25. internationale filmfestspiele berlin 5. internationales berlin forum 29.6.-6.7. des jungen films 1975 CHORUS Sagt Ja zur Not, Und Ihr erreicht die Füße Gottes. Gott steigt auf die Erde herab, wann er es will, Land Indien 1974 Um sich als Führer des Landes zu erklären. Riten, Gesänge und Götter gibt es viele, Produktion, Regie Mrinal Sen Aber die wahre Macht liegt bei dem, der die Not schafft. Buch Mrinal Sen, nach einer Erzählung von Siehe, die Mächtigen erheben sich, Mrinal Sen und Mohit Chattopadhyaya Die Herren sind göttlich. Laßt uns zur Erde gehen und die Götter besehen, Kamera K.K. Mahajan die so elegant in Mantel und Hosen gekleidet sind, in ihrem Amt, unangreifbar wie eine Festung. Musik Ananda Shankar Ruhm sei ihnen! Hallelujah! Hallelujah! Hallelujah! Schnitt Gangadhar Naskar Preist die neuen Götter, die auf die Erde gekommen sind. Ruhm Dekoration Khaled Chowdhury, Surath Das sei den Herren der Not, die in makellose Gewänder gekleidet sind. Die Amtsräume dieser mächtigen Götter liegen innerhalb einer Fe• Darsteller stung. Im Herzen der Festung, in ihrer innersten Zelle, sitzt der Vorsitzende, der große Führer des Landes, umgeben von seinen Rä• Utpal Dutt Vorsitzender des Unternehmens ten, und er sinnt auf Mittel für die Wohlfahrt von Millionen Men• Asit Banerjee Grundbesitzer schen. Der Vorsitzende in seiner Gnade ist tief getroffen von dem Sekhar Chatterjee Fabrikarbeiter Problem der Not, vom Schrei der Menschen nach dem AUernot- Supantha wendigsten. Der Vorsitzende entschließt sich endlich dazu, hundert Bhattacharya Dorfjunge Arbeitsplätze zu schaffen. Die Zahl der Anwärter wird aber, wie er Snigdha Mazumder Mädchen, das eine Stellung sucht weiß, vieltausendmal die Zahl der Arbeitsplätze übertreffen. Arbeit Gita Sen Mutter des Mädchens, das eine Stellung für hundert Leute, aber tausend andere sollen nicht mit leeren Hän• sucht den fortgehen. Also geben wir ihnen Bewerbungsformulare! Robi Ghose Sänger Subhendu Chatterjee Reporter Von nah und fem, von den fernsten Ecken des Landes kommen Rasaraj die Menschen und stehen Schlange vor dem Festungstor. Es sind Chakravorty Politisch militanter Dorfbewohner Männer von den Feldern und Höfen, aus den Mühlen und Fabriken, und es gibt Arbeitssuchende aus den Städten. Zu viele Leute, zu viele Gesichter, zu viele Probleme! Es gibt ein wildes Durcheinan• Uraufführung Dezember 1974, Kalkutta der. Die Wochenschaukameras beginnen mit den Aufnahmen, das Tonbandgerät des Reporters hält Fetzen von den Hoffnungen und der Verzweiflung der Leute in der Schlange fest. Das Tonband Format 35 mm schwarz-weiß spielt die Geschichte eines Jungen aus einem Dorf ab — die Ge• Länge 119 Minuten schichte eines Dorfes, das in den Klauen eines gierigen Geldverleih• ers hungert. Das Tonband läuft weiter, und ein junger Mann aus Sprache Bengali der Industrieansiedlung berichtet von der schmerzlichen, nieder• schmetternden Sklaverei der Industriearbeiter. Ein junges Mädchen aus der Stadt berichtet die Wahrheit über ihre Familie. Geschich• ten von der Lebensqual, von dem Schrecken des Lebenskampfes, Inhalt der die Gesichter der Menschen verzerrt, von den schrecklichen Der Film beginnt wie ein Märchen. Er beginnt mit einem Ritual. Spannungen