Der Kritische Wendepunkt. Die NSDAP Und Die Reichstagswahlen

Der Kritische Wendepunkt. Die NSDAP Und Die Reichstagswahlen

PETER D. STACHURA DER KRITISCHE WENDEPUNKT? DIE NSDAP UND DIE REICHSTAGSWAHLEN VOM 20. MAI 1928 Die Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus hat mittlerweile bestimmte Daten schon fast allgemein als Marksteine in der Entwicklung der NS-Bewegung anerkannt. Offenkundige Beispiele sind der Münchener Putsch vom 9. November 1923, Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933, der so­ genannte Röhmputsch vom 30. Juni 1934, der Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 und das Attentat auf Hitler am 20. Juli 19441. Diese Daten und Er­ eignisse wurden entweder als Beginn oder als Abschluß verschiedener Phasen in der Geschichte des Nationalsozialismus — in der Entfaltung seines Wesens und im Ablauf seines Geschicks - interpretiert. Was aber ausgesprochene „Wendepunkte" in der Entwicklung des Nationalsozialismus angeht, so hat die ständig zunehmen­ de Literatur zum Gegenstand noch recht wenig dazu beigetragen, die erheblichen Unterschiede zwischen den in der Forschung vertretenen Standpunkten zu redu­ zieren. Im Hinblick auf die „Kampfzeit" galten Interesse und Diskussion nicht zuletzt der Frage, ob und wann die NSDAP eine „Wendung nach rechts" vollzog. Mehrere Zeitpunkte, meist zwischen 1925 und 1930 liegend, sind genannt worden, an denen sich die Partei auf Hitlers Geheiß darauf eingestellt habe, nicht mehr in erster Linie um die Industriearbeiter zu werben, sondern vor allem um die breiten Schichten des Mittelstands und der Bauern wie um die Oberklasse. Zu einer be­ stimmten Zeit in den zwanziger Jahren, so wurde das Problem dargestellt, habe die NSDAP aufgehört, eine wesentlich „sozialistische" und Arbeiterpartei zu sein, und sich in eine prononcierter konservative, nationalistische, antisemitische Be­ wegung des Bürgertums verwandelt2. Die Umorientierung habe weitreichende or- Herrn Professor Volker R. Berghahn, der eine frühere Fassung dieses Aufsatzes gelesen und eine Reihe hilfreicher Anregungen gegeben hat, schulde ich Dank. 1 Vgl. hierzu M. Broszat, Der Staat Hitlers, Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München 1969; A. Schweitzer, Big Business in the Third Reich, Bloomington 1964; T. W. Mason, Some Origins of the Second World War, in: Past and Present 29 (1964, S. 67-87; M. Funke, 6. März 1936 - Studie zum außenpolitischen Führungsstil Hitlers, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage der Wochenzeitung Das Parlament, 3. Oktober 1970, S.3-34; W.Treue, Hitlers Denkschrift zum Vierjahresplan 1936, in dieser Zeitschrift 3 (1955), S. 184-203; B. H. Klein, Germany's Economic Preparations for War, Cambridge, Mass., 1959. 2 Einige der Autoren, die sich mit der Geschichte der NSDAP vor 1933 beschäftigt haben, nehmen an, daß sich Hitler schon in dieser frühen Phase endgültig gegen den Sozialismus entschieden habe, z. B. G. Franz-Willing, Die Hitler-Bewegung, Der Ursprung 1919-1922, Hamburg 1962, S. 103 ff. Auch Werner Maser (Die Frühgeschichte der NSDAP, Hitlers Weg bis 1924, Frankfurt 1965, S. 339) sieht bereits im März 1922 Anzeichen dafür, daß die Die NSDAP und die Reichstagswahlen von 1928 67 ganisatorische, propagandistische und