Der Sohnemann Boateng

Der Sohnemann Boateng

r kann den Pfiff seines Vaters aus je - dem Stadionlärm heraushören, egal Ewie groß das Stadion ist, in dem er spielt, egal wie laut die Fans singen. Julian Draxler kennt den Klang dieses Pfiffs von der E-Jugend an. Er spielte damals zum ersten Mal vor mehr als 3000 Zuschauern, im Alter von acht Jahren, in einer Halle in Ulm. Seitdem ist sein Vater davon über - zeugt, dass es gut ist, wenn „der Jule“ vor jedem Spiel genau weiß, wo „Mama und Papa“ im Stadion sitzen. Es sind noch 15 Minuten bis zum ersten Spiel der Deutschen bei der Europameis - terschaft gegen die Ukraine in Lille, als Ju - lian Draxler das Aufwärmen beendet und sich auf den Weg zurück in die Kabine macht. Er hat keine Eile. Er wartet auf den Pfiff seines Vaters. An diesem Abend ist es sehr laut im Sta - dion, aber nach dem dritten Pfiff wendet Draxler den Kopf und winkt seinen Eltern vom Rasen aus kurz zu. Er weiß jetzt, dass sie da oben sitzen, in Reihe 33, direkt ne - ben den Eltern von Mario Götze. Julian Draxler ist 22 Jahre alt, „blut - jung“, wie sein Vater sagt. Er spielte mit 17 zum ersten Mal in der Bundesliga, in seinem ersten Profijahr gewann er den DFB-Pokal mit Schalke 04. Der Mittelfeld - spieler gilt noch immer als eines der größ - ten Talente in Deutschland, vor einem Jahr zahlte der VfL Wolfsburg 36 Millionen Euro für ihn. Draxler bringt es inzwischen auf 21 Einsätze in der Nationalmannschaft. Und nach der Verletzung von Marco Reus ist er bei dieser Europameisterschaft sogar mehr oder weniger zum Stammspieler auf - gerückt. Er stand beim 2:0 gegen die Ukrai - ne und beim 0:0 gegen Polen in der Start - elf. Die EM könnte ein ganz großes Turnier für ihn werden, so jedenfalls hoffen seine Berater. Das Turnier, bei dem das ewige Talent endlich erwachsen wird, zu einer echten Spielerpersönlichkeit reift. Aber wie wird man erwachsen, wenn man nie ein richtiger Jugendlicher war? Julian Draxler gehört zu einer neuen Spielergeneration, die Fußball auf der Fuß - ballschule gelernt hat, nicht auf dem Bolz - platz wie etwa der fünf Jahre ältere Jérôme Der Sohnemann Boateng. Sie werden dort nicht nur zu gu - ten Spielern erzogen, zu brillanten Techni - Nationalmannschaft Julian Draxler ist der Prototyp einer kern, zu Tor- und Passmaschinen, sondern zu Fußballern, die als Vorbilder taugen, die neuen Spielergeneration. Er ist fit, fokussiert und Benimmregeln beherrschen, die höflich freundlich. Aber gewinnt man mit Musterschülern auch bleiben, auch wenn jemand unhöflich wird. Titel? Von Rafael Buschmann und Marc Hujer Sie werden so schon als Kinder zu kleinen Erwachsenen erzogen, zu Sohnemännern. „Aushalten“ nennt Draxler das, was ihnen L E G dort beigebracht wird. Wer die Nerven ver - E I P S liert, fliegt. R E D Es ist eine Generation, die sich schon / N O mit Anfang zwanzig erwachsen fühlt, aber S M A I auftritt wie Mustersöhne. Die Fußballschu - L L I W len erziehen sie auch zur Unselbstständig - S I N N keit. Sie werden bemuttert, damit sie sich E D 100 DER SPIEGEL *+ / *(), Sport ausschließlich um Schule und Sport küm - beim Fußballspielen beobachtet: Erwartungsdruck seines Heimat ver - mern können. Die Wäsche wird ihnen ge - „In der Jugend hatte Julian immer eins, der in ihm einen Schalker Mes - waschen, die Schuhe geputzt, Termine bei zwei defensive Mittelfeldspieler sias sah, aber auch weg von seinen Autohäusern und Ämtern erledigen Ver - hinter sich, so hatte er alle Freihei - Eltern, die es manchmal zu gut mit einsmitglieder oder Berater für sie. Draxler ten, die er für sein Spiel braucht. ihm meinten. Er wollte nicht mehr war minderjährig und konnte noch nicht Dann konnte er immer kreativ sein jeden Abend bei seiner Mutter es - allein fahren, da stellte ihm Schalke 04 und explodieren.