HIRNFORSCHUNG Hirnforschung Köpfe – Hirne – Netzwerke 130 Jahre Neurowissenschaft(en) in Frankfurt am Main von Gerald Kreft Unter den zahlreichen Traditionen, an die in Frankfurt am Main stolz erinnert wird, bleibt eine bislang eigentümlich unter belichtet: die Geschichte der Hirnforschung. Gerald Kreft gibt einen Überblick über dieses faszinierende Kapitel der lokalen Wissenschaftsentwicklung und stellt zugleich das Museums projekt zur Geschichte der Hirnforschung in Frankfurt vor, das die Ludwig Edinger-Stiftung realisieren will. Hier wirkt jener Geist fort, der 1914 zur Eröffnung der Goethe- Universität führte. Der Hirnforscher Ludwig Edinger (1855-1918) war der einzige Wissenschaftler unter den elf Unterzeichnern des Stiftungsvertrags, der an der Universität forschte und lehrte. 1 dinger ließ sich 1883 als Nervenarzt in der öffentlichte, setzt 1885 ein und dokumentiert Mainmetropole nieder, nachdem der zeit­ die Tätigkeit dieser ältesten Hirnforschungs­ Egenössische Antisemitismus seine Universi­ stätte Deutschlands. International weist nur das tätskarriere (zunächst) zerstört hatte. Berühmt­ Wiener Neurologische Institut weiter zurück, berüchtigt ist die quasi mythologische Urszene nämlich auf 1882. seiner Forschungen: Ihre Anfänge lagen, wie so vieles andere auch, in einem Schlafzimmer. Hier Auf verschiedensten Wegen öffnete Edinger nachts die Schädel von Tot ­ Um 1900 verstand man unter Neurologie noch geborenen, mikroskopierte den Verlauf der nicht, wie heute, die Neurologische Klinik, son­ Nervenbahnen ihrer Gehirne – und gab jedes dern alle Disziplinen, die sich mit der Erforschung Mal zuvor seiner Haushälterin frei. »Dr. Jekyll des Nervensystems beschäftigten. In diesem inter­- and Mr. Hyde« lassen grüßen (Stevensons disziplinären Sinne nannte Edinger sein Institut, Roman erschien 1886). Aufgenommen wusste das er aus eigenen Mitteln aufbaute, Neuro­ sich Edinger in der Gelehrtenkultur der logisches Institut. Ziel war der Brückenschlag Sencken bergischen Stiftungsinstitute. Hier trug zwischen Hirnforschung und Psychologie. Seit er seine bahnbrechenden Resultate vor, hier den 1960er Jahren steht hierfür der Begriff drängte man ihn zur Veröffentlichung seiner Neurowissenschaft (Neuroscience). »Zehn Vorlesungen über den Bau der nervösen Um 1910 bestand Edingers Institut aus einer Central organe« (1886). Neuroanatomischen und einer Neuropathologi­ Als »größte Autorität auf dem Gebiet der schen Abteilung. Er leitete überdies eine »Poli­ vergleichenden Neurologie« (Ramón y Cajal) klinik für Nervenkranke« und organisierte einen wirkte Edinger wie ein Magnet. 1885 vermit­ Psychologischen Verein, in dem Ärzte, Zoologen telte er den Meister histologischer Färbetechnik, und Psychologen miteinander diskutierten. Sein den (ebenfalls antisemitisch diskriminierten) Institut gehörte zur Brain Commission, dem Pathologen Carl Weigert (1845­1904) auf die 1903 in London begründeten ersten internatio­ Direktorenstelle der »Senckenbergischen Ana­ nalen neurowissenschaftlichen Netzwerk. Dem tomie«. Später weltberühmte Schüler aus dem setzte der Erste Weltkrieg ein Ende. Und gab der In­ und Ausland erhielten hier entscheidende Frankfurter Hirnforschung Impulse: In Zusam­ Impulse. Eine Liste dieser »Arbeiten aus dem menarbeit mit dem ebenfalls jüdischen Gestalt­ Neurologischen Institut«, die Edinger 1907 ver­ psychologen Adhémar Gelb (1887­1936) begrün­ Forschung Frankfurt | 1.2014 97 Hirnforschung Ludwig Edinger Kurt Goldstein Tilly Edinger Ernst und Berta Scharrer (1855-1918) (1878-1965) (1897-1967) (1905-1966 bzw. 1906-1996) Begründer der Begründer der Begründerin der Begründer der Neuroanatomie Neuropsychologie Paläoneurologie Neuroendokrinologie Literatur dete Edingers Schüler und Nachfolger Kurt gearbeitet hatte, zusammen mit Goldstein sowie Goldstein (1878­1965) in einem Reservelazarett dem eidgenössischen Neurologen Erich Katzen­ 1 Zum Folgenden insgesamt: Gerald Kreft: (Institut zur Erforschung der Folgeerscheinun­ stein (1893­1961) die bedeutendste deutsche Deutsch-Jüdische Geschichte gen von Hirnverletzungen) die moderne Neuro­ Selbsthilfeorganisation für von den Nazis entlas­ und Hirnforschung. Ludwig psychologie und Neurorehabilitation. sene Hochschullehrer, die Tausenden neue Stel­ Edingers Neurologisches Unter Goldstein wirkte das Neurologische len im Ausland vermittelte. 4 Institut in Frankfurt am Main. Mabuse Verlag 2005. Institut in den 1920er Jahren als Knotenpunkt Wer in Deutschland weiterarbeitete, zeigte der geistigen Linken. Eine Phalanx von zumeist (mehr oder minder) gute Miene zum bösen 2 Gerald Kreft: jüdischen Studierenden und Assistenten ver­ Spiel. Ernst Scharrer (1905­1966), der mit sei­ »Willst Du ins Unendliche schreiten …« band es mit dem Psychologischen Institut, dem ner Frau Berta (1906­1996) am Neurologischen Zu Akkulturation und Psychoanalytischen Institut sowie dem Institut Institut die Neuroendokrinologie begründete, Emigration deutsch- für Sozialforschung. Ähnlich Albrecht Bethe wurde von Tilly Edinger als ihr Nachfolger vor­ jüdischer Neuro- (1872­1954), dem Direktor des Physiologischen geschlagen. Aus ihrer Privatkorrespondenz wis­ wissenschaftler. In: Dirk Reitz (Hrsg.) Instituts, betonte Goldstein die Plastizität des sen wir, »dass er nicht über die Lippen brachte, Exodus der Wissenschaften Nervensystems. Sein ganzheitliches, an Goethe sondern mir auf einen Zettel schrieb: ›Ich bin in und der Literatur orientiertes Verständnis des Lebendigen findet die SA eingetreten‹«. Sie blieben gleichwohl Darmstadt 2004, S. 151-182. sich auch bei zahlreichen Mitarbeitern und kon­ Freunde. 1937 emigrierten die Scharrers in die 3 Rolf Kohring und stituiert eine mit Edinger anhebende, von den USA. Ihr Nachfolger, Rudolf Thauer (1906­ Gerald Kreft (Hrsg.): Nationalsozialisten ins Exil getriebene deutsch­ 1986) vom Physiologischen Institut, forschte Tilly Edinger. Leben und Werk einer jüdischen jüdische Traditionslinie der Hirnforschung in zur cerebralen Wärmeregulation des Organis­ Wissenschaftlerin. Frankfurt am Main. 2 mus. Im Oktober 1942 gehörte er zu den Teil­ Stuttgart 2003. nehmern der geheimen Tagung »Seenot/ 4 Gerald Kreft: Der lange Schatten des Dritten Reichs Winternot« in Nürnberg, auf der über tödliche Philipp Schwartz (1894-1977) Zu erinnern ist etwa an Tilly Edinger (1897­ Unterkühlungsversuche mit KZ­Häftlingen – Zürich und die Notgemein- 1967). Ihre Begründung der Paläoneurologie berichtet wurde. 