Theodor Mommsen

Theodor Mommsen

Theodor Mommsen R¨omische Geschichte Erster Band Zweites Buch Von der Abschaffung des r¨omischen K¨onigtums bis zur Einigung Italiens 1. Kapitel Anderung¨ der Verfassung. Beschr¨ankung der Magistratsgewalt Der strenge Begriff der Einheit und Allgewalt der Gemeinde in allen Gemeindean- gelegenheiten, dieser Schwerpunkt der italischen Verfassungen, legte in die H¨ande des einzigen, auf Lebenszeit ernannten Vorstehers eine furchtbare Gewalt, die wohl der Landesfeind empfand, aber nicht minder schwer der Burger.¨ Mißbrauch und Druck konnte nicht ausbleiben, und hiervon die notwendige Folge waren Bestrebungen, jene Gewalt zu mindern. Aber das ist das Großartige in diesen r¨omischen Reformversu- chen und Revolutionen, daß man nie unternimmt, weder die Gemeinde als solche zu beschr¨anken noch auch nur sie entsprechender Organe zu berauben, daß nie die sogenannten naturlichen¨ Rechte des einzelnen gegen die Gemeinde geltend gemacht werden, sondern daß der ganze Sturm sich richtet gegen die Form der Gemeindever- tretung. Nicht Begrenzung der Staats-, sondern Begrenzung der Beamtenmacht ist der Ruf der r¨omischen Fortschrittspartei von den Zeiten der Tarquinier bis auf die der Gracchen; und auch dabei vergißt man nie, daß das Volk nicht regieren, sondern regiert werden soll. Dieser Kampf bewegt sich innerhalb der Burgerschaft.¨ Ihm zur Seite entwickelt sich eine andere Bewegung: der Ruf der Nichtburger¨ um politische Gleichberechti- gung. Dahin geh¨oren die Agitationen der Plebejer, der Latiner, der Italiker, der Frei- gelassenen, welche alle, mochten sie Burger¨ genannt werden, wie die Plebejer und die Freigelassenen, oder nicht, wie die Latiner und die Italiker, politische Gleichheit entbehrten und begehrten. Ein dritter Gegensatz ist noch allgemeinerer Art: der der Verm¨ogenden und der Armen, insbesondere der aus dem Besitz gedr¨angten oder in demselben gef¨ahrdeten Besitzer. Die rechtlichen und politischen Verh¨altnisse Roms veranlaßten die Entste- hung zahlreicher Bauernwirtschaften teils kleiner Eigentumer,¨ die von der Gnade des Kapital-, teils kleiner Zeitp¨achter, die von der Gnade des Grundherrn abhingen, und beraubten vielfach einzelne wie ganze Gemeinden des Grundbesitzes, ohne die pers¨onliche Freiheit anzugreifen. Dadurch ward das ackerbauende Proletariat schon so fruh¨ m¨achtig, daß es wesentlich in die Schicksale der Gemeinde eingreifen konnte. Das st¨adtische Proletariat gewann erst in weit sp¨aterer Zeit politische Bedeutung. In diesen Gegens¨atzen bewegte sich die innere Geschichte Roms und vermut- lich nicht minder die uns g¨anzlich verlorene der ubrigen¨ italischen Gemeinden. Die politische Bewegung innerhalb der vollberechtigten Burgerschaft,¨ der Krieg der Aus- geschlossenen und der Ausschließenden, die sozialen Konflikte der Besitzenden und der Besitzlosen, so mannigfaltig sie sich durchkreuzen und ineinanderschlingen und oft seltsame Allianzen herbeifuhren,¨ sind dennoch wesentlich und von Grund aus verschieden. Da die Servianische Reform, welche den Insassen in milit¨arischer Hinsicht dem Burger¨ gleichstellte, mehr aus administrativen Rucksichten¨ als aus einer politischen Parteitendenz hervorgegangen zu sein scheint, so darf