CHAMONIX DESTINATION 60 N Hohe 9 61 O O 9 9 Schule N Berge, Preise, Gefühle: In Chamonix ist alles ein bisschen höher als anderswo in den Alpen. Auf engem Raum hält das Mont-Blanc-Massiv alle Prüfungen bereit, denen sich ein Alpinist stellen kann. RALF!GANTZHORN erzählt, wie er nach Jahren des Büffelns das Alpin-Abitur doch noch absolviert hat. TEXT UND FOTOS: RALF GANTZHORN ALTE SCHULE Fritz Miller hat das große Orientierungs- Los gezogen und überprüft, ganz klassisch mit Kopie und Karte, Theorie und Praxis am Innominata-Grat. ALLMOUNTAIN DESTINATION Man kann es drehen und wenden wie tige Pracht final niederreißen. Tour man möchte, an Chamonix kommt man Ronde Nordwand – praktisch eisfrei. Zu- stieg zum Bivouac de la Fourche – nur nicht vorbei. Nirgendwo sonst auf dem noch durch Schutt möglich. „Schweizer- Planeten stehen so viele Berge, Spitzen, führe“ am Grand Capucin – der Berg- schrund wird sich kaum überwinden Türme und Nadeln von Weltruf, in lassen. Als Führerautor möchte man in keiner anderen Bergregion reiht sich auf so einem Moment verzweifeln. Seit fünf Jahren arbeite ich an einer Auswahl der so engem Raum eine Sehnsuchtstour an lohnendsten Touren im Südwesten des die nächste. Nicht zufällig also haben Alpenbogens. Und jetzt das! sich der Mont Blanc und seine Trabanten DIE!VERTE"!DAS!ALPIN-ABI zum weltweiten Mekka für Alpinisten Ein Jahr später sieht alles ganz anders aus. Der Winter 2017/2018 war endlich entwickelt. Chamonix quillt sommers mal wieder ein schneereicher. Die In- wie winters aus allen Nähten, ternetforen quollen über vor erfolgrei- chen Tourenberichten. Beste Verhält- Bergsteiger aus aller Welt bevölkern nisse am Walkerpfeiler; Innominata- Dorf und Granit oben drüber. Grat und Peuterey Integral ließen sich ohne heikle Schutttraversen wiederho- Einsamkeit und Massentourismus, „a len, und wenn der Normalweg auf den long walk in the snow“ und Mont Blanc diesen Sommer gesperrt wird, dann nur wegen des Andrangs, Extremalpinismus finden dabei aber nicht wegen der Verhältnisse. Alles 62 N 62 erstaunlicherweise weiter genügend wieder bestens? Ja und Nein! Die von uns Bergsteigern (und gerade wir soll- 9 63 O O 9 Platz, manchmal nur einen Steinwurf ten uns da durchaus den Spiegel vor die N voneinander entfernt. Nase halten – Klettersport ist leider auch Motorsport!) mit verursachte Kli- maveränderung hat zu einem tief grei- fenden und mittlerweile überall un- übersehbaren Wandel der Bergwelt geführt. Wer Gletscher das letzte Mal Sommer 2017: Zu dritt stehen wir am HEXENKESSEL Gipfel des Dent du Géant. Wetter und Das vielleicht beeindruckendste Nordwand-Ensemble der Alpen: Aussicht könnten nicht besser sein: von Droites, Courtes und Verte, gesehen vom Beginn des Jardin-Grates an der Aiguille Argentière. der Aiguille Noire de Peuterey über den Mont Blanc bis zur Aiguille Verte und den Grandes Jorasses – alles frei und wunderbar einzusehen. Normalerweise sollte jetzt Jubel in uns aufbranden. Aber wenn wir ehrlich sind, ist uns nur bedingt nach Hochgefühlen zumute. Ei- gentlich möchte ich sogar schreien oder weinen. Aus Trauer. Es ist Anfang Juli und im Mont-Blanc-Massiv sieht es aus wie auf einem Schlachtfeld, wo die letz- ten Getreuen eines bereits