und den deprimierenden Widersprüchen. Die rissigen Ein Barde erscheint auf der Leinwand und singt: Häuser reißen weiter, alles sackt ab, eine Stimme singt irgendwo, Vor langer Zeit saß der König zu Hofe und ein Fakir erscheint: Und schickte seine Läufer aus, die Weisen zusammenzurufen. O hilf unserer Not, "Hört, weise Männer," sagte der König, O Manik Pir, "Sagt mir, OD es ein Land gibt, wo keine Not herrscht." O hilf unserer Not. Oh, Ihr müßt es uns sagen, Denn wir liegen im Schlaf. Der Himmel ist in Dunkelheit verloren, Die Wolken donnern, Die Weisen gaben ihm die klarste Antwort: Die Pinasse hat sich vom Ankerplatz gerissen, Wo es keine Not gibt, kann kein Gott sein. Das Boot dreht sich herum. Das Schicksal hat die Not erfunden, um der Seele den Glauben zu bringen, Denn auf diesem Wege kommen die Gläubigen zu Gott. Da ist Leere rechts, Leere links, Sen: Stilisierung und Phantasie erscheinen dem Auge des Gesetzes Die Flußufer sind leer. oft harmlos, trotzdem können sie den Zuschauern helfen, eine kla• Der gnädige Vater des Landes sinnt und sinnt. re Verbindung zu ihrer unmittelbaren Realität herzustellen. Außer• In seinen Augen sind Tränen, Tränen sind in seiner Brust, dem muß man, wenn man der Agit-Prop-Linie folgen will, zuwei• Das Land wird überflutet, len seine Gedanken in Extremen vorstellen, in Schwarz-Weiß-Male• und die Leute schlagen sich in Verzweiflung die Stirn. rei. Man kann auch im Dokumentarfilm Fantasie und Wirklichkeit vermischen. Ich sehe keinen Gegensatz zwischen beiden Ausdrucks• Der Spender der Nahrung sann und sann, mitteln; das eine kann das andere höchst wirksam ergänzen. Das bis er auf den Gedanken kam, dreißigtausend Pisangblätter habe ich in CHORUS versucht. Ich habe genau diese Mischung an• als Teller abzuschneiden. gestrebt, um meiner Aussage Tiefe zu verleihen. Es gibt nur hundert Bonbons, und die Fliegen schwärmen zu Tausenden. Gregor: Wie haben Sie die einzelen Episoden Ihres Films entwickelt? Du wirst keinen Bonbon bekommen, aber einen Teller Sind die Personen erfunden oder aus der Realität entwickelt? sollst Du haben. Sen: Stellenweise habe ich die Realität überzeichnet. An anderen Stellen bin ich den neorealistischen Weg gegangen. Stellenweise ha• O Herr der Gnade, gib uns unseren täglichen Teller, be ich mir, indem ich strikt von realen Situationen ausging, Karika• Denn der Teller ist so gut wie Essen. turen erlaubt, die an den Rand des Absurden gehen, an anderen O Herr, gib uns unseren täglichen Teller. Stellen habe ich mich mehr oder weniger an die erzählende Darstel• lung der Wirklichkeit gehalten. Die Technik des Films erlaubt es, Der Herr ist zu Mitleid gerührt. Wie befohlen, werden die Teller vom Absurden zum Wirklichen oder zu einer fiktiven Wirklichkeit freigiebig unter die arbeitshungrigen Leute im Lande verteilt. Und zu pendeln und zurück. Hat das nicht Pudowkin schon vor langer da sind dreißigtausend Anwärter auf hundert Arbeitsplätze. Zeit in Sturm über Asien gemacht? Ebenso kann man, ohne sich Eine neue Drohung kommt herauf. Die arbeitshungrigen Dreißig• entschuldigen zu müssen, den Darsteller bitten, in die Kamera zu tausend schicken eine Botschaft aus einer geheimgehaltenen Hüt• blicken und eine Erklärung