
BR-ONLINE | Das Online-Angebot des Bayerischen Rundfunks http://www.br-online.de/alpha/forum/vor0101/20010105.shtml Sendung vom 05.01.2001, 20.15 Uhr Gisela May Schauspielerin und Diseuse im Gespräch mit Wolfgang Binder Binder: Sie ist die First Lady des politischen Songs, "sozialistische Nachtigall" wurde sie vor der Wende in Ost und West genannt. Von sich selbst sagt sie, sie sei gemäß einer Definition von Bert Brecht eine singende Schauspielerin. Heute ist sie eine der letzten und besten Interpretinnen der Lieder Bert Brechts. "Nach wie vor spiele und singe ich für den Frieden und gegen den Krieg", das ist ein Zitat von ihr, und heute ist sie aus Berlin kommend bei uns hier im Alpha-Forum. Herzlich willkommen, Gisela May. May: Danke. Binder: Ich freue mich sehr auf unser Gespräch. Wann waren Sie denn das letzte Mal hier in München? May: Das ist schon einige Zeit her. Wir hatten den Luxus, für eine Produktion bei der Expo proben zu können. Und diese Proben fanden hier in München statt, was ich sehr begrüßt habe, weil ich gerne in München bin. Binder: Wir werden natürlich über Brecht und auch über alle anderen wichtigen Menschen in Ihrem Leben sprechen, aber vorher möchte ich doch zu einer ganz aktuellen Sache kommen, die mich sehr fasziniert hat. Nach Ihrer Kündigung im Frühjahr 1992 am "Berliner Ensemble" sind Sie jetzt zum ersten Mal wieder an diesem Theater engagiert. Wie kam es denn zu diesem Engagement? May: Ich war ja 30 Jahre lang an diesem Haus. Es ist eigentlich kaum vorstellbar, dass man in einem Ensemble 30 Jahre lang arbeitet. Das war dieses berühmte Theater in Berlin, das Brecht aus dem "Theater am Schiffbauerdamm" zu dem weltberühmten "Berliner Ensemble" gemacht hat. Dort habe ich große Rollen gespielt: in vielen Brecht-Stücken, aber eben nicht nur Brecht. Ich habe auch in Stücken von O'Casey oder Bernhard Shaw gespielt. Ich war sehr zufrieden dort und war schon auch eine sehr populäre Persönlichkeit und Schauspielerin im Ostteil Berlins. Dann kam die Wende, und ich war eine der Ersten, die bei dieser Wende dann gesagt bekamen, ich sei ja nun Rentnerin. Das hatte bis dahin in unserem Beruf eigentlich nicht direkt eine Rolle gespielt. Aber man hatte mich damit getröstet, ich sei ja nun Rentnerin, und man hätte keine Aufgaben mehr für mich. So verabschiedete man sich von mir. Ich muss sagen, dass das eine Sache gewesen ist, die in fünf Minuten stattgefunden hat. Ich hatte nicht einmal eine irgendwie geartete Verabschiedung innerhalb des Ensembles. Ich hatte noch eine Abschiedsvorstellung mit der "Mutter Courage": Das gehörte wirklich zu den bewegendsten Theatererlebnisse in meinem Leben. Binder: Ich denke, dass dann für Sie nach diesen 30 Jahren doch ein irrsinniges Loch gekommen sein muss. Nun ist wieder eine große Zeitspanne vergangen, und nun sind Sie an diesem Haus erneut engagiert. May: Ich würde nicht sagen, dass ich dort engagiert bin. Ich mache dort ein Gastspiel. Der Abend, den ich dort gebe, ist ein Abend mit Songs von Kurt Weill, der ja im Jahr 2000 seinen 100. Geburtstag feiert. Klaus Peymann, der neue Intendant, der vom Burgtheater in Wien nach Berlin gekommen ist, hat sich dazu entschlossen, diesen Abend in den Spielplan aufzunehmen. Aber ich habe diesen Abend erarbeitet und aufgebaut und die Konzeption erstellt: Das ist alles mein Werk. Nun gut, ich stehe jedenfalls dort wieder