2011 06 05 Thesen Verteilungsgerechtigkeit Final

2011 06 05 Thesen Verteilungsgerechtigkeit Final

Zukunftsforum: “Antworten auf die auseinanderfallende Gesellschaft” Ulrike Bürgel, David Gill, Katharina Fegebank, Ralf Fücks, Thomas Gehring, Sibylle Knapp, Robert Habeck, Mark Holzberger, Sibyll Klotz, Silke Krebs, Markus Kurth, Sven Lehmann, Max Löffler, Bärbl Mielich, Cem Özdemir (Co-Chair), Ramona Pop, Brigitte Pothmer, Astrid Rothe-Beinlich, Irmingard Schewe-Gerigk, Gerhard Schick, Peter Siller (Co-Chair), Nihat Sorgec, Wolfgang Strengmann-Kuhn, Mathias Wagner Thesen zum Workshop: Was heißt grüne Verteilungsgerechtigkeit? Individuen, Institutionen und Erweiterte Gerechtigkeit Wir Grüne nehmen die Aufgabe an, mit Blick auf die soziale Frage eine eigene Antwort zu geben und sichtbar zu machen. Hier entscheidet sich, ob sich grüne Politik einer der drängendsten Herausforderungen für unsere Gesellschaft annimmt und das Versprechen einer gerechten „Politik für alle“ einlöst. Die Diagnose einer „auseinanderfallenden Gesellschaft“ ist mit Blick auf die Bundesrepublik nicht übertrieben: Die Schere bei den Zugangsmöglichkeiten zu den entscheidenden öffentlichen Gütern geht ebenso immer weiter auseinander wie die bei den Einkommen und Vermögen. Auf der Suche nach politischen Antworten auf die auseinanderfallende Gesellschaft kommt den Grünen eine Schlüsselrolle zu. Denn eine Politik der Gerechtigkeit braucht nicht nur Solidarität und Empathie, sie braucht zudem eine ausreichend konkretisierte und differenzierte Leitidee von Gerechtigkeit und einen klaren und offenen Blick für die Ursachen von Ungerechtigkeit. Bündnis 90/Die Grünen haben das Potential und die Kraft eine neue – ideenreiche und realitätstaugliche – Politik der Gerechtigkeit zu formulieren. Viele vermeintlich „postmaterielle“ Themen der Gründungszeit erweisen sich heute nicht nur als ökonomisch bedeutsam, sondern als harte, soziale Themen. Wir müssen nicht jedes fachpolitische Detail zur Grundsatzfrage erhöhen, aber eine allgemeine „Unschärfe“ in diesem Bereich würde unserem Anspruch einer Politik für alle nicht gerecht werden und würde uns unserer Entwicklungschancen berauben. Gerade mit Blick auf die soziale Kompetenz der Grünen gilt: Wirkungsvolle Politik in einer demokratischen Gesellschaft darf sich weder auf leere Schlagworte reduzieren, noch darf sie sich in einer Aneinanderreihung von Spiegelstrichen verflüchtigen. Wirkungsvolle Politik muss Auskunft geben, welchen Ideen und Grundsätzen sie folgt, an welchen Kriterien sie sich entsprechend messen lässt, und welche Konzepte und Projekte daraus folgen. Überzeugende Politik braucht den Mut Dinge anzuordnen, anstatt sie einfach nebeneinander 1 zu stellen, sie muss Prioritäten setzen und sie muss Begriffe finden, um all das zu vermitteln. Das gilt umso mehr vor dem Hintergrund unseres Anspruchs als einer Orientierungspartei. Zwei Jahre vor den kommenden Bundestagswahlen ist der richtige Zeitpunkt, um nochmals grundsätzlich nach der gemeinsamen Klammer zu fragen, die die grünen Vorstellungen und Konzepte zum Sozialen verbindet. Was ist die soziale Idee der Grünen? Es ist gut und notwendig, diese Anstrengung jetzt zu unternehmen, denn Vorarbeiten zu programmatischen Grundlagen und strategischen Begriffen sind geleistet. Jetzt muss es darum gehen, die grüne Gerechtigkeitsidee weiter zu konkretisieren, ihr erkennbare Konturen und eine profilierte Gestalt zu geben. Das erfordert auch ungeklärte Fragen, Paradoxien und Widersprüche offen zu benennen und nach Antworten zu suchen. Eine in diesem Zusammenhang entscheidende Frage lautet: Was verstehen wir unter Verteilungsgerechtigkeit? Dieser Frage widmet sich der Workshop mit Blick auf die grüne Idee eines Erweiterten Gerechtigkeitsbegriffs, insbesondere mit Blick auf das Verhältnis zwischen der Förderung durch öffentliche Institutionen und institutionelle Transfers auf der einen Seite und der Förderung durch individuelle Transfers auf der anderen Seite. Wie lässt sich der Maßstab unseres Gerechtigkeitsanspruchs im Kern beschreiben? Wie verhalten sich Gerechtigkeit und Freiheit zueinander? Wie unterscheidet sich eine Politik der Primärverteilung von einer der Umverteilung? Welche Idee der Umverteilung verfolgen wir auf der Einnahmeseite? Welche Handlungsspielräume ergeben sich daraus? Welche Priorisierung erfordert unsere Gerechtigkeitsidee auf der Ausgabenseite? Was heißt das für institutionelle Transfers und Individualtransfers? Und wie wirkt sich unser grüner Institutionenansatz auf die einzelnen Politikfelder aus? Das sind die Kernfragen, um die es bei dem Workshop gehen wird. Die 11 Thesen im Überblick: 1. Die Schere bei Zugängen, Einkommen, Vermögen und Aufstiegschancen geht weiter auseinander 2. Wir Grüne müssen unsere soziale Idee und unseren sozialen Gestaltungsanspruch deutlich machen 3. Gerechtigkeit und Freiheit zusammendenken: Wir haben