Themenportal Europäische Geschichte www.europa.clio-online.de Essay SIEGFRIED KRACAUER – ZUR ENTWICKLUNG DER PROFESSIONELLEN FILMKRITIK IN DER 1 WEIMARER REPUBLIK Von Irmtraud und Albrecht Götz von Olenhusen Siegfried Kracauer (1889–1966) zählt neben Rudolf Arnheim, Béla Balász und Lotte Eisner zu den bedeutendsten Klassikern der deutschen Filmkritik und Filmtheorie der 1920er-Jahre. Seine berufliche Ausprägung als Filmkritiker, namentlich der Frankfurter Zeitung seit Anfang der 1920er-Jahre, kann als ein herausragendes Beispiel dienen, wie sich im Gegensatz zu einer rein ästhetisch geprägten Filmkritik eine soziologische Filmkritik und die Profession des Filmkritikers nach ersten Anfängen vor und im Ersten Weltkrieg insbesondere in den 1920er-Jahren entwickelte.2 Da weder die Geschichte der Filmkritik noch die Entwicklung der Profession des Filmkritikers unter kultur- und sozialhistorischen Perspektiven im internationalen Kontext hinreichend erforscht sind3, kann hier nur eine auf einen Exponenten bezogene knappe Skizze geliefert werden. Kracauers philosophisch, filmästhetisch und kulturkritisch geprägte Anfänge erweiterten sich zu einer ideologie- und gesellschaftskritischen Perspektive, in der Filme als Spiegel der bestehenden Gesellschaft gesehen wurden. Der Filmkritiker von Rang sei nur als Gesellschaftskritiker denkbar. „Seine Mission ist: die in den Durchschnittsfilmen versteckten sozialen Vorstellungen und Ideologien zu enthüllen und durch diese Enthüllungen den Einfluss der Filme selber überall dort, wo es nottut, zu brechen.“4 Kracauer als ein wesentlicher Protagonist der soziologischen, das heißt auch der mehr oder weniger exponierten linken Filmkritik, konfrontierte in Filmanalysen über —————— 1 Essay zur Quelle: Siegfried Kracauer und die Professionalisierung der Filmkritik: Internationaler Tonfilm? (1931) und Über die Aufgabe des Filmkritikers (1932). Die Druckversion des Essays findet sich in: Isabella Löhr, Matthias Middell, Hannes Siegrist (Hgg.): Kultur und Beruf in Europa, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, S. 116–122, Band 2 der Schriftreihe Europäische Geschichte in Quellen und Essays. 2 Diederichs, Helmut H., Anfänge deutscher Filmkritik, Stuttgart 1986; ders., Über Kinotheater-Kritik, Kino-Theaterkritik, ästhetische und soziologische Filmkritik, in: Schenk, Irmbert (Hg.), Filmkritik. Bestandsaufnahmen und Perspektiven, Marburg 1998, S. 22–42. 3 Einen instruktiven Überblick über die amerikanische Filmkritik bietet: Roberts, Jerry, The Complete History of American Film Criticism, Santa Monica 2010. Hier konnte auf einer ganzen Reihe von Anthologien zum Werk bekannter Filmkritiker aufgebaut werden, wobei allein die gesammelten Schriften der wohl bedeutendsten amerikanischen Filmkritikerin Pauline Kael etliche voluminöse Bände umfasst. 4 Kracauer, Siegfried, Über die Aufgabe des Filmkritikers, in: ders., Werke. Bd. 6.3: Kleine Schriften zum Film 1932–1961, hg. von Mülder-Bach, Inka, Frankfurt am Main 2004, S. 63. Dokumenterstellung: 30.11.2012 Seite: 1 von 7 Themenportal Europäische Geschichte www.europa.clio-online.de die filmästhetische Beurteilung hinaus die „Scheinwelt […] [dieser] Filme mit der ge- sellschaftlichen Wirklichkeit“ und ihrer Funktion als Ware und Wirtschaftsprodukt. Die Entstehung der Profession des Filmkritikers ist von der Entwicklung der deut- schen und internationalen Filmindustrie, hier vor allem der US-amerikanischen, sowie von der Entstehung und der zunehmenden Bedeutung von Filmzeitschriften mit Beiträ- gen zur Filmkritik in Zeitungen und Zeitschriften5 nicht zu trennen. Nach einer knappen Darstellung von Person und Biografie Siegfried Kracauers wird seine Entwicklung als Filmkritiker vor allem bei der Frankfurter Zeitung, die Grundlage und Fortentwicklung der Profession bis zu seiner Emigration vorgestellt. Anhand der beiden ausgewählten Quellen wird sein wesentliches Anliegen analysiert, sein Konzept in Bezug auf den deutschen, den US-amerikanischen, vor allem aber auf den internatio- nalen Film betrachtet6 und schließlich die sich aus diesen Fundamenten ergebenden Wirkungen auf die Filmkritik als Profession in den Blick genommen.7 Siegfried Kracauer, am 8. Februar 1889 in Frankfurt am Main als Sohn eines Kaufmanns geboren, hatte zunächst nach einem Architekturstudium und Arbeit in diesem Beruf, nach seiner Promotion (1914) und nach dem Ersten Weltkrieg den Beruf des Journalisten und Publizisten bei der Frankfurter Zeitung begonnen (1921). Seine frühen, seit dem Studium durch Georg Simmel und Max Scheler geprägten Arbeiten wie etwa Soziologie als Wissenschaft (1922) zeigen ihn früh in einem Bekannten- und Freundeskreis, aus dem der junge Theodor W. Adorno, Leo Löwenthal und Walter Benjamin herausragen.8 Mit der festen Anstellung bei der Frankfurter Zeitung 1924 und der Sicherung des Filmressorts konnte er, der sich auch mit der Fotografie befasst hatte, über die Vielzahl der durchschnittlichen deutschen und amerikanischen Filme hinaus seine geschichtsphilosophischen Ansprüche auf antizipatorische und utopische Entwürfe in kultur- und völkerübergreifenden Werken von Eisenstein, Pudowkin, Vertov und Chaplin erfüllt sehen. Deren Filmsprache stand für ihn auf höchstem Niveau. Der weitere Lebensweg war durch die Versetzung nach Berlin (1930) und die —————— 5 Kracauer schrieb nicht nur für die „Frankfurter Zeitung“, sondern gelegentlich auch Artikel für den „Film-Kurier“ (1 (1919) ff.) und andere Film- und Kulturzeitschriften. 