SPORT Ski alpin SAUBER AUF DER KANTE Wenn Talent, Fleiß und Arbeitswut entscheiden, kann nur Katja Seizinger zum deutschen Star der Olympischen Winterspiele von Lillehammer werden. Doch die beste Abfahrerin der letzten drei Jahre, die das Leben als Kosten-Nutzen-Rechnung begreift, tut sich schwer mit dem Ruhm. uf sie wartet die schwierigste Auf- verkorksten Winterspie- gabe, die Olympische Winterspiele len 1992 in Albertville Ajemals den Athletinnen gestellt ha- angewöhnt, wo ihr als ben. Die Abfahrt ist gespickt mit tech- vierte der Olympia-Ab- nisch anspruchsvollen S-Kombinationen fahrt lediglich zwölf hun- und drei Sprüngen, die viel Überwin- dertstel Sekunden zum dung kosten werden. programmierten Gold Katja Seizinger, 21, die am vergange- fehlten: „Fatalismus ge- nen Freitag morgen zum ersten Training hört zum Charakter des in Lillehammer auf den Berg liftet, mag Skisports.“ solche theoretischen Annäherungen Wo andere Athleten nicht. Die blassen Wangen hinter einer schweigen oder ihre Wut schwarzen Gesichtsmaske vor dem herausgranteln, kämpft Wind geschützt, die Haare zum Pferde- Katja Seizinger als küh- schwanz gebunden, schiebt sie dreimal le Analytikerin, deren kurz ihre Ski an und sagt zufrieden ins Nüchternheit geeignet Schneegestöber hinein: „Der läuft gut.“ wäre, den monatlichen Der Skifahrerin, die oben an der Arbeitsmarktbericht aus Station wie eine ganz gewöhnliche Tou- Nürnberg vorzutragen. Studentin Seizinger: „Hilfe in Krisen“ ristin auf jenen Teil der Piste abschwingt, der für die Rennläufe- rinnen reserviert ist, traut Bernhard Russi, Olympiasieger von 1972 und Architekt der kurvenreichen Ab- fahrt, am meisten zu. Die Deutsche besitze die nötige „Rennintel- ligenz“, seine Strek- kenführung fehlerfrei zu lesen: „Katja weiß, wo man fünf hundert- stel Sekunden investie- ren muß, um zwei Zehntel herauszuho- len.“ Tochter Seizinger, Eltern Auch das deutsche „Du, Mama, geh jetzt wieder ins Bett“ „Skigenie“ (Cheftrai- ner Rainer Mutschler) glaubt, daß die „Ich bin“, räumt sie ein, „ein mathema- schwierige olympische Schußfahrt zum tischer, logischer Typ.“ Gold führen kann. Die eigenen großen Als sie zuletzt ihre Aussichten auf den Erwartungen hat sie deshalb in den letz- Weltcup-Gesamtsieg, die Krone des ten vier Tagen auf besondere Art be- Skizirkus, abschätzen sollte, rasselte sie kämpft: mit Wäschewaschen und ganz ausdruckslos eine Chancen-Expertise profanen Besorgungsgängen. herunter: „Die Anita Wachter und die „Viele Rennen sind eine reine Lotte- Pernilla Wiberg können in allen vier rie“, schwächt Katja Seizinger bei der Disziplinen durchpunkten. Ich habe im Liftfahrt ab. Behutsam trennt sie zwi- Slalom meine Schwachstelle.“ Das Le- schen zu veröffentlichender Meinung ben ist eine Kosten-Nutzen-Rechnung. und den tatsächlichen eigenen Maßstä- Und wichtig ist, was unterm Strich her- ben. Das hat sie sich spätestens seit den auskommt. Rennläuferin Seizinger: „Von Tempo 130 in 196 DER SPIEGEL 7/1994 Hotelhallen durchmißt sie – die Schul- Odenwald, das Skifahren im Urlaub er- ein Funktelefon in die Hand, stellte die tern hoch, den Kopf geduckt, entschlos- lernt – ein Wesen von spröder Strebsam- Verbindung zur Mutter daheim in Eber- sen geradeaus