einen emanzipativen Gerechtigkeitsbegriff 4. Wir erweitern den Radius: Gerechtigkeit für Raum, Zeit und Geschlecht definieren 5. Wir erweitern die Güter: Gerechtigkeit für Bildung, Arbeit und Klima verwirklichen 6. Mehr Wert schaffen: Gerechtigkeit braucht Produktivität 7. Primärverteilung von Einkommen und Vermögen und Umverteilung: Wir müssen schon bei der Entstehung von Ungerechtigkeit ansetzen 8. Wir müssen die Einnahmeseite stärken, um neue Handlungsspielräume zu eröffnen 9. Wir brauchen eine Priorisierung der Ausgaben, um die öffentlichen Institutionen wirklich zu verbessern 2 10. Zwei zu Eins: Für jeden Euro für Individualtransfers investieren wir zwei Euro in öffentliche Institutionen 11. Grüne Basissicherung: Wir wollen Grundsicherungs- und Grundeinkommenselemente verbinden und jedes Individuum eigenständig absichern 1. Die Schere bei Zugängen, Einkommen, Vermögen und Aufstiegschancen geht auseinander Wir stellen fest, dass einem großen Teil der Bürgerinnen und Bürger der Zugang zu zentralen öffentlichen Gütern verwehrt wird, insbesondere zu Bildung und Arbeit, zwei entscheidenden Voraussetzungen für ein Leben in Selbstbestimmung und Anerkennung. Es gibt eine immer größere Spreizung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse. Hinzu kommt die Diagnose einer blockierten Gesellschaft, in der sozial Benachteiligten jede Aufstiegschance in die sozioökonomische Mitte verwehrt wird und sich in der Mittelschicht die Abschottungstendenzen verstärken (Zu „Wie lösen wir die sozialen Blockaden? Aufstieg ermöglichen, Inklusion stärken“ bieten wir einen eigenen Workshop an). Hinzu kommt, dass die ökologische Frage immer mehr zur sozialen Frage wird, dass die Haushalts- und Finanzlage politisches Handeln immer weiter einschränkt, dass der demographische Wandel neue Gerechtigkeitsfragen aufwirft und Geschlechtergerechtigkeit trotz Fortschritten nach wie vor uneingelöst ist. Die soziale Benachteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund zählt ebenso zu den drängenden Gerechtigkeitsproblemen wie die Blockaden für Menschen mit Behinderungen. Die ökonomische Entgrenzung erschwert zudem nationale Antworten und verlangt nach überstaatlichen Lösungen, insbesondere auf europäischer Ebene, die unter schwarz-gelb völlig aus dem Blickfeld geraten ist. Die „soziale Frage“, also die Frage nach einer gerechten Gestaltung der Lebensbedingungen von Menschen, entscheidet sich eben nicht nur in der „klassischen“ Sozialpolitik, sondern in der Bildungspolitik, in der Arbeitspolitik, in der Stadtplanung, in der Umweltpolitik und in vielem mehr. 2. Wir Grüne müssen unsere soziale Idee und unseren sozialen Gestaltungsanspruch deutlich machen Die Grünen haben bereits viel Energie darauf verwendet, die Konturen einer grünen Gerechtigkeitspolitik sichtbar werden zu lassen – programmatisch, aber auch konzeptionell in vielen fachpolitischen Bereichen. Wir haben mit dem Erweiterten Gerechtigkeitsbegriff des Grundsatzprogramms von 2002 eine soziale Leitidee formuliert, die in alle Bereiche grüner Politik wirkt. Auf fachpolitischer Ebene wurde die Oppositionszeit nach 2005 genutzt, um grüne Konzepte an zahlreichen Schnittstellen zur Gerechtigkeitsfrage weiterzuentwickeln und zu konkretisieren. Eine gerechte Verteilungspolitik ist allerdings mehr als die Summe einzelner Instrumente. Notwendig ist aber ein verteilungspolitisches Gesamtkonzept, das die Ziele transparenter 3 macht, strategische Schwerpunkte verdeutlicht und Prioritäten setzt. Bei allen Differenzierungen und Erweiterungen fällt auf, dass eine Grundaussage zum Kern des grünen Gerechtigkeitsmaßstabs bislang eher vage geblieben ist. Der Anspruch der Erweiterung – etwa in zeitlicher oder in räumlicher Hinsicht – bleibt solange leer, solange keine Aussage darüber getroffen wird, welche Kriterien dem grünen Gerechtigkeitsmaßstab selbst zu Grunde gelegt werden. Ein Blick auf die Gerechtigkeitstheorie zeigt wie unterschiedlich hier die Antworten ausfallen können. Während die einen Gerechtigkeit als einen relativen Maßstab – also als Relation zwischen Individuen – begreifen, der stark mit dem Begriff der Gleichheit verbunden ist, verstehen andere Gerechtigkeit als absoluten Maßstab, der bestimmte Standards – etwa eine menschenwürdige Grundsicherung – vorgibt, die nicht unterschritten werden dürfen. Während die Einen eine Gleichheit der Güterverteilung als regulatives Ideal anstreben, geht es Anderen um die Gleichheit des Erfolgs bei der Verwirklichung selbst gesteckter Ziele. Während die Einen Ungleichheiten der Verteilung als Voraussetzung der ökonomischen Basis von Wohlfahrtsstaatlichkeit rechtfertigen, sehen Andere genau darin das Problem. Während die Einen Gerechtigkeit als prozeduralen Maßstab begreifen, der auf starke Mitspracherechte zielt, und dessen Gehalt sich somit erst in der Demokratie entscheidet,

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