Bieler Tagblatt Freitag, 14.06.2019 11 Kultur Hanna Johannsen und Margrit Schriber (v.l.) haben beide ein umfangreiches und bemerkenswertes Werk geschaffen. BILDER: ZVG/MANFRED UTZINGER Auch sie haben sich «in die Sterne geschrieben» Literatur Früher wurden sie stiefmütterlich behandelt, heute ist es für sie schwierig, zu publizieren – dabei ist ihre Qualität unbestritten. Ein Versuch, Hanna Johannsen und Margrit Schriber nachträglich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Charles Linsmayer am Beispiel von zwei der wich- die Indianerin Polingaysi an der aber immer in Stil und Sprache Freiheit, während die Wirtin in rin» deren pures Gegenteil, Jose- tigsten noch lebenden Autorin- Zerrissenheit der Kulturen lei- einer Autorin, die, ob Frau oder einem von Margrit Schribers fina Marty, die schönste Schau- Bei genauem Hinsehen ist es un- nen jener Generation sichtbar den, «Ein Mann vor der Tür» gab nicht, ohne jeden Zweifel zu den grossartigsten Büchern, «Mu- spielerin der Welt, ins Bild und in verkennbar: Bis zum Beginn der und erkennbar machen. 1988 einer Frau eine Stimme, von ganz grossen, überragenden Na- schelgarten» von 1984, nicht aus die Fänge eines skrupellosen Im- 90er-Jahre war es für Frauen in In diesem Monat feiern Hanna der sie sagte: «Sie will nicht nur men ihrer Generation gehört. ihrem Gefangensein heraus- presarios zu stellen. Dazwischen der Schweizer Literaturszene Johansen und Margrit Schriber, ein wenig lieben, sondern ganz. kommt und in eine todesähnliche aber, 2012, machte sie in «Das schwer, in die «Premium-Liga» letztere am 4. Juni, erstere am 17. Sie ist ausgehungert nach einem Margrit Schriber: Erstarrung verfällt. zweitbeste Glück» Leny Bider, aufzusteigen, die von Namen wie Juni, ihren 80. Geburtstag. Was Gefühl, das sie ausfüllt. Sie weiss, Aufbruch aus allen Fesseln Grossartig und geradezu femi- die unglückliche Schwester des Urs Widmer, Adolf Muschg, Peter einen wunderbaren Anlass dar- dass es falsch ist.» Auf bewe- Es ist nach wie vor ein Wunder, nistisch aggressiv, wie die zwei Fliegerhelden Bider, auf eine Bichsel, Jörg Steiner, Otto F.Wal- stellt, Leben und Werk dieser Au- gende Weise von der Sehnsucht wie diese Autorin 1976 mit 37 Jah- alten Frauen Marie und Agatha in Weise zum Thema, wie sie ein- ter, Franz Hohler, Hugo Loet- torinnen, die ausser den Lebens- handelte auch «Anderes Licht», ren mit dem Roman «Aussicht «Rauchrichter» von 1993 vor dem dringlicher und bewegender scher oder Paul Nizon verteidigt daten nichts verbindet als die der Text, mit dem Hanna Johan- gerahmt» auf einmal da war. Nachthimmel von Luzern, im An- nicht sein könnte. wurde. 30 Jahre danach aber, über jeden Zweifel erhabene sen 1993 in Klagenfurt Furore Ohne Vorbildung, wie sie die gesicht von schwarz in den Him- während es von erfolgreich de- Qualität ihres Schreibens und das machte. Germanistin und Übersetzerin mel ragenden Kaminfiguren, Mit Neugierde zum erstaunlichen Spätwerk bütierenden Autorinnen nur so Vorliegen eines umfangreichen Und welche Autorin hat sich Hanna Johannsen vorzuweisen über die Welt und die Männer wimmelt, haben es die damals und höchst bemerkenswerten grossartiger mit den Themen hatte, als Tochter eines kuriosen und