Die Akte Alois Brunner

Die Akte Alois Brunner

Zu diesem Buch «Grüssen Sie mir mein schönes Wien, das ich für Sie judenrein gemacht habe.» Mit diesen zynischen Worten verabschiedete sich Alois Brun- ner, verantwortlich für den Mord an etwa 120’000 Juden, im Jahre 1986 von einem österreichischen Journalisten. Der 1912 geborene Alois Brunner ist in der einschlägigen Zeitge- schichtsschreibung kein Unbekannter. 1938 schon wurde er Stellvertre- ter Adolf Eichmanns; erjagte für ihn die Juden und organisierte ihre Deportationen, in Paris genauso wie in Saloniki, Nizza oder Berlin. 1945 stand er als Nummer 13 auf der Liste der angeklagten NS-Verbre- cher im Nürnberger Prozess und tauchte unter, lebte bis 1954 in Essen und wanderte dann über Italien nach Syrien aus. Dort lebt er aller Wahr- scheinlichkeit noch heute. Vor Gericht stand Brunner nie. Alle Versuche deutscher Staatsan- waltschaften, seiner habhaft zu werden, wurden halbherzig geführt. Georg M. Hafners und Esther Schapiras Recherchen enthüllen die schreckliche Geschichte der Taten Brunners und zugleich einen bun- desdeutschen Justizskandal. Dr. Georg M. Hafner ist Abteilungsleiter der Redaktion Politik und Ge- sellschaft beim Fernsehen des Hessischen Rundfunks und Kommenta- tor bei den ARD-Tagesthemen. Für seine Filmdokumentationen erhielt er unter anderem den Bayerischen Fernsehpreis und den Grimme-Preis. Er ist Mitherausgeber der Bücher Die Skandale der Republik (1989) und Neue Skandale der Republik (1994). Esther Schapira ist seit 1995 Redakteurin für Politik und Gesellschaft und Ressortleiterin der Abteilung Zeitgeschichte beim Fernsehen des Hessischen Rundfunks. Ihre Filme wurden unter anderem mit dem Deutschen Kritikerpreis (1996) und dem Rias Fernsehpreis (1995) aus- gezeichnet. Georg M. Hafner Esther Schapira Die Akte Alois Brunner Warum einer der grössten Naziverbrecher noch immer auf freiem Fuss ist Rowohlt Taschenbuch Verlag Redaktion Karin Lutz, Frankfurt Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, April 2002 Copyright © 2000 by Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main Umschlaggestaltung Ingrid Albrecht (Foto: Ullstein Bilderdienst – dpa/dpa, Frankfurt) Satz Adobe Caslon PostScript, PageOne Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3499 61316 6 Eingelesen mit ABBYY Fine Reader Meinem Grossvater Burkhard Meier und Clary Post. Georg M. Hafner Meiner Grossmutter Dora Heissler, die ich nicht kennen lernen konnte, und meinem Vater Israel Schapira, der nicht darüber reden wollte. Esther Schapira Inhalt Vorwort von Beate und Serge Klarsfeld 9 Einleitung 13 1 Wie Behörden einen Massenmörder suchen 17 Frankfurt am Main: Ein Staatsanwalt hat keine Eile 17 Köln: Ein Staatsanwalt will nichts wissen 22 2 Rohrbrunn – Ein Dorf im Burgenland und der Junge aus Haus Nr. 14 26 3 Wien – Die «Entjudung» einer Stadt 37 Raubzüge und Beutereste 37 Die Lehrjahre des «Judenjägers» 41 Das Rollkommando im Rothschildpalais 55 1942 – Beruflicher Aufstieg und privates Glück 61 Sommerfrische und Judenlager 73 Sperlgasse: Aus der Schule in den Tod 82 4 Berlin – Eine Empfehlung für weitere Sondereinsätze 94 5 Saloniki – «Endlösung» im Akkord 102 6 Paris – Das Lager Drancy und Brunners Liebe zum Detail 123 