Dem Berg abgetrotzt: Der Steinbruch in Peccia TI liefert seit 1946 Marmor von bester Qualität. Ein Tal baut auf Stein Das Valle di Peccia litt lange unter Randständigkeit und Entvölkerung. Eine Künstlerschule gibt dem Tessiner Bergtal neue Impulse. VON ROGER ANDEREGG; FOTOS: CLAUDIO Bader Marmor und Wasser sind die wichtigsten Rohstoffe im Valle di Peccia: Blick von der Alp Piatto della Froda und über das Ausgleichs becken des Wasserkraftwerks. n den Steilhängen zu beiden Seiten des engen Das Tessin ist nicht nur die mondäne Be- Sechsmal am Tag fährt die junge Postauto- Tals ziehen sich dichte grüne Kastanienwälder triebsamkeit von Ascona, Locarno und Lugano, fahrerin Francesca Vedova oder eine ihrer hoch, unterbrochen von ein paar schwer zu- sondern genauso die Stille und Ursprünglichkeit beiden Kolleginnen von Peccia nach Piano di gänglichen Alpweiden zwischen nackten Fels- der stotzigen Bergtäler. Das Valle di Peccia, das Peccia. Dort hinten im Tal steht man in einer im- wänden. Oben auf den Bergflanken beginnt der bei Peccia ins Val Lavizzara mündet, in den posanten Naturarena und blickt hinauf zu den Föhrenwald. Im Gelände liegen zahlreiche obers ten Teil des Maggiatals, ist eines von ihnen. mächtigen Felswänden von Poncione di Braga, mächtige Findlinge. Die schmale Strasse schlägt Noch etwas abgelegener, noch etwas stiller und Pizzo Cas tello und Pizzo della Rossa. ein paar kühne Haarnadelkurven und quert in noch etwas menschenleerer als andere Täler. Noch ein paar Kurven weiter hinten, inzwi- einer Galerie einen Lawinenhang. Heute leben 180 Menschen im Dorf Peccia und schen auf einem Natursträsschen, ragt eine wei- Die Weiler wirken ausgestorben, ausser viel- seinen Weilern, 1970 waren es noch 275. Seit tere gewaltige Wand empor, diesmal eine sicht- leicht im Juli und August. Als Folge der Abge- 2004 ist die Ortschaft Teil der Gemeinde Lavizza- Sechs Touren täglich: lich von Menschen geschaffene – oder zumin- schiedenheit warten hier möglicherweise mehr ra, einer p olitischen Fusion von sechs Dörfern, Francesca Vedova lenkt das dest freigelegte: die Cava di Marmo. Im ältes ten Rustici auf einen Käufer als anderswo. deren Haupt ort Prato-Sornico ist. Postauto nach Piano di Peccia. Marmorbruch der Schweiz wird seit 1946 weis- 70 BeobacHTER NATUR | NoveMBER 2012 BeobacHTER NATUR | NOVEMBER 2012 71 ser Marmor in riesigen Rohblöcken abgebaut. Handwerk: Rund 300 Menschen Das Spektakulärste und Ungewöhnlichste Die Firma Cristallina SA hat bis vor kurzem auch jährlich besuchen die Scuola di aber ist der Fliesenboden. Er besteht aus hellem die Weiterverarbeitung in Peccia betrieben, ist Scultura, wo neben Steinbild­ Peccia-Marmor und verleiht dem nüchternen für diesen Arbeitsgang aber aus Kostengründen hauerei auch das Arbeiten mit Holz Turbinensaal etwas Feierliches, Pompöses. Er nach Riveo weiter unten im Maggiatal gezogen. und Metall gelehrt wird. wird gewissermassen zu einer Kathedrale des In- Wie Wolkenkratzer der Urgeschichte türmen dustriezeitalters, und das symbolträchtige Bild sich die geschliffenen Wände fast 200 Meter lässt uns unweigerlich an die herrliche Kirche hoch vor einem auf. Die Blöcke, die aus dem von Mogno oberhalb von Peccia denken, die wir