toten Kaisers auf ihre Hinrichtung warten: Unter uns OHNE NAMEN, OHNE WORTE nur graue Gletscher und vor sich hin Fritz Miller und Nils Wülker am Ausstieg des bröselnde Felstürme, aus deren Einge- Innominata-Grates – dem „Namenlosen“ in der weiden sich träge Schuttströme zu Tal Südflanke des Mont Blanc. Wer hier sein darf, wälzen und letzte Eislawinen die eins- genießt und schweigt. AUER " ARCHIV !" ALLMOUNTAIN FOTO CHAMONIX vor 30 Jahren gesehen hat, wird viele der verbliebenen Eisströme kaum wie- »ES!IST!ANFANG!JULI!UND!IM! dererkennen. Einstige Firnanstiege ver- wandeln sich im Sommer in kürzester MONT-BLANC-MASSIV!SIEHT!ES!AUS! Zeit zu gruseligen Schotterhalden, und viele Eisrouten weisen zu den erstaun- WIE!AUF!EINEM!SCHLACHTFELD"! lichsten Jahreszeiten gute Verhältnisse auf. Flexibilität ist also angesagt, egal, WO!DIE!LETZTEN!GETREUEN!EINES! was man in Chamonix plant. BEREITS!TOTEN!KAISERS!AUF!IHRE An der Aiguille Verte zum Beispiel. Der vielleicht formschönste Berg des Mont- HINRICHTUNG!WARTEN%« Blanc-Massivs gilt als schwierigster Viertausender der Alpen. „An der Verte terperle an der Aiguille Verte – „Late to übernachten, die Hütte besteht aus ei- wird man zum Alpinisten“, soll Gaston say I’m sorry“ von Robert Jasper und nem Raum. Oben angekommen haben Rébufat, der berühmteste französische Jörn Heller – auf den Berg zu steigen. wir die Hütte ganz für uns allein. Froh- Bergführer, einmal gesagt haben. Die Leid tat es uns dann tatsächlich. Nach gemut stehen wir in der nächsten Besteigung der Verte gilt als Abitur im einer Begehung der „Schweizerführe“ Nacht auf und wühlen uns durch tiefen Bergsteigen. Ich persönlich habe dem- an der Courtes hatten wir im wahrsten Pulverschnee zum Couloir unserer nach sehr lange gebraucht, um zum Al- Sinne des Wortes die Nase voll. Selbst Wahl. Wirklich? Vielleicht hätten wir pinisten zu werden … die unfassbare Landschaft konnte uns die Beschreibung besser lesen sollen. nicht über die schlaflosen Nächte auf Hatten wir nicht. Vielleicht hätte auch Mein erster Versuch an der Aiguille der Hütte trösten, und wir stiegen wie- eine dieser modernen Hightech-Wun- Verte geht auf das Jahr 2008 zurück. der ab. derlampen geholfen. Hatten wir auch Boris Gnielka war damals mein Kletter- nicht. Statt ins Couloir en Y zu klettern, 64 N partner und wir wollten im Winter auf UNTER!BESCHUSS bogen wir eine Rinne zu früh ab und den Gipfel. Dazu stiegen wir vom Ski- Aber wir hatten ja noch drei Tage, und fanden uns plötzlich irgendwo im Nir- 9 65 O O 9 9 Zirkus an der Mittelstation der Grands- in Chamonix sind die Wege kurz. Wa- gendwo zwischen Aiguille Sans Nom N Montets-Bahn in den Argentière-Kessel. rum also nicht die Verte von Süden und jeder Menge Bruch wieder. Und da Dessen Eindruck hat sich in mein Hirn über das „Couloir en Y“ versuchen? Aus- auch schon bald die Sonne in das ganze eingebrannt wie kaum ein anderes Pa- gangspunkt ist das im Winter unbe- wunderbare Panorama schien, brach norama: Unbegreiflich, wie dicht anein- wirtschaftete, winzig kleine Refuge de ein Inferno los, das nur einen Schluss andergedrängt die 1000-Meter-Wände la Charpoua. 