DAS ILLUSTRIERTE BUCH IM BALTIKUM 1890-1940: DAS BEISPIEL ESTLAND Eine Ausstellung aus Anlaß des 50. Baltischen Historikertreffens vom 22. Mai bis 28. Juni 1997 im Foyer des Neubaus der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen K a t a l o g Zusammengestellt von Rein Loodus und Juta Keevallik Göttingen 1997 Hando Mugasto Illustration zu J. Sütiste „Päikese ootel“. Tartu, 1935. (In Erwartung der Sonne). VORWORT Im Zusammenhang mit der Planung des 50. Baltischen Historikertreffens wurde die Idee zur Ausstellung Das illustrierte Buch im Baltikum 1890-1940: das Beispiel Estland durch die Baltische Historische Kommission e. V. an die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen herangetragen. Gern haben wir diese Idee aufgenommen, zumal sich dadurch auch die Möglichkeit für die Georg-August-Universität bietet, ihre schon Jahrhunderte alten Beziehungen zu Estland zu pflegen und die erste estnische Bücherausstellung kunsthistorischer Art in Deutschland zu zeigen, die sich mit der Entwicklung des illustrierten Buches in Estland befaßt. Wie möchten an dieser Stelle allen danken, die an der Vorbereitung der Ausstellung und dieses Kataloges mitgewirkt haben. Durch die Vermittlung von Prof. Dr. L. O. Larsson aus Kiel (Kunsthistorisches Institut und Vorstandsvorsitzender der Martin-Carl-Adolf-Böckler- Stiftung), konnten für die Konzeption der Ausstellung und die Katalogtexte der durch entsprechende Veröffentlichungen ausgewiesene Wissenschaftler Dr. R. Loodus vom Historischen Institut der Estnischen Akademie der Wissenschaften in Tallinn/ Reval und Frau Dr. Juta Keevallik gewonnen werden. Viele der ausgestellten Bücher sind in deutschen Bibliotheken nicht zu bekommen und wurden extra für diese Ausstellung von der Estnischen Akademie der Wissenschaften in Tallinn/Reval zusammengestellt und hierher, nach Göttingen, ausgeliehen. Hierfür möchten wir der Akademie und ganz besonders den Mitarbeitern der Balitca-Abteilung der Bibliothek, speziell deren Leiterin Frau Tiiu Reimo, unseren Dank aussprechen. Für organisatorische Unterstützung danken wir der deutschen Botschaft in Estland, Prof. Dr. P. Kaegbein und Dr. G. von Pistohlkors; für finanzielle Unterstützung danken wir der deutschen Botschaft in Estland sowie der Martin-Carl-Adolf-Böckler-Stiftung in Bad Homburg. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen EIN KURZER ÜBERBLICK ÜBER DIE GESCHICHTE DER ESTNISCHEN BUCHKUNST 1900-1940. REIN LOODUS Die ersten estnischsprachigen Druckerzeugnisse erschienen in Deutschland im Zusammenhang mit der Reformation (1525, 1535 in Wittenberg). Erst im 17. Jahrhundert wurden in Dorpat (1631) und in Reval (1633) die ersten Druckereien gegründet. Die Buchproduktion in Estland verblieb im 17. und 18. Jahrhundert im deutschen Einflußbereich. Der Buchschmuck war meistens aus deutschen Büchern entliehen. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts haben einige deutschbaltische Künstler - z. B. Friedrich Ludwig v. Maydell (1795-1846) mit seinen romantisch angehauchten Arbeiten - sich auch der Illustration von estnischen Büchern zugewandt. Zusammen mit der Entstehung einer nationalen estnischen Kunst um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstand eine Buchgraphik von Künstlern estnischer Nationalität. Ihr bekanntester und produktivster Vertreter war Eduard Magnus Jakobson (1847-1903), ein geschickter Xylograph und Illustrator vieler Volks- und Schulbücher. Für das Ende des 19. Jahrhunderts sind die schönen realistischen Zeichnungen des jungen Kristjan Raud (1865-1943) besonders hervorzuheben, ebenso wie erste Bildfolgen zu Werken der estnischen schönen Literatur von dem in Düsseldorf ausgebildeten Maler Tõnis Grenzstein (1863-1916). 1 Die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts brachten ein Aufblühen der bildenden Kunst in Estland. Die für die Familienzeitschrift “Linda” arbeitenden Künstler Märt Pukits (1874-1961), Gustav Mootse (1885-1957) und Rudolf Lepik (1881-1918) waren stark vom Jugendstil beeinflußt. Daneben entwickelte sich eine zweite Richtung - ein naiver, erzählender Realismus, der auf Traditionen des 19. Jahrhunderts beruhte. Als Beispiel seien hier die Zeichnungen von Toomas Gutmann (1873-1936) zur zeitgenössischen estnischen Literatur genannt. Drittens entstand in dieser Zeit eine auf der estnischen Volkskunst und dem Symbolismus basierende Richtung, hauptsächlich von K. Raud entwickelt, die interessante Ergebnisse zeigte. Im Zuge der sprunghaften Entwicklung der nationalen Kunst in der folgenden Periode (nach der Revolution von 1905 bis 1918) wuchs die Zahl der estnischen Künstler, die sich mit Buchgraphik befaßten. Der Gesamtgestaltung der Bücher und ihrer Illustration wurden nun bestimmtere und bewußtere künstlerische Ziele gesetzt. Hierbei seien besonders die Drucke der demokratischen Schriftsteller- und