Berg gefräst werden, bestehen aus hochwer- tags zuvor besucht haben. Der Star architekt tigem Marmor, dessen Vorkommen bis ins Wallis Mario Botta hat sie 1992 bis 1996 gebaut, aus reicht. Ein paar Männer in Overalls sind gerade weissem Marmor aus Peccia und schwarzem dabei, Sicherungsvorkehrungen zu treffen. Am Gneis aus Riveo – Werkstoffe, die in dem Bau ein Zufahrtssträsschen liegen überall Marmorblö- spannungsvolles Wechselspiel eingehen. cke, und der etwas vergammelt wirkende Ma- schinenpark lässt darauf schliessen, dass das eiter gehts in Richtung Mag- Unternehmen schon bessere Zeiten gesehen hat. giatal: Zeitweilig dem mur- Den zweiten Rohstoff des Tals – Wasser – melnden und in den Kaska- nutzt die Firma Ofima, die Maggia-Kraftwerke den schäumenden Peccia- AG. Doch auch in dieser Branche sind durch die Bach folgend, führt der Weg Automatisierung Arbeitsplätze verlorengegan- durch die Weiler, hier Fraktionen oder auch gen. Hinten in Piano di Peccia stehen wir neben Quartiere genannt: San Carlo, Cortignelli und dem Ausgleichsbecken und blicken auf den Ein- Veglia. Jede Siedlung hat ihre eigene Kirche und gang des Zufahrtsstollens zur Turbinenhalle. Das ihren eigenen Friedhof. In der Kapelle von Cor- Bauwerk erinnert in seiner trutzigen Wehrhaftig- tignelli liegt ein Verstorbener aufgebahrt; trotz- keit an einen Bunker am Gotthard. dem bitten uns die Angehörigen hinein, damit Für eine Besichtigung müsste man sich zwar wir das der Schwarzen Madonna von Einsiedeln voranmelden, doch nach Rücksprache mit sei- geweihte Oratorium besichtigen können. Die nem Vorgesetzten macht der Elektriker Walter Kirche von Veglia wartet derweil mit hübschen Ferrari eine spontane Führung durch die riesige, Fresken auf. Alle Fraktionen präsentieren sich 1955 erbaute Maschinenhalle. Man wähnt sich mit gut erhaltenen Dorfkernen und Ensembles, in einem Museum der Schweizer Maschinen- aber auch immer wieder mit Kolonisatoren- industrie: Zwei mächtige Turbinen von Sécheron kitsch wie Wagenrädern, Gartenzwergen und SA und zwei stattliche Pumpen von Sulzer lau- schmiedeeisernen Laternen – sichere Hinweise fen; weiteres Mobiliar stammt aus der Maschi- darauf, dass die Häuser als Ferienwohnungen in nenfabrik Oerlikon und aus dem Hause Von Roll. der Hand von Deutschschweizern sind. In Veglia «Ja, hier findet ihr all die Namen versammelt, die soll heute noch eine einzige Tessinerin leben. der Schweiz zu ihrem Ruf als erstklassige Indus- Der Blick zurück ins Tal offenbart im mäch- trienation verholfen haben», sagt Ferrari. «Das tigen Felsdreieck des Pizzo Castello die hellen Schöne: Die Dinger funktionieren immer noch Schulleiter-Team: Alex Naef Bänder des Marmors im dunklen Gneis. Und ge- zuverlässig, und das nach bald 60 Jahren!» und Almute Grossmann­Naef nau dieser Marmor findet sich dann wieder ein- BeobacHTER NATUR | NOVEMBER 2012 73 gangs des Dorfes Peccia. Noch bevor wir die Leute kommen sehr gerne hierher, denn so ein sieben Bildhauer aus sieben Nationen gleichzei- Liebe und Achtung für das Tal und für die Natur. Maggia überqueren, erklingt von einer Anhöhe harmonisches Zusammenspiel von Geologie, tig werken und wirken. Das würde Peccia voll- Sie sind uns sehr willkommen und machen