XVII. Jahresbericht des k. k. zweiten Staatsgymnasiums In Czemowltz. Veroffentlicht am Schlusse des Schuljahres 1913/1914 von Regierungsrat Kornel Kozak, k. k. Gymnasialdircktor. 1. Die milesischen Kolonien im Skythenlandc bis ziuri III. nsrchristlichen Jahrhundert. Ein Bcitrag zur Geschichte der griechischen Kolonisation am Nordgestade des Schwarzefi Meeres von Dr. Pantelimon Klym. 2. Schulnachrichtcn. Vom Dircktor. Czernowitz, 1914. Im Selbstveriage der Lehranstalt. — R. Eckhardtsclie Universitats-Buchdruckerei (J. Briill). S (T f' I, Milets gunstige Lagę und Bedeutung fur die griechische Kultur. Jedes Zeitalter hat sein Geprage, der Zeitgeist driickt jeder Epoche seinen Stempel auf, durch den sie charakterisiert wird. Unsere Zeit steht im Zeichen des nationalen Kampfes und der Kolonialpolitik, die das Hauptaugenmerk und direkt eine Machtfrage der europaiscben Staaten geworden ist. Es diirfte nicht uninteressant seiu zu betrachten, wie die Griechen, das geistreichste Kulturvolk des Altertums, Kolonien anlegten und sicherten, wie sie, dem heutigen England vergleichbar, ein Kolonialreich begrundeten, das wie ein Bliitenkranz das Gestade des Mittellandischen Meeres vom Kaukasus bis nacti Afrika und Frankreich umsaumte. Ais naturliches Zwischenglied zwischen den drei grofien Kontinenten war dieses Meer bewohnt und umwohnt von dem begabtesten der Vólker, das, soweit geschichtliche Erinnerung zuruckreicht, an allen seinen Kiisten friih heimisch war.1) In diesem Umkreise spielt das spatere, sogenannte „Mutterland“, d. h. das festlandische Griechenland, eine fast untergeordnete Rolle. Die Fiihrerschaft aber in der Kulturgeschichte der Griechen fiel dem- jenigen Stamme zu, der durch seine ganze Geschichte auf die nachste Berithrung mit dem Orient angewiesen war, den Joniern. Sie vor allen schufen die Grundlagen der spateren griechischen Geistesentfaltung, sie begrundeten durch ibren Handel die Macht Griechenlands. Im siebenten Jahrhundert waren sie die Herren des Welthandels zwischen den drei Kontinenten. Uber das ganze Mittelmeer, vom Pontus Euxinus bis zu den Saulen des Herakles, dehnten sich die jonischen Pflanzstadte und Handels- platze aus und selbst das verschlossene Agypten offnete seine Schatze dem jonischen Unternehmungsgeiste.2) An der Spitze dieser Handelsplatze und zugleich des jonischen Bundes erscheint im siebenten Jahrhundert Milet ais die machtigste und vornehmste Statte griechischen Wesens: sie wird auch die Wiege der griechischen Zivilisation. Denn hier in dem kleinasiati- schen Jonien haufen sich die Reichtiimer der ganzen Welt zusammen, hier beginnt, wahrend noch auf dem Festlande Rauheit der Sitten herrscht, der Sinn fur die Schonheit des Lebens und iiir seinen hoheren Inhalt zu erwachen J) Schon Homer findct dic Griechen fast iiber das ganze Mittellandische Meere verstreut. 