8 GESCHICHTE IM BUCH SEMPACHER WOCHE / SURSEER WOCHE / TRIENGER WOCHE • 25. JUNI 2015 Geschichte, die nicht an der Grenze endet BUCH «MITTEN IN EUROPA» VON ANDRÉ HOLENSTEIN Die Geschichte der alten und dezidiert von der «Gründung der Eidge- neuen Schweiz ist keine Inselge- nossenschaft im 15. Jahrhundert». Da- schichte. Sie muss in übergrei- mit bestätigt und erweitert er die Ergeb- fenden Zusammenhängen er- nisse von Bernhard Stettler und Roger zählt werden. Diese Forderung Sablonier. In Sempach weiss man ist bereits jahrzehntealt, aber durchaus, worum es dabei geht: 1472 erst 2014 wurde sie konsequent wurde die heutige Schlachtkapelle ge- erfüllt: vom Berner Historiker baut, 1474 das Rathaus. Beides passt zu André Holenstein. den Hinweisen im neuen Museum: zur Befreiungssage mit Tell und Gessler, um Der Inhalt ist packend, die Sprache gut 1470 im Weissen Buch von Sarnen erst- verständlich. «Mitten in Europa» wur- mals vollständig aufgeschrieben; zum de zum «Buch des Jahres 2014» und er- «getrüwen man» (Winkelried), 1476 schien innert weniger Monate bereits erstmals in den Quellen fassbar; zur in dritter Auflage. Unter seinen acht grandiosen Karte des Einsiedler Mönchs Farbtafeln sticht ein Ölgemälde he­ Albrecht von Bonstetten, der die Rigi raus, das ein anonymer Maler um 1612 1479 als Königin der Berge ins Zentrum anfertigte. Es trägt den Titel «Wunder der Welt rückte. Schweizerland, werthster Freyheit höchster Zier». Dieses Bild, das sich Leicht lesbar – viel Originalton heute im Landesmuseum Zürich befin- In Diskussionen wird von führenden det, zeigt die eidgenössische Jungfrau Historikern hin und wieder verlangt, sie Helvetia. In «alter Keüschheitstracht» sollten Geschichte mit so eingängigen trägt sie als Haarschmuck, zu einer Stoffen erzählen, wie das die Mythen Krone geformt, die Wappen der 13 al- machten. Mit dem Schauspiel Wilhelm ten Orte. Umworben wird Helvetia zu Tell kann Holensteins Buch zwar nicht beiden Seiten von je drei Fürsten: vom konkurrieren. Aber das wäre auch ein Markgrafen von Baden, vom Erzherzog allzu schiefer Vergleich. Friedrich von Österreich, vom Herzog von Savo- Helvetia, umworben von der Crème der damaligen Fürsten Europas: «Wunder Schweizerland, werthster Freyheit höchste Zier», Schiller hat mit seinem Tell 1804 kein yen, von den beiden Königen von Spa- Ölgemälde, um 1612. QUELLE SCHWEIZERISCHES NATIONALMUSEUM DIG-3865 Geschichtswerk geschaffen, sondern ei- nien und Frankreich, schliesslich vom nes der kunstvollsten Dramen der Welt- Dogen von Venedig. Es gibt wenig Bild- literatur, gemünzt auf die Besetzung quellen, welche die Beziehungen der fassende Breite, mit der er ans Werk ren als Stuckateure im Land- Zudem werden ganze Landesteile aus- Deutschlands durch die Heere Napole- Eidgenossenschaft zu den Mächten im geht. Besonders deutlich wird dies am vogteischloss Willisau tätig, ebenso in geschlossen. So etwa haben die Com- ons. Aber «Mitten in Europa» ist kei- damaligen Europa eindrücklicher dar- Beispiel wandernder Berufsgruppen. der Stiftskirche St. Michael in Bero- patriotes de la Suisse romande mit neswegs eine abgehobene theoretische stellen. Schon im 15. Jahrhundert suchten Ge- münster und auf Schloss Heidegg, um