auf der Bühne. Der erste Abend war da doch recht bewegend. Ich ging in die Garderobe, in der ich 30 Jahre lang gesessen hatte und in der alles unverändert geblieben ist. Es gibt immer noch diese alten klapprigen Stühle und diese schlimme Garderobenbeleuchtung. Herr Peymann hat sich ein phantastisches Büro im vierten Stock eingerichtet: Das soll einige Millionen gekostet haben. Aber in den Garderoben hatte sich nichts geändert. Der Tonmeister war der gleiche, und der Lichtmann war der gleiche: Es war schon ein Wiederkommen... Binder: Das war also ein Heimkehren, ein ganz herzliches Zurückkommen an Ihre alte Wirkungsstätte. May: Ja, das ist wahr. Und als ich dann auf die Bühne kam, strömte mir aus dem Zuschauerraum ein solches Wiedererkennen, eine solche Liebe entgegen, dass ich minutenlang nichts sagen konnte. Minutenlang gab es nur dieses Gefühl: "Da ist sie wieder!" Das war unglaublich schön. Binder: Das ist also das ganz Aktuelle, denn das ist Ihre momentane Arbeit. Etwas anderes hatte jedoch nach Ihrer Kündigung nie aufgehört: Das war etwas, das Sie auch schon gemacht haben. Sie haben nämlich als Pädagogin gearbeitet, Meisterkurse geleitet und Ihre Erfahrung an junge Leute weitergegeben. Was ist dabei der Anreiz für Sie? May: Ich bin da nie wissenschaftlich herangegangen. Ich hatte auch nie die Absicht, das zu machen, bis die Franz-Liszt-Hochschule aus Weimar eines Tages an mich herantrat und mich fragte, ob ich so etwas denn nicht machen würde. Ich habe erst dann gemerkt, wie gut das funktioniert: Ich habe ganz einfach das, was ich auf der Bühne selbst erfahren habe, ich habe ganz einfach meine eigenen praktischen Erfahrungen an die jungen Leute weitergegeben. Wir erarbeiten uns dabei eben Lieder. Die Arbeit sieht so aus, dass wir uns darüber zunächst einmal unterhalten. Ich arbeite auch immer mit einer Gruppe, d. h., ich mache keinen Einzelunterricht, denn das halte ich für langweilig, weil ich da bloß anfangen würde, einen Dressurakt zu vollziehen. Genau das will ich jedoch überhaupt nicht. Ich möchte stattdessen zuerst einmal die Individualität eines jeden Einzelnen finden und sie in den Vordergrund stellen. Binder: Die Schüler, die jetzt zu Ihnen kommen: Sind das mehr männliche Teilnehmer oder sind das mehr Frauen? May: Das hat sich verändert. Am Anfang waren das fast nur Frauen, aber im letzten Kurs waren es erneut mehr Männer. Binder: Sind Frauen bessere politische Sängerinnen? May: Sie sind vielleicht allein schon wegen Ihrer äußeren Erscheinung irgendwie ansprechender. Entschuldigung, wenn ich das zu Ihnen sage, Wolfgang Binder. Aber bei Ihnen würde ich das auch so gar nicht sagen. Nun, es ist so, dass sich eine Frau vielleicht doch zunächst einmal ganz anders hinstellen kann. Sie findet möglicherweise auch etwas rascher den Kontakt zum Publikum. Die Leute gehen doch etwas leichter auf eine Frau zu. Aber inzwischen habe ich doch begriffen, dass es bei Männern nicht anders ist. Ich unterrichte sie ja auch nicht nur in politischen Songs, sondern ich erarbeite mit ihnen z. B. auch Songs von Jacques Brel. Das ist nämlich eine große Liebe von mir, der ich auch eine CD gewidmet habe – allerdings in deutschen Nachdichtungen. Binder: Ich habe eingangs gesagt, dass Sie sich selbst als singende Schauspielerin bezeichnen. Kommen die Schülerinnen und Schüler, die zu Ihnen kommen, eher aus der Gesangs- oder eher