2) Prinz, „Fundę aus Naukratis" in Agypten, in Klio, Beitrage zur alten Geschichte. Bd. VIII. Diederich, Leipzig. IV Das altere Milet, das die jonischen Griechen besetzten, war eine kretiscbe 4) Kolonie, die schon zu Homers Zeiten 2) in karische 3) Hande iibergegangen war. Ais sich namlich die Jonier Milets bemachtigten, da heifit es, dafi sie nicht griechische Weiber bei ihrer Ankunft mitbrachten, sondern dafi sie karische Madchen freiten, dereń Eltern sie erschlagen batten.4) D as G e b i e t vo n Milet vereinigte also die drei seemachtig- sten Volker des Altertums: Kreter, Karerund Jonier. Unstreitig fand da eine Vermischung und, wie wir geseben, eine Ver- schwagerung mit den Ureinwobncrn statt. Dazu kam die v o r z ii g- liche Kiistenbildung — Milet hatte nicht weniger ais vier Hafen — welche alle seefahrenden Nationen, die vom Handel lebten, hier ver- einigte, wo alle Handelswege aus dem Inneren Asiens miindeten.5) Die Stadt lag ara latmischen Meerbusen, 80 Stadien sudlicb von der Mtin- dung des Maandcr und bestand zur Zeit ihrer Bliite aus zwei von einer gemeinschaftlichen Mauer umgebenen Teilen, der aulteren und inneren Stadt, von denen letztere auch noch besondere Festungswerke ®) hatte. Sie zahlte 4 Hafen, welche besonders durch die vier vor ihnen gelegenen tragasaischen Inseln, von denen Ladę die bekannteste ist, geschiitzt waren. Ein Hafen diente ais Kriegshafen.7) Siidlich von Milet lag der uralte und bertihmte Tempel des Apollo Didymeus mit einem Orakel,8) das zwar von den Persem im jonischen Aufstand zerstórt, spater aber in einem Urn- fangę, wie kein Tempel des Altertums, wieder hergestellt wurde. Von diesen Tempelanlagen sind noch Ruinen erhalten.9) Auf der ganzen Erde gab es datnals sicherlich keinen Ort, wo es leichter gewesen ware, sich tiber entfernte Lander zu unterrichten und geographische Kenntnisse zu sammeln, ais in Milet. Hier lebten die Bluts- verwandten der Manner, die durch die syrischen Wiisten zogen und im fernen Abendlande Utica und Gades griindeten und tiber die Saulen des r) Ephoros bei Strabo XIV, 034, Apollodor III 2, 1. 2) Hom. II. 807—809. а) Pherekyd. frag. III bei J. Miiller (F. H. Gr.) I p. 98 und Strabo XIV p. 032. 4) Herodot I, 140. 5) Siehe W. Aly, Beitrage zur Stadtgeschichle von Milet und Atlien in Klio, Bd. XI (1910). б) Arriau 1,1. 7) Strabo 1, 1. 8) Herodot VI, 19. Pausan. VII, 2, 5; Mela 1, 17, 1; Plin. 1, 1. 9) Die Ausgrabungen, die von Deutschland und Ósterreich an der Statte des alten Milet gemacht werden, sind noch nicht abgeschlossen. Im Jahre 1905 hat die Publikation der Ausgrabungen begonnen: a) Die Ausgrabungen in Milet, von Th. Wiegand, im archaolog. Anzeiger des deutschen archaolog. Instituts, Bd. XIV, S. 91 ff, Bd. XVII, S. 147 ff und 3. Heft ex 1913, S. 123 ff. b) Milet. Ergebnisse der Ausgrabungen und Untersuchungen seit 1899, herausgegeben v. Theod. Wiegand, Berlin 1900. c) Das Rathaus von Milet, von Robert Knackfufi, Berlin. G. Reimer 1908. d) Rudolf Herzog, Ephesos und Milet in Klio, Bd. VI, S. 529 ff. V Herakles bis zu den Zinninseln fuhren; hier war das Vaterland der gefiirch- teten Korsaren, die das Scbwarze Meer in seiner ganzen Ausdehnung durchschifft hatten und bis ans Asowische Meer auf Raub ausfuhren; hier lag eine Ansiedlung desjenigen Volkes, ais dessen eigentliche Heimat das Meer betracbtet wurde und dessen notorischer Seekunde das Sprichwort entnommen war: „Kennt der Kreter das Meer nicht?" Das waren die glucklichen Elemente, welche die Kinder Joniens an dieser Kuste vorfanden. Was ihrem Gesichtskreis fruher ais in nebelgrauer Ferne erschienen war, verschwand