Marignano nichts zu tun. Demgegen- Abhandlung, alles andere als das. Es päckträger und Transportarbeiter aus nur auf wenige regionale Belege hin- über kommt André Holenstein das wimmelt von handfesten Belegen, kon- Existenzielle Abhängigkeit den Tälern der heutigen Südschweiz zuweisen. Verdienst zu, zusammen mit Thomas kreten Beispielen, farbigen Beschrei- Die Verflechtungen im Alpenraum bil- ihr Auskommen in den grossen Häfen Maissen und anderen, auf teils ver- bungen. Darüber hinaus liefert Holen- deten sich schon früh aus. Um 1300 von Genua, Livorno und Pisa. Kamin- schüttete Seiten der Geschichte auf- stein ein Extra, wie man es in diesem waren die Talschaften der Inner- feger aus dem Misox behaupteten sich Zur Verflechtung merksam zu machen. Die Schweiz soll Umfang kaum von anderen Darstellun- schweiz laut Holenstein «oberitalieni- erfolgreich im Wien des 17. und 18. nicht dargestellt werden als Land, das gen kennt. Das Buch enthält zahlreiche sche Täler». Viehherden wurden in Jahrhunderts. Bündner Zuckerbäcker gehört als zweite sich selber genügt. Ein solcher Ansatz ausführliche Zitate von anderen Auto- die Lombardei getrieben, desgleichen verbreiteten damals Süssigkeiten und mag in der Zeit der Geistigen Landes- ren, quer durch Zeit und Raum. Das Pferde aus der Zucht des Klosters Ein- Kaffee quer durch Europa. Holenstein Konstante die verteidigung seine Berechtigung ge- trägt nicht allein zum Reichtum dieses siedeln. Reichsvogt Werner von Hom- spricht ferner von Wanderungen hoch habt haben, sogar seine Notwendig- empfehlenswerten Werks bei, sondern berg, der seinen Sitz in Rapperswil qualifizierter Baufachleute und Künst- keit. Die Verflechtungen der verkörpert auf seine Weise die Haltung hatte, führte zu Beginn des 14. Jahr- ler, von Baumeistern, Malern, Bild- Abgrenzung. Gegenwart aber legen eine Sicht nahe, des Autors: nicht ausschliessen, son- hunderts mehrfach Söldner aus hauern, Steinmetzen und Bauarbei- die nicht aus-, sondern einschliesst. dern einschliessen. KURT MESSMER Schwyz über den Gotthard nach Nord- tern aus den Tessiner und Bündner Ein- statt ausschliessen italien. Der Berner Universitätslehrer Tälern. Im Kanton Luzern lässt sich Wenn heute nationalkonservative Zwei Konstanten Dr. phil. Kurt Messmer, Emmenbrücke, ist His- toriker und lehrte während vielen Jahren Ge- spricht von einer Abhängigkeit, die dies leicht nachweisen. Der Bau des Kreise die Schweizer Geschichte auf Zur Verflechtung gehört als zweite Kon- schichtsdidaktik an der Pädagogischen Hoch- existenzielles Ausmass annahm. Rathauses von Sursee wurde 1539 an Schlachten verengen wollen, Beispiel stante die Abgrenzung. Im 15. Jahrhun- schule Luzern und an der Universität Freiburg. Meister Jakob Zumstäg verdingt, der Marignano 1515, so schliessen sie von dert wurde sich die Eidgenossenschaft Vielfalt von Verflechtungen aus dem Valsesia südlich des Monte vornherein die Hälfte unserer Gesell- ihrer Identität und Eigenständigkeit be- André Holenstein: Mitten in Europa. Verflech- tung und Abgrenzung in der Schweizer Ge- Zu den grossen Leistungen Holen- Rosa stammte. Die Gebrüder Neuroni schaft aus, die Frauen. In Nationalge- wusst und fand zu einem Gemein- schichte. Verlag Hier + Jetzt. Baden 2014. 