Peter Andraschke (Gießen) Penderecki in Donaueschingen 1. Die Donaueschinger Musiktage Die allj¨ahrlichen Musiktage in Donaueschingen (seit 1921), ihre Fort- setzung in Baden-Baden (1927) und ihr politisch bedingter Abschluss in Berlin (1930) spiegeln in dokumentarischer Weise die Geschichte der zeitgen¨ossischen Musik in den 1920er-Jahren wider und zeigen ih- re vielf¨altigen Tendenzen zwischen Gebrauchsmusik, Experiment und avantgardistischem Kunstanspruch. Von ihnen gingen zahlreiche An- regungen aus, so zur Radio- und Filmmusik, zu Kompositionen fur¨ neue Instrumente und zu einer gesellschaftlichen Erneuerung der Mu- sikkultur. Die Bestrebungen der Jugendmusikbewegung, die musik- p¨adagogischen Interessen Paul Hindemiths und das Epische Theater von Bertold Brecht, die hier beispielhaft der Offen¨ tlichkeit pr¨asen- tiert wurden, zeigen die Verschiedenheit und die große Bandbreite 1 der kunstlerisc¨ hen Intentionen. Nach verschiedenen Anl¨aufen nach 1945 gab es mit den Donau- eschinger Musiktagen fur¨ zeitgen¨ossische Musik am 9. und 10. Sep- 2 tember 1950 einen Neubeginn. Unter der Agide¨ des Sudw¨ estfunks (SWF) Baden-Baden, gef¨ordert durch Auftragskompositionen und die M¨oglichkeit, Werke von ausgezeichneten Interpreten fur¨ Neue Mu- sik auffuhren¨ zu lassen, boten die allj¨ahrlich an einem Herbstwochen- ende stattfindenden Konzerte ein international beachtetes Podium. Fur¨ die wichtigsten europ¨aischen Komponisten nach dem Zweiten Weltkrieg bedeuteten sie den Durchbruch, man denke an Karlheinz Stockhausen, Mauricio Kagel, Gy¨orgy Ligeti bis hin zu Wolfgang 1Peter Andraschke, Neue Musik als Festival-Ereignis: Die Donaueschinger Kam- mermusiktage der 1920er Jahre, in: International Journal of Musicology 2 (1993), Frankfurt/Main u.a. 1994, S. 309-319. 2Josef H¨ausler, Spiegel der Neuen Musik: Donaueschingen. Chronik { Tendenzen { Werkbesprechungen, mit Essays von Joachim-Ernst Berendt und Hermann Naber, Kassel u. a. 1996. Penderecki in Donaueschingen 243 Rihm und der jungsten¨ Generation. Auch Krzysztof Penderecki ist durch Donaueschingen bekannt geworden. Von ihm wurden hier zwi- schen 1960 und 1971 sechs wichtige Werke aufgefuhrt,¨ darunter funf¨ Auftragskompositionen des Sudw¨ estfunks: 3 { Anaklasis fur¨ Streicher und Schlagzeug (16. 10. 1960)* { Fluorescences fur¨ Orchester (21. 10. 1962)* { Sonata per violoncello e orchestra (18. 10. 1964)* { Stabat mater fur¨ Chor a cappella (23. 10. 1966, sp¨ater der Lukas- Passion eingegliedert) { Capriccio per violino e orchestra (22. 10. 1967, Wanda Wilkomirs- ka)* { Actions fur¨ Free-Jazz-Ensemble (17. 10. 1971, Internationales Free Jazz Orchester, Ltg. Penderecki)* 2. Anaklasis fur¨ Streicher und Schlagzeuggruppen Seinen Bericht ub¨ er die Donaueschinger Musiktage 1960 in der fur¨ Neue Musik renommiertesten deutschsprachigen Musikzeitschrift Me- los ub¨ erschrieb der Rezensent mit In Donaueschingen mußte Pende- recki wiederholt werden.4 Er beginnt ihn wie folgt: Spontan brach sturmisc¨ her Beifall los, jaulten schrille Pfiffe und dumpfe Buhrufe " auf, als Krzysztof Pendereckis ,Anaklasis fur¨ Streicher und Schlagzeuggruppen` in einem sirrenden Geflirr der Saiteninstrumente magisch ausklang, gleichsam wie auf einem