12 Menschen können hier zuließ: sofortiger Rückzug! von Courtes, Droites und Verte als großartiges Chaos aus schwarzen, roten SELTENER GAST und grauen Platten und Pfeilern, durch- Kein Raumschiff wie die neue „Goûter“, aber zweckmäßig: Das Refuge de la Charpoua liegt gut setzt von jeder Menge Eis- und Firnrin- erkennbar nicht am Normalweg zum Mont Blanc, sondern unterhalb der Aiguille Verte. nen, aus dem ebenen Gletscher fahren. Unbegreiflich aber auch der Zustand des Winterraums auf dem Refuge Ar- gentière. Boris begründet damit bis heute sein tief im Unterbewusstsein verankertes Hüttentrauma: Die Schlaf- räume waren nicht nur komplett über- belegt, sondern in einem Zustand, der nur dank der Kälte nicht zum soforti- gen Ausbruch von Pest und Cholera führen konnte. Müll, Dreck und Was- ZAHNSEIDE serlachen überall, Wolldecken, die sich Kletterei oder Klettersteig gehobenen auf Zuruf wahrscheinlich bewegt hät- Anspruchs? In der Südwestwand des ten, und Klos, deren Inhalt hier nicht Dent du Géant, dem Zahn des Riesen, helfen näher beschrieben werden soll. Vier dicke Schiffstaue über die schwierigen Tage wollten wir ursprünglich bleiben, Stellen hinweg. Eigentlich schade! um über die vielleicht schönste Eisklet- ALLMOUNTAIN DESTINATION Ein Jahr und viele Monde weiter war National, einer Alpin-Institution der an- ich mit zwei anderen Freunden wieder »SELBST! deren Art, erfolgt die weitere Planung. auf dem Refuge de la Charpoua. Dieses Inklusive einer Rechnung, für deren Mal war die Hütte bewartet, ein junger ANGESEILT! Summe man auf der anderen Seite des Franzose bekochte abends seine Gäste, Mont-Blanc-Tunnels ein komplettes tagsüber ging er – durchaus erfolgreich FÜHLE! Menü bekommen hätte. Auch das ist – strahlen (also Mineralien sammeln). Chamonix. „You booked Aiguille Verte, so you have ICH!MICH! to stand up at midi nuit“. Mit diesen Um Punkt sieben Uhr stehen wir am Worten und einem guten Kafee weckte SEHR! nächsten Morgen an der Seilbahn zur er uns mit dem Beginn der Geister- Aiguille des Grands Montets, die uns stunde. Hintergrund des frühen Auf- ALLEINE%« praktisch den gesamten Zustieg er- bruchs ist der sommerliche Abstieg von spart. Statt einer Hüttenübernachtung der Aiguille Verte: Der verläuft im Nor- planen wir eine Biwaknacht am Ende malfall durch das Couloir Whymper in des Felsgrates. Voller Vorfreude tappen der Südostflanke des Berges. Und wenn einer einzigartigen Mischung aus loka- wir über ein Schneefeld hoch in Rich- dort ab ca. elf Uhr vormittags die Sonne lem Bergführerbüro und Tourenarchiv, tung Petite Aiguille Verte, bis uns ein reinscheint, sollte man sich dort nicht rückte dann den Berg doch wieder ins kleiner Steinmann am Grat darauf hin- mehr aufhalten. Der auftauende Perma- Zentrum des Interesses. Zusammen mit weist, dass hier die eigentliche Tour be- frost sorgt für Dauerbeschuss aus den Dutzenden von muskulösen, gut ausse- ginnt. Wir seilen auf ein Felsband in oberen Etagen. „Vorrücken unter Artil- henden Männern und Frauen (man der Westflanke ab, dessen Verlauf es leriebeschuss“ nannte das irgendwann zieht hier automatisch den Bauch ein, nun für ca. 400 Meter zu folgen gilt. Mal Richard Goedeke, der Altmeister um nicht negativ aufzufallen) schauten 400 Meter, die eigentlich
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