288 steins in diesem Buch gehört die um- aus Lugano waren in den 1690er-Jah- schichten haben Frauen keinen Platz. schaftsbewusstsein. Holenstein spricht Seiten, 49 Franken. Neue Helden braucht das Land (nicht) BUCH THOMAS MAISSENS «HELDENGESCHICHTEN» Die eigene Geschichte zu inter- Schlacht bei Sempach vom 9. Juli Im Interesse der Grossmächte nung auf dem Kontinent integriert die zwischen «Zukunft kommt von pretieren, ist eine Aufgabe jeder 1386 – taucht ein «getrüwer» Eidge- Erst der Westfälische Friede 1648 an- war und bis heute ist». vorne», «Zukunft braucht Herkunft» Generation. Mit seinen «Helden- nosse in der Zürcher Chronik auf, der erkannte erstmals die Neutralität der oder «No future» oszillieren. geschichten» befeuert der streit- die Lanzen der österreichischen Ka- Eidgenossenschaft als «legitime aus- Ringen um Geschichtsbilder bare Historiker Thomas Maissen vallerie packte und den Seinen eine senpolitische Haltung» ohne «Loyali- Die drei ausgewählten wie auch die an- Lohnende Debatte die neu entflammte Debatte Gasse machte. Danach wurde der tätsverpflichtungen mehr gegenüber dern der insgesamt fünfzehn Themen Wenn Maissen sich in die aktuelle De- über Sinn und Wert eidgenössi- Held erfunden, der seinen Mut nur Kaiser und Reich». Um 1700 begin- in Maissens «Heldengeschichten»- batte um die Zukunft der Schweiz ein- scher Mythen. Und er tut dies damit belohnt sehen wollte, dass nen die Eidgenossen die Neutralität Buch stützen die These des Autors: bringt und dabei an die Helden der auf anregende Art und mit guten man für seine Frau und Kinder sorge. als «veste Grundseule» und «Staats- «Jede Nationalgeschichte konstruiert schweizerischen Mythen- und Identi- Argumenten. Ab 1533 heisst er «Winkelriet». 1569 regel» zu bezeichnen und «erfanden den Sonderfall eines Volkes». Damit tätsgeschichte erinnert, die von der erhält er den Vornamen «Arnolt». – also (…) eine eigene Neutralitätsge- stellt sich Maissen in Opposition zu historischen Forschung bereits in den Der Rütlischwur fand am 8. November Der Nidwaldner Söldnerführer Ar- schichte». Im Frieden von Paris (20. national-konservativen politischen Sechziger- und Siebziger-Jahren vom 1307, «Mittwoch vor Martini», statt. nold von Winkelried hatte 1515 bei November 1815), nach der Niederlage Kreisen (z. B. SVP, Auns). Der Histori- Sockel geholt wurden, so trägt er bei Nicht am 1. August 1291. Das behaup- Marignano mitgekämpft und fiel Napoleons in Waterloo, anerkannten ker verlässt das wissenschaftliche Feld zu einer inspirierenden, politischen tet keck der Glarner Historiker, Land- 1522 in französischen Diensten. Frü- die Siegermächte (Österreich, Frank- und begibt sich in den politischen Dis- Kulturdiskussion – jenseits klassi- vogt, Gelehrte und Gegenreformator he Luzerner Quellen (1482, 1507) zur reich, Preussen, Grossbritannien, kurs. Jetzt wird es spannend und für scher Parteiungen. Eine frische histo- Ägidius Tschudi (1505-1572) in sei- Schlacht bei Sempach berichten Russland) die «immerwährende Neu- unsere Zeit relevant. Denn, so der Au- rische Debatte, die sich lohnt: intel- nem Chronicon Helveticum (1734-36). nichts von Winkelried. tralität»
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