aus der Schauspielrichtung? May: Sie kommen aus beiden Richtungen. Wenn sie aus der schauspielerischen Richtung kommen, dann habe ich weniger Probleme mit ihnen, weil sie bei der Gestaltung mehr von den Inhalten her kommen, mehr von der Sprache her kommen, mehr vom Text her kommen. Während ein Sänger doch zunächst einmal an den schönen Ton denkt. Ich versuche ja immer, beidem gerecht zu werden. Ich gehöre also nicht zu der Gruppe von Schauspielern, die sagt: "Nun ja, ein bisschen singen genügt. Hauptsache, ich bringe den Text rüber." Nein, ich habe großen Respekt vor den Komponisten. Ich unterrichte meine Schülerinnen und Schüler ja auch in Komponisten wie Kurt Weill, Hans Eisler oder Paul Dessau: Das sind Komponisten, die sich ja auch etwas gedacht haben beim Komponieren. Daher will ich immer beidem gerecht werden. Es ist ein ungeheuer aufregendes und spannendes Erlebnis, wenn sich so etwas entwickelt. Daneben muss ich ja auch meist noch Geschichtsunterricht geben. Binder: Zusätzlich. May: Ja, zusätzlich. Denn ich muss ja zuerst einmal die Hintergründe erklären und sie mit ihnen zusammen aufgrund ihrer Fragen erarbeiten. Ich hatte z. B. jetzt erst vor kurzem einen hervorragenden, einen hoch begabten männlichen Schauspielersänger, der bei mir ein Chanson von Friedrich Hollaender gesungen hat. Es ging in diesem Lied um einen alten Schieber. Dieser junge Mann machte beim Singen immer so merkwürdige Bewegungen mit den Händen. Ich fragte ihn, warum er sich denn so komisch bewegen würde. Da meinte er: "Na ja, da geht es doch um so einen Schieber, so einen Tanz." "Nein, nein", habe ich daraufhin gesagt, "ein Schieber ist ein Begriff vom Schwarzmarkt aus der Zeit nach dem Krieg. Ein Schieber hat Geschäfte auf dem schwarzen Markt gemacht." Binder: Er hatte das aber nur auf diesen Tanz bezogen. May: Ja, er kannte den Ausdruck "Schieber" in dieser Bedeutung überhaupt nicht. Er war 25 Jahre alt: Woher sollte er denn diesen Ausdruck kennen? Ich setzte aber voraus, dass er weiß, was das bedeutet. Diesen Hintergrund eines Songs muss ich dann eben mit unterrichten und erklären. Binder: Es ist ja nicht nur das politische Lied, das Sie unterrichten und weitergeben. Aber wenn wir einmal bei diesem Ausdruck bleiben: Gibt es denn noch einen Markt dafür heutzutage? Ist das Publikum noch vorhanden für politische Lieder, oder hat sich das im Zuge der allgemeinen Veränderung in der politischen Landschaft nicht doch verändert? May: Wenn man das Politische nicht so sehr auf ganz aktuelle politische Bezüge einengt, sondern auf große gesellschaftliche Widersprüche bezieht, dann hat der Song, wie diese Liedform bei Brecht meistens heißt, auch weiterhin eine große Zuhörerschaft. Die Leute wollen ja Gott sei Dank nun doch endlich auch wieder Inhalte hören: Sie wollen Themen hören, die sie auf ihr eigenes Leben übertragen können. Aber auch die Beziehung zwischen Mann und Frau ist nicht unpolitisch. Binder: Richtig. May: In allem ist irgendwo Politik. Binder: Die Sachen, die Sie jetzt lehren und weitergeben: Sind das Erfahrungen, die Sie sich in Ihrer langen Karriere in den Hunderten von Ihnen gesungenen Liedern selbst angeeignet haben? Oder hatten auch Sie jemanden, der Sie geführt, der Sie ausgebildet hat? May: Ich hatte mein Elternhaus zur Seite: Das war eine große politische Schulung.
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