Zurich Open Repository and Archive University of Zurich Main Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich www.zora.uzh.ch Year: 2012 Niels W. Gade und der ”nordische Ton” : ein musikgeschichtlicher Präzedenzfall Matter, Michael Abstract: Anfang der 1840er Jahre feierte der dänische Komponist Niels W. Gade einen sensationellen Er- folg in Leipzig. Robert Schumann attestierte vor allem seiner Ouvertüre Efterklange af Ossian op. 1 und seiner Ersten Sinfonie op. 5 einen entschieden nordischen Charakter. Damit war ein musikgeschichtlicher Präzedenzfall geschaffen: Erstmals in der Geschichte der Sinfonik hatte ein volkstümliches Idiomaus der europäischen Peripherie Eingang in die Kunstmusik gefunden und damit die Geschichte der na- tionalen Sinfonik begründet. Es stellt sich demzufolge die dringliche Frage, welche kompositorischen Konstituenten den frühen Werken Gades allenfalls ein nordisches Gepräge verleihen und inwieweit es sich dabei um ein Rezeptionsprodukt einer von bestimmten Sehnsüchten und Vorstellungen geprägten deutschen Romantik handelt. Denn in Kopenhagen selbst war Gade anfänglich nicht ganz so erfolgreich und musste sich gar Vorwürfe gefallen lassen, zu deutsch zu komponieren. Aufschluss über das Phänomen des sogenannten nordischen Tons geben daher nicht nur die Analyse der Notentexte, sondern auch die zahlreichen Rezeptionsdokumente sowie der sozialpolitische und gattungsgeschichtliche Kontext. In einer diskursiven Untersuchung sollen die damaligen Nördlichkeitsvorstellungen rekonstruiert werden, um die gängigen Denkmechanismen und Topoi aufzudecken. Abschliessend gilt es, die Rezeption der späteren Werke Gades zu beleuchten und nach Gründen zu suchen, warum der dänische Komponist nach 1900 der Vergessenheit anheimfiel. At the beginning of the 1840s the Danish composer Niels W. Gade achieved sensational success in Leipzig where Robert Schumann notably attributed a decidedly Nordic character to his works, in particular his Overture Efterklange af Ossian op. 1 and his First Symphony op. 5, thereby setting a precedent: for the first time in the history of symphonic music, a folkloric idiom from the European periphery found its way into art music opening the way for the emergence of the national symphony. A crucial question arises: what are the supposed compositional constituents of Gade s early works that confer this Nordic imprint and to what extent is this reception a product of the longings and ideals of German Romanticism. Indeed, in Copenhagen Gade had originally not been quite so successful and was even accused of composing in a too German manner. In order to shed light on the phenomenon of the so-called Nordic tone not only the works themselves will be analysed, but also abundant docu- ments concerning their reception within the social-political and historic-generic context. This discursive study aims to reconstruct the former concepts of Nordicity in order to uncover the prevalent thought mechanisms and topoi of the time. Finally the reception of Gade s later works will be discussed and explanations sought for the Danish composer s fall into oblivion after 1900. Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-70722 Dissertation Published Version Originally published at: Matter, Michael. Niels W. Gade und der ”nordische Ton” : ein musikgeschichtlicher Präzedenzfall. 2012, University of Zurich, Faculty of Arts. 2 NIELS W. GADE UND DER ‚NORDISCHE TON‘ EIN MUSIKGESCHICHTLICHER PRÄZEDENZFALL Abhandlung zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich vorgelegt von Michael Matter von Kölliken / AG Angenommen im Frühjahrssemester 2012 auf Antrag von Herrn Prof. Dr. Hans-Joachim Hinrichsen und Herrn Prof. Dr. Laurenz Lütteken Bern, 2012 Inhaltsverzeichnis 1.) Niels Gade – ein musikgeschichtlicher Präzedenzfall ............................................................ 1 2.) Ein „ganzer Meister“ tritt in Erscheinung ............................................................................. 10 2.1.) Das Kopenhagener Vorspiel .......................................................................................... 10 2.2.) Die Leipziger Sensation ................................................................................................. 22 3.) Der „Drachentödter“ und andere Ursachen des Erfolgs ....................................................... 39 4.) Der Nördlichkeitsdiskurs seit Macpherson und Herder ........................................................ 49 4.1.) „Des Nordens Grösse“ ................................................................................................... 53 4.2.) „Der deutschen Helden Sage“........................................................................................ 