Inhalt Horst Nitschack (Berlin/Santiago de Chile) Einleitung ................................................................................. 7 Wolf Paul (Frankfurt) Genealogie der Verfassung der Republik der Vereinigten Staaten von Brasilien .......................................... 11 Wolfgang S. Heinz (Berlin) Zur Herausbildung des politischen Denkens im brasilianischen Militär während der ersten Jahrzehnte der Republik. Die Rolle ausländischer Konzepte ................................................................................. 27 Jens Hentschke (Newcastle) Brasiliens Republikanisierung: Die Suche nach Alternativen in einem Prozess der “Amerikanisierung” ................................................................ 45 Gerson Roberto Neumann (Berlin) Die brasilianische Einwanderungspolitik Ende des 19. Jahrhunderts ............................................................... 73 Béatrice Ziegler (Zürich) Wirkungen der Einwanderungs- und Kolonisationspolitik Brasiliens im 19. Jahrhundert: eine segmentierte und hierarchisierte Wirtschaft und Gesellschaft ..................................................................... 91 Jochen Kemner (Bielefeld) “Farbige Aufsteiger” in der Sklavereigesellschaft – Recife und Santiago de Cuba (1850-1888) .......................... 117 Katharina Bosl (Würzburg) Religion und Revolte. Die Bedeutung des Christentums im Kampf gegen die Sklaverei. Brasilien und Kuba im Vergleich ......................................... 151 6 Inhalt Martina Neuburger (Tübingen) Amazonien zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Spannungsfeld regionaler Konstellationen und internationaler Wirtschaftsinteressen ................................... 163 Karen Lisboa (Berlin/São Paulo) Bilder der Alterität, Identitätskonstruktionen: Brasilianer berichten über ihre Reisen in die USA Ende des 19. Jahrhunderts .................................................... 181 Susanne Klengel (Mainz) Intellektuelle Landschaften, diplomatische Erkundungen. Zum interkulturellen Dialog zwischen Rio de Janeiro und Buenos Aires um 1900 ................................................................................ 203 Horst Nitschack (Berlin/Santiago de Chile) Sílvio Romeros Situierung der brasilianischen Nationalliteratur im amerikanischen Kontext ...................... 229 Sabine Schlickers (Bremen) Der brasilianische Naturalismus im lateinamerikanischen Kontext: O Cortiço (1890) von Aluísio Azevedo ................................................................. 247 Ligia Chiappini (Berlin) João Simões Lopes Neto und Javier de Viana: zwei Schriftsteller der Grenze und ein hypothetischer Dialog ........................................................... 261 Ute Hermanns (Berlin) Brasilien – USA: Der Film um die Jahrhundertwende ................................................................. 281 Autorinnen und Autoren.................................................................. 297 Einleitung Zweifellos ist die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine für die brasilianische Geschichte entscheidende Epoche. Mit der endgültigen Aufhebung der Sklaverei im Jahre 1888 ist die Grundvoraussetzungen geschaffen, Brasilien in einen modernen und demokratischen Staat zu transformieren. Die Abschaffung der Monar- chie 1889 bedeutete das Ende des politischen Sonderstatus Brasiliens im lateinamerikanischen Raum. Der durch den Kaffeeanbau und -ex- port geschaffene Reichtum – zu dem aber auch, vor allem in seinen Auswirkungen für Amazonien, der Kautschuk-Boom nicht unbeträcht- lich beiträgt – macht Brasilien als Einwanderungsland attraktiv und schafft die Voraussetzung für urbane Modernisierung (vor allem in Rio de Janeiro und Manaus) und für eine beginnende Industrialisie- rung (vor allem in São Paulo). In welchem Maße Lateinamerika in diesen Jahrzehnten beginnt zu- sammenzuwachsen, wird auch darin deutlich, dass es jetzt notwendig wird, die Grenzen exakt zu markieren. So fallen in diese Jahre die letzten Gebietsgewinne (Acre: 1903, Vertrag von Petrópolis, die end- gültigen Grenzen werden dann 1909 in einem Vertrag mit Peru festge- legt) und Gebietsverluste (Festlegung der Grenze mit British Guiana, 1901). Die vierzehn Beiträge dieses Bandes machen jeder auf seine Weise deutlich, wie komplex Brasiliens Weg in die Moderne verläuft, und wie sich dieses Land in dem vielschichtigen Netz aus Politik, Wirt- schaft und Kultur neu auf dem amerikanischen Kontinent situiert. Dabei fällt vor allem auf, dass es in keinem Fall einfache und eindeu- tige Formeln gibt, um diese Wirklichkeiten zu beschreiben. Die Ver- einigten Staaten sind – wie der Beitrag von W. Paul zeigt – das Vor- bild für die republikanische Verfassung, sie haben einen entscheiden- den Anteil bei Investitionen im Amazonas-Raum (M. Neuburger) und sie werden von den brasilianischen