spähend – wie ein Gene- keit verbirgt. bach her. Der Versuch, so rührende Bil- raldirektor seinen Betrieb. Und wenn Das Versteckspiel beginnt gleich nach der einer vor Glück aufgelösten Siegerin die Kolleginnen sich tratschend in den der Zieldurchfahrt. Damit die Zoom- zu erhaschen, schlug gründlich fehl. Foyer-Polstern lümmeln, studiert die Objektive ihre Erschöpfung nicht öf- Nach einer knappen, sachlichen Kon- Einzelgängerin in einer Ecke versunken fentlich machen können, wendet Katja versation empfahl die Tochter: „Du, eine Tabelle mit Zwischenzeiten. Auch Seizinger sich ab, bis sie zu Atem ge- Mama, geh jetzt wieder ins Bett.“ nach Siegen braucht sie keine Gesell- kommen ist. Dann bittet sie die Kame- Schon ihr akzentloses Hochdeutsch schaft; die „Genugtuung“, das Wort be- raleute, den Schriftzug ihres auf dem hebt sie von den bayerischen, schwyzer- nutzt sie auffallend häufig, genießt sie Helm werbenden Sponsors ins Bild zu dütschen oder Tiroler Kolleginnen um gern allein. rücken. Das geschieht in einem Ton sie herum ab. Aber auch inhaltlich, das Von Abfahrtstrainer Alois Glaner, ei- („Habt ihr’s drauf?“), der keine Diskus- ist sie sich schuldig, will die Kopfgesteu- nem väterlichen Typ, erwartet sie kurze, sion duldet und Selbstgewißheit aus- erte stets überzeugen. Also füttert sie präzise Anweisungen. Ihre zur Starr- drückt: Die Spielregeln bestimme nur die Meute mit Druckreifem aus der Leh- köpfigkeit neigende Konsequenz macht ich. re vom schnellen Skifahren und dem sie im Team nicht pflegeleicht, Ausein- Dabei schont sie nicht einmal sich Fachjargon der Sportpsychologie. andersetzungen mit Chefcoach Mutsch- selbst. Als ein Fotograf sie noch mit ih- „Fakten sind Fakten“, sagt sie, „die ler, der bei Bedarf den bösen Widerpart rem nachtschwarzen Helm, den das Ge- können einem nicht so schnell im Mun- besetzt, münden mitunter in einer mehr- sicht eines Panthers ziert, ablichten will, de herumgedreht werden.“ Und so sta- tägigen Sprachlosigkeit. fährt sie rasch durch ihre zerzausten pelt sie die Fakten zu einer Schutzwand, Ausgeprägten Gemeinsinn offenbarte Haare. Doch im Wissen um ihre von die sie vor der Durchleuchtung ihrer Pri- sie wiederum nach der vorigen Saison, Wind und Kälte betonte Akne im Ge- vatsphäre bewahren soll. als sie ihre acht Trainer und Serviceleute sicht warnt sie ihn: „Das Bild kannst du Gewöhnlich macht der Sport Persön- mit je 10 000 Mark an ihren Prämien be- nie verkaufen.“ lichkeiten. Doch die Olympiafavoritin teiligte. Leistung soll sich lohnen; sie Der Fotograf, ein Amerikaner, ver- ist kein Produkt des Sports. Sicherheit selbst hat damit längst ihre erste Million steht kein Wort. Sie läßt zwei Aufnah- und Professionalität, die andere Athle- gemacht. men über sich ergehen, doch ihre Stirn- ten erst im Verlauf der Karriere gewin- Vor drei Jahren, als sie in die Welt- falten verraten, daß sie vom geschäftli- nen, entnimmt die burschikose Blondi- klasse stieß, war Katja Seizinger das chen Standpunkt aus diesen Knipser ne ihrer Sozialisation im Elternhaus. Medienereignis schlechthin. Inzwischen verachtet. Das sagt sie ihm, soviel Zeit Hans Seizinger, der es vom leitenden ist die Zuneigung erschlafft. Jeder muß- muß sein, dann auch: „You can’t sell a Angestellten zum Miteigentümer der te erkennen, daß sich hinter der unge- bad photo like this.