69 4.3.) „Kühne Thaten“ ............................................................................................................. 80 4.4.) „Alte Liederkraft“ .......................................................................................................... 96 5.) Gade und der „nordische Charakter“ – Analyse des Frühwerks ......................................... 117 5.1.) Nachklänge von Ossian, Op. 1..................................................................................... 119 5.2.) Sinfonie Nr. 1 in c-Moll, Op. 5 .................................................................................... 128 5.3.) Sinfonie Nr. 2 in E-Dur, Op. 10 ................................................................................... 141 5.4.) Im Hochland, Op. 7 ..................................................................................................... 151 5.5.) Comala, Op. 12 ............................................................................................................ 159 5.6.) Siegfried und Brunhilde ............................................................................................... 171 5.7.) Ouvertüre Nr. 3 in C-Dur, Op. 14 ................................................................................ 176 5.8.) Sinfonie Nr. 3 in a-Moll, Op. 15 .................................................................................. 179 6.) Intermezzo: Der Schleswig-Holsteinische Krieg 1848-1851.............................................. 196 7.) Die Gade-Rezeption von 1848 bis 1890 ............................................................................. 200 7.1.) Der neue Topos der Lieblichkeit ................................................................................. 200 7.2.) Der verblasste Topos des Nordischen .......................................................................... 214 8.) „Von Niels Gade spricht man nicht“: Die historiographische Perspektive ........................ 225 9.) Gades Kairos: Die diskursiven Schnittstellen ..................................................................... 235 9.1.) Der ästhetische Diskurs: die „Originalität“ ................................................................. 236 9.2.) Der politische Diskurs: die „Nationalität“ ................................................................... 242 9.3.) Der kulturelle Diskurs: das „Nordische“ ..................................................................... 249 10.) Anhang .............................................................................................................................. 260 11.) Bibliographie..................................................................................................................... 265 11.1.) Verwendete Zeitschriften und ihre Kürzel................................................................. 265 11.2.) Musikalische Werke .................................................................................................. 266 11.3.) Literarische Werke ..................................................................................................... 267 11.4.) Volksliedanthologien ................................................................................................. 268 11.5.) Quellen (Briefe, Reiseberichte, Aufsätze, Lexika, etc.) ............................................ 269 11.6.) Sekundärliteratur ........................................................................................................ 274 1.) Niels Gade – ein musikgeschichtlicher Präzedenzfall Sinfonien gelangen selten in Biergärten zur Aufführung. Und wenn doch, weckt ein solches Rencontre meist allgemeinen Argwohn, man wittert die Herabwürdigung der Kunst in die Niederungen der Trivialität. Fast ebenso selten kommt es vor, dass ein nahezu vollständig unbekannter Komponist klassischer Musik dermassen Erfolg hat, dass ihm die weibliche Jugend einer ganzen Stadt zu Füssen liegt. Der dänische Komponist Niels Gade vermochte in seiner frühen Karriere gleich beide der angedeuteten Umstände zu erfüllen, und zwar auf der Basis eines allseitig verbreiteten, lediglich von höchst sporadischen Kritiken getrübten Enthusiasmus: Seiner Ersten Sinfonie in c-Moll, komponiert 1842, schlug in den Jahren unmittelbar nach ihrer Uraufführung in Leipzig eine derart immense Begeisterung entgegen, dass man ihr dort selbst in Freiluftlokalen begegnen konnte: „sehr oft, sogar in Garten- und Bierconcerten“1 war das vielgespielte Werk zu hören. Der unvermittelte und ausserordentliche Ruhm wiederum liess dem dänischen Junggesellen eine Attraktivität angedeihen, die ihn für die jungen Frauen in Leipzig regelrecht zum Objekt der Begierde werden liess, so dass sich zahlreiche Verehrerinnen um den Komponisten scharten. Wilhelm Joseph
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