SWR2 Musikstunde

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SWR2 MANUSKRIPT SWR2 Musikstunde Blumen und Pflastersteine 1968 und die musikalische Verjüngung der Welt (3) Mit Michael Struck-Schloen Sendung: 11. April 2018 Redaktion: Dr. Ulla Zierau Produktion: SWR 2018 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Musikstunde können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2- Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de SWR2 Musikstunde mit Michael Struck-Schloen 09. April – 13. April 2018 Blumen und Pflastersteine 1968 und die musikalische Verjüngung der Welt 3. Ideologische Zuspitzung und Gewaltausbruch Und heute wieder: „Blumen und Pflastersteine ‒ 1968 und die musikalische Verjüngung der Welt“. Herzlich willkommen sagt Michael Struck-Schloen. Und ich will heute da weitermachen, wo die gestrige Sendung endete ‒ bei den Blumenkindern und Hippies, die ihr Zentrum in San Francisco hatten, aber bald auch in Paris oder auf dem Berliner Ku’damm zu sehen waren. Eine Zwischenstation war New York, wo im April 1968 das Musical Hair am Broadway herauskam und zu einem der erfolgreichsten Musicals aller Zeiten wurde ‒ obwohl Aussteiger und Kriegsdienstverweigerer mit langen Haaren, Hass aufs Establishment und Lust auf Drogen und Sex die Hauptrollen spielten. Aber letztlich war gerade diese Mischung auch das Erfolgsrezept. MUSIK 1 Galt MacDermot 2‘54 Hair Three-Five-Zero-Zero Ensemble & Chorus (RCA BD89667, LC 00316) „Three-five-zero-zero“, ein Ausschnitt aus dem Musical Hair, zu dem der Kanadier Galt MacDermot die Musik geschrieben hat ‒ eine gefällige Musik, die alle möglichen Stilarten der Zeit aufsaugte und in einer gut verdaulichen Mischung wieder ausspuckte. Die Texte von Gerome Ragni und James Rado sind da schon bissiger und greifen die Reizthemen der Zeit auf ‒ zum Beispiel die grausamen Verwundungen und Verstümmelungen im Vietnamkrieg, wie im eben gehörten Song. Ein Erfolg ist Hair auch in Deutschland, wo es im Herbst 1968 zuerst in München im Theater in der Brienner Straße, dem späteren Volkstheater, herauskommt. Die 2 Verweigerung der Einberufung zum Militär, über die sich die Jugendlichen hier lustig machen, ist ein heißes Eisen auch in der BRD, wo seit 1957 wieder eine allgemeine Wehrpflicht für junge Männer besteht. MUSIK 2 Gerome Ragni/James Rado 2‘32 Hair (deutsch) Sketch über die Einberufung Ensemble (Polydor 6017535116, LC 00309) Solch eine Maskerade, die der schwule Claude dem Einberufungs-Officer im Musical Hair vorspielt, kommt 1968 auch beim deutschen Publikum gut an. Denn mittlerweile hat sich das politische Klima auf den Straßen verschärft ‒ spätestens seit dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg, der am Rande der Demonstrationen gegen den Berlin-Besuch von Schah Reza Pahlewi von einem Polizisten erschossen wurde. Vor allem von den Universitäten geht der Protest aus, für den auch Professoren wie Adorno, Herbert Marcuse oder der junge, aufstrebende Jürgen Habermas Sympathien haben. Das Zentrum der Revolte ist Westberlin ‒ am Ende der sechziger Jahre immer noch eine vom Krieg sichtbar verwundete Stadthälfte, die vom anderen Teil, der sich stolz „Hauptstadt der DDR“ nennt, durch eine Mauer getrennt ist. Im Westteil der Stadt herrschen besondere Lebensbedingungen. Durch seine isolierte Lage ist Westberlin wirtschaftlich schwach und wird von den Alliierten und der Bundesrepublik finanziell gepäppelt. Es gibt eine konservative Schicht der Altberliner, aber da für Bürger Westberlins keine Wehrpflicht gilt, siedeln sich bald junge Leute, Aussteiger und Intellektuelle an. Die nach dem Krieg gegründete Freie Universität wird mit ihren modernen Disziplinen Politikwissenschaft und Soziologie zur Denkfabrik für die geforderten Veränderungen. Mit dem linken theoretischen Rüstzeug aus den Seminaren geht man auf die Straße und protestiert gegen das, was der Elterngeneration heilig ist: gegen den Konsum, die Staatsmacht, die alten, abgewrackten Ideale von Erziehung, Familie, Sexualität. Die jungen Leute formulieren ihre Kritik nicht nur bierernst, sondern auch spielerisch 3 ‒ und künstlerisch. Die soziale Aktion wird selbst zum Kunstwerk und zum Happening. Kein Wunder, dass nicht die streng geregelte Musik eines Karlheinz Stockhausen oder Pierre Boulez zum Sprachrohr der Jugend wird, sondern die aufgeheizte Rockmusik oder die Popexperimente von Stockhausen-Schülern wie Irmin Schmidt und Holger Czukay. Beide tun sich mit Gleichgesinnten zur Kölner Gruppe „Can“ zusammen, die sich seit 1968 an die Spitze der so genannten Krautrock-Bewegung setzt. MUSIK 3 Can 3‘47 Thief Can (Spoon Records505144235532, LC 07395) Ein Titel der Gruppe „Can“ aus dem Jahr 1968 ‒ Thief handelt vom Verbrecher aus dem Neuen Testament, der zusammen mit Jesus gekreuzigt wurde, hier aber gegen seine Rolle als ewiger zweiter im Schatten des Heilsbringers aufbegehrt. „Warum muss ich der Dieb sein?