Frauen zu Gericht sitzen. Ihre Wandlungsfähigkeit und stiefmütterlich Behandelten Oeuvres, näher unter die Lupe zu Frau, Liebe, Scheitern, Rückzug Wunderheilers in Brunnen, die Eine Optik, die auch noch der ihre Neugierde auf immer wieder schwer, überhaupt noch publi- nehmen und zu zeigen, mit zu sich selbst auseinandergesetzt als Bankangestellte einen Erzähl- Croupier-Leni eigen ist, die in andere Aspekte der weiblichen zieren zu können – weil sie nicht welch unbestreitbarer Berechti- als Hanna Johansen in der «Kur- band kaufte und beschloss: Das «Schneefessel» 1998 den Stuben- Erfahrung ermöglichte Margrit zu den ganz grossen, unbestritte- gung sie in die «Premium-Liga» novelle» von 1994 oder in der kann ich auch! Und wie sie es fliegen von der tödlichen Feind- Schriber 2015 nochmals einen nen Namen zählen. ihrer Generation gehören wür- «Universalgeschichte der Mono- schon konnte in jenem Erstling: schaft zweier Frauen und dem Neubeginn, der sie von den histo- Hanna Johansen wurde 2013 den. gamie» von 1997, die keineswegs mit lauter Hauptsätzen, in häm- Untergang einer Hoteldynastie rischen Themen weg wieder zu nach 35 Jahren aus dem Hanser- ein trockenes Thesenbuch, son- merndem Duktus und mit einer erzählt. selbsterfundene Konstellationen Verlag hinausgeworfen, Margrit Hanna Johannsen: dern eine Ansammlung anrüh- vereinsamenden jungen Frau im und Geschichten finden liess. Mit Schribers meisterliches Buch Intellektuell und einfallsreich render Frauenbiographien ist Mittelpunkt, die aus ihrem Vil- Von der Faszination «Schwestern wie Tag und Nacht» «Schwestern wie Tag und Nacht» «Ich stelle die Dinge so in Frage, und im Roman «Lena» von 2002 lenfenster in die Welt hinaus- des Historischen schrieb sie 2015 ihren ersten Kri- fand 2014 bei Nagel & Kimche wie Frauen das tun. Männer und eine späte Ergänzung fand: schaut, bis sie sich aus allen Bin- Und dann kam das Jahr 2006 und minalroman, der aber weit über keine Gnade, Helen Meier, deren Frauen leben in derselben Welt, «Merkwürdig, dieses Gefühl von dungen zu befreien vermag. «Ein brachte eine neue, eine gereifte, die Möglichkeiten des Genres hi- 90. Geburtstag am 17. April dieses aber sie erleben sie anders. Wir zu viel Zeit, jetzt, wo nur noch Mensch muss sich in die Sterne eine noch kraftvollere Margrit nausgeht und das Schicksal Jahres von den Tamedia-Zeitun- brauchen die Bücher der Männer wenig übrig ist.» schreiben, damit es ihn wirklich Schriber hervor. Mit dem Griff in zweier unterschiedlicher, aber in gen und den NZZ-Medien igno- nicht zu verbrennen – wir müs- gibt», sagte sie 2015, und letztlich die Geschichte und mit einer Fi- fataler Weise aneinandergebun- riert wurde, fand nach dem sen sie ergänzen», meinte die Au- Sie hat sich immer wieder ist dieser Aufbruch, dieses Sich- gur wie der misswüchsigen Anna dener Schwestern darstellt, von neu erfunden Untergang des Ammann-Verlags torin 1993, die es als Frau und Ex- selbstfinden, das ja jedesmal ein Maria Schmidig, der Hauptfigur denen am Schluss die eine zur zehn Jahre lang für jene Bücher Frau von Adolf Muschg noch zu- Nie hat Hanna Johansen sich wie- Befreiungsversuch oder der Be- von «Das Lachen der Hexe», die Mörderin der anderen wird. keinen Verlag