1 : Das europäische Völkerrecht und die ungleichen Verträge um die Mitte des 19. Jahrhunderts Harald Kleinschmidt 1 Einleitung Gut klingt die Forderung nach freiem Handel. Er bringe die Wirtschaft in Schwung, heißt es in den globalen Zentren des Welthandels. Aber wieso gibt es zunehmend mehr Gegner des Freihandels? Die Antwort der Kritiker der internationalen Wirtschaftsordnung lautet: weil auch der Freihandel Regeln zu folgen hat, die die Regierung von Staaten in ihrem eigenen, auch militärischen Interesse manipulieren können. Auch Völkerrecht und internationales öffentliches Recht haben einen guten Namen. Sie gelten als neutral, jedenfalls im Westen. Warum aber ist es seit mehr als einhundertundfünfzig Jahren schwierig, Völkerrecht und internationalem öffentlichen Recht Geltung zu verschaffen? Woher begründet sich der Widerstand gegen sie? Die Antwort der Kritiker der internationalen Politik lautet: weil Völkerrecht und internationales öffentliches Recht zwischenstaatliches Recht sind, das von Staatsinteressen und militärischen Strategien nicht abzutrennen ist. Freihandel und Völkerrecht stehen also seit mehr als einhundertfünfzig Jahren im Zentrum von Debatten um die Gerechtigkeit der internationalen Beziehungen zwischen Staaten. Dieses Büchlein erschließt die Ursprünge der Kritik an Freihandel und Völkerrecht im europäischen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts, der das europäische Staatensystem zum Weltstaatensystem aufblies. Kolonialismus, militärische Bedrohung und Krieg waren untrennbar verbunden mit der globalen Expansion des europäischen Welthandelsmarkts und des europäischen Völkerrechts. In der Geschichte der Globalisierung schufen europäische Regierungen eine kriegerische Erblast, die nicht vergehen kann. Vor dreißig Jahren wartete der amerikanische Soziologe Charles Tilly mit der damals ketzerischen, aber keineswegs der Sache nach neuen,1 am Gedankengut des klassischen Realismus orientierten These auf, dass Staatsentstehung und Kriegführung eine reziproke Kausalbeziehung bestehe‚ dass also ‚Kriege Staaten machen und Staaten Kriege machen’; mithin die souveränen Staaten Europas durch Akte ‚organisierten Verbrechens’ und durch Ausübung militärischer Gewalt entstanden seien. In ideologiekritischer Absicht und mit kräftigen Seitenhieben auf seine Sicht der hegelischen 1 Insbesondere schon Carl Schmitt, Der Nomos der Erde (Köln, 1950), S. 3-67 [Nachdrucke (Berlin, 1974; 1988; 1998)]. Schmitt, ‘Nomos – Nahme – Name’, in Der beständige Aufbruch. Festschrift für Erich Przywara, hrsg. von Siegfried Behn (Nürnberg, 1959), S. 92-105 [wieder abgedruckt in Schmitt, Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916 – 1969, hrsg. von Günter Maschke (Berlin, 1995), S. 573-91]. 2 Staatstheorie zog Tilly alle ihm verfügbaren Register sozialwissenschaftlicher Methode, um dem Glauben an die ‚Sittlichkeit’ des Staats den Garaus zu machen. Zunächst erfasste er nur Prozesse der Staatsentstehung seit dem 17. Jahrhundert. Dabei folgte er selbst damals dem in den Sozialwissenschaften verbreiteten Glauben, die Westfälischen Verträge hätten den systemischen Rahmen für die Institutionalisierung souveräner Staaten als hauptsächlicher ‚Akteure’ in den internationalen Beziehungen festgezurrt.2 Seither seien in Europa souveräne Staaten nicht nur in der Folge des Dreißigjährigen Kriegs, sondern schlechthin durch Anwendung militärischer Gewalt entstanden. Die Stabilität des sogenannten ‚Westfälischen Staatensystems’ sei mit Krieg erkauft worden.3 In den 1990er Jahren dehnte Tilly seine These rückwärtig in die europäische Vergangenheit bis ins 10. Jahrhundert aus und bezog wirtschaftsgeschichtliche Daten ein. Er legte eine beschreibende Übersicht über Prozesse vor, von denen er vorgab, sie hätten zur Entstehung von Staaten durch Verquickung von wirtschaftlichem und politisch-administrativem Zwang geführt. Dazu seien, seiner Darstellung zufolge, die Zusammenballung furchterregender militärischer Machtmittel und die Kontrolle über kapitalistische Produktions- und Distributionsverfahren4 seit dem 15. Jahrhundert die wichtigsten Mittel gewesen.5 Zu gleicher Zeit erweiterte der amerikanische Politikwissenschaftler Robert H. Jackson den geografischen Horizont von Tillys These in ihrer ursprünglichen Fassung und wandte sie an auf die postkolonialen Staaten Afrikas. Jackson diagnostizierte bei diesen Staaten ein Legitimitätsdefizit, das als Folge des europäischen Kolonialismus entstanden sei. Jackson zufolge hätten die europäischen Kolonialmächte das ‚westfälische Staatensystem’ mit dem ihm inhärenten Staatsbegriff in Afrika oktroyiert und folglich die europäische Methode der Staatsentstehung in Afrika zur Anwendung gebracht. Während in Europa jedoch Staaten durch Kriege im Zusammenhang mit Friedensverträgen, Verhandlungen und Vermittlungen und anderen Elementen der internationalen Beziehungen durch Jahrhunderte hindurch entstanden seien, hätten die 2 Zur Kritik an diesem Paradigma siehe Andreas Osiander, The States System of Europe. 