Kempen Im 18. Jahrhundert Bietet Sich, Vordergründig Gesehen, Eine Gesellschaftliche „Gemengelage“ An, Die Nur Einen Selektiven Blick Auf Einzelheiten Zulässt

Kempen Im 18. Jahrhundert Bietet Sich, Vordergründig Gesehen, Eine Gesellschaftliche „Gemengelage“ An, Die Nur Einen Selektiven Blick Auf Einzelheiten Zulässt

. ü b e r K e m p e n u n d s e i n e P l e b a n e i m 1 8 . J a h r h u n d e r t * a n h a n d l i t e r a r i s c h e r E x z e r p t e * A n a l e c t a z u d e n J a h r e n 1701 - 1789 1. Faszikel Bergisch Gladbach hjl-Privatvervielfältigung 2018 G e w i d m e t Pater Heinz Limburg MSC geboren am 15. September 1941 in Kempen [heute: Heinsberg-Kempen] zum Priester geweiht am 21. April 1968 in Oeventrop/Sauerland [heute: Arnsberg-Oeventrop] zum Goldenen Priesterjubiläum am 21. April 2018 Hjl I n h a l t s z e r z e i c h n i s P r o o e m i u m K e m p e n - H a u s N r . 5 I. Kempen am Beginn der Neuzeit 1. Von Kempen und dem Heinsberger Land im 30jährigen Krieg (1618-1648) 2. „Friedvolle“ Abgeschiedenheit oder 4 Jahrzehnte hindurch Krieg ? 2.1 Das Jahr 1665 in Kempen 2.2 Die europäischen „Kabinettkriege“ des 17. Jahrhunderts 3. Kempen in der „alteuropäischen Welt“ des 18. Jahrhunderts 3.1 Herzogtum Jülich-Berg 3.2 Herzogtum Jülich-Berg & seine Verwaltung 4. Der Spanische Erbfolgekrieg (1701-1714) II. Der Pleban Bossems in Kempen 5. Johann Peter C. Bossems 5.1 Biographische Notizen 5.1.1 Zur Herkunft 5.1.2 Zu Ausbildung und Studium 5.1.3 Zur Priesterweihe 5.1.4 Zum Tod Bossems 5.2 Der Pleban Bossems 5.2.1 Kempen als „Kirchdorf“ zu Beginn des 18. Jahrhunderts - Kirchliche „Lokationen“ in Kempen Kirche St. Nikolaus - Pastorat - Zur (kirchen-)rechtlichen Stellung des Plebans in Kempen - Von der persönlichen Lebensführung Pastor Bossems Verhalten - Kontakte zu Mitbrüdern - Seelsorge-„Personal“ in Kempen Frühmesser u. ä. - Küster (vom Stift eingesetzt) - Von der Kempener Bevölkerung 5.2.2 Zur Seelsorge in Kempen - Von der „Gestaltwerdung“ christlichen Glaubens - Von der (sogenannten) ordentlichen Seelsorge - Von der (sogenannten) außerordentlichen Seelsorge Volksmission - Wallfahrt - Bruderschaft K e m p e n [Gemeindewappen bis zum 31.12.1971] 1 2 K e m p e n - H a u s N r . 5 „Es ist eigentümlich und überraschend, wie sich Ereignisse oft gleichsam an ein Haus heften und festklammern, sodass klarblickende Augen in Zeit von zwei Jahrhunderten auch zweimal ein Opfer kennenlernen, die das Schicksal erfasst und deren Leben eigenartigerweise, fast unter gleichartigen Umständen, gewaltsam ausgelöscht wird.“ [1.] [ Das Haus, Nr. 5 ] – „Das Haus, Nr. 5“ - in Kempen: Mit dieser, unterschwellig fast schon hermeneutisch-irisierend klingenden Andeutung beginnt der The- berather Gastwirt Jakob JAKOBS (+ 1956)1 von Kriegsverbrechen zu er- zählen, denen zwei Männer zum Opfer fielen: [ 1944, Winter ] – „Es war im Winter 1944/45. Die meisten Bewohner der Gemeinde [Kempen] waren zwangsweise evakuiert und hatten Haus, Hof und Besitz schutzlos zurücklassen müssen. … In Effeld hatte das Kommando Lammerz2 mit seinen SS-Leuten Standquartier bezogen und war der Schrek- ken der gesamten Rurniederung. Zwei von dieser Gruppe kamen eines Tages auch in K[empen] an, wo im verlassenen elterlichen Hause zwei der Haussöhne sich aufhielten. Der eine war als Kriegsverwundeter, der andere aber, der bei der Eisenbahn dienstverpflichtete, der in einem Nachbardorf wohnende verheiratete Ludwig W., der für einige Stunden zum elterlichen Wohn- hause kam, um dort nach dem Rechten zu sehen. … Doch