abzugeben. All das habe ich in CHORUS te. Sie erklären, daß die Maßnahmen der Festungund die Verspre• zu tun versucht, wobei ich immer die Kenntnis meiner Zeit im Au• chungen des Herrn eine grobe Täuschung seien. Sie rufen nach ge behalten habe. Taten und Zerstörung. Sie sagen, daß sie bald als Plünderer wie• Gregor: Woher kommen die Lieder in der Rah mengeschichte, wen derkommen werden. Sie verteilen weit und breit Parolen. Die Pa• repräsentieren die Sänger, und was ist die Funktion der Lieder? rolen verbreiten sich wie ein Buschfeuer von den Dörfern zu den Städten und den Industriegebieten. Überall geschehen Wunder, Sen: Die Lieder, die der Chor in CHORUS singt, sind von meinem und die sich abrackernden Leute werden von der Magie dieser Freund Mohit Chattopadhyaya komponiert,mit dem zusammen ich Wunder bewegt. Sie sind wie elektrisiert. auch das Buch geschrieben habe. Die Sänger sind die gleichen tradi• tionellen Interpreten, die sonst ganz den gesellschaftlichen Status Der gnädige Herr des Landes bekommt Angst. Wer sind diese Leu• Quo in jeder Form verherrlichen. In CHORUS dagegen verhalten te? Der Kontrollraum der Festung gerät in hektische Betriebsam• sie sich sarkastisch. Gegen Ende tritt dem Chor (vertreten von dem keit. Der Notstand soll erklärt werden. Zirkusclown) ein Gegenspieler in Gestalt eines gewöhnlichen Bau• Ist das nur Hysterie? Ein bedeutungsloser Tumult? Ist es mög• ern gegenüber, der später aggTessiv wird. Die Funktion der Lieder lich, daß der Spuk der Dreißigtausend bald ein ruhiges Ende fin• besteht darin, eine bestimmte Perspektive zu entwickeln. det? Der alte Clown spielt seine Nummer auf dem Trapez und Gregor: Geht der revolutionäre Schluß des Films nicht weit über singt: die indische Wirklichkeit von heute hinaus? Ein Streich! Nur ein böser Streich! Sen: Das Ende ist natürlich reine Phantasie. Es ist aus der Hoffnung "Das ist es nicht!" behaupten die Verfolgten. Die Verfolgten, die hervorgegangen, daß die Phantasie von heute sich eines Tages als nun auf eine Million und mehr und mehr anwachsen, machen sich Wirklichkeit erweisen wird. bereit zum Kampf. Gregor: Kann dieser Film in Indien 'populär' sein, und für welches Produktionsmitteilung Publikum wurde er gemacht? Sen: Wie jeder andere Filmemacher werde ich der glücklichste Neun Fragen an Mrinal Sen Mann auf der Erde sein, wenn ich sehe, daß meine Filme von der Von Ulrich Gregor großen Mehrheit meines Volkes akzeptiert werden. Aber ich soll• te offen sein und zugeben, daß ich bisher nur eine Minorität er• Gregor: Welche Überlegungen brachten Sie dazu, die stilisierte, reichen konnte. CHORUS macht da keine Ausnahme. in ihrer Form irreale Rah mengeschichte des Films zu erfinden? In diesem Zusammenhang möchte ich einen Hinweis geben: Die gän• Sen: Ich habe gesehen, daß so ein Stil auf der Bühne sehr eindrucks• gige Vorstellung, daß der Film ein volkstümliches Medium sei, kann voll ist. Ich sehe keinen Grund, weshalb Bühnentechnik und Film• auch eine große Gefahr sein. Um ein guter Leser zu sein, muß man technik sich nicht gegenseitig helfen und dabei die künstlichen das Alphabet lernen und dann seinen Geist bilden. Um Thomas Grenzen
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