Pec- links eine seltsame Melodie: helles metallisches Natur und Landschaft fördert die Kreativität», ends zu einem erstrangigen Kulturplatz machen. cia über die Landesgrenzen hinaus bekannt.» Meisseln, begleitet von dumpfem Hämmern. sagt Frank Grave. Der Kunstpädagoge aus Frei- Für Freunde der Bildhauerei ist die Scuola di An den gedeckten Arbeitsplätzen unter den Wer den Tönen folgt, stösst auf einen geräu- burg im Breisgau unterrichtet jeden Sommer Scultura längst zu einem Begriff geworden. Auch Zeltplanen wird derweil fleissig weitergehäm- migen Werkplatz mit gedeckten Arbeitsplätzen Hobbybildhauer im Bearbeiten des Steins. im Tal ist man mächtig stolz auf sie, und die ent- mert, -poliert und -geschliffen. Veronica Jud aus und einem Laufkran für die Marmorblöcke. standenen Arbeiten werden regelmässig in Aus- Genf, 47 und von Beruf Bibliothekarin, ist eine 15 Frauen und Männer arbeiten an ihren Stei- ie private Bildungsinstitution stellungen in Peccia, aber auch in Locarno oder der Schülerinnen. Sie arbeitet gerade an einem nen, betreut und beraten von Instruktoren. Zur Scuola di Scultura wurde anfangs Ascona gezeigt. Das hat dem Ort zu Medienprä- Kopf aus Peccia-Marmor, dessen klare Formen An lage gehören auch ein grosses Atelierhaus als eher exotische Erscheinung be- senz und Bekanntheit verholfen. Die Gemeinde sowohl an eine Figur von Amedeo Modigliani als und Atelierappartements für Gastbildhauer, zu- lächelt, doch heute wird sie weit- Lavizzara ist heute mit ihren 187 Quadratkilome- auch an einen Gott der Azteken erinnern. Vor Bruna Monaci, Wirtin im dem eine Aula, eine Werkstatt und ein Lager. herum geschätzt und respektiert. tern zwar die zweitgrösste politische Gemeinde Albergo Monaci in San Carlo einem Jahr habe sie gelernt, fachmännisch mit Die Scuola di Scultura wurde 1984 gegründet. Denn inzwischen ist aus dem Geheimtipp für des Kantons Tessin, verfügt aber über weniger Stein und Werkzeug umzugehen, erzählt sie, und Seit 1986 führt sie der Sankt Galler Kunstpädago- Freaks ein blühendes Unternehmen geworden. als 500 Einwohner. Man weiss hier sehr wohl um jetzt wage sie sich erstmals an eine dreidimensio- ge und Bildhauer Alex Naef, seit 2001 zusammen Naefs Initiative hat dem Schweizer Marmor zu die Notwendigkeit von Überlebensperspektiven. nale Figur. Ihr schwarzes T-Shirt ist weiss vom mit der Kunstpädagogin und Kunsttherapeutin neuer Beachtung und dem Tal zu einem gewis- Als Logis für ihre Schüler hat die Scuola meh- Staub des Marmors. Almute Grossmann-Naef. «Das war immer mein sen Aufschwung verholfen: Seine Schule lockt rere Häuser gemietet, die zuvor leerstanden, und Ob sie ihr Werk einmal in eine Ausstellung Traum», so der 58-Jährige, «in einem verlasse- jedes Jahr um die 300 Leute an, die in meist natürlich profitieren auch die drei, vier Hotels geben oder gar verkaufen wird? Sie reibt die nen Steinbruch im Tessin zu arbeiten, vielleicht zweiwöchigen Kursen die Grundlagen der Stein- und Restaurants im Tal von den Gäs ten. «Die schmerzenden Handgelenke und sagt: «Ich mit Freunden.» Die Wahl des Ortes erfolgte nicht und Holzbildhauerei oder auch der Metallgies- Scuola bringt Leute hierher
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