politische Rückwirkungen auf die Partei ge- NSDAP sich damals auf einen Rechtskurs festgelegt und sich danach zur Avantgarde der ruinierten Mittelschichten entwickelt habe. Hanns H. Hoffmann (Der Hitlerputsch, Krisen­ jahre deutscher Geschichte 1920-1924, München 1961, S. 65 ff.) ist überzeugt, daß jene Transformation im Laufe des Jahres 1923 stattgefunden hat, während H. J. Gordon (Hitler and the Beer Hall Putsch, Princeton 1972, S. 82) die NSDAP jener Jahre noch als ein hete­ rogenes Gebilde mit Mitgliedern aus allen Klassen und Berufen sieht. Reinhard Kühnl (Die nationalsozialistische Linke 1925-1930, Meisenheim 1966, S. 62) legt den entscheidenden Wendepunkt in das Jahr 1926, in dem Hitler versucht habe, Verbindungen zu Monarchi­ sten, Konservativen und Industriellen anzuknüpfen. Auch George Hallgarten (Hitler, Reichswehr und Industrie, Frankfurt/Main 1955, S. 89 ff.) betont die Bedeutung solcher Verbindungen. Manche Historiker vertreten die Auffassung, daß eine grundlegende Umorientierung Ende 1927 oder Anfang 1928 geschehen sei, so vor allem Albrecht Tyrell, Führer befiehl. .., Selbstzeugnisse aus der „Kampfzeit" der NSDAP, Dokumentation und Analyse, Düsseldorf 1969, und Dietrich Orlow, The History of the Nazi Party 1919-1933, Pittsburgh 1969. Nach Tyrell (S. 150) hat Hitler schon im Winter 1927 dem Versuch abgeschworen, eine größere Zahl von Arbeitern unter seinen Fahnen zu sammeln, und am 27. November 1927 auf einer Führertagung in Weimar seine Absicht umrissen, den Schwerpunkt der Partei­ propaganda künftig auf die Gewinnung von Mittelschichten zu legen, einschließlich der Bauern, der Wirtschaft und der Wehrverbände (S. 188, 220). Orlow weist zunächst den „städtischen Plan" nach, demzufolge die NSDAP zwischen 1925 und 1927 ihre Anstrengun­ gen auf städtische Gebiete konzentrierte, um das Industrieproletariat zu gewinnen (S. 87 ff.), stellt dann aber fest (S. 120), daß diese Politik sich bis Ende 1927 als Fehlschlag erwiesen habe: „Im Herbst 1927 hatte Hitler anscheinend jede Hoffnung aufgegeben, der deutsche Mussolini zu werden. Daß es nicht gelang, die Arbeiter zu gewinnen, ... überzeugte ihn of­ fenbar davon, daß ihm die Macht nie gehören würde, wenn er nicht den verabscheuten deutschen Spießbürger gewann und integrierte." Orlow fährt fort (S. 304): „Gegen Ende 1927 kam Hitler zu dem Schluß, daß die Geschichte die Einsetzung des ländlich-nationali­ stischen Konzepts erfordere." Eine große Gruppe von Historikern hat sich für das Jahr 1929 als wahrscheinlichsten Wen­ depunkt entschieden. Karl Dietrich Brachers Feststellung (Die deutsche Diktatur, Köln 1969, S. 172), jenes Jahr bezeichne den nationalsozialistischen Angriff auf den Mittelstand, wird von Alan Bullock (Hitler, Eine Studie über Tyrannei, Düsseldorf 1967, S. 113) und Martin Broszat (Der Nationalsozialismus, Stuttgart 1960, S. 52 ff.) geteilt. Bullock schreibt ferner (S. 130), 1929 konnte „Hitler auf das wachsende Interesse und die zunehmende För­ derung von seiten derjenigen rechnen, die wie Kirdorf bereit waren, Geld in die nationali­ stische, antidemokratische und antigewerkschaftliche Politik zu stecken". Detlev Grieswelle (Propaganda der Friedlosigkeit, Eine Studie zu Hitlers Rhetorik 1920-1933, Stuttgart 1972, S. 140) meint, der Wandel habe im