6 Kracauer, Siegfried, Internationaler Tonfilm?, in: ders., Werke. Bd. 6.2: Kleine Schriften zum Film 1928–1932, hg. von Mülder-Bach, Inka, Frankfurt am Main 2004, S. 475–479. 7 Eine genauere Analyse der Profession des deutschen Filmkritikers ist ein Desiderat ebenso wie eine umfassende Darstellung der deutschen Filmkritik, von einer international vergleichenden ganz zu schweigen. Ein Vergleich Kracauers mit anderen Filmkritikern der Weimarer Republik kann die Arbeiten von weniger bekannten Autoren wie Ernst Jäger, Frank Maraun, Wolfgang Duncker, Rudolf Kurtz, Kurt Pinthus, Herbert von Jhering, Hans Siemsen, Libertas von Schulze-Boysen, aber auch Kurt Tucholsky, Axel Eggebrecht u.a. einbeziehen. Siehe dazu die in der Reihe „Film & Schrift“ von Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen edierten Filmkritiker-Monografien (Bände 2, 3, 5, 6, 8, 12, 14, 15). Kurtz, dessen filmkritische Beiträge dokumentiert sind, ist ein Beispiel dafür, wie sich ein Filmdramaturg aus dem Kreis um Ernst Lubitsch aus einem wohl informierten Filmindustriekenner und Funktionär der Filmbranche als Filmkritiker ab Mitte der 1920er-Jahre zu einem Anhänger – neben den verklärten Lubitsch und Jannings – der engagierten sowjetischen Montagekunst entwickelt. Vgl. dazu Michael Wedel, in: Kurtz, Rudolf (Hg.), Rudolf Kurtz: Essayist und Kritiker, München 2007, S. 9ff; zur Geschichte der deutschen Filmkritik bis 1933: Hake, Sabine, The Cinema’s Third Machine. Writing on Film in Germany 1907–1933, Lincoln 1993. 8 Zur Biografie Kracauers: Brodersen, Momme, Siegfried Kracauer, Reinbek 2001; Mülder, Inka, Siegfried Kracauer – Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. Seine frühen Schriften 1913–1933, Stuttgart 1985; Traverso, Enzo, Siegfried Kracauer: Itinéraire d’un intellectuel nomade, Paris 1994. Seite: 2 von 7 Themenportal Europäische Geschichte www.europa.clio-online.de Emigration nach Frankreich charakterisiert. Erst nach der Flucht in die USA (1941) und als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Museum of Modern Art in New York sowie als Stipendiat von Forschungsinstitutionen (Guggenheim und Rockefeller-Stiftung) wurden die Grundlagen für die klassischen Arbeiten From Caligari to Hitler (1947) sowie zur Filmästhetik und Filmtheorie gelegt, bevor er sich, Jahre vor seiner eingeschränkten Rezeption im Nachkriegsdeutschland, dem unvollendeten geschichtstheoretischen Werk History. The Last Things Before the Last widmete, das erst nach seinem Tode (New York 1966) aus dem Nachlass publiziert wurde (1969). Darin knüpfte er in gewisser Weise auch an filmhistorische Sichtweisen und Analysen der 1920er-Jahre an. Nachdem eine zunächst auf fünf, dann auf neun Bände angelegte Edition seiner Werke ab 1971 ins Stocken geraten war, liegen jetzt Kracauers Werke in einer großangelegten Edition vor. Sie ermöglicht durch die dreibändige Ausgabe der Kleinen Schriften zum Film 1921–1961 die „plastische Erkenntnis, dass er in der Frankfurter Zeitung die Filmkritik zu einem eigenständigen Genre entwickelte und die Filmanalyse auf ein theoretisches Niveau brachte“.9 Die Profession als Filmkritiker konnte Kracauer erst wieder in den USA in der Zeit- schrift New Movies auf Dauer fortsetzen. Denn trotz seines Rufs und guter Kontakte hatten die Bedingungen der acht Jahre im französischen Exil dort keine Existenz und nur bedingt eine Mitarbeit an Schweizer Zeitungen (Neue Züricher Zeitung und Baseler Nationalzeitung) ermöglicht. Kracauers Weg führte ihn von der soziologisch grundier- ten, auch der Kritischen Theorie der 1920er- und 1930er-Jahre verpflichteten Filmkritik, zur eigenständig entwickelten Filmästhetik und Filmgeschichte sowie über eine sozial- psychologisch und ikonologisch geprägte Filmtheorie schließlich hin zu einer teleologi- schen Geschichtstheorie eigener Art, die durch die Erfahrung des Holocaust geprägt war. 890 Filmproduktionen aus Deutschland, den USA, Frankreich, der Sowjetunion, Österreich, Schweden und Dänemark und anderen Ländern bildeten für den „maßgebli- chen Filmkritiker der Weimarer Republik“10 Basis und Vorgeschichte des späteren Ca- ligari-Buches. Die Bewertung der Filme zum Zeitpunkt ihres Erscheinens
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