mehr, die Christine sätzlich schwer hatte, Anerken- derholt, jedes neue Buch öffnete freiungsakt einer Frau ist, das 1753 von der bigotten Schwyzer Mit Pia und Luisa, der hemds- Richard inzwischen mit Proust nung zu finden. Und diesen er- eine neue Welt, und in ihren Kin- zentrale Movens, das zentrale Er- Gesellschaft gnadenlos in den ärmligen Tankwartin und der lie- verglichen hat. gänzenden Blick hat sie denn derbüchern – erwähnt sei bloss eignis in Margrit Schribers Werk, Tod getrieben wurde. 2008 folgte besdurstigen Versicherungs- auch seit dem Erstling «Die ste- «Omps – ein Dinosaurier zu viel» das inzwischen 18 Bücher um- ein zweiter Mittelalterroman, agentin, stehen sich in Margrit Diskriminierung aufgrund hende Uhr» von 1978 konsequent von 2003 – war sie ebenso gross- fasst und keineswegs zu Ende ist, «Die falsche Herrin», der in Anna Schribers jüngstem Buch, «Glän- des Geschlechts? zum Tragen gebracht. Auf von artig in Sachen sprachliche Sou- sondern demnächst mit dem Ro- Maria Inderbitzin eine clevere, zende Aussichten» von 2018, wie- Was in dieser Situation nottut, Donald Barthelme und Grace Pa- veränität und Erzählreichtum man «Sommer der Chormäd- mit allen Wassern gewaschene derum zwei Frauen gegenüber, ist klarzumachen, dass die dama- ley beeinflusste surreal-avantgar- wie in dem absurden Krimi «Der chen» einen neuen Höhepunkt Figur hervorbrachte, die das die wie so viele in ihrem Werk auf lige stiefmütterliche Behandlung, distische Weise zunächst, dann schwarze Schirm» von 2007, mit erreichen wird. Schwyzer Establishment und ihre je eigene Weise versuchen, die für eine gewisse Zeit zu einer aber, von ihrer genuinen Erzähl- dem sie formal wieder an den Einen geglückten und einen Herrschaften in halb Europa an sich in einer Welt der Männer als Schweizer Zweiklassenliteratur gabe getrieben, in einer Schreib- Erstling von 1978 anknüpfte. Die gescheiterten Aufbruch evoziert der Nase herumführt und in Frauen zu bewähren. Wobei die auf der Basis des Geschlechts ge- weise, die Intellektualität mit Summe ihres Lebens und Schrei- «Das Kartenhaus» von 1978, die li- einer filmreifen Szene im letzten Arbeitsfelder Tankstelle und führt hat, nichts, aber rein gar Einfallsreichtum, formaler Ele- bens aber zog sie 2014 in «Der terarische Umsetzung von Marg- Moment durch einen Liebhaber Waschanlage auf gekonnte, aber nichts mit der Qualität, der ganz und einer Offenheit für Ge- Herbst, in dem ich Klavier spie- rit Schribers Brunnener Kindheit vor dem Schafott gerettet wird. unaufdringliche Weise zeigen, Grösse und der Bedeutung jener schichte und Gegenwart und vor len lernte», jenem Buch, das nach im Banne eines ebenso originel- Als hätte sie Lust bekommen, wie die Frauen auf dem Weg zur Schriftstellerinnen zu tun hat, die allem für die immer neuen und der Absage von Hanser bei Dörle- len wie despotischen Vaters, dem weitere ungewöhnliche, kämp- Ebenbürtigkeit immer mehr Be- damals antraten, um dem Weibli- immer wieder anderen Möglich- mann erschien. Während sie Kla- sich die Tochter zu entziehen ferische Frauen als Mutmache- reiche für sich in Anspruch neh- chen den ihm gemässen Platz im keiten weiblicher Existenz ver-
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