als der erste dieser Gegens¨atze, der zu inneren Krisen und Verfassungs¨anderungen fuhrte,¨ derjenige betrachtet wer- den, der auf die Beschr¨ankung der Magistratur hinarbeitet. Der fruheste¨ Erfolg dieser ¨altesten r¨omischen Opposition besteht in der Abschaffung der Lebensl¨ang- lichkeit der Gemeindevorsteherschaft, das heißt in der Abschaffung des K¨onigtums. Wie notwendig diese in der naturlichen¨ Entwicklung der Dinge lag, dafur¨ ist der schlagendste Beweis, daß dieselbe Verfassungs¨anderung in dem ganzen Kreise der italisch-griechischen Welt in analoger Weise vor sich gegangen ist. Nicht bloß in Rom, sondern gerade ebenso bei den ubrigen¨ Latinern sowie bei den Sabellern, Etruskern und Apulern, uberhaupt¨ in s¨amtlichen italischen Gemeinden finden wir, wie in den griechischen, in sp¨aterer Zeit die alten lebensl¨anglichen durch Jahresherrscher er- setzt. Fur¨ den lucanischen Gau ist es bezeugt, daß er im Frieden sich demokratisch regierte und nur fur¨ den Krieg die Magistrate einen K¨onig, das heißt einen dem r¨omi- schen Diktator ¨ahnlichen Beamten bestellten; die sabellischen Stadtgemeinden, zum Beispiel die von Capua und Pompeii, gehorchten gleichfalls sp¨aterhin einem j¨ahrlich wechselnden ”Gemeindebesorger” (medix tuticus), und ¨ahnliche Institutionen m¨ogen wir auch bei den ubrigen¨ Volks- und Stadtgemeinden Italiens voraussetzen. Es bedarf hiernach keiner Erkl¨arung, aus welchen Grunden¨ in Rom die Konsuln an die Stelle der K¨onige getreten sind; der Organismus der alten griechischen und italischen Politie –2– entwickelt vielmehr die Beschr¨ankung der lebensl¨anglichen Gemeindevorstandschaft auf eine kurzere,¨ meistenteils j¨ahrige Frist mit einer gewissen Naturnotwendigkeit aus sich selber. So einfach indes die Ursache dieser Ver¨anderung ist, so mannigfaltig konnten die Anl¨asse sein; man mochte nach dem Tode des lebensl¨anglichen Herrn beschließen keinen solchen wieder zu erw¨ahlen, wie nach Romulus’ Tode der r¨omische Senat versucht haben soll; oder der Herr mochte freiwillig abdanken, was angeblich K¨onig Servius Tullius beabsichtigt hat; oder das Volk mochte gegen einen tyran- nischen Regenten aufstehen und ihn vertreiben, wie dies das Ende des r¨omischen K¨onigtums war. Denn mag die Geschichte der Vertreibung des letzten Tarquinius, ”des Uberm¨ utigen”,¨ auch noch so sehr in Anekdoten ein- und zur Novelle ausge- sponnen sein, so ist doch an den Grundzugen¨ nicht zu zweifeln. Daß der K¨onig es unterließ den Senat zu befragen und zu erg¨anzen, daß er Todesurteile und Konfiska- tionen ohne Zuziehung von Ratm¨annern aussprach, daß er in seinen Speichern unge- heure Kornvorr¨ate aufh¨aufte und den Burgern¨ Kriegsarbeit und Handdienste uber¨ die Gebuhr¨ ansann, bezeichnet die Uberlieferung¨ in glaublicher Weise als die Ursa- chen der Emp¨orung; von der Erbitterung des Volkes zeugt das f¨ormliche Gel¨obnis, das dasselbe Mann fur¨ Mann fur¨ sich und seine Nachkommen ablegte, fortan keinen K¨onig mehr zu dulden, und der blinde Haß, der seitdem an den Namen des K¨onigs sich anknupfte,¨ vor allem aber die Verfugung,¨ daß der ”Opferk¨onig”, den man kreie- ren zu mussen¨ glaubte, damit nicht die G¨otter den gewohnten Vermittler vermißten, kein weiteres Amt solle bekleiden