Retrospektive Alfred Hitchcock

Retrospektive Alfred Hitchcock

Retrospektive Alfred Hitchcock Alfred Hitchcock 14 Dreharbeiten zu THE BIRDS Dreharbeiten zu Wie nah kann man einem Meister kommen? William auf den Arm, und sagte: Nein Sir, heute habe ich mir Friedkin, Jahrgang 1935, hatte einst eine Begegnung keine Krawatte umgebunden. Und er sagte: Gewöhnlich mit Alfred Hitchcock, Jahrgang 1899. Er drehte gerade, tragen unsere Regisseure Krawatten. Dann ging er da- im Jahr 1965, die letzte Folge der ALFRED HITCHCOCK von. Und das war’s. Das war das einzige, was er mich HOUR (OFF SEASON, mit John Gavin), und hat davon in je übers Filmemachen lehrte.« einem Interview erzählt. Diese schlipsige Episode, das ist Hitchcock wie er leibt und lebt und sich selbst präsentiert. In den Sech- Schwarzer Schwarm zigern war er der absolute Meister der Selbstinszenie- »An meinem letzten Drehtag kam Hitchcock ins Studio. rung. Gab sich distinguiert und kultiviert, zynisch und Er wurde umringt von all diesen schwarzen Anzügen, ironisch, aber stets grundbürgerlich – wohl auch ein dem hohen Studiostab von Universal, und sie folgten wenig selbstgefällig, war zu jedem Gag bereit. Aber ihm wie ein Schwarm Krähen ... Wenn er ein Glas Was- nicht unbedingt für Hemdsärmeligkeit. (Ausnahmen ser verlangte, war es da. All diese yes men, die sich bestätigen die Regel: der helle Mantel, den er bei den da tummelten. Der Produzent der Show, Norman Llo- Außenaufnahmen zu THE BIRDS im windigen Bodega yd, der für die Besetzung und für die Arbeit am Script Bay trägt, oder einmal, kaum zu glauben, Hitchcock im sorgte und die Regisseure aussuchte, führte mich zu kurzärmligen Hemd im prallen Sonnenlicht!) Hitchcock. Ich sagte, es sei wirklich eine Ehre für mich, und streckte die Hand aus. Er gab mir seine Hand wie Hitchcock lebenslang ein König das tut. Er reichte sie mir, als würde er einen Ende der Fünfziger, im Fünferpack der Filme von VER- toten Fisch anfassen, und sagte: Mr. Friedkin, ich sehe, TIGO bis MARNIE, beginnt Hitchcocks Karriere einen Sie tragen keine Krawatte. Ich dachte, er nähme mich verrückten, schlingernden Drive zu entwickeln. Die Ge- schichten delirieren, die mise en scène wird abstrakt. gung gesetzten Mondrian«. Hitchcock war ein leiden- Seine Filme hatten immer schon etwas Pedantisches, schaftlicher Sammler moderner, abstrakter Kunst. das macht ihren ganz speziellen Charme aus. Ernste Miene zu sehr bösem Spiel. Zurück zu Alkibiades Hitchcock, das ist vor allem eine Silhouette, er hat Die ersten, die am Mythos Hitchcock bastelten, waren sie selbst skizziert, mit geschwungenem Strich, für sei- die jungen Franzosen der Cahiers du cinéma, Mitte des ne TV-Show. Ein Markenzeichen, Suspense als Wertar- vorigen Jahrhunderts. Das war ein Umsturz, ins Werk beit. Made by Hitchcock. gesetzt mit Naivität und Raffinesse: Das Kino wegrü- »Hitchcock is a lifelong commitment«, hat Dave cken aus dem Bereich von Kommerz und Entertain- Kehr geschrieben. »Man beschäftigt sich mit ihm sein ment, es als Kunst einreihen neben Malerei, Literatur, Leben lang, bleibt ihm und seinen Filmen verbunden, Musik, und damit den Begriff der Kunst ganz neu de- von der bemerkenswerten Kinounterhaltung, die er in finieren. naiver Jugend beschert, zu den subtilen Schattierun- Die Lust an der Provokation, die sich in diesen Tex- gen, die man später, bei genauerer Analyse, entdeckt.