Reisenden der Epoche sowohl mit Faszination wie auch mit kritischer Distanz beschrieben (K. Lis- boa). Ähnlich widersprüchlich ist das Verhältnis zu dem nördlichen Vorbild und Rivalen in anderen Bereichen: Obwohl die Vereinigten Staaten das wichtigste Kaffee-Ausfuhrland sind, kommt ihnen im mi- 8 Horst Nitschack litärischen und diplomatischen Bereich eine eher untergeordnete Rolle zu (W. S. Heinz). Dagegen gerät das neue Medium Film, das auch in Brasilien sehr früh seinen Siegeszug antritt, sehr schnell in US-ameri- kanische Abhängigkeiten (U. Hermanns). Diese Widersprüchlichkei- ten in ihrem Verhältnis zu den Vereinigten Staaten führen dazu, dass Brasilien einen durchaus eigenen Weg der “Amerikanisierung” geht (J. Hentschke). Dieser eigene Weg ist aber keineswegs geradlinig und immer kon- sequent. Das zeigt die großen Schwankungen unterworfene Einwan- derungspolitik (G. R. Neumann; B. Ziegler), in der sich die politi- schen und wirtschaftlichen Gegensätze des Landes selbst widerspie- geln. Widersprüchlich und uneinheitlich waren auch die Haltungen und die gesellschaftlichen Praktiken sowohl der Zivilgesellschaft (J. Kemner) wie auch der Kirche selbst (K. Bosl) in der Frage der Sklavenbefreiung. Auch was die kulturellen Beziehungen zu den Nachbarländern be- trifft, ist die Szene nicht so eindeutig durch wechselseitiges Desinte- resse bestimmt, wie vielfach angenommen wird. Zwar führt der Posi- tivismus dazu, dass ein auf die Herausbildung der brasilianischen Na- tion ausgerichtetes Literaturkonzept dominiert, in dem das Interesse für die Nachbarkulturen unbedeutend ist (H. Nitschack), dennoch nimmt die reale Literatur eine mit den anderen Nationalliteraturen durchaus vergleichbare Entwicklung (S. Schlickers), die Grenzregio- nen – vor allem natürlich der Rio de la Plata-Raum – zeichnen sich sogar durch eine durchaus parallele Entwicklung aus (L. Chiappini), und in Intellektuellenbiographien können wir einen intensiven latein- amerikanischen interkulturellen Dialog antreffen (S. Klengel). Brasilien ist also am Ende des 19. Jahrhunderts eindeutig auf dem Weg in eine Moderne – sicher nicht in die Moderne – mehr noch: Alle hier vorliegenden Beiträge belegen, wie sehr die Eliten des Landes bemüht sind, eine eigene Moderne zu definieren und zu realisieren. In dem Maße, wie Brasilien Ende des 19. Jahrhunderts beginnt, sich in die globale Weltkarte zu integrieren, ist es gleichzeitig darauf bedacht, einen Ort zu besetzen, der seinen historischen, ökonomischen, ethi- schen und allgemein kulturellen Voraussetzungen entspricht. Die in diesem Band versammelten Beiträge haben alle Wissen- schaftler/Innen als Autoren und Autorinnen, die mit ihren Themen aufgrund umfangreicher Forschungsarbeiten vertraut sind. Dies bele- gen die ausführlichen Bibliographien, auf die sich die meisten Artikel Vorwort 9 stützen und die es den Lesern gleichzeitig erlauben, einen Überblick über den Forschungsstand zu den hier behandelten Themenbereichen zu gewinnen. Die Grundlage für diesen Band bot ein von der Thyssen-Stiftung im Herbst 2002 am Ibero-Amerikanischen Institut in Berlin finanzier- tes zweieinhalbtägiges Symposium. Der Thyssen-Stiftung wie auch dem Ibero-Amerikanischen Institut, vor allem Herrn Dr. Peter Birle, gilt deshalb der Dank aller Teilnehmer, denn solche wissenschaftliche Veranstaltungen haben ohne finanzielle und logistische Unterstützung keine Aussicht auf eine erfolgreiche Realisierung. Berlin / Santiago de Chile, Juli 2005 Horst Nitschack Wolf Paul (Frankfurt/Main) Genealogie der Verfassung der Republik der Vereinigten Staaten von Brasilien 1. Herkunft und Verbreitung des modernen Konstitutionalismus Wenn heute von “Verfassung” die Rede ist, ist stets die förmliche, die geschriebene, die juridifizierte Verfassung eines Staates gemeint, also das Staatsverfassungsgesetz, die Constitución Política. Die Verfas- sung in diesem urkundlichen Sinne ist die prominenteste staatspo- litische Erfindung der Moderne. Als Besiegelungsform erfolgreicher Revolutionen entstanden, gilt sie heute als die Organisationsform sou- veräner Staatlichkeit par excellence. Nicht zufällig hat sie Weltkarriere gemacht: Kaum ein Staat heute, der ohne förmliche Verfassung wäre. Historisch fällt das Erscheinen der ersten geschriebenen Verfas- sung in die Zeit der “Glorious Revolution” in England (1688). Das Original wird in Cromwell’s Instrument of Government von 1653 gesehen, insofern dieser Verfassungsakt bereits inmitten der Blütezeit des Absolutismus den Sturz der Monarchie und die Machtergreifung des Parlaments beurkundete (Grimm 1991: 105). Die eigentliche Be- deutungsgeschichte der geschriebenen Verfassung aber beginnt erst einhundert Jahre später, im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, als Form der Festschreibung der Errungenschaften
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