“ Als Profi dage - sen. Er wollte auch einmal verschla - schon einen VW Touareg vor die Tür. gen wurde sein Sohn häufig auf fen dürfen und nicht von seinen El - In einem solchen Umfeld ist es schwer, Linksaußen statt im Zentrum des Spiels tern geweckt werden, die Angst hatten, er wirklich erwachsen zu werden. eingesetzt. Jetzt wurden die Wege für ihn könnte das Training verpassen. Vor allem Die zentrale Frage dieser EM ist: Kön - länger, jede Offensivaktion bedeutete auch aber wollte er die ewigen Debatten mit sei - nen die Deutschen ohne die alten Persön - ein großes Risiko. nem Vater loswerden, vor und nach seinen lichkeiten auskommen, mit denen sie vor Es ist bis heute sein Problem, und viel - Spielen, die Klagen über die verpassten zwei Jahren noch Weltmeister wurden? leicht auch einer der Gründe, dass er für Chancen, die misslungenen Pässe, die Rat - Ohne Philipp Lahm? Ohne Miroslav Klo - die Nationalmannschaft bis jetzt nur sehr schläge, was er besser machen könne. se? Ohne Per Mertesacker? Können die gute, aber keine überragenden Spiele ge - Manchmal, erinnert er sich, saß sein Vater Jungen, Spieler wie Mario Götze, Leroy zeigt hat. Ihm fehlt noch die Balance zwi - nach einem verlorenen Spiel zu Hause stun - Sané, Joshua Kimmich und Julian Draxler, schen Angriff und Abwehr. Auch dadurch denlang stumm am Tisch. Mit seiner die Kinder der Fußballinternate, eine neue hapert es in der Mannschaft von Jogi Löw, schlechten Laune konnte er einen ganzen goldene Generation begründen? die Deckung bleibt trotz Boateng bisher Abend verderben. Zweimal hat es Julian Draxler schon ver - die größte Schwäche bei dieser EM. Drax - Es ist Donnerstag, zwei Tage vor dem sucht, zweimal vergebens. 2012 nahm ihn ler kann froh sein, dass ihm Jonas Hector, letzten Saisonspiel gegen den VfB Stuttgart, Jogi Löw erst gar nicht mit zur EM, 2014 in dem es für Wolfsburg um gar nichts mehr nominierte er ihn zwar für den Kader, ließ geht. Draxler sitzt in der Trattoria Tarallo ihn aber nur wenige Minuten spielen. in Wolfsburg. Er bestellt einen Lugana, sei - Beim 7:1 gegen Brasilien, als das Spiel oh - nen Lieblingsweißwein. Lena, seine Freun - nehin schon lange entschieden war. Drax - din, will wissen, ob er auch ein Glas trinkt. ler war klar, dass sich etwas ändern musste. „Wenn heute Dienstag wäre“, sagt Drax - Und so fasste er im vergangenen Sommer ler, „würde ich ein Glas trinken. Aber heu - den Entschluss, Schalke 04 zu verlassen, te ist Donnerstag.