k¨onnen und also dieser zwar der erste, aber auch der ohnm¨achtigste Mann im r¨omischen Gemeindewesen ward. Mit dem letzten K¨onig wurde sein ganzes Geschlecht verbannt - ein Beweis, welche Geschlossenheit damals noch die gentilizischen Verbindungen hatten. Die Tarquinier siedelten darauf uber¨ nach Caere, vielleicht ihrer alten Heimat, wo ihr Geschlechtsgrab kurzlich¨ aufge- deckt worden ist. An die Stelle aber des einen lebensl¨anglichen traten zwei j¨ahrige Herrscher an die Spitze der r¨omischen Gemeinde. Dies ist alles, was historisch uber¨ dies wichtige Ereignis als sicher angesehen wer- 1 den kann . Daß in einer großen weitherrschenden Gemeinde, wie die r¨omische war, die k¨onigliche Gewalt, namentlich wenn sie durch mehrere Generationen bei dem- selben Geschlechte gewesen, widerstandsf¨ahiger und der Kampf also lebhafter war als in den kleineren Staaten, ist begreiflich; aber auf eine Einmischung ausw¨artiger Staaten in denselben deutet keine sichere Spur. Der große Krieg mit Etrurien, der ubrigens¨ wohl nur durch chronologische Verwirrung in den r¨omischen Jahrbuchern¨ 1 Die bekannte Fabel richtet gr¨oßtenteils sich selbst; zum guten Teil ist sie aus Beinamenerkl¨arung ( Brutus, Poplicola, Scaevola) herausgesponnen. Aber sogar die scheinbar geschichtlichen Be- standteile derselben zeigen bei genauerer Erw¨agung sich als erfunden. Dahin geh¨ort, daß Brutus Reiterhauptmann ( tribunus celerum) gewesen und als solcher den Volksschluß uber¨ die Ver- treibung der Tarquinier beantragt haben soll; denn es ist nach der r¨omischen Verfassung ganz unm¨oglich, daß ein bloßer Offizier das Recht gehabt habe, die Kurien zu berufen. Offenbar ist diese ganze Angabe zum Zweck der Herstellung eines Rechtsbodens fur¨ die r¨omische Republik ersonnen, und recht schlecht ersonnen, indem dabei der tribunus celerum mit dem ganz ver- schiedenen magister equitum verwechselt und dann das dem letzteren kraft seines pr¨atorischen Ranges zustehende Recht, die Zenturien zu berufen, auf die Kurienversammlung bezogen ward. –3– so nahe an die Vertreibung der Tarquinier geruckt¨ ist, kann nicht als eine Interven- tion Etruriens zu Gunsten eines in Rom beeintr¨achtigten Landsmannes angesehen werden, aus dem sehr zureichenden Grunde, daß die Etrusker trotz des vollst¨andi- gen Sieges doch weder das r¨omische K¨onigtum wiederhergestellt noch auch nur die Tarquinier zuruckgef¨ uhrt¨ haben. Sind wir uber¨ den historischen Zusammenhang dieses wichtigen Ereignisses im Dunkeln, so liegt dagegen zum Gluck¨ klar vor, worin die Verfassungs¨anderung be- stand. Die K¨onigsgewalt ward keineswegs abgeschafft, wie schon das beweist, daß in der Vakanz nach wie vor der ”Zwischenk¨onig” eintrat; es traten nur an die Stelle des einen lebensl¨anglichen zwei Jahresk¨onige, die sich Feldherren (praetores) oder Rich- ter (iudices) oder auch bloß Kollegen (consules) 2 nannten. Es sind die Prinzipien der Kollegialit¨at und der Annuit¨at, die die Republik und das K¨onigtum unterscheiden und die hier zuerst uns entgegentreten. Dasjenige der Kollegialit¨at, dem der dritte sp¨aterhin gangbarste Name der Jah- resk¨onige entlehnt war, erscheint hier in einer ganz eigentumlichen¨

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