Künstlergruppe “Noor- Eesti” (Junges-Estland) und des gleichnamigen Verlages erwähnt. In der Entwicklung des estnischen schönen Buches haben sie eine große Bedeutung. Ein gutes Beispiel dafür ist der von K. Raud gestaltete Band “Gedichte” (1910) von J. Liiv, ein früher Höhepunkt der estnischen Buchkunst, inspiriert von der archaischen Volkskunst und dem unmittelbaren Naturerlebnis. Die 2 Gestaltung der Bücher wurde in diesen Jahren von der nationalen Romantik beeinflußt, die damals auch in den nordischen Ländern verbreitet war. Die Illustrationen und Umschlagzeichnungen des namhaften Malers und Graphikers Nikolai Triik (1884-1940) und des Zeichners Aleksander Uurits (1888-1918) sind charakteristisch. Stark traten auch Tendenzen hervor, die auf expressive und dekorative Bestrebungen hinwiesen, deren Anfänge teils bei A. Beardsley und der russischen Künstlergruppe “Mir Iskusstva” (Welt der Kunst) zu suchen sind: besonders in den Umschlagzeichnungen des hervorragenden Malers Konrad Mägi (1878-1925). Der Graphiker und Schriftsteller Karl August Hindrey (1875-1949) ist der erste bedeutende Illustrator estnischer Kinderbücher, warmherzig und humorvoll. Die Jahre der Revolutionen, des Freiheitskrieges und der Entstehung der selbständigen Republik Estland brachten einen produktiven und talentvollen Künstler hervor, den Maler und Graphiker Ado Vabbe (1892-1961). In seinen zahlreichen Buchgestaltungen und Illustrationen (anfangs besonders für die Bücher der jungen Schriftstellergemeinschaft “Siuru”) erkennt man Elemente der neuesten Kunstströmungen - des Futurismus und der abstrakten Kunst. Seine Zeichnungen näherten sich in den 20er bis 30er Jahren dann wieder mehr dem Realismus an. In dem Kunstleben Estlands der 20er Jahre spiegelten sich fast alle modernen Kunstströmungen wider, vom Expressionismus bis zum Kubismus, und auch die Stilrichtungen der Anfangsjahre des Jahrhunderts blieben 3 lebendig. Der Buchgraphik widmeten sich mehrere begabte junge Künstler, was auch das Interesse des Publikums für die Buchkunst steigerte. Europäischen Ruhm erlangte in jenen Jahren der Graphiker Eduard Wiiralt (1898-1954). In seinem künstlerischen Schaffen hat die Buchgraphik eine wichtige Stellung. Die Zeichnungen und Gravüren, in denen Wiiralts starkes Künstlertemperament und seine einzigartige Virtuosität hervortreten, sind die interessantesten Beispiele der zum Expressionismus tendierenden estnischen Buchkunst. Auch die Illustrationen vieler anderer Künstler - z. B. Peet Aren (1889-1970), Natalie Mei (1900-1975), Aleksander Vardi (1901-1988) und N. Triik - waren vom Expressionismus, aber auch von der “Neuen Sachlichkeit” beeinflußt. Dekorative Tendenzen, in denen die Nachwirkungen der “Mir Iskusstva”-Gruppe, der nationalen Romantik und des Jugendstils zu erkennen sind, kennzeichnen das Schaffen der hervorragenden Graphiker Günther Reindorff (1889-1974) und Eduard Järv (1899-1941). Von wesentlicher Bedeutung für die damalige Buchkunst waren kubistische und konstruktivistische Tendenzen, besonders in der Buchgestaltung der 20er Jahre. Vor allem die Graphiker und Maler Märt Laarman (1896-1979) und Jaan Vahtra (1882- 1947), der auch Schriftsteller war, fallen durch die Sachlichkeit und typographische Originalität ihrer Werke auf. Auch die Prinzipien der “elementaren Typographie” fanden in mehreren von M. Laarman gestalteten Büchern Anwendung. 4 Bezeichnend für die estnische Kunst der 30er Jahre ist das sprunghafte Anwachsen der Bedeutung der graphischen Künste. Besonders populär wurde die Xylographie, die von vielen Künstlern kultiviert wurde. Immer mehr Interesse fand damals die Buchgraphik, die auch durch Ausstellungen in der Heimat und im Ausland popularisiert wurde. Einflußreiche Kunstereignisse waren die großen ausländischen Buch- und Buchkunstausstellungen in Estland (die sowjetische Buchkunst, 1930 und 1940, “Deutsches Buch und deutsche Buchkunst”, 1937, “Englisches Buch der Gegenwart”, 1939). Das Buch als künstlerisches Ganzes in dem vom Realismus geprägten Gesamtbild der Kunst der 30er Jahre stand im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Wesentliche Beispiele für das hohe Niveau der estnischen Buchkultur waren in der zweiten Hälfte der 30er Jahre z. B. die in verschiedenen Techniken gefertigten, künstlerisch- bibliophilen Bücher von M. Laarman, Aino Bach (1901-1980) und Paul Luhtein (geb. 1909). Bezeichnend für die Kunst der Xylographie war das umfangreiche lyrisch-poetische Schaffen des talentierten Graphikers Hando Mugasto (1907-1937), der viele Bücher verschiedener Art illustriert und gestaltet hat. Neben ihm trugen Künstler wie Arkadio Laigo (1901-1944), Ernst Kollom (1908-1974), E. Järv (1899-1941) u.a. zur Verbreitung der xylographischen Illustration und der Buchgestaltung bei. Auch der Anteil der
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