7 Nizza – Ein «Jagdausflug» nach Südfrankreich 140 8 Die letzte Fahrt nach «Pitchipoi» 157 9 Bratislava – Deportationen bis zur letzten Minute 178 10 Flucht und wirre Jahre 208 11 Wiener Leben: Nur die Juden fehlen 224 12 Ein falscher Pass, gute Freunde und eine neue Heimat 251 13 Damaskus: Ein «Toter» macht Geschäfte 269 14 «Dr. Georg Fischer», die Bombe und der BND 282 15 Angelegt und abgelegt: Die Akte Alois Brunner 296 16 Die Opfer jagen den Täter 309 17 Frische Spuren 334 Danksagung 350 Anmerkungen 352 Literatur 373 Register 376 Bildnachweis 382 Vorwort 9 Vorwort von Beate und Serge Klarsfeld Über 55 Jahre nach Kriegsende und den von den Nazis begangenen Verbrechen ist ein Mann immer noch auf freiem Fuss, der für den Tod von über 120’000 Juden aus Österreich, Deutschland, Griechenland, Frankreich und der Slowakei verantwortlich ist: SS-Hauptsturmführer Alois Brunner. Im Auftrag von Adolf Eichmann hat er Frauen, Männer und Kinder verfolgt, gequält und in die Vernichtungslager deportieren lassen. Wenn es einen internationalen Verbrecher gibt, dessen Er- greifüng und Auslieferung all unsere Anstrengungen gelten sollten, dann ist das Alois Brunner, unter wessen Schutz auch immer er steht. Das vorliegende Buch von Georg M. Hafner und Esther Schapira ist das erste Buch über Alois Brunner in Deutschland. Es ist ein wichtiges und notwendiges Buch, denn es zeigt das ganze Ausmass der schmerz- haften Wahrheit: Dass Brunner bis heute nicht bestraft wurde, ist ein Skandal und entspricht dem mangelnden Interesse der deutschen und österreichischen Öffentlichkeit und Justiz sowie der politisch Verant- wortlichen beider Länder, Brunner vor Gericht zu stellen. Dieser näm- lich wurde von einem Diktator in Syrien geschützt, vor dem sich die Grossen der westlichen Welt über 30 Jahre lang verbeugten. Es war wahrscheinlich Brunners Stimme, die ich, Serge, in jener Nacht des 30. September 1943 hörte, als mein Vater, Arno Klarsfeld, abgeholt wurde. Zuvor hatte mein Vater uns – meine Mutter, meine Schwester und mich – in einem umgebauten Wandschrank in unserem Haus in der Rue d’Italie in Nizza versteckt. Eine Gedenktafel an diesem 10 Vorwort Wohnhaus erinnert heute an ihn und an seinen Widerstand. Noch heute höre ich die Schreie und das Weinen unserer jüdischen Nachbarn, deren Kinder unsere Spielkameraden waren. Noch immer höre ich die Türglocke und die Worte: «Deutsche Polizei, wo sind Ihre Frau und Ihre Kinder?» Ich höre noch immer, wie die Gestapo uns sucht, wie die Schranktür geöffnet wird und die Kleider auf der Stange zur Seite geschoben werden. Meine Schwester hatte sich ein Taschentuch in den Mund gesteckt, um nicht husten zu müssen; ich, der ich sonst sehr lebhaft war, blieb unbeweglich wie ein Stein. Ich war acht Jahre alt und ich wusste, wenn die Deutschen uns finden, bedeutet das den Tod. Mein Vater hatte uns ein paar Tage zuvor gesagt: «Wenn sie uns schnappen, werde ich über- leben, weil ich stark bin, ihr aber seid es nicht.» Deshalb bastelte er mit zwei ungarischen Freunden die doppelte Holzwand in unserem Schrank im Flur. Die Gestapo-Leute berührten diese Wand nicht; sie haben die Schranktür wieder geschlossen. Wir verbrachten die Nacht in diesem Versteck und überlebten. Diese