Games and Gamification 9

Games and Gamification 9

Kumulative Habilitation Games und Gamification. Kulturhistorische, medienwissenschaftliche, politische und ästhetische Dimensionen Dr. (phil.) Mathias Fuchs Lüneburg, 20. Januar 2019 2 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 2. Stand der Forschung 3. Themenkomplexe, Untersuchungsfelder 4. Umriss und Überblick über die Buchkapitel und Journalartikel 5. Weitere Forschungsfragen und in Arbeit begriffene Untersuchungen 6. Methodische Ansätze 7. Bibliografie 8. Schriften 2010 bis 2018 3 4 1. Einleitung Die in dieser Sammlung zusammengetragenen Texte reicht der Autor als kumulative Habilitationsleistung bei der Fakultät Kulturwissenschaften der Leuphana Universität Lüneburg zum Zwecke des Erwerbs der Lehrbefugnis für die Fachrichtung „Medien- und Kulturwissenschaften“ ein. Alle Texte sind nach der Veröffentlichung meiner Promotionsschrift im Jahr 2010 erschienen und sind bei den Verlagen Springer, Campus, Böhlau, meson press, Routledge, Carnegie Mellon Press und verschiedenen Journalen in deutscher, italienischer oder englischer Sprache herausgegeben worden. Ich füge der Textsammlung ebenfalls das Einleitungskapitel einer Monografie bei, die derzeit im Satz ist und im Sommer 2019 bei Bloomsbury Academic/ New York, heraus- kommen wird. Als Einzelveröffentlichungen behandeln sie jeweils unterschiedliche Themen, sind aber alle den Fragestellungen der Game Studies und insbesondere dem Phänomen der Gamification verpflichtet. Seit dem Zeitpunkt der ersten hier zusammengestellten Publikation hat sich das Fachgebiet der Gamification Forschung gewaltig weiterentwickelt. Von verschiedenen Autoren wird das Jahr 2010 als die Geburtsstunde der Gamification Forschung angegeben Yongwen Xu (2011) bezieht sich auf einen Vortrag Jesse Schells aus dem Jahr 2010 auf der D.I.C.E.- Konferenz in Las Vegas. Fast zeitgleich erschien Sebastian Deterdings Vortrag „Pawned. Gamification and its Discontents“ (2010). 2010 gab es weniger als ein Dutzend ernstzunehmende Publikationen zum Thema. Heute (Januar 2019) finden sich allein im akademischen Veröffentlichungsverzeichnis ORCID 1301 Titel.1 Der Zeitraum von 2010 bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist daher bedeutsam für das Verständnis digitaler Formen von lediglich ludisch drapierten oder vollständig ins Spiel implementierten Praxen. Ich möchte allerdings mit den hier vorgelegten Schriften die Behauptung ausführen, dass vordigitale Formen von Gamification entscheidend für das Verständnis zeitgenössischer Verschiebungen ins Ludische sind und den kulturwissenschaftlichen Hintergrund dafür auffächern, wie 1 Im Mai 2018 waren es erst 791Veröffentlichungen bei ORCID. 5 das Gegenwartsphänomen aus seinen kulturhistorischen, medienwissenschaftlichen, politischen und ästhetischen Rahmenbedingungen heraus begriffen werden kann. Ich hoffe, damit zeigen zu können, dass Gamification Forschung gestützt auf die Untersuchungsstränge der Game Studies eine veritable Fachrichtung ist. So wird in dieser Schrift auch die Behauptung entkräftet, dass Gamification nur ein „Hype“ sei, oder – Verzeihung für das starke Wort – „Bullshit“ wie Ian Bogost, das einmal formulierte (2011). Als wichtiges Resultat der Habilitationsschrift sehe ich es, Perspektiven für Forschung und Lehre an der Leuphana Universität Lüneburg zeichnen zu können, die aus dem Ursprung, dem Gesamtzusammenhang, den Seitenrouten und der kritischen Auseinandersetzung mit Gamification und Ludification (Raessens 2006) als kulturwissenschaftlichem Phänomen entwickelt werden. Bevor ich auf Themenkomplexe und Untersuchungsfelder zu Gamification detailliert eingehen werde, möchte ich noch kurz mein Verständnis von Kulturwissenschaften darlegen. Die zehnjährige Lehr- und Forschungstätigkeit an der University of Salford in Manchester hat meinen Begriff von Kulturwissenschaften mit den Methoden und dem Forschungsfeld der Cultural Studies in Berührung gebracht und beeinflusst. (Williams 1958; Hogart 1957; Hall 1972) Von verschiedenen Beobachtungsstandpunkten wurde bemerkt, dass deutsche Kulturwissenschaften nicht deckungsgleich mit den britischen Cultural Studies sind (vgl. Marchart 2003; Lindner 2000), ich denke aber, dass die Gemeinsamkeiten ausreichend groß sind, um es zu ermöglichen von beiden Wissenschaftstraditionen zu profitieren, ohne in Inkommensurabilitätsfallen zu stürzen oder theoretische Widersprüche zu generieren.2 Man kann von den Texten, die in dieser Schrift versammelt sind, sagen, dass sie im „magischen Dreieck“ von „Kultur, Macht und Identität“ angesiedelt sind. (Marchart 2003: 10) Ganz im Sinne Marcharts möchte ich daher auch die im Untertitel dieser 2 Da ich jedoch die Arbeit an einer deutschen Universität abgebe, habe ich einige Texte ausgeklammert, die ich in den UK dazugefügt hätte. Dies sind Texte aus Journalen zur Designtheorie, Beiträge für Kustmagazine und populäre Fachzeitschriften, insgesamt also Publikationsmedien, die Oliver Marchart mit Blick auf die Birmingham School der „Erwachsenenbildung“ zurechnen (Marchart 2003: 8) und für die Cultural Studies als legitime Vermittlungsinstrumente zulassen würde. Da diese Texte formal und vom Sprachduktus nicht den hierzulande gültigen akademischen Kriterien genügen, sind sie auch nicht in die Textsammlung aufgenommen worden. 