“ Zwei Tage vor dem seinen Heimatverein, bei dem er seit der Spiel, das ist ihm zu viel Risiko. E-Jugend gespielt hatte. Es lief in Wolfsburg nicht alles so, wie Es gab zwei ernsthafte Interessenten, Ju - er es sich vorgestellt hatte. Er spielte gut, ventus Turin und Wolfsburg. Einen Mo - aber die Mannschaft spielte eine verkorkste ment lang sah Draxler sich schon in Italien. Saison. Im April, zwei Monate vor der EM, Lena Terlau, seine Freundin, suchte bereits verletzte er sich im Champions- League- nach Direktflügen von Düsseldorf nach Tu - Spiel gegen Real Madrid, und das Bangen rin, die es aber nicht gab. Doch dann warn - begann, ob er rechtzeitig für die Europa - ten Draxlers Berater ihn vor dem Risiko, meisterschaft fit sein würde. Der Reiz des bei Juve unterzugehen. Schließlich ent - Neuanfangs hatte sich in diesem Moment schied er sich gegen den Glamour, gegen längst verbraucht. das große Risiko und ging nach Wolfsburg. Wolfsburg kommt ihm heute furchtbar Z T A Seiner Freundin schenkte er eine Bahncard. H klein vor. Er trifft immer die gleichen Leu - C S „Wie alt bist du?“, fragt ihn der Fotograf, R te in der Fußgängerzone oder beim Mit - E T E der ihn für den ! porträtieren soll. P tagessen im Restaurant Vapiano, in das ir - „22“, sagt Julian Draxler. Nationalspieler Draxler gendwie alle gehen. Er hat auch sonst nicht „Wie alt fühlst du dich?“ Benimmregeln beherrschen viel entdecken können in der Stadt. Es „Wie 29“, sagt er. gibt eine Minigolfanlage, aber die war ge - Ein paar Tage bevor Draxler zur EM der neue Linksverteidiger des DFB-Teams, schlossen, als Draxler spielen wollte, und aufbricht, sitzt er in seinem Haus, das viel den Rücken freihält. So kann er sich wie - ein Kino, das meist schon um 21 Uhr seine zu groß für ihn ist, zwei Etagen, geschätzte der mehr trauen, Dribblings und Weit - letzte Vorstellung hat. Wenn man Draxler 300 Quadratmeter. Er wohnt zum ersten schüsse versuchen, Ausflüge in den gegne - heute fragt, was er an Wolfsburg mag, sagt Mal allein, aber er lebt nicht wirklich dort. rischen Strafraum wagen. er: die kurze Bahnfahrt nach Berlin. „Was soll ich euch zeigen?“, fragt er. Er Dass er das kann, hat er in der vergan - Er hat sich inzwischen einen eigenen hat eine Garage für seinen VW Touareg, genen Saison häufig gezeigt. Der VfL Stab aufgebaut, der ihn unabhängiger ma - die er so gut wie nie nutzt, und einen riesi - Wolfsburg ist für ihn ein guter „Übergangs - chen soll von dem Verein. Er bezahlt einen gen Garten, der wie ein leeres Gehege aus - verein“. Der Klub ist perfekt organisiert, Physiotherapeuten, der mehrmals die Wo - sieht, eine eingezäunte Rasenfläche ohne und als er ankam, war alles aufregend neu. che aus Essen anreist, und beschäftigt sei - ein einziges Beet. Er sagt, er gehe nie in Er liebte die kurzen Wege, die perfekten nen Koch, der auf Abruf alles für ihn macht, den Garten. Dann könnten ihn ja alle Nach - Trainingsbedingungen, die medizinische Frühstück, Mittagessen, Abendessen, sogar barn sehen. Er ziehe sich gern zurück, er Abteilung, die Allergietests durchführte selbst gemachte Proteinriegel für zwischen - fühle sich da wohler, sicherer. „Aber okay“, und entdeckte, dass er eine Ananas-Un - durch. Alles Bio, alles gesund. Es gehört sagt er, „wenn ihr den Garten sehen wollt, verträglichkeit hat. Er hat danach seine Er - zu dem neuen Leben, das er sich aufgebaut dann gehen wir halt mal raus.“ nährung umgestellt, fühlte sich besser und hat, auch wenn es gar nicht so anders ist Der ewige Wunsch nach Sicherheit steht hat nun weniger Pickel.

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