wie ein kindischer Gedanke vor dem unend- lich erweiterten Horizont, der sich hier vor ihrem geistigem Auge auftat. Es ist kein Zufall, sondern die natiirlicbe und notwendige Folgę dieses seltenen Zusammentreffens, daB gerade an diesem Orte und an keinem anderen die ersten Keime der geographischen Wissenschaft emporsproBten, die erste Landkarte gezeichnet, die erste Sonnenfinsternis berechnet und die ersten Anfange zur Philosophie und Geschichtschreibung gelegt wurden. Milet ist die Heimat der Philosophen Thales, Anaximander und Anaximenes und der Logographen Kadmos, Dionysios und Hekataios. Hier fand ihr Geist und Herz durch ein Geschick die Nahrung bereitet, die ihnen Unsterblichkeit verlieh. Milet wurde die Wiege der griechischen Zivilisation, eine der reichsten und machtigsten Handelsstadte des Orients, die in Kriegszeiten unter allen griechischen Stadten Kleinasiens dem Feinde den gróBten Widerstand ent- gegensetzen konnte. Keine griechische Stadt, weder des Festlandes noch der griechischen Inselwelt, hat so viele Kolonien gegriindet wie Milet.1) Die Geschichte dieses Kolonialreiches zu ergrunden, in seiner Ent- wickelung und seinem Niedergang darzustellen, ist eine schwere Aufgabe und wir besitzen noch immer keine geniigende Darstellung dieser Art.2) Zur Lósung dieser auBerst schwierigen Frage muB der Historiker beim Archa- ologen in die Schule gehen oder richtiger gesagt, selbst Archaologe werden. Nur eingehende topographische Forschung, Teilnahme an Ausgra- bungen an Ort und Stelle, eingehende Beriicksichtigung des einschlagigen epigraphischen und numismatischen Materials und volle Beherrschung all der Kleinfunde, in erster Linie der Keramik s), kann den Historiker in den _________ V ' Plinius nat. hist. V, 31 aehtetg, nach Seneca consol. ad Helv. c. 6 funt und siebzig, mćh Strabo XIV, 1, 6 zwei-und^sifihzig.... b) ltls!3x!zś ó.t.oiziac'(«p Ia>v;!z; IaxsiXc!v stę xov IIóvxov Skymnos Periegesis 733. c) [T/,; —ę] ióxr)C t] yjc ’Icuv \ vj~-] <•)] z’-3u.3 v r; -//A ji7jtpo~ó?,swę icoXXcuv z a t [j.3Y«Kcuv •zokzo)v gv t o ) IIo z T ra y.a\ xfj Ar(D~~u> zai t.'jXIjj:/ou t yjc 0!x o u |j.e v /ic M'.Xvj3'!<ov tcóK s io c pouA rj zal oftuo; . C IG II'2878. ' 2) Rambach De Mileto eiusque coloniis. Halis. 1790. ist ganz veraltet und die sonst vertrefflichcn Arbeiten von Karl Neumann, Die Hellenen im Skythenlande. Berlin. 1855 und L. Biirchncr, Die Besiedlung der Kiisten des Pontus Euxinus durch die Milesier. Kempten. 1885, sind unvollstandig; beide Autorcn sind iiber den I. Teil ihres Werkes nicht hinausgekomrnen, konnten natiirlich auch die so wichtigen Rcsultate der gerade in den letzten Jahren gemachten Fundę bei den Ausgrabungen am Nordgestąde des Schwarzen Meeres nicht verwerten. s) Klio, Bd. IX 139. VI Stand setzen, zu deutlicher Anschauung des kulturellen Lebens in dem einen oder anderen Kolonialgebiet zu gelangen. Mogę mein bescheidener Versuch, den uns zunachst liegenden Teil dieses Kolonialreiches, die milesischen Kolonien im Skythenlande, im Lichte neuerer Forschung darzustellen, ais ein kleiner Beitrag zur Geschichte der griechischen Kolonisation beifallig aufgenommen werden, in einer Zeit, die
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