geraden, urpl¨otzlich leicht schwankenden Lichtstrahl in ¨atherische Fer- nen entschwebend. So hatten die Donaueschinger Musiktage fur¨ Zeitgen¨ossische Tonkunst auch in diesem Jahr ihre kunstlerisc¨ he Sensation. Heinrich Strobel, Spiritus rector des Programms, konnte zufrieden sein. Dreimal wurde der junge polnische Komponist auf das Podium gerufen. Als dann Hans Rosbaud das Stuc¨ k wiederholte, verdich- tete sich der erste Eindruck eines großen Wurfs zur Gewißheit. Das Inspirative dieser Musik ließ alle detaillierten programmatischen Erkl¨arungen vergessen. Wie 3Das Symbol * bezeichnet Auftragskompositionen und zugleich Urauffuhrungen¨ des SWF. 4Helmut Lohmuller,¨ In Donaueschingen mußte Penderecki wiederholt werden, in: Melos 27 (1960), S. 340-343. 244 Peter Andraschke von selbst erschloß sich die Struktur aus dem Reichtum der Einf¨alle und der Dichte ihrer Relationen, gab den Blick in eine intelligible Welt frei in der Weite unend- licher Aspekte, wie das eben nur der Fall ist, wenn alles Material bedingungslos der sch¨opferischen Phantasie unterworfen wird.\5 Diese Auffuhrung¨ begrundete¨ den internationalen Ruhm Pendereckis. Das Arbeitsblatt betr. Auftragskompositionen, das zentral von der His- torischen Kommission der ARD in Frankfurt/Main, Bertramstraße 8, erstellt wurde, nennt folgende Daten: Der Auftrag wurde am 30. Ja- nuar 1960 vom SWF erteilt. Der Arbeitstitel, der bis in die Fah- nenkorrektur des Programmheftes genannt wird, lautete Konzert fur¨ Schlagzeug und Streicher { es ist noch nicht der griffige Titel Anakla- sis, und er stellt, anders als der endgultige,¨ die Bedeutung des Schlag- 6 zeugs heraus. Die Urauffuhrung¨ fand am 16. Oktober 1960 statt, die Ursendung war am 27. Oktober 1960, die Produktionsaufnahme war bereits am 1. Oktober 1960 (Mag.-Nr. 56-04277), allerdings noch 0 00 nicht in Stereo. Die Dauer des Stuc¨ ks ist mit 8 25 angegeben. Pen- derecki dirigierte es bei der Einspielung auf CD 1973 mit 505800 sehr viel rascher.7 Penderecki schrieb fur¨ das Programmheft eine Einfuhrung,¨ in der er mit berechtigtem Stolz festh¨alt, daß er 1959 fur¨ seine anonym ein- gereichten Werke alle drei Preise eines Wettbewerbs des Polnischen Komponistenverbands erhalten habe. Es waren die Kompositionen Strophen fur¨ Sopran, Sprechstimme und zehn Instrumente (Texte von Menander, Sophokles, Jesaja, Jeremia, Omar El-Khayam)8, Emana- 9 tionen fur¨ zwei Streichorchester und Aus den Psalmen Davids fur¨ gemischten Chor und Schlaginstrumente.10 Dieser Erfolg war sicher- lich Anlass fur¨ den Kompositionsauftrag. Als bisherige Hauptwerke nennt Penderecki außerdem Epitaph fur¨ Streichorchester und Pau- ken, Dimensionen von Zeit und Stille fur¨ vierzigstimmigen gemisch- 5Ebd., S. 340. 6Siehe dazu die unten zitierte Programmeinfuhrung¨ von Penderecki. 7Aufnahme mit dem London Symphony Orchestra, EMI Classics 5 74302 2. 8Krakau: Polskie Wydawnictwo Muzyczne 1960. 9Celle u.a.: Moeck 1960 (Ed. Moeck 5004). 