« ten vermittelt, ist auch beim Wiederlesen heute erre- Der Baukasten für eine Hitchcock-Philologie ist ge- gend. THE WRONG MAN sehen und danach Jean-Luc steckt voll, es gibt jede Menge Elemente, die in den Godards Text von 1957 lesen und sich die konsternier- diversen Texten über ihn und sein Werk immer wieder ten Reaktionen des trägen traditionellen Feuilletons Alfred Hitchcock auftauchen: die falschen Verdächtigen auf ihrer Flucht, ausmalen: »Die Schönheit jeder dieser Großaufnah- 15 die Schuld und ihre Übertragung, der Voyeurismus, die men, dieser Blicke, die nur auf das Vergehen der Zeit Frauen, die vornehm tun und sich hinter den Schlafzim- gerichtet sind, erwächst aus dem Eindringen des Ge- mertüren wie Nutten aufführen, die Zigarette ausge- fühls der Notwendigkeit in das des Unwichtigen, aus drückt im Spiegelei, die subjektiven Einstellungen und der Essenz in die Existenz. Die Schönheit von Henry Fahrten, die Geschichte, wie er als Bub vom Vater auf Fondas Gesicht, während dieser außergewöhnlichen die Polizeiwache geschickt und für ein paar Minuten in Sekunde, die zur Ewigkeit wird, ist vergleichbar der eine Zelle gesteckt wurde, die practical jokes, die sich des jungen Alkibiades, wie Plato sie im Gastmahl be- daraus entwickelten, Almas unverzichtbare treue Mit- schreibt.« Reine Atemlosigkeit, diese Lust des Sehens, arbeit, die Cameo-Auftritte, die Theorien von Suspense Entdeckens, Schreibens. und MacGuffin ... Die Verfügbarkeit der Filme ist enorm, auf DVD Hausfreund MacGuffin und Blu-ray, da kann man ihre Schönheit und Eleganz Hitchcock war very amused über seine Rolle als Film- bewundern und studieren – die meisten Leute haben autor und -künstler und zeigte eine sensationelle Groß- die Hitchcockfilme mehrfach gesehen. Aber um mitzu- zügigkeit. François Truffaut wurde ein sehr ausführli- kriegen, wie sie funktionieren, muss man sie auf der ches Interview gewährt, daraus entstand 1966 das Leinwand sehen, im Kinosaal sitzen mit dem Publikum, Buch »Le cinéma selon Hitchcock« (Wie haben Sie im Dunkeln. das gemacht, Mr. Hitchcock?). Ein Lehrbuch, ein Ka- techismus. Hitchcock als erste Instanz für alle Fragen Die Mondrianisierung der Welt des Filmemachens, die Technik, die Dramaturgie, den Hitchcocks Filme sind ganz und gar synthetisch. Man Suspense, die mise en scène, die Manipulation. Das schaut in ihnen zu, wie er die Wirklichkeit zerlegt und Buch ist selbst ein Meisterstück der Manipulation, der wieder neu zusammenbaut. Mehr als für die Geschich- Interviewte verführt seinen jungen Interviewer. ten, die er erzählt, interessiert er sich für die Linien, die Inzwischen ist Hitchcock – Werk, Leben, Persona ihnen eingezogen sind. Sein letzter Film, FAMILY PLOT, – überhäuft mit Sekundärliteratur. Unüberschaubar der erzählt von einem Gauner- und einem Kidnapperpaar. Berg von Artikeln, Analysen, Biographien, Bildbänden, »Interessiert habe ihn«, schreibt Enno Patalas in sei- Dissertationen. Der MacGuffin, von dem Hitchcock nem Hitchcock-Buch, »an dem Sujet das Strukturpro- immer genüsslich erzählt, ist ein Hausfreund in jeder blem. ›Zwei getrennte Aktionen und Personengruppen Kritikerstube. allmählich, unausweichlich zusammenzubringen.