traten sie just aus dem Hause mit einem Sack auf der Schulter, in welchem sie Le- bensmittel und notwendige Kleidungsstücke verstaut hatten, als in etlichen hundert Metern Ent- fernung die Streife ankam. Die beiden Haussöhne wollten sich rasch entfernen und liefen in etwas geduckter Haltung an der Gartenhecke entlang der Talmulde zu. Aber die SS-Leute hatten sie be- reits erspäht, setzten ihnen in langen Sprüngen nach und holten die Flüchtenden bald ein. Bei der Durchsuchung ergab sich, dass der Jüngere als Kriegsverletzter berechtigt war, sich in der Heimat aufzuhalten, dagegen der Ältere seiner Dienstverpflichtung bei der Bahn nicht nachgekommen war. Er wurde verhaftet und gefesselt mitgenommen, dann in E[ffeld] inhaftiert und nach etlichen Tagen ohne gerichtliche Verhandlung im Walde bei Effeld durch Genickschuss getötet. … … … [ Ein „unglücklicher“ Schuss 1701 ] – 3 Ein Gegenstück zu dem geschilderten Ereignis war 1701 bei demselben Hause Nr. 5. Ein feindlicher Heerhaufen kam von Holland aus in das Dorf. In der Hauswiese des oben bezeichneten Hauses arbeitete ein schwerhöriger Mann, der von den feindlichen Soldaten nach dem Namen des Dorfes gefragt wurde. Er hörte wegen seiner Taubheit wohl die Frage nicht und drehte weiterar- beitend dem Frager den Rücken zu. Nun arretierte man ihn kurzerhand und nahm ihn mit. Beim späteren Verhör durch den Kapitän blickte er verstört und verschüchtert um sich, ohne zu antwor- ten und suchte flüchtend zu entkommen. 1 Vgl. http://www.rurkempen.de/pdf/band_2_nr5.pdf 2 Vgl. hierzu detailliert: Toni KRINGS, Eine Jugend im Krieg. Erinnerungen an 1943 - 1945. [Heinsberg-]Karken 1982: masch. Vervielf. DIN A 4], S. 87 und 89. 3 Ein „Haus Nr. 5“ hat es 1701 in Kempen kaum gegeben, da die Gebäude damals keine Hausnummern trugen. Erst in der französischen Zeit begann eine systematische Haus-Nummerierung - in Köln beispielsweise 1794; in Heinsberg sind Hausnummern erst seit 1798 nachweisbar – zur „Erhebung der auf die Gebäude bezogenen Steu- ern“ (Paul und Sigrid KRÜCKEL, Von Hausnamen zu den Hausnummern in der Stadt Heinsberg: Heimatkalender des Kreises Heinsberg 1998, S. 75-86, hier S. 83). 3 Das war nun wohl das Allerdümmste, was er tun konnte. Bald war er wieder eingefan- gen, und man stellte ihn an die Friedhofsmauer, wo er durch eine Gewehrsalve kurzerhand er- schossen wurde. Nach dem Weitermarsch der Truppe bestatteten ihn die betrübten Nachbarn auf dem Friedhof. Sein Grabkreuz hat nach seinem Namen noch die Beifügung erhalten: „Er starb durch einen unglücklichen Schuss.“ Die Zeiten waren eben in diesen Kriegszeiten zu unsicher und verworren, um deutlicher auf die Todesursache hinzuweisen. Und nach mehr als zweihundert Jahren starb aus demselben Hause ein Bewohner unter fast gleichen Umständen eines gewaltsamen Todes. Möge der Herrgott den beiden Erschossenen mehr Barmherzigkeit und Gnade gewährt haben als die Menschen, die sie gerichtet haben. Ich sah nach Kriegsende das Haus ausgebrannt mit geschwärzten Fensterhöhlen, ver- wahrlost und öde, als ob es sich mitschuldig fühlte an den Todesumständen seiner unglücklichen Bewohner. Doch jetzt, nachdem sich dieselben als unschuldige Opfer erwiesen haben, reckt es sich 4 in stolzer Rechtfertigung kraftvoll in die Höhe, ohne Makel, sauber und fest, das Haus Nr. 5.