Nacht machte aus mir einen Juden, der begriff, was die Shoah ist. Beate und ich beginnen 1977 damit, uns der Sache Brunner anzuneh- men. 1971 hatten wir in Bolivien Klaus Barbie, den «Schlächter von Lyon», entdeckt und kämpften um seine Auslieferung; 1987 wird er in Lyon vor Gericht gestellt und verurteilt. Ebenso schaffen wir es, Lischka, Hagen und Heinrichsohn in Köln anklagen und verurteilen zu lassen. Ein diskretes Eindringen in die Wohnung von Brunners Tochter in Wien verschafft uns Brunners Adresse in Damaskus, den seine Tochter dort besucht hatte. 1982 erstatten wir in Köln Anzeige gegen Brunner. Seine Akte wird wieder geöffnet. Wir verstärken unsere Aktivitäten in Köln, Frankfurt und Bonn und erwirken im Februar 1984 einen Antrag auf Auslieferung, der jedoch nur mündlich formuliert und somit nicht in Erwägung gezogen wird. Deutschland furchtet Syrien und dessen staatlichen Terrorismus. Wir versuchen, die «ostdeutsche Karte» aus- Vorwort 11 zuspielen, versuchen, die guten Beziehungen zwischen der DDR und Syrien und die «Interflug»-Verbindung zwischen Damaskus und Ost- Berlin zu nutzen. Die Syrer müssten Brunner nur des Landes verweisen und Brunner in dieses Flugzeug setzen. In Ost-Berlin würde über ihn gerichtet werden, ohne dass die Nachkriegszeit und seine Rolle in Sy- rien zur Sprache kämen. Als Honecker endlich von diesem Plan über- zeugt ist und der Antrag an Syrien gestellt wird, ist es zu spät. Die DDR ist zu bedeutungslos geworden, um von Assad respektiert zu werden. Seine Antwort ist dieselbe, wie er sie der BRD und kurz darauf Frank- reich geben wird: «Wir haben keinen Beweis dafür, dass sich Brunner auf syrischem Territorium aufhält.» Und darauf wird von syrischer Seite beharrt, obwohl eindeutige Beweise für Brunners Aufenthalt in Syrien vorliegen. Abwechselnd fliegen wir mehrere Male nach Syrien. Als Beate in Da- maskus vor dem Innenministerium mit einem Plakat (Assad, libère les Juifs de Syrie et extrade le criminel nazi Brunner, Assad, befreie die Juden Syriens und liefere den Naziverbrecher Brunner aus) demon- striert, wird sie festgenommen und am nächsten Tag ausgewiesen. Bei ihrer Ankunft in Frankreich wird sie von Aussenminister Roland Dumas freundlich empfangen, woraufhin Assad den Staatsbesuch von Dumas in Syrien um mehrere Monate verschiebt. Assad schützt unerschütter- lich den ehemaligen Kommandanten von Drancy, der ihm wahrschein- lich bei seinem Aufstieg an die Macht in den sechziger Jahren sehr hilf- reich gewesen war. Weitere Versuche, Brunners Auslieferung zu errei- chen, scheitern. Weder die direkte Fürsprache Jesse Jacksons bei seinem Freund Assad noch eine erste Fahndung von Interpol führen zum Erfolg. Immerhin erreichen wir mit einer Aktion am Europäischen Parlament, dass die für Syrien bestimmte finanzielle Hilfe von 200 Millionen Dol- lar zwei Jahre lang verschoben wird. Im Namen aller, die durch Brunner so sehr leiden mussten, haben wir diesen Fall trotz aller Schwierigkeiten nie aufgegeben. Da Syrien ein 12 Vorwort Gefangener der eigenen Lügen ist und Frankreich vergeblich Brunners Auslieferung beantragt, haben wir einen Prozess in Abwesenheit Brun- ners gefordert. Dieser Prozess

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