“ Badischen Stahlwerke brachte, lebt wöhnlichen Flachland-Biographie – ge- Im japanischen Morioka, unmittelbar Ehrgeiz, Leistung und Erfolg vor. Wie boren in Datteln, am nördlichen Rand nach ihrem Super-G-Weltmeisterlauf im Hause des über 4000 Mitarbeiter ge- des Ruhrgebiets; aufgewachsen im 1993, drückte ein Fernsehreporter ihr bietenden Kaufmanns gedacht wird, verdeutlicht die verhinderte Skikarriere von Katjas Bruder Sven: Als die Lei- stung des Filius im Nachwuchskader sta- gnierte, setzten sich Vater und Sohn zu- sammen und kamen überein, daß der Skisport offenbar „keine Perspektive bietet“. Wenn Hunderte von Skirennläufern „hinterherfahren, bis sie 30 Jahre alt sind, und dann ohne Ausbildung vor dem Nichts stehen“, sei das doch, so Va- ter Seizinger, „ein Unglück“. Seine Tochter baute als Weltcup-Teilnehme- rin ein Einser-Abitur und stürzte sich dann in ein Fernstudium der Betriebs- wirtschaft. Gleich nach der Ankunft im Olympi- schen Dorf von Lillehammer kramte sie aus ihrem Gepäck Bücher über Makro- ökonomik, Handelsbilanzen und das Bürgerliche Gesetzbuch hervor. Fern- studenten können die anspruchsvollen BWL-Übungen im Vollzeit- oder im Teilzeittempo absolvieren. Katja, die Karrierefrau, duldet auch hier keine Verzögerung, selbst im Olympiajahr muß es die Überholspur sein: „Wenn ich zwei, drei Tage nichts gelernt habe, plagt mich das schlechte Gewissen.“ Diese zweite Ebene der Rennläuferin ist in Wahrheit ein Ventil. Als vor zwei Wochen in ihrer Wahlheimat Garmisch- Partenkirchen ein Rennen, bei dem sie eine 90-Grad-Kurve, da geht¯s schon dahin“ als hohe Favoritin galt, wegen hefti- DER SPIEGEL 7/1994 197 SPORT ger Stürme abgesagt wurde, stapfte sie übel gelaunt nach Hause – und vergrub sich hinter frisch eingetroffenen Uni- Akten. „Das Studium lenkt ab“, erklärt Kat- jas Mutter Doris, „und hilft ihr über Kri- sen hinweg.“ Im Wertesystem der Sei- zingers dient das BWL-Pauken aber nicht nur als Sickergrube für den Frust vom Steilhang. Daß sie „eine Aus- bildung“ mache, sagt Katja Seizinger, „gibt mir das beruhigende Gefühl, auch ohne Skirennsport eine Zukunft zu haben“. Der nach Olympia auslaufende Ver- trag mit ihrem Skihersteller wurde be- reits vor Monaten bis 1996 verlängert. So muß sie sich nicht für Preisgelder, Prämien und Sponsoren verbiegen, da- bei den braven Darling mimen. Stuttgar- ter Gartenschau? Zeitverschwendung. Sat-1-Glücksrad? Nicht ihr Niveau. „Wenn ich auf jedem Termin rumtan- zen würde, sagt mein Papa, wäre ich der Pausenclown. Und da hat er Attentats-Mitwisserin Harding, Reporter: Einschaltquoten wie beim Penis-Prozeß recht.“ Redet so eine 21jährige? Selbst Hans Eiskunstlauf der CBS-Berichterstattung über Olym- und Doris Seizinger, bei denen sich ihre pia. Tochter auch schon mal ausheult, wird Weder spannende Eishockeyspiele dieses alltägliche Übersoll langsam un- noch halsbrecherische Ski-Abfahrtsren- heimlich. „Ihre Ratio“, wundert sich der Täglich nen, so haben Marktanalysen ergeben, Stahlmanager, „übertrifft manchmal so- bringen die erwünschten Einschaltquo- gar
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