“ [2.] [ Oral history ] – In der Interpretation der beiden tragisch endenden Lebensge- schichten nimmt Jakobs – unter geschichtswissenschaftlichen Aspekten von heute – in etwa Betrachtungsweisen vorweg, zu der die Kultur- und Sozialwissenschaften erst in den 1980er Jahren, gefunden haben. Vor al- lem wurde durch Alltags- und Mentalitätshistoriker, auch wenn sie inter- nationale Beziehungen thematisierten, mehr und mehr „der regionale oder lokale sozialräumliche bzw. der alltagsgeschichtliche Bezug“ beach- tet: „Nicht die großen politischen und militärischen Ereignisse“ wurden „analysiert, sondern wie der Krieg von ‚gewöhnlichen‘ Menschen vor Ort erlebt wurde“.5 Zur gleichen Zeit entwickelte sich die Einsicht, dass historische „Ereignisse“ nicht nur von der Zeit-Dimension des Menschen her zu se- hen sind, sondern dass zur analytischen Kategorie von Geschichtsinter- pretationen – aufgrund eines spatial turn in der Geschichtswissenschaft - auch und in besonderer Weise der Raum, das Räumliche gehört.6 Weitere methodische Ansätze in der geschichtswissenschaftlichen Analytik von heute können zusätzliche Informationen zutage treten las- sen: Dass die Wende zu einer Sozial-, Alltags- und Geschlechtergeschich- te einherging etwa mit der Beachtung der Oral History7 als eines per- spektivischen Zugangs zu einer „Geschichte von unten“, die die gesamte Bevölkerung eines Ortes (einer Region, eines Landes, Männer wie Frau- en und Kinder) in ihrer Lebenswelt einbezieht. So dürften die Erzählun- gen von Jakob Jakobs weithin Erzählgut der Kempener Oral History ent- stammen. Damit enthalten die Geschichten manche Anmerkungen zu Be- funden einer historischen Biographieforschung – möglicherweise einen mehr oder weniger zufällig und willkürlich zusammengestellten Ana- lecta8. [ Exkurs 1 ] A n a l e c t a 1. Ein Analecta - als literarischer „Brockensammler“ - sammelt „Brocken“ (hi- storischen) Quellengutes sowie mancher Darstellungen und Forschungsar- beiten in der einschlägigen Sekundärliteratur. Er erfasst nicht alle „Sachü- 4 Jakob JAKOBS [+ 1956], Das Haus Nr. 5; in: Ders. (handschriftliches MS) Band II, Nr. 25 [= Anm. 1: Online]. 5 Edgar WOLFRAM, Krieg und Frieden in der Neuzeit. Vom Westfälischen Frieden bis zum Zweiten Weltkrieg. Darmstadt 2003, S. 26 f. 6 Vgl. u. a. Martina GUGGLBERGER, Reguliertes Abenteuer. Wien u.a. 2014 („L’Homme Schriften 22), S. 20 ff. 7 Oral History heißt, v. a. seit den 30er-Jahren, in Volkskunde und Lokalgeschichte, das Sprechenlassen bzw. das freie Sprechen von Zeitzeugen. Oral History ist oft die Basis für lebensgeschichtliche Erinnerungen. 4 berreste“; noch arbeitet er sie systematisch und methodisch auf. Er reiht sie aneinander zu einer Art Lesebuch, das einige (teilweise auch zufällig gefundene) histori[ograph]ischen Un- terlagen zusammenstellt, um ein erstes Kennenlernen von Vergangenem möglich zu ma- chen. Ein Analecta sammelt (von nicht immer erkennbaren Imponderabilien abhängig) histo- rische und literarische Versatzstücke (Daten). In manchen Teilen bleiben sie fehlerhaft, tra- gen auch Irrtümer der einschlägigen Sekundärliteratur weiter. Und manche Ungenauigkeiten gehen auf Fehlinterpretationen und Abschreibfehler zurück. Ein Analecta ist und bleibt stets ein literarischer Torso. Im günstigsten Fall bietet ein Analecta Hinweise für eine historisch verantwortliche Dar- stellung. Ziel des Analecta ist es, historisch-literarisches Material, das nicht systematisch auf- gespürt wurde, zusammenzutragen und ggf. nach üblichen Begriffen, Namen oder Daten in etwa zu ordnen. Für Kempen im 18. Jahrhundert bietet sich, vordergründig gesehen, eine gesellschaftliche „Gemengelage“ an, die nur einen selektiven Blick auf Einzelheiten zulässt.

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