1640 – 1990 (Oxford, 1994). Ders., ‘Sovereignty, International Relations and the Westphalian Myth’, International Organization 55 (2001), S. 251-87. Sowie schon Walther Kienast, ‘Die Anfänge des europäischen Staatensystems’, in Historische Zeitschrift 153 (1936), S. 229-271. 3 Charles Tilly, ‘Reflections on the History of European State-Making’, in The Formation of National States in Western Europe, hrsg. von Charles Tilly (Princeton, 1975), S. 42. Zur Verbreitung dieser Vorstellung als geglaubte Tatsache in den Sozialwissenschaften siehe beispielsweise Anthony Giddens, The Nation State and Violence (Cambridge, 1985). Jürgen Habermas, ‘Der europäische Nationalstaat – Zu Vergangenheit und Zukunft von Souveränität und Staatsbürgerschaft’, in Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie (Frankfurt, 1996), S. 128 [zuerst in Ratio Juris 9 (Juni 1996)]. Fred Halliday, The Middle East in International Relations (Cambridge, 205), S. 36. 4 Auf die Bedeutung wirtschaftlicher Machtmittel, insbesondere der wirksamen Kontrolle öffentlicher Einkünfte als Voraussetzung für die Reduktion von Transaktionskosten und der Beschleunigung von Staatsentstehung hatte bereits zuvor Levi in einer ausführlichen, auf das Mittelalter bezogenen Studie hingewiesen. Siehe Margaret Levi, Of Rule and Revenue (Berkeley, Los Angeles und London, 1988). 5 Charles Tilly, Coercion, Capital, and European States, AD 990 – 1990 (Cambridge, MA, und Oxford, 1992), insbesondere S. 68-9, 76-7. 3 europäischen Kolonialregierungen in Afrika dieselben gewaltsamen Staatsentstehungsprozesse auf wenige Jahre zusammengedrängt. Auch in Afrika habe sich jedenfalls die Vorstellung durchgesetzt, Staaten seien mit Hilfe militärischer Gewalt zu errichten und zu erhalten, zunächst in der Form von antikolonialen Befreiungskriegen, sodann durch Militärputsche, Bürgerkriege, separatistische Bewegungen sowie zwischenstaatliche Kriege. Gegen Tilly kam Jackson zu dem Schluss, dass Staatsentstehung durch militärische Gewalt die Instabilität des afrikanischen Staatensystems sowie die institutionelle Schwäche der bestehenden postkolonialen Staaten Afrikas bedinge.6 Beiden Theorien zugrunde liegt ein Staatsbegiff, der erst im 19. Jahrhundert in Europa entstand und von den Sozialwissenschaften seither unbesehen auf die Frühe Neuzeit Europas sowie Staaten anderswo in der Welt projeziert wird. Nach diesem Begriff sind Staaten Anstalten, die das Monopol zur Anwendung legitimer Gewalt über eine homogene Bevölkerung auf einheitlichem Gebiet unter nur einer Regierung besitzen.7 Wird diese Einheitentrias nicht oder nicht zur Zufriedenheit der Theoretiker erreicht, gelten die so beschriebenen Staaten als ‚schwach’ oder sie werden unter Vorenthaltung der Bezeichnung Staat als Politien abqualifiziert. Dabei machten sowohl Jackson als auch Tilly viel Aufheben um territoriale Aspekte der Staatsentstehung, insbesondere die Errichtung, Verteidigung und Verschiebung der Staatsgrenzen durch Anwendung militärischer Gewalt. Sie berücksichtigten jedoch nicht, dass nach der europäischen Auffassung von Staatsrecht im Zeitraum zwischen dem 16. und dem Ende des 18. Jahrhunderts der Begriff der Staatsentstehung als Prozess der Ersetzung bestehender Staaten durch andere ein Widerspruch in sich selbst gewesen war, da Staaten entweder als Bestandteile der gottgewollten Weltordnung galten oder ihre Entstehung in der fernen Vergangenheit auf Wirkungen menschlichen Vertragshandelns. Also nicht auf Wirkungen von Krieg, zurückgeführt wurde. Dementsprechend bestand die Rechtsfigur der Unabhängigkeit von Staaten erst seit 1776 und dann auch nicht in Europa selbst, sondern zunächst nur in Nordamerika. Von der politisch-juristischen Begrifflichkeit her gesehen war die vorsätzliche Herbeiführung von Staatsentstehung durch Anwendung militärischer Gewalt also vor Beginn des 19. Jahrhunderts nicht denkbar.8 Folglich wurden im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts Kriege üblicherweise nicht um die Änderungen der Grenzen von Staaten oder gar die Errichtung neuer Staaten, sondern um 6 Robert H. Jackson, Quasi-states. Sovereignty, International Relations and the Third World (Cambridge und New York, 1993), S. 7 [zuerst (Cambridge, 1990)]. Ders., ‘Conclusion’, in Government and Politics in African States, hrsg. von Peter Duignan und Robert H. Jackson (London, Sydney und Stanford, 1986), S. 416. Ders., ‘The Weight of Ideas in Decolonization. Normative Change in International Relations’, in Ideas and Foreign Policy. Beliefs, Institutions and Political Change, hrsg. von Judith Goldstein und Robert O. Keohane (Ithaca
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