‹ « Die Abstraktions- und Reduktionstendenz des Spätwerks Fragmente der Sprache einer Liebe treibt Hitchcock in seinem letzten Film noch weiter. Die Der Film der Filme, nicht nur in Hitchcocks Werk, ist Szene auf einem Friedhof, der von oben aussieht wie VERTIGO. Ein Film mit Aura, lange Jahre von Hitchcock ein Labyrinth ohne Ausweg, nannte er »einen in Bewe- für Aufführungen gesperrt und nicht zu sehen (zusam- men mit vier weiteren seiner Filme), ein Gespinst von fasziniert vom Fall Patty Hearst. Er hatte den Prozess Cineastenträumen wob ihn ein. 2012 bei der bislang genau verfolgt. Als wir zusammenarbeiteten, wollte letzten Umfrage der Zeitschrift Sight & Sound, die alle man Miss Hearst gerade begnadigen und sie plante zu zehn Jahre unter den Filmkritikern und Filmemachern heiraten. ›Erst sagte sie, sie hätte sich in ihre Entfüh- in aller Welt die Top Ten der Kinogeschichte ermittelt, rer verliebt. Stellen Sie sich das vor, jetzt will sie ihren vertrieb VERTIGO den bisherigen Spitzenreiter CITIZEN Bodyguard heiraten. Ist es die Knarre, was meinen KANE. Beim Kinostart im Jahr 1958 war die Kritik eher Sie, oder der Schlüsselbund?‹ Hitchcock konnte nicht ungnädig gewesen – eine ächzende Handlung, Kim No- genug davon kriegen ... Prozesse jeglicher Art interes- vaks hölzernes Spiel, »far-fetched nonsense«. sierten ihn, besonders britische Mordprozesse. Er be- Amour fou pur … Viele Fans hat VERTIGO unter teuerte, als er jung war, hätte er riesige Passagen aus Filmemachern, Chris Marker, Jacques Rivette, Brian de den Prozessabschriften der berühmten Fälle rezitieren Palma, Christian Petzold, man sieht es in deren eigenen können. Er konnte in der Tat aus dem Gedächtnis den Filmen. VERTIGO, sagt Petzold, »habe ich gut 50 Mal Grundplan von Old Bailey memorieren, inklusive einer gesehen. Weil sich der Film dem Traum nähert, ohne detaillierten Beschreibung der Treppe, auf der der Ge- Nebel, ohne blühende Wiese in schönem Licht. Er zeigt fangene zur Anklagebank ging und zurück.« die Obsession, man schaut einem Perversen zu, der Wolf-Eckart Bühler, in der Filmkritik Juni 1977: Alfred Hitchcock versucht, wieder einen hochzukriegen. Und die Frauen »Hitchcocks englische Filme sind oft sehr englisch, 16 werden dafür zugerichtet. Mindestens 20 Mal habe ich Hitchcocks amerikanische Filme sehr wenig ameri- den Film auch gehasst.« kanisch. Von Amerika, dem Land, in dem er seit über 35 Jahren lebt und arbeitet, hat er so gut wie nichts Karzer-Kino angenommen – man kann auch sagen: gelernt – was David Freeman, der lange mit Hitchcock an einem letz- die großen Firmen in Hollywood ihm beigestellt haben. ten Drehbuch arbeitete, THE LONG NIGHT, und über Amerika kommt in seinen Filmen nicht vor, es sei denn diese Tage ein Buch geschrieben hat: »Hitchcock war als touristischer Ort. Auch dies unterscheidet Hitchcock Dreharbeiten zu THE 39 STEPS Dreharbeiten zu von Chandler, und ich halte diese Tatsache nicht für wird, auch Karin Dor, die Spionin in Kuba, die in TOPAZ eine Haltung, sondern für eine Unfähigkeit.« einen Liebestod stirbt. Wenn Hitchcock sich auf fremdes

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