6 Arbeit genannten „politischen und ästhetischen Dimensionen“ verstanden wissen. Ohne den Anspruch zu erheben, eine politische Theorie oder eine Ästhetik zu schreiben, verwende ich politische und ästhetische Reflexion als wichtige Referenzdimensionen. Diese Schrift ist keine Ästhetik, keine soziologische Abhandlung, ja nicht einmal eine politologische Expertise. Es geht hier um eine kulturwissenschaftliche Untersuchung, die Ebenen des Sozialen, des Politischen und des Ästhetischen mit Sorgfalt mitbetrachtet, ohne dabei anzustreben, einer Ästhetik des Spieles nahezukommen, oder gar eine soziologische Theorie spielerischen Handelns zu auszuarbeiten. Das gegenwärtige wie auch das historische Phänomen der Gamification soll im besagten Dreieck von Kultur, Macht und Identität verortet werden, vielleicht sogar im Viereck, dessen vierte Ecke Medialität heißt - oder im Fünfeck, das dann auch noch Ästhetik einschießt. Sicher kann davon ausgegangen werden, dass Grenzverschiebungen zwischen dem Ludischen und dem Nicht-Ludischen ihre Première nicht im Jahr 2010 hatten, sondern vielmehr kulturellen Dynamiken geschuldet sind, die sich lange vor unserem Jahrhundert entfalten konnten. So sind Eric Zimmermans Proklamation, dass wir nun dabei sind, ins „ludic century“ einzutreten (Zimmerman 2013) und James Combs epochentheoretische Behauptung, wir befänden uns in “a new phase of history characterized so much by play that we can deem it a play world” (Combs 2000, 20) nur ein spätes Echo auf eine Behauptung Daniel Bernoullis aus dem 18. Jahrhundert (Bauer 2006). Letzterer stellte bereits 1751 fest, dass „unser Jahrhundert in den Geschichtsbüchern zusammengefasst werden könne als ... das Spielsaeculum.“ Natürlich meinte Bernoulli damit nicht das Gleiche wie Zimmerman. Die Verwandtschaften und Bedeutungsunterschiede herauszuarbeiten, ist eine der Leitfragen der kumulativen Habilitationsschrift. Im Buchkapitel „Predigital Precursors of Gamification“ aus dem Sammelband „Rethinking Gamification“ (Fuchs, Fizek, Ruffino & Schrape 2014) gehe ich ausführlich auf spielerische Neuerungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein. Spiel war zu Bernoullis Zeiten eine kulturelle Praxis, die jeweils lokal inszeniert wurde, auch wenn die Spielregeln bisweilen international – und das hieß damals europaweit – entwickelt und codiert wurden. (So wurden die Spielregeln für das Kartenspiel L’Hombre zwischen Spanien, Frankreich und dem österreichischen Habsburg ausgehandelt und modifiziert. (Fuchs 2014a: 132; Fuchs 2016) Unter den Bedingungen zeitgenössischer Digitalität spielen wir oft weltweit vernetzt, folgen aber Codes, die lokal entwickelt werden (beispielsweise bei SONY in Minato, Tokio) und dann planetenumspannend hegemonial diktiert werden. Solche 7 Unterschiede müssen sich offensichtlich auf Identitätsbildung in jedem der beiden genannten Zeitabschnitte auswirken. Weiter gefasst kann man den Aspekt der Identität so beleuchten und hinterfragen: Wenn es richtig ist, dass Gamification zum Diktat wird, (wie ich das im Buchkapitel „Ludische Mobilmachung“ (2016) nachzuweisen versucht habe,) oder wenn wir gar in einer „Ludictatura“ leben, wie dies Flavio Escribano (2012) polemisch behauptet, wie konstituiert sich dann Identität angesichts dieser Verbindlichkeiten? Gamification ist kein frei wählbares Angebot. Gamification widerfährt den Bewohnern der „Infosphere“ (Floridi 2014), ganz gleich ob sie dies wollen oder nicht. So ist beispielsweise die Einrichtung eines Loyalty Accounts bei einer Fluglinie unverzichtbare Vorbedingung dafür, gewisse Warteräume benutzen zu dürfen, Trinkwasser zu erhalten, rasten und sitzen zu dürfen, usw. (vgl. Niklas Schrapes Buchbeitrag zu „Gamified Loyalty“ in Fuchs et al. 2014: 24-28) Der spielerische Wettkampf um Flugmeilen, silver cards und den Senator Status wie er von Star Alliance und vielen anderen inszeniert wird, ist daher als Spiel deklariertes Tauschhandeln zu verstehen, das sich unter dem Duktus einer „liberal-libertären Bevormundung“ (Thaler & Sunstein 2008) vollzieht. Diktat ist Gamification also nicht im Sinne autoritärer Anweisungen der Kontrollgesellschaft, sondern eher – Spielen macht ja bekanntlich Spaß – selbstverhängte, wenn auch nicht selbstverschuldete Einschränkung. Damit ist man am zweiten Bestimmungspunkt des kulturwissenschaftlichen Dreiecks angekommen: Macht. Escribanos

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