10Celle u.a.: Moeck 1960 (Ed. Moeck 5002). Penderecki in Donaueschingen 245 ten Chor, Schlagzeuggruppen und Streicher und { 803700 { per 52 11 strumenti d'archi. Seine Einfuhrung¨ zu Anaklasis lautet: Die ,ANAKLASIS` entstand um die Jahreswende 1959/60.12 Das Werk { ge- " schrieben fur¨ Schlagzeuggruppen und 42 Streichinstrumente { ist Heinrich Strobel gewidmet. Der Titel ist nach einem Terminus aus der griechischen Metrik gew¨ahlt worden, der u.a. das Vertauschen von langen und kurzen Einheiten bezeichnet. Das ordnet auch hier { ins Musikalische ub¨ ertragen { den rhythmischen Verlauf. Darub¨ er hinaus bedient sich der Komponist weiterer rhythmisch ordnender Fak- toren, wie Rotation, arithmetischer Reihen u.a. Auch das Tonmaterial ist einer bestimmten Ordnung unterworfen, die Vierteltonreihen ebenso umfaßt wie in H¨o- he und Tiefe fest umgrenzte, mit Viertel- und Halbt¨onen ausgefullte¨ Klangr¨aume. Oberstes Ordnungsprinzip fur¨ den formalen Verlauf ist die Einteilung der Instru- mente gleichsam nach Farbgruppen und { in gewisser Weise analog der Concerto- grosso-Technik { das Hervortretenlassen bestimmter Instrumente in einigen dieser Gruppen. Die Gruppen kontrastieren zueinander, wobei sich der Komponist ihrer reichen und verschiedenartigen Artikulationsm¨oglichkeiten bedient. Er gebraucht bei einigen Instrumenten auch besondere Effekte (z.B. pr¨apariertes Klavier) oder operiert mit den Streichinstrumenten in mehreren Schichten des Klangraumes, was in der Farbwirkung an die elektronische Musik erinnert. In der Konzeption des Werkes haben die Schlaginstrumente eine ub¨ ergeordnete und konzertierende Funktion, soweit der Begriff hier verwendet werden kann. In der Partitur sind keine Takteinteilungen, sondern nur Zeitabschnitte markiert, bzw. metrische Abschnitte, deren Temposchwankungen durch das Diagramm un- ter den Systemen angegeben werden; diese sollen dem Dirigent die rhythmische Realisation erleichtern.\ Anaklasis wurde im Orchesterkonzert am Sonntag, den 16. Oktober, um 17.00 Uhr in der Stadthalle von Donaueschingen aufgefuhrt,¨ zu- sammen mit zwei weiteren Auftragskompositionen. Vor der Pause erklang die Suite di danze fur¨ drei Orchester des Japaners Yoritsun´e Matsudaira. Ihr Untertitel lautet: Im Stil des alten h¨ofischen ,Buga- ku`. ,Bugaku`, eine Unterabteilung des ,Gagaku`, bedeutet eine Mu- " sik fur¨ Bl¨aser, Saiteninstrumente und Schlagzeug, die als Begleitung 11Der endgultige¨ Titel der Komposition ist Threnos { Den Opfern von Hiroshima fur¨ 52 Saiteninstrumente (1959{61). 12Der Kompositionsauftrag erfolgte demnach, als Penderecki bereits an der Par- titur arbeitete. 246 Peter Andraschke eines Tanzes fungiert.\13 Matsudaira suchte in seiner Komposition eine Verbindung von japanischer h¨ofischer Musik mit seriellen Ver- fahren der westlichen Moderne. Von Strobel war dieser Auftrag eine fruhe¨ Initiative zu einer Weltmusik, die in den folgenden Jahren { man denke an Karlheinz Stockhausen { ein wichtiges Konzept der Moderne wurde. Nach Pendereckis Beitrag erklang Olivier Messiaens Chronochromie, ein anderes Beispiel einer weltumfassenden semanti- schen Idee. Neben einem kompliziert aufbereiteten zeitbestimmenden rhythmischen Material sind klangbestimmend Vogelges¨ange aus ver- schiedenen Kontinenten und Ger¨ausche von Wasserf¨allen der franz¨o- sischen Alpen eingebracht. Von den zehn Urauffuhrungen¨ der Musik- tage in diesem Jahr waren insgesamt neun Auftragswerke
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