5 Auch er bewahrte nach 1945 schaft Deutscher Wissen- schaftler im Ausland. verdankte sich den einzigartigen Sammlungen Stillschweigen. In: B. Holdorff und E. Kumbier des Senckenbergischen Naturhistorischen Muse­ An der von Karl Kleist (1879­1969) seit (Hrsg.): Schriftenreihe der ums und des Neurologischen Instituts sowie 1920 geleiteten Psychiatrischen Klinik hatten Deutschen Gesellschaft informellen Beziehungen zu zahlreichen neuro­ schon vor der Jahrhundertwende zwei später für Geschichte der Nerven heilkunde, Band 18. wissenschaftlichen »Vize­Papas«. Einer von prominente Histopathologen gearbeitet: Franz Würzburg 2012, S. 101-129. ihnen war der 1933 zwangsweise beurlaubte Nissl (1860­1919) und Alois Alzheimer (1864­ Direktor der Senckenbergischen Anatomie, Hans 1915), der dort an einer Patientin jene Demenz 5 Gerald Kreft: »… nunmehr judenfrei …« Bluntschli (1877­1962), der bei der Demonstra­ untersuchte, die inzwischen seinen Namen Das Neurologische Institut tion eines »faulen«, nicht mehr zu gebrauchen­ trägt. Zu einem Gravitationszentrum entwickelte 1933 bis 1945. den Gehirns vor Studierenden seinem Sektions­ sich die Frankfurter Psychiatrie aber erst unter In: Jörn Kobes und diener zurief: »Hast Du mir das Gehirn von Kleist, dessen Verstrickungen während des Nati­ Jan-Otmar Hesse (Hrsg): 3 Frankfurter Wissenschaftler Hitler hingelegt?« Selbst in die Emigrationshilfe onalsozialismus weitgehend unaufgearbeitet zwischen 1933 und 1945. spielten neurowissenschaft liche Beziehungen sind. 6 Kleists lokalisationstheoretisches Ver­ Göttingen 2008, S. 125-156. hinein. In Zürich begründete Philipp Schwartz ständnis des Gehirns stand in diametralem (1894­1977), der sowohl am Pathologischen Gegensatz zu Goldsteins Ansatz. Hatte sich mit Institut als auch am Neurologischen Institut Edinger die Neurologie erstmals als eigenstän­ 98 1.2014 | Forschung Frankfurt Hirnforschung Philipp Schwartz Karl Kleist Wilhelm Krücke Wolf Singer (1894-1977) (1879-1969) (1911-1988) Prominentester Begründer der Führender Repräsen- Erster Ordinarius Hirnforscher Notgemeinschaft tant der Gehirn- für Neuropathologie Deutschlands deutscher Wissen- lokalisationslehre in Deutschland schaftler im Ausland dige Disziplin etabliert, wurde sie von Kleist so Zentrum für Morphologie und dem Zoologi­ 6 Dies gilt selbst noch für den fest an die Psychiatrie gebunden, dass sie sich in schen Institut verstärkten sie neurowissenschaft­ einigermaßen selektiven Frankfurt erst Anfang der 1970er Jahre, später liche Sonderforschungsbereiche (SFB), die zwi­ Umgang mit der verwendeten Literatur bei Udo Benzenhöfer: als in den meisten deutschen Städten, institutio­ schen 1979 und 1998 Rainer Klinke (1936­2008) Die Universitätsmedizin in nell davon wieder löste. am Physiologischen Institut leitete. Frankfurt am Main 1914 bis 2014. 2006 ging daraus das Interdisziplinäre Zent­ Münster 2014. Vom Nervenzentrum zum Neurostandort rum für Neurowissenschaften (IZN) hervor, 7 Paul Weindling: Nach dem Zweiten Weltkrieg ging vom Neuro­ das allen lokalen Neurowissenschaftlern eine »Cleansing« anatomical logischen Institut die Professionalisierung der gemeinsame
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