Sommer 1929 stattgefunden, als die NSDAP sich der Kampagne gegen den Young-Plan anschloß. Von den Vertretern dieser Schule hat sich je­ doch nur Joseph Nyomarkay (Charisma and Factionalism in the Nazi Party, Minneapolis 1967, S. 91 ff.) ausführlicher zu dem Problem geäußert. Er vertritt die Auffassung, die 1929 beginnende Wirtschaftskrise und ihre politischen Folgen hätten Hitler veranlaßt, die „ent­ schieden sozialistische Orientierung" (S. 91) aufzugeben, die seine Partei seit 1925 charakte­ risiert habe. Gerhard Schulz (Aufstieg des Nationalsozialismus, Krise und Revolution in Deutschland, Berlin 1975) und Joachim Fest (Hitler, Eine Biographie, Berlin 1973) steuern in ihren letzten Werken bedauerlicherweise keine neuen Argumente zu der De­ batte bei. 68 Peter D. Stachura habt, auch gebe es einen engen Zusammenhang zwischen ihr und den erstaunlichen Wahlerfolgen der NSDAP während der letzten Jahre der Weimarer Republik. Die folgenden Bemerkungen werden im Meinungsstreit um diese kontroverse Frage wohl nicht den Ausschlag geben können, doch sind sie als Beitrag zur Klä­ rung des Problems gedacht, indem sie sich zunächst um eine Einschätzung der Mitte der zwanziger Jahre dominierenden Tendenzen in der Entwicklung der NSDAP bemühen und dann die These zu belegen suchen, daß der kritische Wen­ depunkt unmittelbar nach den Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928 eintrat, als Hitler gezwungen war, seine politische Situation grundlegend zu überprüfen. I Als sich die NSDAP im Jahre 1925 wieder formierte, wurden die mit der Schaf­ fung einer leistungsfähigen organisatorischen und administrativen Struktur ver­ bundenen Probleme durch Hitlers Entschlossenheit zur Durchsetzung seiner Auto­ rität über die Bewegung kompliziert. Die drängendste Schwierigkeit in dieser Hin­ sicht war die Auseinandersetzung mit dem widerspenstigen norddeutschen Partei­ flügel. Bis zum Frühsommer des folgenden Jahres war die nationalsozialistische Bewegung vornehmlich damit beschäftigt, das eigene Haus in Ordnung zu bringen und die rivalisierenden Gruppen zu versöhnen, in die sie sich im November 1923 aufgesplittert hatte. Im Rahmen unserer Untersuchung sind die Gründe und der Umfang des ideo­ logischen Konflikts, der deutlich in Erscheinung trat, von besonderer Bedeutung. Der Streit drehte sich um die Frage des „Sozialismus", d. h. er entwickelte sich zwischen jenen Parteimitgliedern, die aufrichtig an die sozialistischen Inhalte des Parteiprogramms von 1920 glaubten3, und den Nationalsozialisten, die Nationa­ lismus und Antisemitismus akzentuieren wollten4. Aus dem ideologischen Zu­ sammenstoß ergab sich eine Kontroverse über die Taktik der Partei5. Die „Sozia- 3 Punkte 5, 7, 8, 10-15, 18, 20, 21. Vgl. G. Feder, Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundgedanken, München 1931. Die Vorstellungen der Brüder Straßer über einen faschistisch-korporativen Staat waren in einem Programmentwurf enthalten, den Gregor im Januar 1926 einer Tagung der „Arbeitsgemeinschaft der Nord- und Westdeut­ schen Gauleiter" vorlegte; vgl. R. Kühnl, Zur Programmatik der nationalsozialistischen linken, Das Straßer-Programm von 1925/26, in dieser Zeitschrift 14 (1966), S. 317-333. Zur Geschichte

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