Upload UserAnonymous/Not logged-in
-
File Pages15 Page
-
File Size-