“ lautet die Frage an Jesus; der aber fordert ihn auf, seine Rolle zu akzeptieren: „Du kommst eben viel zu spät“. Der ein bisschen krude Text ist typisch für die deutschen Bands der 68er-Jahre, die mit düsteren, oft biblischen Beschwörungen ihren eigenen Ton suchen. Selten gibt es in den Kreisen, zu denen „Can“ gehört, explizit linke oder politische Texte ‒ das überlässt man den Liedermachern oder Komponisten, die von der Weltrevolution träumen und vom politischen Handeln. Hans Werner Henze gehört dazu. Als Homosexueller und typischer Vertreter der Flakhelfer-Generation, die das katastrophale Ende des Zweiten Weltkriegs, aber auch die Kontinuität der einstigen NS-Eliten in der Bundesrepublik erlebt und erlitten haben, kommt Henze 1967 aus Italien nach Berlin, um anzupacken. Als er beginnt, für den Sozialistischen Deutschen Studentenbundes zu arbeiten und den Vietnamkongress im Februar ´68 mitzuorganisieren, hat er schon ein Werk fast fertig, dass in seiner Form traditionell, aber in der Aussage brennend aktuell wirkt. Im Oratorium Das Floß der Medusa hat Henze einen skandalösen Fall von Schiffbruch 4 vom Beginn des 19. Jahrhunderts zur Parabel auf die Arroganz der Macht und die Unterdrückung der Hilflosen gestaltet. Nach dem Schiffbruch der französischen Fregatte Méduse vor Westafrika im Jahr 1816 machen sich die Offiziere und Eliten in den Booten davon und überlassen fast 150 Menschen auf einem zusammengezimmerten Floß ihrem Schicksal; nur fünfzehn überleben nach Tagen des Grauens und des massenhaften Sterbens. Das Floß der Medusa ist eine große Solidaritätserklärung für die im wahrsten Sinne Abgehängten dieser Welt ‒ es markiert einen Wandel in der politischen Haltung von Henze, der das Werk dem in Bolivien ermordeten Che Guevara gewidmet hat. Hier das Finale des Oratoriums. MUSIK 4 Hans Werner Henze 6‘51 Das Floß der Medusa 2. Teil: Finale Edda Moser (Sopran) Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton) Charles Regnier (Sprecher) (Deutsche Grammophon 437652-2, LC 00173) Da erzittert am Schluss der Schlachtruf der Studentenrevolte im Schlagzeug: den Rhythmus „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“, nach dem Namen des nordvietnamesischen Revolutionsführers, hat Henze an den Schluss seines Oratoriums Das Floß der Medusa gesetzt. Und so wird es am 9. Dezember 1968 vom Norddeutschen Rundfunk ausgestrahlt: Es spricht Charles Regnier, es singen Edda Moser, Dietrich Fischer-Dieskau und Rundfunkchöre aus Hamburg und Berlin; es spielt das NDR Sinfonieorchester unter dem Dirigenten Hans Werner Henze. Allerdings gehört es zu den berühmten Pointen der neueren Musikgeschichte, dass an diesem Abend nicht das Konzert selbst, sondern die aufgezeichnete Generalprobe über den Sender geht. Im Saal ist das Stück im Tumult untergangen bzw. gar nicht erst begonnen worden. Linke Aktivisten und aus Berlin angereiste Vertreter des SDS nutzen den Komponisten und sein neues Stück für ihre Zwecke, 5 die ja letztlich auch die Henzes sind. Ein Porträt des ermordeten Revolutionärs Che Guevara wird aufgehängt und von einem Rundfunkmann zerrissen, eine rote Fahne hängt und wird wieder abgehängt. Das Ensemble ist gespalten, der Komponist höchst erregt, und am Ende schreitet die Polizei recht unsanft ein und bringt dem Librettisten Ernst Schnabel Verletzungen bei. Der Skandal um das Floß der Medusa stempelt Henze, der lange zum musikalischen Establishment gehört hat, endgültig zum Linken, wenn nicht gar zum Volkstribun. Das hat das Nachrichtenmagazin Der Spiegel eigentlich verhindern wollen, als es den Komponisten mit ausgesuchten Gemeinheiten zum politischen Wendehals und Salonkommunisten gestempelt hat. Und auch die Studenten selbst mögen angesichts der fürstlichen Lebensweise von Henze ihre Zweifel an seinem revolutionären Elan haben. Im Grunde aber ist Henze von seinen linken italienischen Freunden geprägt, die keine verbissenen Asketen sind, sondern das gute Leben und die gute politische Sache zu vereinen wissen ‒ was im protestantischen Berlin leider als Gegensatz empfunden wird. Tatsächlich hat sich Henze schon einige Monate vor dem Medusa-Debakel revolutionär in Schwung gebracht. Wie die Studenten richtete auch er seinen Hass vor allem gegen die konservative Springerpresse, die regelmäßig auf den so genannten „linken Mob“ hetzte.

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